Donau so rot - Thomas Baum - E-Book

Donau so rot E-Book

Thomas Baum

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Beschreibung

DER ACTIONHELD UNTER ÖSTERREICHS KRIMIAUTOREN FÄRBT DIE DONAU BLUTROT! KREUZFAHRT IN DEN UNTERGANG EIN RUNDER HOCHZEITSTAG, EINE DONAUKREUZFAHRT - eigentlich könnte alles so schön sein für ROBERT WORSCHÄDL UND SEINE FRAU KAROLINE. Es ist sogar Prominenz an Bord: Der Industrielle und FUSSBALLPRÄSIDENT BREITWIESER FEIERT SEINEN 60. GEBURTSTAG - doch dieser wird sein letzter sein. Als er scheinbar einen Kollaps erleidet und dabei MIT DEM KOPF IM KUCHENTELLER LANDET, wird Worschädl sofort misstrauisch. Er hat ZU VIEL ERFAHRUNG ALS ERMITTLER, um hier nicht seine eigenen Schlüsse zu ziehen und einen GIFTMORD ZU VERMUTEN. Worschädl sticht in ein WESPENNEST VON MAFIÖSEN STRUKTUREN UND DUBIOSEN GELDGESCHÄFTEN ... WÄHRENDDESSEN IN LINZ In einem Wohnhaus hat ein EINDRINGLING IN DER ZWISCHENZEIT EINE JUNGE FRAU ÜBERWÄLTIGT und nackt auf ihren Küchentisch gefesselt. DAS GRAUSAME SZENARIO WIRD GEFILMT UND FOTOGRAFIERT, um jemand ganz Bestimmten damit ZU ERPRESSEN: IHREN EHEMANN. Ebenso wie Robert Worschädl befindet sich der TORSCHÜTZENKÖNIG ZWISCHEN LINZ UND BRATISLAVA AUF KREUZFAHRT - und kann ihr nicht zu Hilfe eilen. BAUCHGEFÜHL MACHT NICHT URLAUB Als Kriminalkommissar ist ROBERT WORSCHÄDL STÄNDIG IM DIENST. Selbst in seiner Freizeit stößt er immer wieder auf Verbrechen. Die VERÄNDERUNG VOM BERTL ZUM WORSCHÄDL passt seiner liebenswerten Frau Karoline gar nicht in den Kram – besonders nicht auf ihrer gemeinsamen Kreuzfahrt. Trotzdem kommt er nicht umhin, SEINEM BAUCHGEFÜHL ZU FOLGEN, um die AUFREGENDEN ERMITTLUNGEN AUF EIGENE FAUST zu übernehmen. Und so springt DER MIT ALLEN WASSERN GEWASCHENE POLIZIST - im wahrsten Sinne des Wortes – INS KALTE WASSER. **************************************************************************** "Ich war überrascht, wie wunderbar Thomas Baum der Spagat zwischen dem gemütlich-kauzigen Worschädl und einer so temporeichen Handlung gelingt. Rasant zu lesen!" "Man wird regelrecht süchtig und kann das Buch kaum aus den Händen legen. Worschädl ist besonders in seinen menschlichen, verletzlichen Momenten jemand, in den man sich gut hineinversetzen kann. Eine meiner absoluten Lieblingsfiguren." ***************************************************************************** Die Krimis von Thomas Baum um Robert Worschädl: Donau so rot Tödliche Fälschung Kalter Kristall

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Thomas Baum

Donau so rot

Kriminalroman

Thomas Baum

Donau so rot

Für Michaela

Das Leben ist rund. Zumindest aus meinen Perspektiven. Von ganz unten betrachtet genauso wie während eines Höhenflugs. Sowohl bei Regen, Dreck und Kälte als auch bei Frühlingssonnenschein oder hochsommerlicher Affenhitze. Egal, ob bei einem Außenristschuss oder einem Fallrückzieher. Gepasst, gedribbelt oder volley bin ich rundum zufrieden.

Das Problem ist nur der Rahmen. Das Feld, auf dem wir spielen. Es geht nicht ungebremst voran. Outs, Fehlschüsse und Übertretungen sind automatisch inbegriffen. Und so manche Richtungsänderung wird von anderen bestimmt.

Es mischen ja so viele mit. Jeder will immer auch ein wenig siegen. Insofern hat das Gelingen oder Misslingen eines Treffers nicht nur mit einem selbst zu tun. Der Ausgang eines Spiels hängt von unzähligen Einflüssen und Faktoren ab. Kein Wunder, dass zwischen Erfolg und Niederlage oft nicht einmal ein Grashalm passt.

Thomas Baum ist neben seiner Tätigkeit als psychologischer Berater und Lehrender an der Kunstuniversität Linz erfolgreicher Autor zahlreicher Theaterstücke und Drehbücher. Aus seiner Feder stammen unter anderem der Kinohit „In 3 Tagen bist du tot“ sowie Folgen für die Sendungen „Die Rosenheim-Cops“, „Tatort“ und „Winzerkönig“. Kein Wunder also, dass auch seine Kriminalromane mit filmischem Tempo punkten. Nach „Tödliche Fälschung“ (HAYMONtb 2018) und „Kalter Kristall“ (HAYMONtb 2019) folgt nun ein weiterer Fall für seinen oberösterreichischen Kommissar Robert Worschädl: „Donau so rot“ (HAYMONtb 2021).

Inhalt

Corner

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Freistoss

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Foul

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Nachspiel

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Verlängerung

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CORNER

1

Unglaublich, dass ein Reihenhaus am Stadtrand unter 400 000 heutzutage kaum mehr zu bekommen ist. Wer das Ganze auch noch unterkellert haben will, kommt locker auf 450 000, und wenn man sich darüber hinaus für einen kleinen Pool mit Gegenschwimmanlage und rundherum geschmackvollen Steinfliesen entscheidet, ist man ganz schnell über der halben Million. Und dann können einen die Kredite schon ordentlich ins Schwitzen bringen.

Aber zum Glück hatten sie die Finanzen im Moment gut im Griff, dachte sich Amina, während sie die Ausgaben für den Lebensmitteleinkauf in ihr Haushaltsbuch eintrug. Das hatte sie sich angewöhnt, seit sie und ihr Mann vor einem halben Jahr, knapp nach Aminas 30. Geburtstag, ihre erste echte Krise hatten. Es ging wieder einmal ums Geld, das hinten und vorne nicht reichen wollte. Sie hatten sich so angebrüllt, dass die fünfjährige Lisa aufwachte und plötzlich mit ihrer kuschelweichen Lieblingspuppe und Tränen im Gesicht in der Wohnzimmertür stand.

Amina und ihr Mann unterbrachen den Streit sofort. Die Situation war ihnen schrecklich peinlich. Amina nahm Lisa hoch, drückte sie an sich und erklärte ihr, dass Mami und Papi nur eine kleine Meinungsverschiedenheit gehabt hätten und dass ganz sicher alles wieder gut werde. Ihr Mann nahm sie beide in seine Arme und versprach ihnen, dass sie sich keine Sorgen machen müssten. Ihm werde schon etwas einfallen. Irgendwie werde er das schon regeln.

Sein Versprechen löste er bereits kurz danach ein. Die 30 000 Euro, die er aufs Konto einzahlte, erklärte er mit beruflichen Prämien. Das klang etwas fadenscheinig, aber Amina fragte erst gar nicht weiter nach. Sie war nur froh über die Luft, die ihnen der Betrag verschaffte. Luft vor allem für ihr Beziehungsleben, das sich nun wieder entspannte. Endlich wieder Gespräche, in denen er Interesse an ihrer physiotherapeutischen Arbeit zeigte. Und in denen sie ihm ein paar Gedanken zu seiner beruflichen Situation entlockte. Endlich wieder einmal zwei, drei gemütliche Gläser Wein und, so wie gestern Nacht, vor seiner heutigen Abreise, stressfreier, befriedigender Sex.

Aminas Blick fiel in den Garten. Auf den Pool, der ihnen mitsamt dem ganzen Schnickschnack über den Kopf gewachsen war. Was ich mir nicht leisten kann, das kann ich auch nicht genießen. Diese Erkenntnis war ihr persönlicher Lerneffekt aus dem finanziellen Schlamassel, in das sie sich hineingeritten hatten.

Doch jetzt, im Licht der Außenlampe, sah alles idyllisch und friedlich aus. Und oben im ersten Stock träumte Lisa vielleicht gerade von ihrem vormittäglichen Kindergartenausflug in den Tierpark. Oder von ihrem Geschenk, an dem sie in der Mäusegruppe für den bevorstehenden Muttertag bastelte.

Amina wollte sich gerade wieder ihren Aufzeichnungen widmen, da blieb ihr Blick an dem Schatten hängen, den die großgewachsene Forsythie warf. Er erschien ihr ungewöhnlich. Größer als sonst. Das kam vom Wind.

87,90 Euro hatte sie heute ausgegeben. Dabei hatte sie gar nicht viel gekauft. Aber wenigstens hatte sie nicht mehr Geld gebraucht, als sie sich vorgenommen hatte.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Eine Art Schnappen. Wie von einem Haustürschloss. Aber sie hatte doch abgesperrt. Oder nicht? Hatte sie darauf vergessen?

Jetzt vernahm sie leise Schritte. Eher ein Tappen. Nein, da bestand nicht der geringste Zweifel. Irgendjemand war im Haus.

„Lisa?“

Keine Antwort. Wieder Stille. Keine Schritte und kein Tappen mehr. Jedoch ganz verhalten, kaum wahrnehmbar, ein fremdes Atmen. Beherrscht und zugleich angespannt. Gleich hinter der Tür, die in den Flur führte und offenstand.

Blick hinaus zur Forsythie. Der Schatten hatte sich verändert. War kleiner geworden, sah jetzt so wie immer aus. Da war jemand im Garten gewesen. Da hatte sie jemand beobachtet. Da hatte sich jemand ins Haus geschlichen.

Das Handy. Es lag vor Amina auf dem Tisch. Sie beherrschte sich. Vermied jede schnelle Bewegung. Bewegte ganz vorsichtig ihre Hand hin zu den Tasten.

Sie bemerkte dabei nicht, dass von hinten etwas auf sie zukam. Lautlos, schnell. Doch plötzlich spürte sie den Schmerz. Ein glühender Speer im Nacken. Sofort versagten ihre Muskeln. Amina kippte vornüber, schlug im Fallen mit dem Kopf an der Couchtischkante auf, lag schließlich blutend auf dem Boden, zu keiner Bewegung fähig. Wehrlos. Völlig ausgeliefert.

In ihrem Blickfeld tauchten Männerschuhe auf. Hände griffen nach ihr, drehten sie in die Rückenlage. Schwarze Stoffjacke, vermummtes Gesicht. Und ein Gerät, ähnlich einem Rasierapparat für Männer. Oder einer seltsam gekrümmten Handfeuerwaffe. Da sah sie den Lichtbogen. Elektrische Spannung zwischen zwei Metallkontakten.

Der Unbekannte führte den Teaser an Aminas Gesicht heran. Sie versuchte, sich herumzuwerfen, doch es gelang ihr nicht. Sie wollte um Hilfe schreien, brachte aber keinen Laut heraus. Wenn er nur Lisa in Ruhe lässt, dachte sie noch, als der Unbekannte ihre Bluse aufriss, den Elektroschocker zur nackten Haut unterhalb ihrer linken Schulter führte und ihr noch einmal 50 000 Volt durch den Körper jagte.

2

Als Kriminalkommissar ist man nie nicht im Dienst. Weil wirklich immer etwas sein kann. Zum Beispiel in Los Angeles. Über 8000 Diebstähle pro Jahr. Dazu mehr als 16 000 Einbrüche, 900 Vergewaltigungen, 300 Morde. Andere Weltstädte werden das sicher noch übertrumpfen. Und selbst eine überschaubare Landeshauptstadt wie Linz hat diesbezüglich einiges zu bieten.

Genau deshalb kennen Exekutivbeamte auch in ihrer Freizeit keinen wirklichen Feierabend. Mit 30 Dienstjahren auf dem Buckel konnte Hauptkommissar Robert Worschädl ein vielstrophiges Lied von Vorfällen singen, die ihn auf dem falschen respektive privaten Fuß erwischt hatten.

Zum Beispiel drehte er vor ein paar Monaten mit Tobias, dem fünfjährigen Sohn seiner Kollegin Sabine Schinagl, am Jahrmarkt eine Runde mit dem Riesenrad. Ausgerechnet bei einem Stopp am höchsten Punkt, also in 65 Metern Höhe, sah er, wie unten hinter einem Bierzelt ein pyknisch wirkender Gestauchter einem Zweimeterkerl ein Messer zwischen die Rippen rammte und sich dann wieder unter die Menschen mengte. Worschädl war es äußerst unangenehm, neben dem kleinen Jungen eine Täterbeschreibung durchzugeben, diese trug aber entscheidend dazu bei, dass der Messerstecher eine Stunde später hinter Schloss und Riegel saß.

Zwei Monate davor schlenderte Worschädl mit Karoline, seiner ihm seit mehr als zwei Jahrzehnten angetrauten Ehefrau, in bester Kurzurlaubsstimmung den Viale Italia im norditalienischen Grado entlang, als sie beide meinten, ihren Augen nicht zu trauen. Geschätzte 20 Meter vor ihnen pinkelte doch tatsächlich ein Glatzkopf mit Springerstiefeln, von anderen Passanten nicht behelligt, auf einen am Asphalt hockenden, beinamputierten Ostblockbettler. „Jetzt schau dir dieses rechte Dreckschwein an“, empörte sich Karoline.

Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da startete Worschädl schon. Ein paar schnellen Schritten folgte ein geübter und zugegeben äußerst grob angewandter Polizeigriff. Wenige Minuten später konnte er den nun seinerseits vollgepissten Delinquenten einem herbeigeeilten Carabiniere übergeben.

Beide Male brauchte es das unmittelbare Umschalten vom Privaten ins Berufliche. Das rasante Hochfahren und Aktivieren von polizeilichen Handfertigkeiten und Qualitäten. Was ganz und gar nicht einfach ist, wenn man gedanklich gerade bei berufsfernen Themen weilt und die dunkle Seite dieser Welt so gut wie weggeblendet hat.

Laut Karoline waren das die besten Voraussetzungen für eine Rollenverwirrung. Weil jede Rolle, die man einnimmt, eine eigene Haltung braucht. Wer aus welchen Umständen auch immer zum Beispiel von „Ehemann auf Urlaub“ zu „Polizist im Einsatz“ wechselt und dabei nicht auch die Haltung ändert, wird in Schwierigkeiten geraten.

Vor einer ähnlichen Herausforderung stand Worschädl, als er an einem Vormittag vor sechs Wochen die Linzer Landstraße durchschritt. Er hatte weder Augen noch Ohren für das junge Streichquartett, das vor einem barock anmutenden Haus ein Menuett von Haydn zum Besten gab, er bekam den Hypo einer Zuckerkranken inklusive Zusammenbruch neben einem Fahrscheinautomaten nicht mit, und er ignorierte auch die kleine, vereinsamt wirkende Aktivistengruppe, die vor einem armseligen Biertisch mit selbstgedruckten Foldern für ein europaweites Verbot von Plastiksackerln beziehungsweise Einkaufstüten warb.

Nein, Robert Worschädls gesamte geistige Apparatur war nur auf eine einzige Frage konzentriert: Wie lässt sich eine Kreuzfahrt buchen und zugleich das Meer vermeiden? Seine mit ihren 46 Jahren äußerst unternehmungslustige Karoline hatte sich diesen kostspieligen Ausflug zum bevorstehenden 25. Hochzeitstag gewünscht, und wenn es nach ihr ging, sollte es selbstverständlich in die Karibik gehen.

Allerdings war Worschädl überhaupt kein Freund des übermäßigen Wellengangs. Zudem verdiente man als Kommissar auch in einer höheren Gehaltsstufe nicht unbedingt das große Geld, und für eine Woche war unter 4000 Euro für zwei Personen kaum etwas Vernünftiges zu haben. Zusammen mit Karolines Einkommen als praktizierende Psychotherapeutin hätten sie sich das schon leisten können. Aber so viel Geld gab Worschädl prinzipiell nicht gerne aus.

Ganz anders Karoline. Sie träumte von einem Paradies mit türkisblauem Wasser, weißen Stränden, farbenprächtigen Korallen und einer bunt schillernden Vielfalt an Fischen. Ihre Lieblingsinsel war mit einer Gesamtfläche von sage und schreibe zwölf Quadratmetern nur mit dem Wasserflugzeug zu erreichen. Für Worschädl ein klarer Fall von Brechreiz und Klaustrophobie.

Der langgediente, etwas übergewichtige Kommissar wich gerade einer älteren Dame und ihrem Rollator aus, während er versuchte, die Bedürfnisse seiner Frau mit den seinen unter einen Hut zu bringen, da knallte fünf Armlängen vor ihm ein LCD-Fernsehgerät mit 46 Zoll Bildschirmdiagonale, LED-Backlight und Full-HD auf den Asphalt. Die beeindruckend hohe Auflösung von 1920 x 1080 Pixel und die Respekt gebietende Bildwiederholrate von 200 Hertz waren dem in unzählige Teile und Splitter zerborstenen Gerät nun nicht mehr wirklich anzusehen.

Wer einen Flachbildschirm von so hoher Qualität hochstemmte und aus dem Fenster warf, musste ganz schön wütend sein. Darauf ließ auch das Brüllen schließen, das aus einem geöffneten Fenster im siebten Stock zu hören war. Männer- sowie Frauenstimme. Vermutlich ein Beziehungsstreit.

Aus den hin- und herfliegenden Beschimpfungen und Kraftausdrücken und einem ebenfalls am Asphalt aufschlagenden Toaster nebst einer Salatschüssel war herauszuhören, dass sie ihn verlassen wollte, womit er offenbar überhaupt nicht einverstanden war.

Worauf der Mann seine Meinung unterstrich, indem er sich aufs Fenstersims setzte und die Füße nach unten baumeln ließ. Der Menschentraube, die sich mit Worschädl unter dem Fenster versammelt hatte, und auch dem Kommissar selbst stockte insofern der Atem, als der etwa 40-jährige Suizidaspirant einen Säugling in den Armen hielt. Offensichtlich das Faustpfand, um die verzweifelt aufschreiende Frau im Zimmer hinter ihm doch noch zum Umdenken zu bewegen.

„Wenn du gehst, dann geh ich auch! Und die Meli geht mit mir!“, schrie er unmissverständlich und schien fest entschlossen, seine Ankündigung auch wahr zu machen. Meli hieß in der Langform wohl Melanie und dürfte vor fünf, sechs Monaten zur Welt gekommen sein.

Was macht man in einer Situation, in der es einem einerseits das Herz zerreißt, zugleich mindestens zwei Menschenleben in Gefahr sind und etwa 50 Passanten wie gebannt nach oben starren? Zuerst wies sich Worschädl deutlich hörbar als Kriminalhauptkommissar aus. Dann rief er dem Mann am Fenstersims zu, dass er Ruhe bewahren solle und dass es für alles eine Lösung gäbe. Und dann wählte er Schinagls Nummer und machte ihr klar, dass es um Sekunden ging.

Worschädl konnte nicht abschätzen, wie ernst es dem Mann mit dem Hinunterspringen war. Ob er es bei einem Erpressungsversuch belassen würde oder wirklich bereit war, sein Leben und das des kleinen Babys auszulöschen.

Noch saß er relativ stabil auf dem Sims und umklammerte mit einer Hand das Fensterkreuz. Aggressiv und zugleich weinerlich machte er der Frau, die hinter ihm im Zimmer stand und deshalb nicht zu sehen war, einen Vorwurf nach dem anderen. Als ihn Worschädl ansprach, brüllte er sofort zurück, dass ein Kieberer der Letzte sei, von dem er einen Ratschlag brauche.

Es dauerte mindestens zehn Minuten, bis Schinagl endlich neben ihm hielt und aus dem Auto stieg: ausgebeulte Jeans, sackähnliche Jacke, unattraktive Haube, aber jede Menge Hausverstand und Kompetenz.

„Du liebe Scheiße. So ein Irrer. Soll er doch springen, aber bitte ohne Kind!“, brachte sie ihren ersten Eindruck halb geflüstert auf den Punkt.

Einer hartgesottenen Kollegin wie Schinagl konnte Worschädl die Situation vor dem Haus getrost alleine überlassen. Er betrat den Hausflur, ließ sich vom Lift nach oben bringen und stieß im Gang des siebten Stocks auf eine Gruppe aufgeregter Nachbarn, die sich bereits vor der entsprechenden Wohnungstür versammelt hatten. Obwohl sie sperrangelweit offenstand und sich dahinter deutlich vernehmbar ein schicksalhaftes Drama ereignete, war keiner von ihnen eingetreten. Sie beobachteten schreckensstarr ein heraufziehendes Unglück, kamen aber nicht auf die Idee, es auch nur irgendwie abzuwenden.

Worschädl schob sich an den Nachbarn vorbei, betrat den Vorraum und stieß im hellen Wohnzimmer auf eine tränenüberströmte, von panischer Angst erfasste, etwa 30-jährige Frau, die den Mann am Fenstersims anflehte, ihr um Himmels willen doch bitte das Kind zurückzugeben. Und dem Selbstmordkandidaten, psychisch mindestens ebenso am Boden, stieß es in halben Sätzen heraus, dass er ohne seine Frau sowieso gleich verrecken könne, dass sein Leben voll im Arsch sei und dass nicht er, sondern sie alles kaputt gemacht und alles über den Haufen geschmissen und ihn und Meli ruiniert habe.

Psychische Ausnahmesituation. Klassische Krisenintervention. Nur nicht in die Glut blasen, würde Karoline sagen. Unbedingt deeskalieren.

Worschädl unterbrach die beiden mit ruhiger, pragmatischer Stimme und fragte, ob es denn möglich sei, eine Tasse Kaffee zu bekommen. Am besten mit etwas Milch und einem Löffel Zucker. Und dazu vielleicht auch ein Glas Wasser. Jetzt, an diesem Donnerstag um elf Uhr am Vormittag, brauche er unbedingt seine Dosis Koffein. Und vielleicht könnten ja auch sie beide einen Schluck vertragen. Kaffee, Wasser, Bier, Wein, Sekt, Martini, ganz egal, einfach kurz etwas trinken. Und dann durchatmen und weiterreden. Wird schon wieder. Ja, wirklich. Davon sei er überzeugt.

Noch dazu in einer derart geschmackvoll eingerichteten Wohnung. Wie farbenfroh und liebevoll hier doch alles gestaltet sei. Offenbar seien sie Eltern, die es ihrer kleinen Melanie so nett und freundlich wie nur irgendwie möglich richten wollten, und jetzt gebe es eben eine Meinungsverschiedenheit, einen Disput, vielleicht sogar einen Streit. Für Eltern von kleinen Kindern überhaupt nicht ungewöhnlich.

Aber das alles ließe sich wie bereits erwähnt bei einer Tasse Kaffee sicher etwas entspannter besprechen. Und die kleine Melanie mit ihrem vertrauensvollen Blick auf jenen Mann, der vermutlich ihr Vater war und der soeben mit der Entscheidung rang, mit ihr in die Tiefe zu springen, wäre mit einem kurzen Innehalten ganz bestimmt sehr einverstanden.

Doch so schnell ließ sich die Nuss dann doch nicht knacken. Weil der Mann nicht daran dachte, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Womit er bewies, dass es ihm keinesfalls um seine Kleine ging, sondern vor allem um ihn selbst. Diesen Beziehungskrieg wollte er keinesfalls verlieren. Und mit seiner Tochter als Druckmittel hatte er das Trumpf-Ass im Ärmel.

Falls er sich mit der kleinen Melanie tatsächlich die sieben Stockwerke hinunterstürzen würde, dachte Worschädl, würde sich der Mutter für ewig das Wort „Schuld“ in ihre Seele brennen. Zugleich würde sie ihr Allerwichtigstes und Allerliebstes verlieren. Und lebenslang würde nichts ausreichen und genügen, um das je wieder auszugleichen und gutzumachen.

Worschädl spürte, wie ihm der Schweiß über Nacken und Rücken rann. Sein Hemd war nass, ihm war heiß, und er dachte fieberhaft darüber nach, wie er die Katastrophe doch noch verhindern könnte. Schinagl hatte inzwischen sicher die diversen Einsatzfahrzeuge eingewiesen, und die Feuerwehr war hoffentlich bereits dabei, ein Sprungtuch auszubreiten. Dennoch galt es, hier im siebten Stock möglichst rasch eine funktionierende Intervention zu setzen, und im Moment fiel ihm nichts Besseres ein, als den Mann nach seinem Beruf zu fragen. Die Antwort kam rasch und nicht sehr freundlich.

„Was soll denn das jetzt? Himmel, Arsch, Buschauffeur!“

„Verantwortungsvoller Job. Reisebusse?“

„Scheiße, nein, belämmerte Pendler.“

„Sie chauffieren Pendler? Wahrscheinlich in aller Früh.“

„Ab 4.30 Uhr. Fünfmal die Woche. Seit zehn Jahren. Ein echter Idiotenjob.“

„Trotzdem, Respekt. Die Leute können Ihnen dankbar sein. Unfälle?“

„Aber nein“, meinte die Kindesmutter. „Beim Autofahren ist Ralf total sicher und absolut zuverlässig. Ralf, komm schon, bitte gib mir Melanie.“

Aber gegen derartige Bitten schien Ralf immun zu sein, weshalb er nicht einmal mit der Wimper zuckte. Also nahm Worschädl den Pendler-Faden wieder auf.

„Na gut, Ralf, also keine Unfälle. Und Blechschäden, wie sieht es damit aus?“

„Daniela, komm schon, sag es ihm“, krächzte Ralf.

„Nichts. Nicht einmal eine kleine Delle. Ralf, bitte!“

„Unglaublich, sensationell“, setzte Worschädl fort. „Dann hat Ihr Ralf also unzählige Menschen ganz sicher ans Ziel gebracht. Und jetzt will er ausgerechnet mit seiner Tochter … nein … das passt nicht, das ist nicht logisch, so ist der Ralf ganz einfach nicht.“ Worschädl blickte die Frau an, als ob Ralf und Melanie gar nicht vorhanden wären, und sprach mit einer sanften, den Inhalt beinahe verharmlosenden Stimme. „Noch dazu gibt es aus dieser Höhe nicht einmal die Garantie, dass die beiden wirklich sterben. Okay, der kleine Körper von Melanie … aber Ralf hat durchaus Chancen auf weitere 30 Jahre. Allerdings nicht ohne diverse Entstellungen und eine satte Querschnittslähmung. Da wünsche ich jetzt schon viel Vergnügen.“

„Verficktes Arschloch“, meldete sich Ralf zu Wort.

„Entschuldigung, aber ich weiß, wovon ich rede. Zumindest eine Patientenverfügung sollten Sie vorher noch schnell unterschreiben. Wirklich, vor zwei Jahren hat es einer aus einem zehnten Stock versucht. Und was ist jetzt? Künstliche Ernährung, Seitenausgang, hundertprozentiger Pflegefall. Nicht, dass ich Ihnen so was wünsche … aber die Alternative wäre, dass Sie der kleinen Melanie beibringen, wie man eine Straße sicher überquert und was bei einer Ampel das grüne, gelbe oder rote Licht bedeuten. Steine ins Wasser werfen, Tretroller fahren, reiten. Die ganz normalen Vaterpflichten. Klingt doch weitaus erfreulicher, als sich mit einem kaputten Hirn und so einem Seitenausgang seinen Hintern wundzuliegen.“

Die Geschichte mit dem Suizid und dem Seitenausgang war gelogen. Völlig egal. Hauptsache, sie wirkte. Und in Ralfs Augen war abzulesen, dass sich in seinem Hirnareal ein Funken Vernunft zurückgemeldet hatte. Die Vorstellung von einem hoffnungslosen, inkontinenten Dahinsiechen erschien ihm dann doch nicht so verlockend. Einmal durchatmen, einmal schlucken, dann gab er Worschädl das Kind und stieg ins Wohnzimmer zurück.

Dort versammelten sich kurz danach mit Schinagl auch zwei Sanitäter, ein Psychologenteam und zwei uniformierte Kollegen. Für Worschädl höchste Zeit, sangund klanglos zu verschwinden. Dabei bestätigte sich wieder einmal, dass man nie weiß, wozu etwas gut sein kann. Im Hinausgehen sah er nämlich auf der Kommode im Vorraum einen Prospekt, der für Kreuzfahrten warb, bei denen das Meer nicht die geringste Rolle spielte.

3

Wovon sie erwacht war, wusste Lisa nicht. Vielleicht hatte sie schlecht geträumt. Durch den geöffneten Türspalt fiel das Licht vom Flur ins Zimmer. Es blieb jede Nacht eingeschaltet, weil sie im Stockfinsteren nicht schlafen konnte.

Papa war damit zuerst nicht einverstanden gewesen, und auch Mama hatte ihre Zweifel, aber irgendwann wollten sie nicht mehr, dass Lisa jede Nacht ins Schlafzimmer kam und zu ihnen ins Bett schlüpfte.

Das Licht am Gang war schließlich ein Angebot, mit dem Lisa einverstanden war. Wenn alles ein bisschen hell war, fühlte sie sich nicht so alleine. Dann sah sie ihren mit bunten Stickern beklebten Kasten, ihren orangegrünen Sitzpolster, ihre Spielsachen in den Regalen und ihre Bettwäsche mit vielen lustigen Sonnen, Monden und Sternen. Und dann konnte sie Schmeicheline in die Augen blicken, ihrer weichen Lieblingspuppe, die sie gerade fest in ihren Armen hielt.

Und sie würde sich auch heute zusammennehmen und nicht hinüber zu ihren Eltern gehen. Aufs Klo musste sie auch noch nicht, das konnte warten bis morgen früh. Sie hatte nur ein wenig Durst, aber hinunter in die Küche war es ihr jetzt doch zu weit. Da kuschelte sie sich lieber wieder an ihre Schmeicheline. Mit ihr konnte einem in dem nicht ganz so dunklen Zimmer zum Glück nichts passieren.

Während Lisa die Augen zufielen, trat der Mann, der gerade noch durch den Türspalt auf das schlafende und dann erwachende Kind geblickt hatte, ganz leise den Rückzug an. Kurt Mongold, den man in einschlägigen Kreisen kurz Mongo nannte, hatte überhaupt keinen Bock auf den Stress, der unweigerlich auf ihn zukam, wenn dieses Mädchen zu früh erwachte. Weil er nämlich nicht das geringste Interesse daran hatte, dem Kind auch nur ein Haar zu krümmen. Es musste reichen, wenn er sich ihre Mutter vornahm.

Mit dem fest zugebundenen Tuch vor ihren Augen konnte Amina hören, wie der Mann den Kühlschrank in der angrenzenden Küche öffnete, dann das leise Klirren von Glas, bis er das Zimmer wieder betrat und sich ihr langsam näherte. Sie lag gefesselt auf dem Esstisch, nackt, die Arme und Beine weit von sich gespreizt, genauso, wie es der Mann gewollt und arrangiert hatte. Mithilfe eines dünnen Drahtes, den er über ihre Handund Fußgelenke geschlungen und mit den Tischbeinen verspannt hatte.

Sie fragte ihn, was mit ihrer Tochter sei, bekam aber keine Antwort. Nur sein Atmen war zu hören. Und dann das Öffnen eines Schraubverschlusses. Schluckgeräusche. Wahrscheinlich der Weißburgunder aus dem Fach in der Kühlschranktür.

Unmöglich, ihre Panik zu kontrollieren, ihr wild schlagendes Herz zu beruhigen, sich selber in den Griff zu kriegen. Weidet er sich an meiner Angst? Hat er die Hand in seiner Hose?

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie zusammenzuckte, weil sie etwas Kühles spürte. Am Knöchel ihres linken Fußes. Kühl, glatt, spitz und scharf. Ein Messer. Amina schrie auf. Zuerst passierte nichts. Doch dann führte der Mann das Messer langsam über ihren Unterschenkel hoch zum Knie und über die Innenseite ihres Oberschenkels. Und schließlich berührte die Spitze des Messers ihre Scham.

4

Der Vorteil an dieser speziellen Kreuzfahrt war unter anderem, dass Worschädl nicht einen einzigen Tag seines Urlaubs dafür verwenden musste. Den Freitag schrieb er als Zeitausgleich, und Schinagl war so entgegenkommend, für ihn trotz ihrer beiden Kinder seinen Wochenenddienst zu übernehmen. Musste sich eben ihr Lebensgefährte Michael, ein viel beschäftigter Musiker, mit dem fünfjährigen Tobias auf den Spielplatz begeben und mit der zwölfjährigen Kerstin Mathe lernen. Kreative Pausen zwischen dem Einspielen von diversen Sounds für Image- und Werbefilme konnten der Qualität von Michaels musikalischen Ergüssen nur dienlich sein.

Schlechtes Gewissen musste Worschädl jedenfalls keines haben. Er wusste, dass der Wochenenddienst seiner Kollegin Schinagl überaus entgegenkam. Die Arbeit war für sie, im Gegensatz zu ihren Mutterpflichten, eine pure und sehr willkommene Erholung.

Keine vollgesabberten Sweater, kein übervoller Bügelkorb, keine herumliegenden Bausteine – nur Delikte, Verbrechen, Ermittlungsarbeit, Recherche und ausschließlich erwachsene Kollegen. Und natürlich Worschädl, der sich am Präsidium den Ruf eines grantigen Brummbären erarbeitet hatte. Aber Schinagl, die vor wenigen Wochen ihren Sechsunddreißiger gefeiert hatte, kannte ihren um 16 Jahre älteren Kollegen inzwischen besser. Unwirsche Reaktionen und mürrische Äußerungen hatten für ihn nur den Zweck, sich die Leute vom Leib und auf Distanz zu halten. Über 50 musste man sich seiner Meinung nach nicht mehr von all den diversen Befindlichkeiten quälen lassen. Oder von dieser Unmenge an Nebensächlichkeiten, die im Zuge des Ermittlungsalltags von den verschiedensten Menschen ununterbrochen mitgeteilt werden wollten.

Aber Tratschereien über dieses und jenes konnte Worschädl auch schon früher nicht vertragen. In den letzten Jahren galt er überhaupt als nicht systemkonformer Einzelgänger mit starker Tendenz zum Eigenbrötler. Doch irgendwann wurden Dienststellenleiter Oberst Stefan Schweitzer die Alleingänge seines besten und zugleich schwierigsten Ermittlers zu viel, also teilte er ihm Schinagl zu, die gerade aus der Karenz gekommen war.

Unerhörterweise setzten sie ihm Schinagl einfach mitten in sein Büro hinein. Alle Proteste halfen nichts. In Worschädls bislang ruhiges, nahezu störungsfreies 16 Quadratmeter kleines Reich wurden ein zweiter Schreibtisch und eine äußerst intensive Frau verpflanzt. Und ab sofort hatte er ständig Telefonate mit Kindergartenpädagoginnen, Gymnasialprofessoren, einem durchgeknallten Musiker und einer offenbar nur halb talentierten Babysitterin zu erdulden.

Auch wenn man noch so erfahren und mit noch so vielen Wassern gewaschen war, konnte einen ein derart vehementes Eindringen des noch dazu weiblichen Geschlechts gehörig durcheinanderwirbeln. Mit einem Schlag sah sich Worschädl seines über die Jahre erworbenen Rechts auf Ruhe und Abgeschiedenheit beraubt.

Seine äußerst effiziente Methode, über die jeweiligen Fälle gerne in einer Art Halbschlaf nachzudenken, also leger zurückgelehnt, mit halb geschlossenen Augen, offenem Mund und dem einen oder anderen Schnarchen, funktionierte mit einem Mal nicht mehr. Für seine Angewohnheit, in gemäßigter Lautstärke mit sich selbst zu reden und Ermittlungsergebnisse sowie Fährten und Spuren mit sich selbst engagiert durchzudiskutieren, fehlte die nötige Ruhe und Abgeschiedenheit. Und seine oft ausgedehnten Telefonate mit Karoline, mit den Füßen auf dem Schreibtisch und einer Semmel mit pikantem Leberkäse, Essiggurken und süßem Senf in der Hand, waren ab sofort Geschichte.

Die neue Kollegin hatte seine sensible Aura aufs Empfindlichste gestört, und er brauchte Monate, um seine Arbeitsweise auf den kommunikationsbedürftigen und konfrontationsbereiten Humorbolzen Schinagl umzustellen.

„Was, nach …? Nein, das gibt’s nicht! Wäre ich deine Frau, ich würde dir deine Hochzeitstags-Kreuzfahrt aber so was von um die Ohren schmeißen“, schimpfte sie vor zwei Wochen von ihrem Schreibtisch zu ihm herüber.

„Wie weit bist du mit dem Bericht über diese Suizidgeschichte?“

„Ablenken gilt nicht. Weil ich nämlich genau spüre, wie superbeschissen es deiner Frau jetzt gehen muss!“

„Ganz aktuell dürfte sie eher mit den seelischen Nöten ihrer Klienten beschäftigt sein.“

„Ist ja nur gut, dass du jederzeit eine Therapeutin zur Seite hast. Noch dazu so eine geduldige und verständnisvolle.“

„Du bist ja bestens informiert.“

„Entschuldige, sonst hätte sie es doch niemals über Jahrzehnte mit dir ausgehalten. Und dann kommst du ihr mit so einer Schnapsidee!“

„Völlig richtig! Eine Wacholderschnapsidee. Borovička. Den machen sie dort ganz vorzüglich. Und dazu servieren sie herrliche Sauerkrautnocken, einen wunderbaren Grenadiermarsch und exquisite Pogatschen. Sabine, glaubst du ernsthaft, dass ich bei solchen Köstlichkeiten die Malediven brauche? Und jetzt Ende der Debatte!“

Damit rauschte Worschädl aus dem Büro. Er wollte nicht zugeben, dass es seine Frau ziemlich genauso wie Schinagl gesehen hatte. Dabei war er, als er mit den Buchungsunterlagen nach Hause gekommen war, von seiner Idee vollkommen überzeugt gewesen. Und er hatte fest darauf gebaut, dass sich seine Begeisterung auch auf Karoline übertragen würde.

„Servus, Schatz, große Überraschung: Vergiss Kuba, Santa Lucia und Grenada, ich habe etwas viel Besseres.“

„Na, da bin ich ja gespannt.“

„Gleich vorweg kosten da drei Nächte Last Minute inklusive Willkommensdrink und Rückfahrticket mit den Österreichischen Bundesbahnen nur schlanke 199 Euro.“

„Mit den Österreichischen Bundesbahnen?! Was soll das für eine Kreuzfahrt werden?“

„Die bequemste, die es gibt. Auf der Donau von Linz direkt nach Bratislava.“

Direkt um den Hals ist die Karoline ihrem Bertl in diesem Moment nicht gefallen. Genauer gesagt wirkte sie ein wenig indigniert. Und jedes Mal, wenn in den darauffolgenden Tagen die Rede auf ihre gemeinsame Reise kam, bekam sie wieder diese schmalen Lippen und eine Art tadelnden Blick. Je höher die Erwartung, desto tiefer die Enttäuschung, hätte sie wahrscheinlich gesagt, wenn sie darüber gesprochen hätte. Aber Karoline, für gewöhnlich mitteilungsfreudig und kommunikativ, zog es diesmal vor zu schweigen. Ja, Worschädls Ehefrau schien tatsächlich nachhaltig eingeschnappt zu sein.

Auch am Tag ihrer gemeinsamen Abreise war sie höchstens zu einem Drittel motiviert. Von Haus aus eher unpünktlich, verfiel sie ausgerechnet beim Aufbruch zum Schiff in ein demonstratives Trödeln und musste wegen irgendwelcher Unwichtigkeiten noch zweimal zurück in die Wohnung.

Zu allem Überdruss wollte sie den Taxifahrer auf der Fahrt zur Schiffsanlegestelle auch noch zum Unterschreiben des Volksbegehrens für das europaweite Verbot von Plastiksackerln überreden.

Als Worschädl die beiden Trolleys endlich aus dem Kofferraum hievte, war Karoline im Fond des Wagens noch immer fest am Argumentieren, obwohl ein Steward an der Gangway bereits mit den Armen ruderte und die Schiffssirene mahnend dröhnte.

Worschädl hätte der werten Psychotherapeutin gerne erklärt, dass ihr betont großzügiger Umgang mit der ihnen eigentlich nicht mehr zur Verfügung stehenden Zeit nichts anderes als der äußere Ausdruck ihrer inneren Unzufriedenheit mit der Kreuzfahrt-Strecke von Linz nach Bratislava war, aber dafür hatten sie es viel zu eilig, also rief er ihr nur ein kurzes „Karoline, bitte!“ zu. Kaum zu glauben, dass sie darauf mit einer deutlichen Erhöhung ihres Schritttempos in seine Richtung reagierte.

Und dann eilten ein rundlicher Kriminalkommissar und seine auf ihre Figur konsequent bedachte und deshalb schlanke Ehefrau mit zwei roten Trolleys auf die Gangway zu, überquerten diese unter dem strafenden Blick des Stewards und dem Augenrollen manch anderer Passagiere und ließen sich von einem weiteren Steward, der ihnen das Gepäck abnahm, den Weg zu ihrer Kabine zeigen.

Kann sein, dass Worschädl die Treppe vom Oberzum Unterdeck etwas zu schwungvoll nahm, jedenfalls verspürte er plötzlich einen stechenden Schmerz in seinem seit jeher anfälligen linken Knie. Woher genau das auch immer rühren mochte, zwang es ihn zu einem leichten Hinken, aber das sei, versicherte er seiner Frau, ganz bestimmt nur etwas Vorübergehendes.

Tatsächlich sicher war er sich dessen wegen des erheblichen Schmerzes jedoch nicht. Doch er wollte die ohnehin fragile Stimmung in keiner Weise trüben. Gut so, denn zu seiner großen Erleichterung schaffte es das hübsche Zimmer mit extrabreitem Doppelbett, imposantem Flachbildschirm, bestens ausgestattetem Bad und kleinem französischen Balkon gleich über der Wasseroberfläche, seine Karoline auf Anhieb versöhnlicher zu stimmen.

Als die Matrosen am Kai die Leinen lösten, standen die Worschädls am Balkon. Und während das 125 Meter lange Schinakel bei luftigen 14 Grad und tiefgründigen Gewitterwolken vom zweitlängsten Strom Europas erfasst wurde und donauabwärts glitt, vorbei an den grauen Rauchschwaden der Linzer Schwerindustrie, ergab sich wie von selbst ein Kuss.

„Schatz, alles Liebe zu unserem Silbernen.“ Mit diesen Worten zog Worschädl eine kleine Schatulle aus seiner Jacke und überreichte Karoline ein goldenes Halskettchen mit einem Anhänger, der aus zwei ineinander verschlungenen Herzen bestand. Karoline betrachtete sich gleich damit im Spiegel und lächelte zufrieden: „Danke, Bertl, wunderschön.“

Aber auch ihr Geschenk hatte es in sich und passte punktgenau zu ihm: Flaschenverschluss, zwölf Zentimeter lang, schwerer Edelstahl, nach unten zugespitzt und obendrauf als Griff ein Herz. Fast so, als hätten sie sich abgesprochen.

„Karoline, dass wir zwei derartige Kitschpepperl sind.“

„Na ja, ein Schuss Pragmatik ist bei mir schon dabei. Deine offen stehenden Weinflaschen …“

„Das kommt ab jetzt nie wieder vor.“

„Wer’s glaubt, wird selig.“

Karoline versetzte ihrem Mann einen liebevollen Boxer. Und küsste ihn noch einmal. Dann steckte sie den Flaschenverschluss ein, weil er ja so gerne alles Mögliche verlegte.

Er spürte, dass es sie fröstelte, und legte seinen Arm um sie. Und sie kuschelte sich an ihn.

„Okay“, sagte sie und lächelte. „Dann eben Bratislava.“

Ein zärtlicher, feiner Moment. Den Worschädl ganz bewusst genoss. Weil man ja nie wusste, ob nicht schon hinter der nächsten Biegung eine böse Überraschung drohte.

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