Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
GRAUSIGER LEICHENFUND UND VIELE OFFENE FRAGEN Was als erholsame Wanderung mit seiner Frau Karoline beginnt, endet für Chefinspektor Robert Worschädl wenig später mit dem FUND EINER VERKOHLTEN FRAUENLEICHE. Die ermordete PROSTITUIERTE EINES FLATRATE-PUFFS mit dubiosem Zuhälter hinterlässt neben vielen offenen Fragen auch einen SOHN MIT NAMEN JAKUB - der SPURLOS VERSCHWUNDEN ist. Für den Kommissar und seine Kollegin Sabine Schinagl beginnt EIN WETTLAUF GEGEN DIE ZEIT. Zu viele Spuren führen in verschiedene Richtungen, DOCH WELCHE FÜHRT SIE ZU JAKUB? KNORRIG, KAUZIG UND IMMER GEGEN DEN STROM Mit einem WAGHALSIGEN ALLEINGANG bringt Worschädl nicht nur seine Vorgesetzten gegen sich auf: Er und sein privates Umfeld geraten INS VISIER UNBERECHENBARER GEGNER. Doch der Kommissar lässt sich weder von seinen UNORTHODOXEN METHODEN, noch von seinen Ermittlungen abbringen. Er gerät in eine RASANTE VERBRECHERJAGD im Grenzgebiet zwischen dem oberösterreichischen Mühlviertel und Tschechien - und auch in die FINSTERNIS DES DARKNET … SPANNUNG, SPANNUNG, SPANNUNG CSI auf Österreichisch mit SPEKTAKULÄREN VERFOLGUNGSJAGDEN und ÜBERRASCHENDEN WENDUNGEN: Drehbuchautor Thomas Baum legt den WOHL RASANTESTEN KRIMI DER SAISON vor! Nach mehreren "Tatorten", "Rosenheim-Cops" und "In drei Tagen bist du tot" zeigt er, dass er nicht nur auf Kinoleinwänden und Fernsehbildschirmen MIT SCHNELLEN CUTS UND ATEMLOSER SPANNUNG überzeugen kann. ************************************************ Leserstimmen: "Spannender Krimi aus Österreich mit Suchtfaktor" lovelybooks.de, ElfriedeKohlhase "Die Seiten flogen nur so dahin. Einmal angefangen mit lesen wollte ich gar nicht mehr aufhören." lovelybooks.de, Vampir989 "Kommissar Worschädl ist kein kriminaler Superheld, sondern ein Mann mit Ecken und Kanten und durchaus auch einigen Schwächen." lovelybooks.de, irismaria ********************************************** Bisher ermittelte Robert Worschädl in: Tödliche Fälschung
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 345
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Thomas Baum
Kalter Kristall
Kriminalroman
Zuerst lief Blut in seinen Schuh. Dann tobte auch noch sein linkes Sprunggelenk. Beides zog er sich beim Trainieren der Pirouette und der Cabriole zu. Ballett ist berückende Ästhetik, konzentrierte Spannung. Und Schmerz.
Den kann nur ertragen, wer strapaziöse Posen und waghalsige Sprünge liebt. Malträtiert man seinen Körper lediglich aus purem Pflichtgefühl, gibt man den Tanz auf durchgestreckten Zehenspitzen spätestens mit dem Eintritt in die Pubertät auf.
Jakub ist auch mit fünfzehn noch dabei. Trainiert viermal die Woche. Einige seiner ehemaligen Tanzkollegen hatten längst das Handtuch geworfen. Andere waren in eine Ballettschule mit Internat gewechselt. Kaderschmiede. Bekanntermaßen der effizienteste Weg, um ganz nach oben zu gelangen. Aber woanders als daheim zu schlafen, kam für Jakub nicht in Frage. Kein richtiges Zuhause, dieses Gefühl kannte er zur Genüge, das hatte er satt. Also zog er das ganz normale Lernen in einer ganz normalen Schule vor. Danach ging es ab ins ganz normale Training. So wie heute Nachmittag.
Hinterher sein üblicher Nachhauseweg. Über die pulsierende Vinohradsdká, vorbei am nach einem bekannten Prager Schriftsteller benannten Sady Svatopluka Čecha Park, und schließlich in die eher unscheinbare Moravska, in der Jakub mit seinen Eltern in einer großen Wohnung lebte. Eigenes Zimmer, eigener Fernseher, eigener Laptop. Ganz so, wie es sich gehört.
Jakub war mit seinen Gedanken noch bei den letzten Übungen im Tanzsaal, als er den senffarbenen Kleinbus bemerkte. Parkte einfach so am Straßenrand.
Jakub dachte sich nichts dabei. Da beschäftigte er sich lieber mit dem bevorstehenden öffentlichen Ballettabend oder, noch besser, mit Judita. Schlank, sportlich, schwarze Haare, spitze Nase, nur zwei Bankreihen vor ihm und dennoch meilenweit entfernt. Unerreichbar. Schon alleine wegen Milo. Da reichte ein schiefer Blick, und man konnte ein paar in die Fresse kriegen.
Die plötzlich auffliegende Schiebetür. Zwei Männer, die auf den Gehsteig sprangen. Ein dritter trat aus dem Dunkel eines Hauseingangs, versetzte Jakub einen Stoß, dann zerrten sie ihn in den Laderaum. Schwarze Sturmhauben, Sehschlitze, entschlossene, kalte Augen. Sie pressten ihn auf den kühlen Wagenboden, krempelten seinen rechten Ärmel hoch, dann kam ein Stich und kurz nach dem Anlassen des Motors rabenschwarze Dunkelheit.
Bis sich vor ein paar Minuten seine Schläfen meldeten. Höchste Schmerzstufe. Als ob von innen ein Hammer gegen die Schädeldecke schlagen würde.
Öffnen der Augen. Angst vor der Helligkeit. Unbegründet. Der Raum war dunkel, feucht und muffig.
Wie spät es war? Vermutlich Nacht. Etwas entfernt hörte er eine Männerstimme. Vielleicht aus dem Nachbarraum.
Jakub setzte sich auf. Alte, modrige Matratze. Der Fußboden aus rohem Stein. Er kämpfte sich hoch, auch wenn der Kopf zu bersten drohte. Strengte die Augen an, konnte aber nichts erkennen.
Er tappte wenige Schritte bis zur Wand. Befühlte sie mit den Händen. Rau, kalt. Wahrscheinlich ein Kellerraum.
Er tastete sich nach links voran. Stieß auf einen Türrahmen, ließ die Hand über die Wand dahinter streichen, fand den Lichtschalter.
Der Junge wurde vom dürftigen Licht einer nackten Glühbirne geblendet, die von der Decke baumelte. Das winzige Badezimmer war mit schmutzigen, ehemals weißen Kacheln verfließt und enthielt eine verdreckte Klomuschel ohne Brille und eine Dusche mit Schiebewänden, deren Bruchstellen mit einem grauen Gewebeband zugeklebt waren.
Er kehrte in den größeren Raum zurück, erkannte jetzt an dessen rechter Seite eine Tür, konnte kaum glauben, dass sie sich öffnen ließ.
Durch den Spalt fiel fahles Licht. Vor ihm lag ein schmaler, schwach beleuchteter, roh verputzter Gang.
Jakub wandte sich nach rechts.
Mit größter Vorsicht.
Schritt für Schritt.
Flaches Atmen. Brennende Augen.
Er gelangte an eine Treppe, die steil nach oben führte. Schneller Blick zurück. An der Decke eine schwächelnde Neonröhre und an der rechten Wand Regale, die bis zur Decke reichten. Aufeinandergestapelte Kartons, Werkzeug, Unrat. Der deutliche Geruch von Schimmel. Jakub musste sofort hier raus.
Er stieg langsam die Stufen hoch. Bis er auf eine Falltür stieß, die man nach oben klappen musste. Jakub drückte dagegen. Wahnsinn! Die ließ sich tatsächlich bewegen.
Jakub konnte es kaum fassen. Stieß die Falltür nach oben. Hörte im selben Moment ihre Scharniere kreischen.
Zur Natur und ihren vielfältigen Erscheinungsformen pflegte der überzeugte Stadtmensch Robert Worschädl eine verhaltene Beziehung. Selbst an den Wochenenden zog es ihn nicht unbedingt hinaus aufs Land. Er brauchte für sein Glück weder den würzigen Duft von Nadelhölzern und Kuhfladen noch die Idylle weicher Wald- und Wiesenböden. Ihm genügte zum Entspannen ein bescheidener Spaziergang am Linzer Donauufer mit den verlässlich vorbeischwimmenden Fracht- und Ausflugsschiffen und vereinzelten Ruder- oder Paddelbooten.
Von dem einzigen in den letzten drei Jahren eroberten Gipfelkreuz blieb ihm nicht die atemberaubende Aussicht auf umliegende, in der goldenen Herbstsonne glühende Bergrücken in Erinnerung, sondern sein tobendes linkes Knie beim Abwärtssteigen und das exzellente Krenfleisch in der überfüllten Berghütte.
Auch die blühende Pracht des Magnolienbaumes vor dem Balkon ihrer Wohnung bemerkte er im Frühjahr erst, nachdem ihn seine Frau Karoline schon dreimal darauf hingewiesen hatte. In die Kategorie beseelter Naturromantiker war der Chefinspektor demnach nicht einzureihen.
Aus ganz anderem Holz war Karoline geschnitzt. Sie hielt sich liebend gern in der unverdorbenen Luft verkehrsverschonter, naturbelassener Zonen auf und nutzte ihre Freizeit gerne für ausgedehnte Wanderungen. Nur wollte sie dabei nicht alleine sein. Deshalb erinnerte sie ihn daran, dass es für ein erquickliches Eheleben auch Kompromisse brauchte. Seither ließ er sich hin und wieder zu einem gemeinsamen Ausflug überreden.
Der heutigen Wanderung konnte er insofern etwas abgewinnen, als sich nach einem etwa 50-minütigen Marsch bereits eine Pause ergab. Sie war der nachteiligen Wirkung einer Blase zu verdanken, die sich an Karolines rechter Ferse bildete. Schwärmte die praktizierende Psychotherapeutin noch vor einer halben Stunde vom erfrischenden böhmischen Lüftchen, so ärgerte sie sich in den letzten Minuten aufgebracht über sich selbst.
„Da lege ich meinen Klienten ständig nahe, gut auf sich selbst zu achten und sich ausreichend Zeit für die eigenen Bedürfnisse zu nehmen, und ich Idiotin bin nicht einmal in der Lage, meine neuen Wanderschuhe einzugehen!“
„Du hast vermutlich darauf vertraut, dass dich der Schuh nicht drücken wird.“
„Stimmt, Bertl. Ich bin davon ausgegangen, dass ich die Ausnahme von der Regel bin.“
„Realitätsverweigerung.“
„Oder Dummheit. Jedenfalls ein sehr liebloser Umgang mit mir selbst.“
Weil Karoline nur mehr humpelnd vorwärtskam und dabei stimmungsmäßig unweigerlich ins Negative driftete, schlug Worschädl vor, die vor ihnen auftauchende Wildgrubalm mit ihrer idyllischen Hütte für eine kurze Rast zu nutzen.
Gleich darauf öffnete er die schmale, unversperrte Tür des hölzernen, rund um die Hütte verlaufenden Gatters. Sie setzten sich auf eine klobige Bank, die mit ihren eingekerbten Herzen und Botschaften von Waidmannsheil bis Fick dich unterschiedlichste Lebensgeschichten in sich aufgenommen hatte.
„Herrlich, oder?“, schwärmte Worschädl scheinheilig und streckte seine Arme weit über die vor ihm liegende Landschaft aus.
Karoline nickte. Bertls Aufmunterungsversuch schien ihr zu gefallen. „Was hältst du von einer Schnitzelsemmel?“
„Ausgesprochen viel“, erwiderte Worschädl.
Also griff Karoline in ihren Rucksack und packte die Jause aus.
„Lass dir’s schmecken“, empfahl Worschädl und wollte schon zubeißen, da schoss seine Hand in Richtung von Karolines Semmel und griff nach etwas Dünnem, Schwarzem. Geschätzte fünfzehn Zentimeter lang.
„Ein Geschenk deines böhmischen Lüftchens“, sagte Worschädl und betrachtete das fadenförmige Ding etwas genauer.
„Ein verkohlter Grashalm, Bertl?“
„Eher ein Haar.“
„Na toll. Von einem Schaf? Von der Mähne eines Pferdes?“
„Könnte sein. Ja, durchaus möglich.“
Karoline vernahm seine Worte, glaubte ihnen aber nicht. Weil Bertl mit seinem nun argwöhnischen Blick nicht wie ein kundiger Tierfreund wirkte, sondern wie ein Kriminalbeamter, dem dieser dünne, schwarze Faden alles andere als geheuer war.
Der Anruf hätte nicht kommen dürfen. Das brachte ihn aus dem Konzept. Dabei hatte er sich alles akribisch zurechtgelegt. Eigentlich war alles minutiös geplant gewesen.
Nämlich nicht nur von A bis Z. Man hatte mit Abweichungen zu rechnen. Egal, wie sehr die Zeit drängte und unter welchem Druck man stand: Man musste immer alle Eventualitäten mitbedenken. So lautete seine Devise. Das war einer seiner Erfolgsfaktoren.
Erfolg. Damit war er gesegnet. Wahrscheinlich hatte ihn der Anruf gerade deshalb auf dem falschen Fuß erwischt.
Von der Mutter des Jungen gab es noch immer keine Reaktion. Sie ging nicht an ihr Handy, rief nicht zurück, meldete sich nicht. Als ob sie das Schicksal und der Verbleib ihres Sohnes keinen Deut interessieren würden.
Das war nicht logisch. Das passte nicht. Das konnte so einfach nicht sein. Oder doch? Was, wenn ihr Handy defekt oder der Akku leer war? Was, wenn Jakubs Mutter von widrigen Umständen davon abgehalten wurde, ihrem natürlichen Instinkt zu folgen und sich um ihr entführtes Kind zu kümmern?
„Fahr sofort zu ihrer Wohnung. Schau nach, wo sie steckt. Ich will wissen, was da los ist.“
„Okay. Ich melde mich heute Abend.“
„Aber nicht ohne Ergebnis!“
Herr und Knecht, Auftraggeber und Lieferant.
Kohle floss nur, wenn das Ergebnis stimmte.
Er schob das Handy in seine Hosentasche.
Exakt in diesem Moment hörte er das Kreischen.
Wie es sich durch die Stille sägte.
Einen Augenblick lang war Jakub unentschlossen. Stoppte mitten in der Bewegung. Öffnete die Falltür nur halb. Damit das Knarren verstummte. Als ob er es ungeschehen machen könnte.
Doch dann hörte er die Schritte. Hastig. Der Entführer, mittelgroß, schlank, eine schwarze Sturmhaube übers Gesicht gezogen, hetzte auf den Gang, riss etwas von einem Wandhaken, raste heran.
Jakub hörte hinter sich ein Keuchen, zog sich hinauf, da fuhr ein brutaler Schmerz in seinen rechten Unterschenkel. Wie ein Pfeil. Bis zum Knochen.
Der Junge knickte ein. Kippte zurück. Fiel die Stufen hinunter. Landete auf blankem Stein. Direkt vor festen, schwarzen Schuhen. Der erste Tritt kam ansatzlos. Mit voller Wucht. In den Bauch. Der nächste zielte auf den Kopf und ein weiterer ins Gesicht. Bis der Angreifer innehielt.
Aus brennenden Augenwinkeln konnte Jakub sehen, wie der Unbekannte etwas an der Wand befestigte. Wahrscheinlich die Stichwaffe, die ihm ins Bein gedrungen war. Dann drehte sich der Mann zu ihm, packte ihn unter den Armen, schleppte ihn den Gang entlang zurück in seine Kammer, warf ihn auf die Matratze, entfernte sich und kam kurz darauf wieder zurück.
Jakub spürte nichts als Schmerzen. Von den Tritten. Von der Wunde an seinem linken Unterschenkel.
Doch dann kam der Stich. Wieder in seinen Unterarm.
Die Nadel drang ein, fand eine Vene.
Kurz darauf machte sich in ihm Entspannung breit. Eine Wolke aus purem Wohlbefinden. Wie durch ein Wunder fühlte er sich von jeglichem Leid befreit.
Worschädl befeuchtete seinen rechten Zeigefinger und streckte ihn in die Luft. Karoline hatte recht gehabt, die erfrischende Brise kam von Tschechien herüber. Aus dem Norden. Von dort, wo die Hütte stand.
Das kleine, aus rötlichem Holz gebaute Häuschen nahm eine Fläche von vielleicht sieben mal acht Metern ein, die Fensterläden waren fest verriegelt, und unter dem Giebeldach an der Vorderseite prangte eine ovale Holztafel mit der geschnitzten Inschrift Wildgrubalm. Rechts neben der Tür war eine ganze Batterie Holzscheite für den nächsten Winter aufgeschichtet.
Die Worschädls gingen um das Haus herum. Dahinter lag ein kleines Wäldchen. Nadelbäume. Stumme Wächter, die ihre Äste schützend in Richtung Hütte streckten.
Am Rande des Wäldchens, das sich mit viel Dickicht und Geäst gegen unliebsame Eindringlinge abschirmte, blieb Worschädl stehen. Karoline sah ihn fragend an.
„Bertl, was suchen wir hier?“
„Weiß ich noch nicht. Aber ich hab da so eine Ahnung. Karo, du bleibst am besten hier.“
„Netter Vorschlag. Nur bin ich schon erwachsen und darf so etwas selbst entscheiden.“
Worschädl war klar, dass er diese Debatte nicht gewinnen konnte. Er bog ein Bündel dünner Äste auseinander und bahnte sich einen Weg durchs Dickicht. Hinter sich vernahm er das Knacksen von Zweigen unter Karolines Schuhen.
Vorerst stieß Worschädl aber nur auf ein unscheinbares Stück Pappe. Es lugte zwischen den am Boden liegenden Blättern hervor. Er bückte sich danach. Die kleine, schmale Streichholzschachtel wies auf schwarzem Hintergrund einen roten Schriftzug auf: Al…Yo…an. Unvollständig und nicht wirklich zu entziffern.
In der Schachtel befanden sich zwei Streichhölzer. Nicht gebraucht und womöglich unbedeutend, aber als Chefinspektor musste er auch auf die unscheinbarsten Dinge Acht geben. Umso mehr, als es mit jedem weiteren Schritt in den Wald hinein zunehmend nach Verbranntem roch. Wie nach verkohltem Holz. Dazu kam ein übler, stechender Gestank, der Worschädls Magen ohne Vorwarnung nach oben stülpte.
Es roch nach versengter Haut.
Nach verbranntem Fleisch.
Karoline stöhnte auf, hielt sich die Hand schützend vor die Nase und lehnte sich an einen Baum. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißperlen, sie kämpfte mit dem Gleichgewicht.
Worschädl gab ihr mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie ihm ab sofort nicht mehr folgen sollte.
Sie nickte und willigte jetzt erleichtert ein. Ihr Mann schien sich zu sammeln, bevor er die nächsten Schritte setzte. Nach ein paar Metern hielt er plötzlich inne, wich einen Schritt zurück, forderte sie mit brüchiger Stimme auf, keinesfalls weiterzugehen.
Jemand hatte Zweige und Äste angehäuft und versucht, damit etwas zu verbergen. Zu hastig, zu schlampig, zu sehr getrieben von der Angst, beobachtet und entdeckt zu werden.
Aber wahrscheinlich wäre der niedrige, grabähnliche Hügel ohne das Haar, das vom böhmischen Wind auf eine Schnitzelsemmel getragen worden war, noch lange keinem aufgefallen.
Auch kein noch so aufmerksamer Wanderer hätte das bis auf den Knochen verkohlte Bein bemerkt, das schräg zwischen den Ästen herausragte. Wie ein grimmig drohender Zeigefinger, der vor den dunklen Seiten dieses Lebens warnte. Schwarze Menschenhaut, verkohltes Menschenfleisch. Mit wenigen helleren Flecken und unzähligen tiefen Rissen.
Worschädl gab sich einen Ruck. Jetzt wollte er Gewissheit haben. Vorsichtig griff er nach den Ästen. Legte das zweite Bein und das Becken frei.
Dasselbe Bild. Eine einzige Verwüstung.
Worschädl drehte sich zu Karoline um. Sein Entsetzen spiegelte sich in ihren Augen, ihrem Gesicht. Sie hatte wieder Recht behalten.
Worschädl zog die Toten an.
Wo er war, passierten Morde.
Denn nach einer freiwilligen Selbstentzündung sah das hier überhaupt nicht aus.
Die Kleidung für Tobias hatte Worschädls Kollegin Sabine Schinagl schon am Vorabend zurechtgelegt: hellblaue Jeans, weißes Polo, dunkelblauer Sweater, alles in Größe hundertzweiundzwanzig. Ausgesucht für einen aufgeregten, kleinen Mann, für den mit seinem ersten Schultag ein neuer Lebensabschnitt begann.
Allerdings zeigte Tobias heute Morgen deutliche Anzeichen von Verweigerung. Ganze drei Mal musste ihn seine Mutter wecken und ans Aufstehen erinnern. Fürs Verzehren seines Nutella-Brötchens brauchte er eine Ewigkeit, und bis er endlich in seinen hellen Turnschuhen und mit dem nagelneuen Schulrucksack in der Tür stand, war Sabines Tagesvorrat an Geduld eigentlich schon aufgebraucht. Aber sie hatte sich fest vorgenommen, ihren Sohn ohne ein einziges lautes Wort durch sein garantiert herausforderndes Wechselbad an Gefühlen zu begleiten.
Im Auto quasselte er in einer Tour, beim Aussteigen in der Schillerstraße nahm er sie sofort an die Hand, bis sie sich der im Stadtzentrum gelegenen Schule und den anderen Kindern und Eltern näherten. Dort löste er sich von seiner Mutter und ging tapfer neben ihr her.
Auch beim Betreten der Klasse hielt er Abstand, steuerte auf eine freie Schulbank zu und nahm mit seiner überdimensionierten Schultüte neben einem Jungen mit Brille Platz. Schinagl, die mit den anderen Eltern verschiedenster Nationalitäten im hinteren Teil der Klasse stand, konnte spüren, wie gerne Tobias in ihre Arme geflüchtet wäre.
Seine Nöte konnte sie nur allzu gut verstehen. Letztes Jahr hatte es der kleine Kerl mit großem Geschick geschafft, sich mit diversen Anzeichen von Unpässlichkeit und kleineren Erkrankungen zumindest einmal pro Woche vom Besuch des Kindergartens zu befreien.
Aber in diesem Moment, hier in der Schulklasse, als er an den Lippen jener Person hing, in deren Hände die anwesenden Mütter und Väter nun ihre bunt zusammengewürfelten Kinder legten, warf er alles in die Waagschale, um auf seine Mitschüler und seine Lehrerin souverän zu wirken. Betont aufmerksam lauschte er den ersten Worten seiner Lehrerin, die sich mit einer Frisur wie nach einem Stromschlag präsentierte.
In alle Himmelsrichtungen abstehende Strähnen. Außerdem ein Übermaß an Enthusiasmus und Missionierungseifer. Wie eine Märchentante, die ihren kleinen Zuhörern den Eintritt ins echte Leben besonders schmackhaft machen wollte.
Die ersten Regeln, mit denen die Volksschullehrerin ihre Schützlinge auf das gemeinsame Lernen vorbereitete, erschienen Schinagl durchaus sinnvoll. Möglichst nicht durcheinanderreden, in den Pausen nicht wild laufen oder raufen und die Handys vor dem Unterricht abschalten und erst nach der letzten Stunde zu Mittag wieder einschalten.
Peinlich, dass genau in diesem Moment Set Fire to the Rain von Adele erklang. Natürlich drehten sich alle nach jener Mutter um, die jetzt in ihrer Tasche hastig nach ihrem verfluchten Handy suchte. Nicht gerade lustig für Tobias, dass es sich dabei ausgerechnet um seine Mama handelte.
„Geht leider nicht anders, ich bin Kriminalbeamtin und muss ständig erreichbar sein“, entschuldigte sich Schinagl und gewann damit für Tobias wieder einiges an Boden. Wer kann schon eine Mutter vorweisen, die Jagd auf gefährliche Verbrecher macht.
Schinagl warf einen Blick aufs Display. Kollege Robert Worschädl war dran. Der alte Brummbär wusste nur zu gut, weswegen sich Schinagl heute freigenommen hatte und wo sie sich in diesem Augenblick befinden musste. Wenn er sie trotzdem störte, ging es um etwas Dringendes.
Schinagl schickte ihrem Sohn ein Lächeln, stahl sich aus der Klasse und drückte draußen die Taste mit dem grünen Telefonhörer.
„Hallo Robert, was gibt’s?“
„Sabine, das ist vielleicht nicht der günstigste Moment …“
„Du sagst es. Damit gelte ich schon am ersten Schultag als Mutter, der die Arbeit wichtiger ist als der Schulstart ihres Sohnes.“
„Tut mir leid. Tobias geht auf alle Fälle vor. Aber sobald das vorbei ist, könnte ich deine Unterstützung brauchen.“
„Habt ihr euch verirrt, Robert? Karoline und du … ihr macht doch eine Wanderung.“
„Die wir aber frühzeitig beenden mussten. Weil wir hier … ja … über eine Leiche gestolpert sind.“
„Das darf nicht wahr sein.“
„Am Waldrand bei der Wildgrubalm. Komplett verkohlt. Kein schöner Anblick.“
„Kann ich mir denken. Ihr habt wahrscheinlich noch keinen Namen.“
„Wir haben so gut wie nichts. Aber die Uhr, die wir auf ihrem linken Handgelenk gefunden haben, ist relativ gut erhalten. Wir schließen auf eine Frau.“
„Okay. Habt ihr sonst noch was gefunden?“
„Nur eine Streichholzschachtel mit einer Aufschrift, die ich nicht entschlüsseln kann. Ich schick dir ein Foto.“
„Mach das, Robert. Ich geh jetzt wieder in die Klasse, damit sich Tobi von seiner Mutter nicht vollkommen im Stich gelassen fühlt. Ich melde mich, sobald ich verfügbar bin.“
„Alles klar.“
Als Schinagl wieder in die Klasse trat, piepste ihr Handy. Laut. Worschädls Foto war angekommen. Ermahnender Blick der Lehrerin, Schinagls entschuldigendes Schulterzucken. Und Tobias’ erleichtertes Aufatmen, weil seine Mama doch noch zurückgekehrt war. Sehr beruhigend für ihn, dass sie sich wieder zu den anderen Eltern stellte und ihm ein aufmunterndes Lächeln schickte.
Schinagl konnte es sich jedoch nicht verkneifen, hinter vorgehaltener Hand das Foto auf dem Handydisplay zu betrachten. Der Deckel einer Streichholzschachtel. Die Aufschrift Al…Yo…an. Rote Buchstaben auf schwarzem Hintergrund. Schinagl hatte nicht den leisesten Schimmer, von welcher Firma oder Organisation diese Streichholzschachtel stammen und was die Aufschrift bedeuten konnte.
Die Bezirksinspektorin wurde aus ihren Gedanken gerissen, als die Lehrerin ihren Vortrag beendete und die Eltern nach Hause schickte. Für den Rest des Vormittags mussten sie ihre Kleinen alleine lassen und der Lehrerin überantworten, was Schinagl entgegenkam. Weil sie, so sehr sie sich auch dagegen wehrte, mit einem Gutteil ihrer Gedanken bereits bei der verkohlten Frauenleiche war.
Möglich, dass sie deshalb draußen auf dem Gang den aus einer Klasse stürmenden Schulwart übersah. Grauer Mantel, hochgezogene Schultern, mächtiger Bierbauch, auf den Boden gerichteter Tunnelblick. Der mittelgroße Kerl hätte eigentlich Vorrang geben müssen, ignorierte aber den Querverkehr, womit eine Kollision unvermeidbar war.
Schinagl wurde seitlich gerammt, verlor dabei ihr Handy, griff reflexartig nach ihrer Waffe, hielt aber inne, als der Schulwart das Kunststück fertigbrachte, ihr Handy aufzufangen.
Der Vorfall war ihm sichtlich peinlich.
„Na so was … echt … das wollte ich nicht.“
„Kein Problem. Alles noch ganz.“
„Super. Dabei … ich hab Sie voll erwischt.“
„Aber nicht aus dem Gleis geworfen. Und dass Sie mein Handy gerettet haben … Respekt … eine Meisterleistung.“
„Reines Glück. Und das Foto …“
„Welches Foto?“
„… auf Ihrem Display.“ Der Schulwart zwinkerte ihr zu. „Hand drauf, das bleibt unter uns.“
„Okay. Aber warum?“
„Na ja, weil es zu einem … also … zu einem Dings gehört.“
„Zu einem Dings?“
„Sie wissen es wirklich nicht?“
„Ich hab nicht die geringste Ahnung.“
„Das AllYouCan draußen in der Wienerstraße.“
Toll. Der Herr Schulwart verfügte über einschlägige Erfahrungen und konnte sogar die fehlenden Buchstaben ersetzen.
„Okay, passt, davon hab ich schon gehört“, sagte Schinagl. „Ein Bordell. So etwas wie ein Laufhaus, oder?“
„Eher ein Flatrate-Puff. Nicht, dass Sie meinen, ich würde dort mein Geld verpulvern.“
Der Schulwart sprach mit gedämpfter Stimme. Schinagl antwortete ebenso leise: „Aber falls Sie das AllYouCan doch einmal besuchen würden …?“
„… dürfte ich dort um günstige hundertzwanzig Euro … Sie wissen schon … also mit jeder und so oft ich kann.“
Harry Kovac hätte eigentlich wissen müssen, dass Jürgen Binder im Grunde ein Sensibler war. Hinter der robusten Fassade seines Mitarbeiters verbarg sich ein butterweicher Kern.
In seinem Innersten war Binder längst nicht so stabil, wie es nach außen hin den Anschein hatte. Er, immer positiv gestimmt, stets ein anerkennendes Wort auf seinen Lippen, lechzte in Wahrheit nach Lob. Deshalb legte er diese übersteigerte Betriebsamkeit und Hilfsbereitschaft an den Tag.
Er verstand es, sich beliebt zu machen. Besonders bei den Damen, die ihn wegen seines unentwegten Fleißes einfach nur Bienchen nannten. Ob ein quietschendes Bett oder ein verstopftes Abflussrohr zu reparieren war, ob er wegen einer abgerissenen Kette ins Sadomaso-Themenzimmer oder zu einem der vier Whirlpools wegen verlegter Massagedüsen gerufen wurde – Bienchen war stets flink und effizient zur Stelle.
Diese serviceorientierte Haltung war ihm bei seinem früheren Job in unzähligen Seminaren eingetrichtert worden. Bankangestellter. Eine Tätigkeit, die er gerne noch ein paar Jahre länger ausgeübt hätte. Doch leider war das Fleisch manchmal schwächer als der Wille. Wobei Binder nicht den Verlockungen des weiblichen Geschlechts erlegen war, sondern jenen der Konten seiner Kunden.
Zwei Jahre lang waren seine so raffinierten wie unredlichen Transaktionen keinem Menschen aufgefallen, und vielleicht wäre das noch eine ganze Zeit lang gut gegangen, hätte Binders auffällig teurer Lebensstil nicht einiges an Argwohn hervorgerufen.
Ungeschickterweise legte er eine Großspurigkeit an den Tag, die gerade im Geldsektor längst aus der Mode gekommen war. Seit der Finanzkrise 2008 war es einfach nicht mehr üblich, am Ende einer Weihnachtsfeier drei Flaschen Rotwein um je fünfundsechzig Euro zu spendieren. Und auch das BMW Cabrio mit den exklusiven Ledersitzen, das eines Tages auf dem von ihm gemieteten Parkplatz in der Tiefgarage stand, erschien keineswegs angemessen.
Am Ende setzte es eine überraschende Überprüfung, die Unterschlagungen im Ausmaß von sechshundertsiebzigtausend Euro zu Tage förderte.
Danach ging es schnell bergab. Der sofortigen Kündigung folgten die Anzeige sowie ein Gerichtsverfahren, schließlich die Übersiedlung von der ehelichen 120-Quadratmeter-Wohnung in eine vier mal drei Quadratmeter große Zelle in einer Justizanstalt, wenige Monate später war die Scheidung abgewickelt, und nach seiner Entlassung wechselte er nahtlos in den Privatkonkurs.
Zum Abstottern der Schulden und der Miete für sein Zimmer in einer Wohngemeinschaft suchte er fieberhaft nach einem Job. Nach mehr als zweihundert erfolglosen Bewerbungen entdeckte er in einem Gratisblatt ein unscheinbares Inserat: „Männliches Mädchen für alles gesucht. Gute Bezahlung, hervorragendes Arbeitsklima.“
Binder konnte unmöglich ahnen, dass sich hinter der angeführten Telefonnummer ein waschechtes Bordell verbarg.
Gut so, denn dann wäre er zum Vorstellungsgespräch wahrscheinlich erst gar nicht erschienen. Aber so saß er zwei Tage später im AllYouCan dem kleinen, fülligen Harry Kovac gegenüber.
Dichte Koteletten, kräftiger Bizeps, Goldkette um den Hals, halb hochgekrempelte Ärmel, wilde Tattoos – ein waschechter Zuhälter eben, der nahezu jedem Klischee entsprach.
Sie wechselten höchstens zehn Sätze, da reichte ihm Kovac seine Pranke, drückte wie ein Schraubstock zu und erklärte Binder für eingestellt.
„Wenn alles super passt, darfst du Ostern und Weihnachten gratis auf eine meiner Stuten steigen.“
Jürgen Binder konnte es kaum fassen. Wo war er nur hingeraten? Er hatte soeben eine Stelle als Puffhausmeister angenommen. Tiefer konnte man nicht mehr sinken.
Aber wenigstens hatte er wieder einen Job. Noch dazu steckten ihm die Prostituierten immer wieder Trinkgeld zu.
Deshalb war Binder ziemlich sauer gewesen, als ihn Harry heute Vormittag vor den Damen als vertrottelt und hirnamputiert beschimpft hatte, weil er das Malheur im beheizten, acht mal vier Meter großen Warmwasserpool im Garten mittels einer Stoßchlorung behandeln wollte. Dabei war das bisher ihre übliche Methode gewesen, wenn das Wasser stark verschmutzt war und gereinigt werden musste.
Aber weil der sogenannte Tscheche ausgerechnet dann ins Becken kotzen musste, als auch noch andere Freier mit ihren Damen zugegen waren, bildete sich der Chef doch tatsächlich einen kompletten Wasserwechsel ein.
„Weil sich kein Mensch in so einer Sauerei in den Himmel vögeln will. Also los, dalli, dalli!“
Beim Aus- und Einlassen des Wassers konnte jedoch nicht einmal Binder zaubern. Was sein Chef mit der Bemerkung kommentierte, dass sich sein Hausmeister bei seinem haarsträubend langsamen Tempo wohl schon bald eine neue Stelle suchen müsste.
Die zweite Demütigung an nur einem Vormittag.
Beide Male hörten die Damen zu.
Beide Male wollte ihr fleißiges Bienchen vor Scham im Erdboden versinken.
Harry war eindeutig zu weit gegangen.
Und das konnte Binder unmöglich auf sich sitzen lassen.
Aber er liebte seinen Arbeitsplatz und wollte ihn noch lange behalten. Daher musste sein kleiner Racheakt möglichst dezent ausfallen, weshalb er den Wasserdruck beim Befüllen des Pools nicht erhöhte, sondern deutlich verringerte.
Dalli, dalli ging bei ihm ab sofort wirklich gar nichts mehr.
Ausschließlich in Dur oder doch ein kleiner Hauch von Moll? Schinagls Lebensgefährte Michael hatte diese Frage fast entschieden, da brummte sein Handy los. Wie ein fetter Bienenschwarm. Er hätte es ausschalten und sich abschotten sollen. Rein in sein kleines Studio, Tür zu, Jalousien runter, und dann volle Konzentration, bis er diesen verflixten Werbejingle für Fertigteilhäuser mit Niedrigenergiebauweise endlich im Kasten hatte.
Aber wenn Sabine anrief, war Abheben ausgemacht. Obwohl das seinen Zeitplan wahrscheinlich wieder gehörig durcheinanderbrachte.
„Sabine?“
„Hi, tut mir echt leid, aber holst du Tobias bitte um zwölf von der Schule ab?“
„Unmöglich. Ich bin mitten im Komponieren. Du hast dir doch extra frei genommen.“
„Ich schon, aber das Verbrechen nicht. Ein grausamer Mord. Schlimme Geschichte. Robert braucht mich.“
„Scheiße. Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll … aber okay.“
„Michael, du bist ein Schatz.“
Aufgelegt. Na toll. Musste er seine kreativen Einfälle eben wieder irgendwie aus dem Ärmel schütteln.
Auch wenn Tobias und Kerstin nicht seine Kinder waren, mochte er die beiden sehr. Immerhin hatten sie ihn bei sich aufgenommen. Duldeten ihn seit ein paar Jahren als neuen Mann an der Seite ihrer Mutter. Nannten ihn manchmal Papa, und hin und wieder ließen sie sich sogar etwas von ihm sagen.
Fünf Minuten später verließ Michael sein Studio. Auf dem Weg zum Auto wurde ihm bewusst, dass Sabine ab nun mit einem neuen Fall beschäftigt war. Das würde mit intensiven Ermittlungen, unregelmäßigen Arbeitszeiten und weniger Energie für die Familie verbunden sein. Womit Michael wieder mehr zum Handkuss kommen würde. War also höchste Zeit, sich diesen Fertigteilhaus-Jingle rauszupressen.
Seine 37-jährige Lebensgefährtin drückte zur selben Zeit den messingfarbenen Klingelknopf neben einer in Schwarz gehaltenen, schweren Tür mit integriertem, verschlossenem Schiebefenster.
Das AllYouCan am südlichen Stadtrand von Linz war ein eingetragenes Diskontbordell, in dem Kunden zu einem Pauschalbetrag von hundertzwanzig Euro innerhalb von zwei Stunden eine unbeschränkte Anzahl von Sexdienstleistungen verschiedener Prostituierten konsumieren konnten.
Mit einem kurzen Blick auf die Homepage des Bordells hatten sich Worschädl und Schinagl darüber informiert, dass hier derzeit drei Frauen aus Ungarn, Österreich und Tschechien sowie zwei Frauen aus Rumänien beschäftigt waren.
Schinagl griff in ihrer Jackentasche nach dem Plastiksäckchen mit der Uhr, die bei der Leiche gefunden worden war.
Im Schiebefenster wurden blaugrüne Augen und falsche Wimpern sichtbar. Dazu ertönte eine tiefe Stimme mit unverkennbar ungarischem Akzent.
„Sieht nicht so aus, als ob Sie zu einem von uns Mädels wollten.“
Schinagl hielt der Frau ihren Ausweis hin.
„Schinagl, Bezirksinspektorin. Ich muss mich mit Ihnen unterhalten.“
Zuerst wurde Schinagl von der etwa 25-jährigen schwarzhaarigen Frau mit Künstlernamen Valerie darüber aufgeklärt, dass die Diskontpuffs für Huren nicht unbedingt von Nachteil waren.
„Weil sich die Männer überschätzen. Sind ganz heiß auf stundenlanges Rammeln, kriegen ihn aber nur einmal, höchstens zweimal hoch. Und danach ist Schluss mit lustig. Außerdem bekommen wir unsere Kohle hier pauschal für die Arbeitszeit bezahlt. Ist sicherer als pro Fick.“
So habe ich das noch nie betrachtet, dachte Schinagl und ließ ihren Blick über das Interieur schweifen. Glitzerbar und Barhocker mit Sitzflächen aus rotem Kunstleder. Sitznischen in rotem Plüsch mit Séparée-Charakter. Links neben der Bar ein Gang, der zu anderen Räumlichkeiten und einer Stiege nach oben führte.
Valerie stellte sich an die Bar und nippte an einem Wasserglas.
„Der Chef mag es nicht, wenn wir zu viel über unsere Arbeit reden. Ich muss gleich wieder in mein Zimmer.“
„Nur einen Moment. Gab es in letzter Zeit Besonderheiten? Einen Zwischenfall? Oder Konflikte, Spannungen?“ Schinagl nahm auf einem der Hocker Platz.
Valerie zögerte und blickte ängstlich zum Gang neben der Bar.
„Frau Valerie, wir können das auch auf unserer Dienststelle besprechen.“
Valerie zögerte, blickte noch einmal zum Gang und gab sich schließlich einen Ruck.
„Mit den Kunden war alles ganz normal.“
„Und mit den anderen Frauen? Mit Ihren Kolleginnen?“
Valerie wechselte in einen verschwörerischen Tonfall.
„Eliska. Sie hatte Stress.“
„Stress mit wem?“
„Mit dem Chef.“
„Und weswegen?“
„Keine Ahnung. Ich hab schon viel zu viel gesagt.“
„Na gut, dann nehme ich Sie mit.“
Valerie kaute nervös an ihrer Unterlippe.
„Vor drei Tagen hat er sie angebrüllt und richtig zur Sau gemacht. Weil sie zu wenig Kunden hatte.“
„Sie hat nicht genug Umsatz gemacht?“ Schinagl fragte sich, mit wie vielen Männern die Frauen pro Tag in die Kiste hüpfen mussten.
„Richtig. Dabei … vor ein paar Monaten hatte Eliska noch eine Frequenz … da konnte keine von uns mithalten.“
„Klingt nach echter Schwerarbeit. Wo ist sie jetzt? Oben in einem der Zimmer?“
„Am Abend nach dem Streit ist sie verschwunden.“
„Verschwunden?“
„Ja, sie ist abgehauen und nicht mehr zurückgekommen.“
„Sie haben also seit drei Tagen …“
„… nichts von ihr gehört.“
Schinagl holte die Uhr vom Fundort der Leiche aus ihrer Tasche und zeigte sie Valerie.
„Kennen Sie die?“
In Valeries Blick machten sich Angst und Sorge breit.
„Sie gehört Eliska.“
„Sind Sie sicher?“
„Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“
Bitte nicht, dachte Schinagl und musste unwillkürlich an die Fotos denken, die ihr Worschädl gezeigt hatte. Ohne selbst auf der Wildgrubalm gewesen zu sein, hatte sie seither den Geruch von Verbranntem in der Nase.
„Valerie, Eliskas Verschwinden … hatte das etwas mit diesem Streit zu tun?“
„Ich weiß es nicht. Schluss jetzt. Von mir erfahren Sie gar nichts mehr.“
Wie aufs Stichwort schob sich in diesem Moment der amtsbekannte Harry Kovac durch die Tür neben der Bar. Untersetzt, einen Kopf kleiner als Schinagl, braunes, glatt zurückgegeltes Haar, weich fallender grauer Anzug über knapp sitzendem, schwarzem Hemd. Sein Vorstrafenregister wies eine bunte Sammlung an leichten und schweren Körperverletzungen auf.
Kovac erkannte sofort, was es geschlagen hatte. Bullen konnte er auf tausend Meter wittern. Nachdem weibliche Bullen, auch wenn sie so gut aussahen wie das vor ihm stehende Exemplar, um nichts angenehmer waren als ihre männlichen Kollegen, machte Kovac wortlos kehrt und verschwand so schnell, wie er gekommen war.
„Harry Kovac! Stehenbleiben!“
Der Zuhälter ließ sich nicht beirren. Bevor Schinagl hinter ihm den Gang erreichte, betrat er sein Büro, knallte die Tür zu und drehte den Schlüssel zweimal um.
Nein, von dieser Schlampe ließ er sich den Tag sicher nicht verderben. Dabei, so wie die aussieht, hätte ich sie sehr gern in meinem Stall, dachte Kovac und entriegelte das Fenster. Sein Büro lag im Halbparterre. Es war nahezu unmöglich, sich beim Runterspringen einen Knöchel zu brechen oder sich einen Seiten- oder Kreuzbandriss zuzuziehen.
Alles easy, dachte Kovac, als er durchs Fenster stieg.
Dein Beruf muss die Seele schädigen. So etwas Furchtbares wie heute habe ich noch nie gesehen. Entsetzlich und unerträglich. Bertl, bitte pass auf dich auf. Kuss, Karo.
Gleich darauf kam die nächste SMS, diesmal von Schinagl.
Achtung, Uhr gehört einer von Kovacs Prostituierten.
Worschädl, der am Parkplatz auf der Rückseite des AllYouCan Stellung bezogen hatte, nickte bestätigend in Richtung des Bordells, ohne auch nur ahnen zu können, in welchem Teil des Gebäudes sich Schinagl gerade befand.
Dafür entging ihm nicht, dass im Halbparterre ein Fenster geöffnet wurde. Und zwar von einem Mann, dem er nicht zum ersten Mal begegnete.
Der Zuhälter, der auf diesem Weg schleunigst sein Etablissement verlassen wollte, bemerkte wiederum den ihm wohlbekannten Chefinspektor und sprang deshalb nun doch nicht so locker in die nur relative Tiefe.
Stattdessen griff der feiste, in feines Tuch gekleidete Kerl nach der neben dem Fenster angebrachten Feuerleiter und turnte trotz seiner geschätzten hundertzwanzig Kilo Lebendgewicht flink nach oben.
Gut, dass Worschädl nicht allzu viel im Magen hatte. Der Anlauf und Sprung hinauf zur untersten Sprosse fiel ihm deshalb nicht besonders schwer. Das Hochziehen schon eher, aber er war bei guter Kondition und kletterte so rasch nach oben, dass er das Flachdach nur kurz hinter Kovac erreichte.
Verblüffenderweise war von dem Zuhälter nichts zu sehen. Als hätte ihn ein Windstoß erfasst und mit sich davongetragen.
Wäre Worschädl nur ein paar Sekunden eher auf das Dach gelangt, hätte er mitverfolgen können, wie Kovac seine Flucht eigentlich mit einem Sprung in den im Garten gelegenen Warmwasserpool vollenden wollte, in dem sich aber, wie er sich von der Dachkante aus überzeugen konnte, noch viel zu wenig Wasser befand. Also ließ er sich vom Dach auf das Sims des daruntergelegenen Fensters gleiten, wo er mit den Zehenspitzen Halt fand. Zugleich klammerte er sich mit den Händen an die Blechumrandung des Daches.
Auf diese zwei Hände stellten sich jetzt zwei Männerschuhe. Eine schmerzhafte Angelegenheit, die ein Aufjaulen des Zuhälters verursachte.
„Verdammt, Worschädl, was auch immer los ist, ich bin es auf keinen Fall gewesen.“
„Warum läufst du dann davon?“
„Weil ich euch kenne. Weil ihr einem jedes Wort im Mund verdreht.“
„Dann gib es doch einfach zu. Du hast wieder Mist gebaut.“
„Einen Dreck hab ich gemacht!“
Worschädl, seit jeher von einer ausgeprägten Höhenangst geplagt, vermied jeden Blick nach unten, während er sein Gewicht noch stärker auf die Hände von Kovac verlagerte. Der Zuhälter war ein alter Bekannter, den der Chefinspektor schon zweimal ins Gefängnis befördert hatte. Um den ein wenig weich zu kriegen, brauchte es harte Bandagen, am besten von Anfang an.
„Worschädl, du bringst mich um!“
„Nein, Kovac, das ist dein Metier.“
„Erstes Gebot: Du sollst keine saudummen Gerüchte in die Welt setzen.“
„Zweites Gebot: Du sollst keine verkohlten Frauenleichen produzieren.“
„Was? Bist du komplett wahnsinnig?“
Worschädl bemerkte, dass Kovacs Hände etwas abrutschten, also ging er auf die Knie und packte den Zuhälter an einer Hand.
„Wir haben bei der Toten einen Hinweis auf dein Lokal gefunden. Kann es sein, dass du eine Mitarbeiterin vermisst?“
„Und wenn es so ist … mein Lokal macht seine Umsätze mit Nutten. Da werde ich doch nicht so vertrottelt sein, eine von ihnen abzumurksen. He, Worschädl, lass mich nicht fallen, halt mich fest!“
„Was auf die Dauer schwierig wird. Kovac, du frisst zu viel.“
Tatsächlich rutschte jetzt auch Kovacs zweite Hand vom Dachblech und klammerte sich an Worschädls Arm, der nun einiges an Gewicht zu tragen hatte. In knieender, vorgebeugter Haltung, halb hinaus über die Kante hängend und zugleich keinen Blick nach unten riskierend, war das kein leichtes Unterfangen.
Als Kovacs Füße ihren Tritt am Fenstersims verloren, baumelte der Zuhälter plötzlich frei hängend an der Fassade.
Das brachte Worschädl ins Wanken.
Das konnte er unmöglich halten.
Ihm blieb nichts übrig. Er ließ los.
Kovac nicht. Der hielt sich fest.
Mit Schraubgriff.
Wie eine Klette.
Gnadenlos.
Dem Puffhausmeister Binder, der gerade von einer Kaffeepause zurück in den von einem hohen Holzzaun blickdicht umgebenen Garten kam, stockte beim Gewahrwerden der äußerst brenzligen Situation der Atem. Keine Frage, dass es aus jetziger Sicht besser gewesen wäre, wenn er beim Einlassen des Pools nicht derartig getrödelt hätte. Das Becken, in das sein Chef zu stürzen drohte, war nämlich höchstens halb gefüllt.
Natürlich eilte Binder sofort zum Wasserhahn und drehte ihn bis zum Anschlag auf, aber das machte die Versäumnisse mehrerer Stunden auch nicht wett.
Eine kleine Prellung hätte Binder seinem Chef durchaus gegönnt. Aber was, wenn sich Kovac alle Rippen brach? Oder gar die Wirbelsäule?
In Binder türmten sich diese Horrorszenarien zu einem riesigen Gebirge auf, da plumpste nicht nur sein Chef vom Dach, sondern mit ihm auch noch ein zweiter Brocken. Beziehungsweise ein zweiter Mann.
Wie zwei Ziegel von einem Dach.
Wie zwei Äpfel von einem Baum.
Als Schinagl in dieser Sekunde um die Ecke bog, fasste sie es sofort symbolisch auf. Als Metapher. Sie sah einen Ermittlungsbeamten, der quasi an seinen Beruf gefesselt war. Den das Verbrechen nicht mehr losließ.
Zugleich hatte sie Worschädls ständige Grenzgänge vor Augen.
Wie viele Sorgen sich Karoline doch immer wieder machen musste.
Wie oft sie um ihn zu bangen hatte.
Kein Nachteil ohne Vorteil, hätte wahrscheinlich Karolines Kommentar gelautet.
Immerhin wurde ihr nicht langweilig mit ihm.
Dieser Vollarsch von Jürgen Binder.
Ließ zuerst den Pool nur mit einem dünnen Pissstrahl ein. Quoll dann vor Mitleid wegen der Steißverstauchung seines Chefs förmlich über. Und benahm sich, als die Bullen ihre Fragen stellten, wie ein von verbaler Inkontinenz geplagtes Weib.
Dabei betonte Kovac trotz peinigender Schmerzen extralaut, dass seine Mitarbeiter von nichts eine Ahnung hätten. Der Einzige, und zwar wirklich der Einzige, der hier Auskunft geben könne, sei nur ihr Chef, also er selbst. Deutlicher konnte man nicht mit dem Zaunpfahl winken. Ignoranter als Binder konnte man darauf nicht reagieren.
Womöglich beeindruckte ihn, wie provokant Worschädl im Garten auf und ab marschierte. Nur war das keine große Leistung, weil der Chefinspektor ja als Zweiter vom Dach in den Pool gestürzt und ganz kommod auf Kovac gelandet war.
Der Zuhälter konnte von Glück reden, dass sein Gesäß beim Aufprall im seichten Wasser und am Poolboden nicht zerschmettert, sondern nur heftig geprellt worden war. Worschädl hingegen erhob sich, als wäre nichts gewesen, beschrieb Kovacs Zustand als halb so wild, ließ sich von Binder ein Handtuch bringen und war sichtlich zufrieden mit dessen unbändigem Redeschwall.
„Woher Eliska stammt? Entschuldigung, wenn ich das nicht wüsste, wo ich mit meinen Mädchen doch täglich zusammenkomme, wäre ich ja voll daneben. Ihre Kindheit und Jugend hat sie im schönen Prag verbracht.“
„Das hat sie Ihnen erzählt?“, fragte Worschädl.
„Noch weitaus mehr. Mit siebzehn hat sie erstmals ihre Dienste angeboten, aber die ersten Geschäftsjahre liefen eher mäßig. Wegen der großen Konkurrenz. Deshalb hat es sie über die Grenze nach Österreich gezogen. Sie hat einen Neuanfang gewagt und war erfolgreich. Tolle Frau. Sehr direkt, sehr unverblümt. Gehört seit zwei Jahren zu unserem Team, und genau so lange fressen ihr die Kunden hier bei uns schon aus der Hand.“
„Kennen Sie ihre Wohnadresse?“, hakte Worschädl nach.
„Aber freilich, Herr Inspektor.“
„Nein, die kennt er nicht“, warf Kovac ein und hoffte, dass Binder endlich die Klappe hielt. Vergeblich.
„Doch, Harry. Ich schreib sie den Herrschaften von der Polizei sehr gerne auf. Genauso wie Eliskas Handynummer.“
Na bravo. Da versucht man, zu mauern, und dann bekommen die Bullen von diesem Idioten so ziemlich alles, was sie brauchen. Die Tussi, die sich gleich darauf verabschiedete, nahm sich sicher Eliskas Wohnung vor.
Geschätzte zwei Stunden später verlagerte Kovac unter höllischen Schmerzen sein Gewicht von der linken auf die rechte Arschbacke, während er sich auf dem Stuhl vor dem schmalen Tisch im Verhörraum für Worschädl wappnete.
Bei dem alten Fuchs hieß es, auf der Hut zu sein. Wie der sein Gegenüber mit scheinbar harmlosen Fragen überrumpeln konnte, war einsame Bullen-Spitzenklasse. Der war sogar in der Lage, ein Kaliber wie Kovac über den Tisch zu ziehen.
Dabei hatte Kovac sein Geschäft quasi von der Wiege an gelernt. Seine ersten Babyfläschchen bekam er mit einem halben Jahr zwischen leeren Bierdosen, schmutzigen Nadeln und gebrauchten Kondomen. In der zweiten Volksschulklasse schlug eine Lehrerin wegen seiner vielen blauen Flecken Alarm, ab dann hatte seine Mutter das Kinder- und Jugendamt am Hals, aber nicht einmal den Sozialarbeitern gelang es, die Notstandshilfe-Empfängerin von gewalttätigen Männern fernzuhalten.
Juliane Kovac hatte ein Händchen für Typen, von denen sie über kurz oder lang geschlagen wurde, genau solche suchte sie sich aus, unter denen litt sie und vor denen flüchtete sie mit dem kleinen Harald ins Frauenhaus, nur um verlässlich wieder zu ihnen zurückzukehren.
In jenen Nächten, in denen der kleine Junge das Klatschen hörte, wenn die Männerhände oder Männerfäuste das Gesicht seiner Mutter trafen, ihre Arme, ihren Rücken, und wenn dann auch noch Tritte zu vernehmen waren, in ihren Bauch, gegen ihre Hüfte, und wenn er, ihr kleiner Sohn, dann durch und durch ihre Schmerzen spürte, als wären es seine eigenen, schwor er sich hoch und heilig, niemals einer Frau derartig weh zu tun, niemals eine Frau zu quälen.
Die vielen Schläge, die er selbst zwischendurch abbekam, wenn er dem einen oder anderen gewalttätigen Liebhaber zu laut, zu lästig oder einfach nur zu anwesend war, fürchtete er anfangs noch, dann nahm er sie hin, steckte sie weg und versuchte, die blauen Flecken so gut wie möglich zu verbergen.
Auch wenn er insgeheim spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, hielt er die Welt zu Hause für die übliche, normale. Aber er stieß immer öfter auf gravierende Unterschiede. Darauf, wie weit seine familiäre Wirklichkeit und die anderer auseinanderklafften.
Kein schöner Moment, wenn du begreifst, dass du in den beschisseneren Teil der Welt hineingeboren bist. Und dass es nur einen gibt, der dich aus der Kloake ziehen kann. Du selbst.
Harry Kovac biss sich durch, schaffte den Hauptschulabschluss und absolvierte die Lehre zum Elektrofachmann. Nach drei Jahren einschlägiger Berufserfahrung entschied er sich, wegen besserer Verdienstmöglichkeiten in die Selbständigkeit zu wechseln.
Er wurde Einzelunternehmer. In einer völlig neuen Branche.