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DAS HENKERSSCHWERT
Das Trommeln wurde lauter, und die Tanzenden bewegten sich rascher. Sie vollführten eigenartige Bewegungen: Mit beiden Beinen sprangen sie hoch und warfen dabei den Kopf in den Nacken. Der Keller, in dem sie sich versammelt hatten, war mit schwarzem Samt ausgeschlagen, und in der Mitte befand sich ein mit weißer Kreide gezogener Kreis. Die Tanzenden achteten darauf, ihn nicht zu betreten. Ihre Körper waren nur schemenhaft zu erkennen, eingehüllt in weiße Leinentücher, die auch die Gesichter verbargen. Zwei Fackeln hingen über dem Kreis und tauchten den Raum in düsteres Licht. In der Mitte des Kreises stand eine Bronzefigur auf einem Sockel, die den Teufel darstellte. An den Sockel war ein lebender Hahn gebunden, der sich nicht bewegte. Aus einer Luke an der Decke strömte Weihrauchgeruch, der sich rasch im Zimmer ausbreitete.
Der Dämonenkiller Dorian Hunter hat seine erste Begegnung mit den Dämonen überlebt - doch um welchen Preis! Seine Frau Lilian ist dem Wahnsinn anheimgefallen. Ein Sanatorium in Wien bietet angeblich beste Behandlungsmöglichkeiten ... doch schon bei seiner Ankunft erfährt Dorian, dass ihm die Dämonen auf der Spur sind ...
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Seitenzahl: 137
Cover
Impressum
DAS HENKERSSCHWERT
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
mystery-press
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Mark Freier
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6983-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
DAS HENKERSSCHWERT
von Neal Davenport
Das Trommeln wurde lauter, und die Tanzenden bewegten sich rascher. Sie vollführten eigenartige Bewegungen: Mit beiden Beinen sprangen sie hoch und warfen dabei den Kopf in den Nacken. Der Keller, in dem sie sich versammelt hatten, war mit schwarzem Samt ausgeschlagen, und in der Mitte befand sich ein mit weißer Kreide gezogener Kreis. Die Tanzenden achteten darauf, ihn nicht zu betreten. Ihre Körper waren nur schemenhaft zu erkennen, eingehüllt in weiße Leinentücher, die auch die Gesichter verbargen. Zwei Fackeln hingen über dem Kreis und tauchten den Raum in düsteres Licht. In der Mitte des Kreises stand eine Bronzefigur auf einem Sockel, die den Teufel darstellte. An den Sockel war ein lebender Hahn gebunden, der sich nicht bewegte. Aus einer Luke an der Decke strömte Weihrauchgeruch, der sich rasch im Zimmer ausbreitete.
1. Kapitel
Die Musik wurde noch durchdringender, und die Tanzenden stimmten einen leisen Gesang an, der jedoch allmählich lauter wurde. Einer von ihnen übersprang den Rand des Kreises und blieb vor der annähernd lebensgroßen Teufelsstatue stehen. Der Vermummte kniete nieder und küsste die Beine des Teufels, dann richtete er sich auf und löste den Hahn von der Statue. Das Tier schlug aufgeregt mit den Flügeln um sich und begann zu krächzen. Eine der Tanzenden blieb neben dem Vermummten stehen und schlüpfte aus dem Tuch. Es war eine schwarzhaarige Frau. Sie konnte nicht viel älter als zwanzig sein, und ihre Augen schimmerten geheimnisvoll dunkelgrün. Der Vermummte griff nach dem Messer, das auf dem Sockel der Teufelsstatue lag. Die nackte Frau kniete vor ihm nieder, ihren Blick auf die Klinge gerichtet. Blitzschnell schnitt der Vermummte dem Hahn die Gurgel durch. Das Blut spritzte über den Oberkörper der Frau. Obwohl der Hahn tot war, schlug er noch immer wild mit den Flügeln. Der Vermummte hielt das Tier an den Beinen und ließ das Blut auf die nackte Frau tropfen. Sie umschlang ihre Schultern und badete im Blut des Vogels. Der Vermummte wartete, bis ihre Hände völlig mit Blut bedeckt waren, dann hob er wieder das Messer und ließ den Hahn achtlos zu Boden fallen.
Die Frau hielt ihm beide Hände hin, und er stach mit dem Messer in ihre Fingerspitzen, aus denen daraufhin kleine Blutstropfen quollen, die sich mit dem Lebenssaft des Hahnes vermischten. Sie tat so, als ob sie sich die Hände waschen würde. Schließlich hielt sie demutsvoll die Handflächen hin und ließ sich zurücksinken. Der Vermummte schabte mit dem Messer das Blut von ihren Händen und drückte die beschmierte Klinge dann gegen die Stirn der Teufelsstatue. Die Frau nahm die kleine Wachsfigur, die sie an einer Kette um das linke Handgelenk getragen hatte, zwischen beide Hände, schloss die Augen und murmelte leise etwas vor sich hin. Der Vermummte schmierte Blut auf die Stirn des Teufels und reichte dann dem Mädchen das Messer. Mit der linken Hand umklammerte sie die Wachsfigur, die einen Mann darstellte, und presste sie unter ihre linke Brust. Dann schlug sie die Augen auf und murmelte weiter.
Das Trommeln hatte aufgehört, und die Tanzenden waren mit abgewandten Gesichtern stehengeblieben. Die Frau küsste die Wachsfigur auf die angedeuteten Lippen und drückte sie nochmals gegen ihr Herz. Dann stellte sie sie zwischen ihre gespreizten Beine und stach mit der Messerspitze in das Herz der Figur. Das Trommeln setzte erneut ein, die Gestalten bewegten sich wieder. Die Frau reihte sich ein, doch verzichtete sie darauf, das Leinengewand wieder anzulegen. Die Wachsfigur stand jetzt neben der Teufelsstatue. Das Messer steckte noch immer in ihrer Brust.
»Er ist in deinem Bann«, sagte der Vermummte, der neben der Figur stehen geblieben war.
Die Frau warf einen flüchtigen Blick auf die Wachsfigur, die langsam zu schmelzen begann. Die Fackeln flackerten stärker. Die Tanzenden zogen sich zurück, als die Musik verstummte. Sie verschwanden in einer Ecke des Raums, warfen die Leinentücher ab, knieten nieder und pressten die Gesichter auf den Boden. Der Vermummte, der noch immer im Kreis stand, nahm eine der Fackeln aus der Verankerung und drehte sich nach rechts. Er ging langsam, fast bedächtig. Es war völlig still im Keller, nur das Lodern der Fackeln war zu hören. Neben einer Tür stand ein großer Sarg. Der Vermummte blieb daneben stehen und hielt die Fackel hoch.
»Steh auf!«, sagte er heiser. »Wir haben Nahrung für dich. Steh auf!«
Aus dem Sarg ertönte ein brummender Laut.
»Steh auf!«, wiederholte der Vermummte in drängendem Tonfall. »Wir brauchen dich. Du bist unsere Waffe. Du wirst ihn vernichten. Steh auf!«
Das Brummen wurde stärker. Eine bleiche Hand schob sich aus dem Sarg. Aus der Ecke des Zimmers drang ein leises Murmeln. Es wurde lauter, und die Hand bewegte sich unruhig. Die Finger waren lang, die Haut fast durchsichtig. Der Vermummte trat einen Schritt zur Seite.
»Wir haben Nahrung für dich«, wiederholte er und schritt rasch durch den Raum. An der Stirnseite des Kellers blieb er stehen. Die Fackel spendete genügend Licht. Der flackernde Lichtschein fiel auf eine junge Frau von vielleicht dreißig Jahren, die an die Wand gekettet war. Sie lag schräg auf einem Brett. Ihre Arme und Beine steckten in Stahlfesseln. Über ihren Mund hatte man ein breites Pflaster geklebt. Sie bewegte sich unruhig und stieß einen dumpfen Laut aus. Ihre blauen Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen, sie flehten um Gnade. Die Bluse der Fremden war bereits an einigen Stellen zerrissen, und der kurze Rock entblößte glatte, pralle Schenkel.
»Komm und iss!«, lockte der Vermummte.
Er schwenkte die Fackel hin und her und hielt sie schließlich dicht an den Kopf der Gefesselten. Der Sarg stürzte um, und dann war ein markerschütterndes Geschrei zu hören. Das Murmeln verstummte, und der Vermummte trat langsam einige Schritte zur Seite. Eine große, bullige Gestalt glitt aus dem Sarg und richtete sich auf. Das kleine, knochige Totenschädelgesicht bildete einen unheimlichen Kontrast zu dem gewaltigen Körper. Die Gestalt kam langsam näher. Der flackernde Schein der Fackel fiel auf ihr Gesicht, so dass die breite Narbe auf der linken Gesichtshälfte zu sehen war, die sich von der Stirn bis zum Kinn hinunterzog. Der Vermummte steckte die Fackel in einen Halter und zog sich in die Dunkelheit des Kellers zurück. Die unheimliche Gestalt aber schlich näher an die Frau heran. Sie bäumte sich verzweifelt auf, ihr Gesicht war von Angstschweiß bedeckt. Keuchend atmete sie durch die Nase.
»Nimm sie dir!«, sagte die Stimme des Vermummten aus der Dunkelheit. »Nimm sie dir und erwache zum Leben! Wir lassen dich nun allein.«
Schritte waren zu hören, dann das Krachen einer Tür, die zugeworfen wurde. Danach wurde es still. Im Keller waren nur noch die gefesselte Frau und der Unheimliche, der jetzt ganz nah an sie herangetreten war und gierig den Mund aufriss. Als er seine dürren Hände auf ihren Leib presste, bäumte sie sich ein letztes Mal auf. Der Druck wurde stärker, und jetzt bekamen die Augen der Frau einen fiebrigen Glanz. Die Iris wurde stecknadelkopfgroß und verschwand schließlich ganz. Innerhalb weniger Sekunden wurde die Haut der Fremden welk; sie schien einzutrocknen. Das Haar fiel büschelweise aus; ihre Augen schlossen sich, und sie atmete langsamer. Der unheimliche Vorgang dauerte nur wenige Minuten. Dann straffte sich die Gestalt des Unheimlichen und richtete sich auf.
»Ich bin wieder zum Leben erwacht«, sagte er. »Ich, Bruno Guozzi. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen, und ich brauche Kraft!«
Die gefesselte Frau war um Jahrzehnte gealtert. Ihr Gesicht war voller Falten, und sie hatte innerhalb von drei Minuten mehr als zwanzig Kilo verloren. Die Fackeln waren niedergebrannt. Es wurde dunkel im Keller. Dann war das Krachen von zersplitternden Knochen zu hören und ein schmatzendes Geräusch, das von zufriedenem Grunzen abgelöst wurde.
Zwei Stunden später betrat der Vermummte erneut den Keller. Der Unheimliche hatte sich wieder in den Sarg zurückgezogen und lag bewegungslos mit geschlossenen Augen da. Diesmal hatte der Vermummte eine Taschenlampe bei sich. Der Lichtstrahl huschte über die Wände, über die Teufelsfigur und blieb am Brett hängen, wo die Frau gelegen hatte. Als er weiter nach links wanderte, riss er einen Haufen bleicher, abgenagter Knochen aus der Finsternis, die fein säuberlich auf einen Haufen gestapelt worden waren. Obenauf lag ein Totenschädel, dessen Augenhöhlen ihn höhnisch angrinsten, und neben dem Knochenhaufen lag eine zerfetzte, weiße Bluse. Der Vermummte wandte sich schaudernd ab.
Seit die Maschine auf dem Flughafen Wien-Schwechat gelandet war, litt Dorian Hunter an Kopfschmerzen, und seine Gedanken verwirrten sich immer wieder. Noch in London hatte er einen Mietwagen bestellt und ihn sofort nach der Zollabfertigung ausgehändigt bekommen. Nach den Vorfällen auf der Hexenburg derer von Lethian war seine Frau Lilian in eine Wiener Privatklinik eingeliefert worden. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in London war er nun in Begleitung des Psychiaters Jerome Barrett mit der Privatmaschine seines Freundes Jeff Parker nach Wien geflogen, um Lilian abzuholen.
Als er nun von Wien-Schwechat aus in Richtung Innenstadt fuhr, wurden seine Kopfschmerzen immer ärger. Er konnte sich kaum noch auf die Straße konzentrieren. Wenigstens kannte er sich in Wien einigermaßen aus. Seit seinem letzten Besuch hatte sich nichts verändert, außer dass der Verkehr wieder einmal zugenommen hatte. Als rechts die Ölraffinerien auftauchten, hob er kurz den Blick. Der Psychiater sah ihn besorgt an.
»Ist Ihnen nicht gut, Mr. Hunter?«, erkundigte er sich.
Hunter kniff die Lippen zusammen. »Ich habe unerträgliche Kopfschmerzen«, sagte er und lächelte schwach. »Aber das wird schon wieder.«
Als endlich das Ortsschild von Wien vor ihnen auftauchte, lenkte Hunter den Wagen an den Straßenrand und hielt an. »Ich verstehe das nicht«, sagte er. »So schlimme Kopfschmerzen habe ich noch nie gehabt.« Er presste die Hände gegen die glühend heiße Stirn. Fieberschauer rannen durch seinen Körper. Auf dem Flug hatte er sich bestens gefühlt, aber kaum waren sie gelandet, hatten die Schmerzen eingesetzt. Jetzt hatte er das Gefühl, sein Kopf würde jeden Moment zerspringen.
Dann jedoch, von einer Sekunde auf die andere, waren die Schmerzen wie weggeblasen. Erstaunt hob Hunter den Kopf. »Die Kopfschmerzen sind weg«, erklärte er verwundert. »Seltsam.« Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und startete den Wagen neu. »Wir fahren zuerst ins Hotel und danach zur Klinik, in Ordnung?«
Jerome Barrett nickte beklommen. Der Verkehr war noch stärker geworden. Die Bäume links und rechts der Straße waren kahl. Es war November, und es musste in der vergangenen Nacht geschneit haben, wenn auch nur einige wenige Zentimeter.
»Die Einfahrt nach Wien ist scheußlich«, sagte Hunter. »Links liegt der Zentralfriedhof, eine riesige Grabstätte mit mehr als dreihunderttausend Gräbern.«
Der Psychiater erwiderte nichts. Er schaute aus dem Fenster und erblickte rechts die Friedhofsgärtnereien, Steinmetze und Geschäfte, in denen man Kerzen und Blumen kaufen konnte.
Hunter fuhr in Gedanken versunken weiter. Die Simmeringer Hauptstraße führte schnurgerade direkt ins Zentrum. Als sie am Haupteingang des Zentralfriedhofs vorüberkamen, hob Hunter den Blick. Er sah ein schwarzgekleidetes Mädchen vor einer der Einsegnungshallen auf das Eingangstor zulaufen. Es trug einen schwarzen Mantel und vor dem Gesicht einen ebenso dunklen Schleier. Hinter Dorian hupte ein Lastwagenfahrer ungeduldig, doch Hunter ließ sich davon nicht irritieren und lenkte den Wagen langsam an den Randstein.
»Was ist los?«, fragte Barrett, doch Hunter gab ihm keine Antwort. Fasziniert starrte er die geheimnisvolle Frau an und kurbelte schließlich das Wagenfenster herunter. Plötzlich ertönte ein Schrei. Er drang aus dem Mund der Fremden, wie Dorian bestürzt erkannte. Sie drängte sich laut rufend an einigen Passanten vorüber, die sie jedoch überhaupt nicht beachteten. Hunter riss die Wagentür auf und sprang heraus. Blindlings überquerte er die Straße. Ein Volkswagen blieb mit quietschenden Reifen vor ihm stehen. Hunter lief einfach weiter. Er kam an einem Kiosk vorbei und steuerte auf das große Eingangstor zu. Die fremde Frau war nur wenige Meter entfernt. Sie wandte sich nach links und verschwand im Pförtnerhaus. Dorian rannte ihr nach, riss die Tür auf und blieb schweratmend im Rahmen stehen. Ein alter Mann sah ihn verwundert an.
»Wo ist das Mädchen?«, fragte Hunter keuchend.
Der Alte stand auf. »Welches Mädchen?«, echote er überrascht.
»Eben ist doch ein verschleiertes Mädchen zu Ihnen hereingekommen.«
Der Torwärter schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich irren, mein Herr. Ich bin allein.«
»Aber ich habe es doch gesehen«, entgegnete Dorian ungehalten.
Der Alte runzelte die Stirn. »Niemand ist hereingekommen«, beharrte er. »Sie müssen sich wirklich getäuscht haben.«
»Und was ist das?«, fragte Hunter und bückte sich. Neben der Tür lag ein schwarzer Spitzenschleier. Er hob ihn auf und hielt ihn dem Alten unter die Nase.
»Diesen Schleier habe ich noch nie gesehen«, sagte der Pförtner verwundert.
Dorian fiel der Duft auf, den der Schleier ausströmte. Ein herbes Parfüm, durchdringend und faszinierend.
»Ich versichere Ihnen nochmals, es ist niemand zu mir hereingekommen. Das hätte ich merken müssen. Außerdem gibt es nur einen Eingang.« Der Pförtner zeigte auf die Tür.
»Dann muss ich mich doch geirrt haben«, sagte Dorian und drehte sich um. »Entschuldigen Sie.«
Der Alte schaute ihm kopfschüttelnd nach, als er die Tür hinter sich schloss. Vor dem Pförtnerhaus blieb er stehen und blickte sich um. Die Fremde war nirgends zu entdecken. Dorian roch nochmals an dem Schleier und kehrte nachdenklich zum Auto zurück. Der Vorfall war ihm unheimlich.
Der Psychiater schaute ihn verwundert an, als er hinter das Steuer glitt. »Weshalb sind Sie plötzlich davongelaufen?«, fragte er.
Hunter hob die Schultern und blickte zum Friedhofstor hinüber. »Haben Sie die schwarzgekleidete Frau nicht gesehen?«, fragte er. Als Barrett den Kopf schüttelte, fügte er hinzu: »Sie rannte auf das Friedhofstor zu und verschwand im Pförtnerhaus. Ihr Gesicht war von diesem Schleier verdeckt. Sie haben sie tatsächlich nicht gesehen?«
»Nein«, behauptete Barrett.
»Aber Sie müssen sie doch gesehen haben«, beharrte Hunter. »Sie schrie hysterisch. Ich habe es deutlich gehört.«
Jerome Barrett presste die Lippen zusammen. »Ich habe nichts gesehen oder gehört. Sie müssen sich getäuscht haben, Mr. Hunter.«
»Und der Schleier?«, fragte Dorian. »Wie erklären Sie sich das?«
»Der hat doch nichts zu sagen«, meinte der Psychiater und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Den hat jemand verloren. Sie sind überreizt, Mr. Hunter. Sie sollten ausspannen. Das mit Ihrer Frau – es war alles zu viel für Sie. Da spielen die Nerven manchmal nicht mehr mit.«
»Sie halten mich also für verrückt?«
Barrett lachte. »Nein, das würde ich nicht sagen. Sie und ihre Frau haben in Asmoda Entsetzliches durchgemacht. Es ist doch klar, dass so ein Erlebnis Spuren hinterlässt. Aber es besteht kein Grund zur Besorgnis.«
Dorian Hunter war mit der Erklärung des Psychiaters keineswegs zufrieden. Da musste etwas anderes dahinterstecken. Erst diese rätselhaften Kopfschmerzen und nun dieser Vorfall am Friedhofstor. Er konnte auch keinen Grund angeben, warum er angehalten hatte und auf das Mädchen zugerannt war. Er steckte den Schleier in die Manteltasche, und sie fuhren schweigend weiter.
Barrett sah sich aufmerksam um. Er war zum ersten Mal in Wien. Nach einiger Zeit änderte sich das Straßenbild. Immer mehr Geschäfte waren zu sehen. In St. Marx bog Dorian nach rechts ab und fuhr an der Rennweger Kaserne vorbei und die Landstraßer Hauptstraße entlang. Er hatte Zimmer im Hotel Bartholomäus in der Wiener Innenstadt bestellt. Das Hotel lag in der Nähe des Stephansplatzes. Dorian hoffte, schon morgen nach London zurückfliegen zu können. Er wollte nicht lange in Wien bleiben. Je näher sie dem Stadtzentrum kamen, umso dichter wurde der Verkehr. Die Straßen waren völlig verstopft, und an ein rasches Weiterkommen war nicht zu denken. Endlich gelang es ihnen, den Ring zu überqueren und am Lueger-Platz vorbei weiter ins Zentrum vorzudringen. In der Bäckerstraße fand er einen Parkplatz.
»Es sind nur ein paar Schritte bis zum Hotel«, sagte er. »Ich schlage vor, wir nehmen gleich unser Gepäck mit.«
Fünf Minuten später hatten sie das Hotel erreicht. Es war ein altes, mittelgroßes Gebäude, aber renoviert und sehr gemütlich. Dorian Hunter und Jerome Barrett gingen auf ihre Zimmer. Sie hatten vereinbart, sich in einer Stunde in der Hotelbar zu treffen.