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Tirso Aranaz war mit einem Meter vierzig für einen viereinhalbjährigen Jungen ungewöhnlich groß. Aber er war auch alles andere als ein gewöhnlicher Junge.
Der Zyklopenjunge wusste, dass Dorian, Coco, Ira, Abi und Don in der Dunkelheit darauf warteten, dass er ihnen sein Kunststück zeigte. Sie waren nur seinetwegen gekommen. Und jetzt versagte er!
Dabei war es bewiesen, dass er über besondere Fähigkeiten verfügte. Aber Tirso hatte Angst; es war eine tief in seinem Unterbewusstsein verwurzelte Angst, die ihn daran hinderte, sie zu gebrauchen ...
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Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Was bisher geschah
DIE ZEIT DER ZWERGE
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
mystery-press
Vorschau
Impressum
Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen gewidmet, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es dem »Dämonenkiller«, ihnen die Maske herunterzureißen.
Bald kommt Dorian seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Teufel, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Um für seine Sünden zu büßen, verfasste de Conde den »Hexenhammer« – jenes Buch, das im 16. Jahrhundert zur Grundlage für die Hexenverfolgung wurde. Doch der Inquisition fielen meist Unschuldige zum Opfer; die Dämonen blieben ungeschoren. Als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, ging seine Seele in den nächsten Körper über. So ging es fort bis in die Gegenwart. Dorian Hunter begreift, dass es seine Aufgabe ist, de Condes Verfehlungen zu sühnen und die Dämonen zu vernichten.
In der Folge beginnt Dorian die Dämonen auf eigene Faust zu jagen – doch diese schlagen zurück und zersetzen die »Inquisitionsabteilung« des Secret Service, der Dorian vorübergehend unterstützt hat. Der ehemalige Leiter der Inquisitionsabteilung, Trevor Sullivan, gründet die Agentur Mystery Press, die Nachrichten über dämonische Aktivitäten aus aller Welt sammelt. Hunter bleibt nur sein engstes Umfeld in der Jugendstilvilla in der Londoner Baring Road: die Hexe Coco Zamis, die selbst ein Mitglied der Schwarzen Familie war, bis sie wegen ihrer Liebe zu Dorian den Großteil ihrer magischen Fähigkeiten verlor; weiterhin der Hermaphrodit Phillip, dessen hellseherische Fähigkeiten ihn zu einem lebenden Orakel machen, sowie ein Ex-Mitarbeiter des Secret Service namens Donald Chapman, der bei einer dämonischen Attacke auf Zwergengröße geschrumpft wurde.
Trotz der Rückschläge gelingt es Dorian, Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, zu vernichten. Doch mit Olivaro steht schon ein Nachfolger bereit, der die schwangere Coco Zamis zur Rückkehr in die Schwarze Familie zwingt. Es gelingt Dorian, Coco zu retten. Nach einer Flucht um den halben Erdball bringt sie ihr Kind in London zur Welt, und Olivaro muss den Thron räumen.
Coco versteckt das Neugeborene an einem Ort, den sie selbst vor Dorian geheimhält. Ihre Vorsicht ist berechtigt, da bald eine neue, »alte« Gegnerin auftaucht: Hekate wurde von Dorian in seinem vierten Leben als Michele da Mosto verraten, sodass ihre einstige Liebe sich in glühenden Hass verwandelt hat. Die Erinnerung an seine Existenz als Michele da Mosto veranlasst Dorian, sich mit der Alchemie zu beschäftigen, doch seine Suche nach dem Stein der Weisen und der Mumie des Hermes Trismegistos zeitigt bisher keinen Erfolg. In Andorra kauft er mit dem Geld von Jeff Parker eine alte Burg als neuen Rückzugsort für das Team – doch auch das »Castillo Basajaun« gerät schnell ins Visier der Dämonen ...
DIE ZEIT DER ZWERGE
von Ernst Vlcek
Gegenwart
Tirso Aranaz war mit einem Meter vierzig für einen viereinhalbjährigen Jungen ungewöhnlich groß. Aber er war kein gewöhnlicher Junge.
»Tirso, versuch es noch mal!«, sagte die Stimme Hideyoshi Hojos drängend.
»Ich strenge mich ja an, Yoshi«, beteuerte Tirso.
Er hörte das Atmen der anderen, die er nicht sehen konnte, weil nur der Tisch, das dicke Buch darauf, und die Kerze angestrahlt wurden.
Tirso wusste, dass Dorian, Coco, Ira, Abi und Don in der Dunkelheit darauf warteten, dass er ihnen sein Kunststück zeigte. Sie waren nur seinetwegen gekommen; und jetzt versagte er.
Er durfte sie nicht enttäuschen.
Sie warteten bereits seit einem halben Jahr darauf, dass er ihnen endlich zeigte, was er konnte.
Tirso wusste, dass er besondere Fähigkeiten besaß. Aber er hatte Angst; es war eine tief in seinem Unterbewusstsein verwurzelte Angst, die ihn daran hinderte, seine Fähigkeiten zu gebrauchen. Nur zu gut erinnerte er sich noch daran, was er – vor einem halben Jahr – angestellt hatte. Es kam ihm vor wie ein Albtraum – doch es war Wirklichkeit gewesen. Er hätte Dorian damals beinahe getötet, als er ihn zwang, sich den Lauf eines Gewehres in den Mund zu stecken. Und bald darauf hatte das ganze Tal in Flammen gestanden, und er – Tirso – hatte es in Brand gesteckt. Er fürchtete das Feuer, wollte nicht noch einmal eine solche Katastrophe verursachen.
Tirso zitterte. Der Schweiß brach ihm aus.
»Lass ihn, Yoshi! Du siehst, dass es über seine Kräfte geht«, sagte eine weibliche Stimme.
Tirso erkannte die Stimme von Coco.
»Er soll es noch einmal versuchen«, sagte Hideyoshi Hojo. »Willst du, Tirso? Noch ein Versuch, ja?«
Tirso nickte.
»Wiederhole vielleicht zuerst noch einmal das Im-Buch-Blättern!«, schlug Virgil Fenton, Tirsos Lehrer, vor. »Dann erst versuche das andere!«
»Gut!«
Tirso konzentrierte sich mit seinem einen Auge auf das Buch. Wie gesagt, er war anders als andere Jungen – auch rein äußerlich. Er hatte eine blaue Haut, kein einziges Härchen am ganzen Körper, und über seiner Nasenwurzel befand sich nur ein großes Auge. Damit starrte er angestrengt auf das Buch am anderen Ende des Raumes, das zusammen mit der Kerze von einem Scheinwerfer angestrahlt wurde.
Langsam hob sich der Buchdeckel wie von Geisterhand bewegt, dann wurde ein Blatt nach dem anderen umgeschlagen. Das kostete Tirso überhaupt keine Mühe. Er konnte auch schwerere Gegenstände allein durch den Blick seines Zyklopenauges durch die Luft bewegen.
Das machte ihm Spaß. Erst vorgestern hatte er Burkhard Kramer, dem »zerstreuten Professor«, wie er ihn nannte, einen ordentlichen Schreck eingejagt, als er durch seinen Blick die Kiefer eines Totenschädels, an dem Burke gerade Messungen vorgenommen hatte, aufeinander klappen ließ.
Tirso konzentrierte sich jetzt auf die Kerze; und automatisch sah er das in Flammen stehende Baztan-Tal vor sich. Ihn fröstelte. Er versuchte, die schrecklichen Erinnerungen zu ignorieren. Und auf einmal brannte die Kerze.
Tirso schrie erschrocken auf. Er war über sich selbst entsetzt, weil es ihn auf einmal keine Mühe mehr gekostet hatte, die Kerze mit seinem Blick anzuzünden.
Die Lichter gingen an. Alle applaudierten.
Coco kam zu ihm und küsste ihn auf die schweißnasse Stirn.
»Jetzt hast du dir eine Pause verdient, Tirso«, sagte sie lächelnd. »Du warst großartig.«
Aber ihre grünen Augen sagten ihm, dass sie das nicht ehrlich meinte. »Du hast es gar nicht großartig gefunden, stimmt's?«, fragte Tirso geradeheraus.
Sie drückte ihn kurz an sich. »Doch, doch«, versicherte sie. »Aber ich war mit den Gedanken woanders. Dir kann man halt nichts vormachen.«
»Hast du an Dorian junior gedacht?«, fragte Tirso. »Wann bringst du ihn her? Er wäre in Basajaun sicherer als sonst wo. Ich würde mich freuen ...«
Aber bevor ihm Coco eine Antwort geben konnte, waren die anderen heran und machten ein Theater, als hätte er die Erde angehalten. Dabei hatte er nur eine Kerze angezündet.
Der Puppenmann Donald Chapman, der auch während der Krise, die Tirso nach der Katastrophe im Baztan-Tal durchgemacht hatte, nicht von seiner Seite gewichen war, kletterte zu ihm auf dem Schoß.
»Das hast du prima gemacht, Tirso«, sagte Don.
Er legte seine winzige Hand in Tirsos blaue und versuchte einen Händedruck. Das war so komisch, dass Tirso lachen musste. Die anderen waren erleichtert. Tirso schien das Experiment ohne psychischen Schaden überstanden zu haben. Sie entspannten, lachten ebenfalls befreit auf.
Tirso nahm Chapman in seine Handfläche und sonderte sich mit ihm von den anderen, die zu fachsimpeln begannen, ab.
»Don, ich habe eine Überraschung für dich«, sagte Tirso, als er mit dem Puppenmann außer Hörweite der anderen war.
»Welche Überraschung. Willst du mir den Hosenboden anzünden?«
Tirso lachte, wurde aber sofort wieder ernst. »Wenn ich es dir sage, dann ist es ja keine Überraschung mehr, nicht? Aber so viel will ich dir verraten: Du wirst nicht mehr lange so ein winziger Zwerg sein.«
Chapmans Puppengesicht drückte Verblüffung aus. »Willst du behaupten, dass du auch ...«
Tirso schüttelte entschieden den Kopf. »Mehr verrate ich nicht.«
Coco hatte keinen Appetit. Sie nahm das Abendbrot nicht mit den anderen im Rittersaal ein, sondern machte einen kleinen Rundgang durch die Burg.
Seit Dorian dem wahnsinnigen Verwalter Isidor Quintano das Handwerk legte, hatte sich in Castillo Basajaun einiges verändert. Jeff Parker war der neue Besitzer der Burg. Er hatte sie renovieren lassen und sie danach Dorian und der Magischen Bruderschaft als Stützpunkt zur Verfügung gestellt. Obwohl es nun elektrisches Licht und auch sonst jeden zeitgemäßen Komfort in der Burg gab, war sie, soweit wie möglich, in ihrem ursprünglichen Zustand belassen worden. Dafür hatte schon Ira Marginter, die Restaurateurin aus Köln, gesorgt, die Basajaun am liebsten in ein Museum verwandelt hätte.
Dennoch hatte man nicht umhingekonnt, einige Veränderungen vorzunehmen. Verschiedene Räume mussten in Büros umgebaut werden, andere in Forschungsstätten, in denen sich die Brüder der Magischen Bruderschaft mit den Phänomenen der weißen und schwarzen Magie auseinandersetzen. Die romantische Kapelle, zwei Stockwerke unter der Erde, war trotz Ira Marginters Protesten in den Tempel der Magischen Bruderschaft umgewandelt worden. Die Unterkünfte befanden sich in den obersten Etagen.
Die wichtigsten, wenn auch unauffälligsten Veränderungen stellten die Schutzmaßnahmen dar, die verhindern sollten, dass Dämonen die Bewohner von Basajaun angriffen. An allen exponierten Stellen waren Dämonenbanner angebracht worden, sodass für die Dämonen ein undurchdringlicher Schutzwall entstanden war. Es schien fast, als hätte der Erbauer der Burg, der Baske Fernandes Hernando de Alecante, selbst Vorkehrungen getroffen, denn überall an den Außenwänden und rund um die Fenster und die Seitentüren sah man Reliefs mit magischen Symbolen und solche, die Fabelungeheuer darstellten. Am eindrucksvollsten aber war das Portal des Doppeltores – die seitlichen Portalwände und das Tympanon darüber. Ira Marginter hatte gesagt, dass die Reliefs – die Sirenen und andere Mischwesen und Szenen aus der Zeit der Hexenverfolgung darstellten – von einem wahren Meister stammen mussten. Coco war aber auch sicher, dass sie von einem Kenner der Dämonen ausgeführt worden waren. Der unbekannte Meister musste gewusst haben, wie man die Mächte der Finsternis zu bekämpfen hatte.
Dieses Bollwerk gegen die Dämonen hatte zwar den Mächten der Finsternis getrotzt, aber die Dämonenbanner hatten nicht verhindern können, dass im Jahre 1768 der wahnsinnige Inquisitor Enrique Quintano Bonifaz die Bewohner der Hexerei anklagte und sie hinrichten ließ – und das nur, um sich selbst zu bereichern.
Coco hatte ihren Rundgang absichtlich zur Abendbrotzeit angesetzt, weil sich da die anderen im Rittersaal befanden und sie nicht gestört wurde. Sie hatte nämlich die alarmierende Entdeckung gemacht, dass manche Dämonenbanner einfach verschwanden. Wollte jemand den Dämonen das Eindringen in die Burg erleichtern? Oder galten diese Maßnahmen dem Cro Magnon? Waren das die Vorbereitungen für einen Befreiungsversuch des Steinzeitmenschen? Bei seinem Transport nach Andorra hatte sich herausgestellt, dass zumindest Olivaro ein Interesse an ihm hatte. Und wenn es stimmte, dass Hermes Trismegistos – in welcher Form auch immer – noch existierte, dann würde zweifellos auch dieser legendäre Magier an Cro Magnon interessiert sein.
Coco stellte während ihres Rundgangs fest, dass wieder einige Dämonenbanner entfernt worden waren, und zwar jene, die eine Hintertür absichern sollten, durch die man in die unterirdischen Gewölbe kam.
Sie ersetzte die verschwundenen Dämonenbanner durch einige magische Symbole und Formeln aus der Kabbala, die sie in einen magischen Kreis malte. Dann setzte sie ihren Weg fort.
Unter anderen Umständen wäre es ihr nicht schwergefallen, irgendwelche dämonischen Einflüsse zu erkennen. Aber Tirso und der Hermaphrodit Phillip – übrigens auch der Steinzeitmensch Cro Magnon – hatten eine so starke Ausstrahlung, dass diese alles andere überlagerte.
Coco zuckte zusammen, da sie vor sich ein Geräusch vernahm, Schritte, vorsichtige Schritte, als wenn sich jemand unbemerkt davonschleichen wollte; und dann entdeckte sie die kaum anderthalb Meter große Gestalt, die geschwind in einem Seitengang verschwand.
»Tirso!«, rief Coco und begann zu laufen. »Bleib sofort stehen! Glaubst du, ich habe dich nicht gesehen?«
Als sie den Quergang erreichte, kam ihr dort ein Skelett entgegen, das schaurig mit den Knochen klapperte. In einiger Entfernung stand Tirso und hielt sich den Bauch vor Lachen.
»Habe ich dich erschreckt, Coco?«, fragte er spitzbübisch, aber in seinen Augen funkelte kein Schalk.
Das Skelett fiel klappernd in sich zusammen.
»Tirso, was hast du hier unten zu suchen?«, fragte Coco streng. »Du weißt, dass man dir verboten hat, dich allein in den unterirdischen Gängen herumzutreiben.«
Tirso senkte den Kopf.
»Jetzt bist du sicher böse auf mich, weil ich dich erschreckt habe«, sagte er eingeschüchtert. »Dabei habe ich geglaubt, dass du Spaß verstehen würdest.«
»Der Spaß hört sich auf, wenn du anfängst, Dämonenbanner zu entfernen, die unser Leben schützen sollen.«
Es war ein Schuss ins Blaue. Coco sah, wie Tirso zusammenzuckte.
»Aber damit habe ich nichts zu tun«, beteuerte der Zyklopenjunge, ohne sie dabei anzusehen. »Ehrlich, ich wollte dir nur Angst einjagen. Als ich sah, dass du nach unten gingst, bin ich dir nachgeschlichen. Und dann sah ich das Skelett und – und da konnte ich nicht anders ...«
»Du solltest inzwischen schon wissen, dass du eine ehemalige Hexe mit solchen Geisterbahneffekten nicht erschrecken kannst«, sagte Coco versöhnlicher.
Sie musste sich ein Schmunzeln verkneifen, als sie sich an letzte Nacht erinnerte. Da hatte Tirso mit seinem Blick ihr Bettlaken bewegt, um sie glauben zu lassen, dass es ein Gespenst ist. Er hatte sich zu einem richtigen Lausbuben gemausert. Coco war sicher, dass er den Schock längst schon überwunden hatte.
Tirsos Gesicht erhellte sich. »Dann bist du mir nicht mehr böse?«
»Nein. Und jetzt mach, dass du nach oben kommst!«
Tirso lief eilig davon und verschwand über eine Wendeltreppe nach oben.
Coco setzte ihren Weg zum Verlies fort. Noch bevor sie zu dem Gewölbe mit den niedrigen Eisentüren kam, hinter denen früher die Opfer der Quintanos geschmachtet hatten, hörte sie die unartikulierten Schreie, denen ein Krachen und Poltern folgte.
Cro Magnon tobte wieder einmal in seiner Zelle. Manchmal benahm er sich tagelang völlig normal, und man konnte sogar vernünftig mit ihm reden; aber dann brachen die Urtriebe wieder in ihm durch, und er gebärdete sich wie ein Rasender. So eine Phase machte er gerade durch.
Coco ging zu seiner Zelle und öffnete die Klappe. Sie sah in einen großen Raum, der recht gemütlich eingerichtet war und auch sanitäre Anlagen besaß. Jetzt sah es darin allerdings wie nach einer Schlacht aus. Cro Magnon hatte alles kurz und klein geschlagen, was nicht niet- und nagelfest oder aus Eisen war.
»Cro«, sagte Coco, »was ist nur wieder mit dir los?«
Er wirbelte herum, als er ihre Stimme hörte.
Cro hatte sich das Gewand vom Leib gerissen und stand völlig nackt da. In seiner Pose wirkte er wie ein antiker Rachegott. Die Muskeln seiner angespannten Arme und Beine zuckten, der breite Brustkorb hob und senkte sich, die klugen Augen in dem breiten, kantigen, aber männlich schönen Gesicht funkelten sie zornig an.
»Weib, come in, und ich zeig dir, wer ich bin!«, schrie er ihr entgegen.
Cro Magnon wurde von dem Linguisten Virgil Fenton, der auch Tirsos Lehrer war, Deutsch gelehrt – und er lernte schnell. Er schnappte jedes Wort auf, das in seiner Gegenwart fiel, und erweiterte so seinen Sprachschatz. Da die Insassen von Basajaun jedoch verschiedenen Nationalitäten angehörten und sich manchmal ihrer Muttersprache bedienten, schnappte Cro Magnon Worte der verschiedensten Sprachen auf und vermischte sie. Manchmal wandte er die Worte falsch an, sodass ein furchtbares Kauderwelsch entstand.
»I'm a man!« Er blähte den Brustkorb auf und stellte sich in Pose. »Du Weib, wir machen l'amour.«
Coco musste lachen. »Zugegeben, du bist ein strammes Mannsbild«, sagte sie schnell, als sie merkte, dass er sich in seiner Ehre gekränkt fühlte. »Aber ich habe dir oft genug erklärt, dass man sich in der heutigen Zeit nicht jede Frau nehmen darf, die man haben will. Zu deiner Zeit war das wohl anders?«
Cro Magnon wandte sich ab. Immer, wenn man auf seine dunkle Vergangenheit zu sprechen kam, wurde er verschlossen und verstockt.
»Cro, warum sprichst du nicht über dich?«, fragte Coco. »Wir wissen schon eine ganze Menge über dich. Burke« – das war der Ethnologe Burkhard Kramer, Theoreticus aus Frankfurt – »hat herausgefunden, dass du aus dem Mesolithikum oder dem Neolithikum stammen musst. Das würde bedeuten, dass du an die zehntausend Jahre alt bist. Hast du dazu nichts zu sagen?«
Cro Magnon stand mit dem Gesicht zur Wand und drehte ihr den Rücken zu. Mit den Füßen scharrte er in den Trümmern seiner Einrichtung.
»Geh!«, sagte er nur.
Coco biss sich auf die Lippen. »Hast du vielleicht deine Erinnerung verloren? Quält dich das? Wenn es so ist, dann sage es uns und wir werden versuchen, dir zu helfen.«
»Geh!«
»In Ordnung. Aber zieh dich wieder an! Du bist viel zu zivilisiert, um nackt herumzulaufen.«
»Zivilisiert kann man nicht lieben.«
»Ist das dein Problem?«
»Verschwinde! Hurry up!«
Coco schloss seufzend die Klappe und kehrte nach oben zurück.
An der großen Tafel im Rittersaal saßen nur noch Ira Marginter und Burkhard Kramer, die über das Magische in der Kunst der Primitiven diskutierten.
Coco störte die beiden nicht. Von Hideyoshi Hojo, dem kleinen Japaner aus Kyoto, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Tirsos verlorene Fähigkeiten wieder zu wecken und auszubilden, erfuhr sie, dass Dorian im Büro war.
Der Dämonenkiller war allein.
Er hatte gerade einen Papierstreifen aus dem Faxgerät gerissen und starrte auf den Text.
Als Coco eintrat, sah er kurz auf und sagte: »Was Trevor nur von mir will. Als hätte ich keine anderen Sorgen.«
»Was ist?«, fragte Coco. Sie zündete sich eine Zigarette an und holte eine Flasche Bourbon und ein Glas aus der Bar.
Dorian hob zwei Finger, womit er ihr zu verstehen gab, dass er auch einen Drink wollte. Dann zerknüllte er die Nachricht, warf sie in den Papierkorb und sagte: »Trevor überhäuft mich seit Tagen mit Meldungen über einen gewissen Magnus Gunnarsson.«
»Nie von ihm gehört.« Coco reichte ihm ein Glas und ließ sich in einen Sessel sinken.