Dorian Hunter Crossover - Niemandskind - Ian Rolf Hill - E-Book

Dorian Hunter Crossover - Niemandskind E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Die drei Fremden John Sinclair, Professor Zamorra und Dorian Hunter finden sich in einem Hotel am Fuße eines Vulkans wieder. Sie wissen weder, wo der Ort liegt, noch wie sie dorthin gekommen sind. Nur eines scheint klar: Der Ausbruch des Vulkans steht unmittelbar vor, und ihnen bleiben nur wenige Stunden, das Rätsel um die geisterhaften Bewohner des Hotels zu lösen … - Das große, dreiteilige Crossover zwischen dem Geisterjäger John Sinclair, dem Meister des Übersinnlichen Professor Zamorra und dem Dämonenkiller Dorian Hunter – in einer umfassenden Buchausgabe inklusive Werkstattberichten und Autoreninterviews!

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Seitenzahl: 294

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Niemandskind

 

 

 

Niemandskind

 

Ein John Sinclair | Professor Zamorra | Dorian Hunter Crossover

 

von Ian Rolf Hill,

Thilo Schwichtenberg

und Dario Vandis

 

Impressum

 

© Zaubermond Verlag 2023

© Dorian Hunter – Dämonenkiller

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

›John Sinclair‹ und ›Professor Zamorra‹ sind Figuren der gleichnamigen Serien der Bastei-Verlag AG, Köln. Die Verwendung erfolgt mit freundlicher Genehmigung.

 

 

Titelbild: Mark Freier

 

www.Zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis
Niemandskind
Impressum
Erster Teil
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Zweiter Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Dritter Teil
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Epilog
Anhänge
Anhang I
Anhang II
Anhang III
Anhang IV

 

Erster Teil

 

Niemandsland

 

von Ian Rolf Hill

 

 

Prolog

 

Das Erwachen fühlte sich seltsam an.

Weniger was das körperliche Empfinden betraf, das war normal. Zumindest soweit ich das beurteilen konnte. Die Ahnung, dass etwas nicht stimmte, beruhte mehr auf intuitiver Wahrnehmung, die sich prompt bestätigte, als ich die Augen aufschlug.

Ich sah auf den ersten Blick, dass ich nicht in meinem eigenen Schlafzimmer lag!

Nur – wie zum Teufel war ich hierhergekommen?

Durch die hölzernen Lamellen der Fensterläden sickerte Sonnenlicht, sodass ich Einzelheiten erkennen konnte. Einen wuchtigen Kleiderschrank aus lackiertem Nussholz, einen Sekretär unter einer gerahmten Ölmalerei, davor ein gepolsterter Stuhl.

Neben der Tür ein Spiegel, in dem ich mich selbst erblickte, wie ich in einem breiten Bett lag, das im Zentrum des Raumes stand. Und ich befand mich nicht allein darin.

Deutlich zeichnete sich der Umriss eines zweiten Körpers unter der weißen Bettdecke ab. Ich fuhr herum. Meine Augen weiteten sich. Langes weizenblondes Haar, das den halb entblößten Rücken bedeckte.

»Jane?«

 

Kapitel 1

 

»Mhm?«, drang es verschlafen durch die zerzauste Mähne.

Eindeutig Jane Collins. Mir wurde heiß und gleich darauf eiskalt. Was hatte ich hier zu suchen? Wie kam ich hierher? Was hatten wir getan?

Ich schaute mich um. Die Einrichtung sah verdächtig nach Hotel oder Pension aus. Wir lagen also nicht zu Hause bei Jane in Lady Sarah Goldwyns Villa in Mayfair, sondern … ja, wo?

Ich spürte ein trockenes Kratzen im Hals. Überall verstreute Kissen, zerwühlte Bettdecken … Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich angenommen, dass Jane und ich uns ein Zimmer genommen hatten, um so richtig die Sau rauszulassen.

Aber, verdammt noch mal, ich wusste es besser. Ich … war gestern nach einem langen Tag im Büro mit Glenda noch ein Bier trinken gegangen. Anschließend waren wir zu mir nach Hause gefahren, wo wir irgendwann gemeinsam eingeschlafen waren.

Und jetzt lag ich irgendwo in einem Hotel neben Jane Collins!

Was ging hier vor sich?

Unwillkürlich tastete ich nach dem silbernen Kreuz, das für gewöhnlich an einer Kette vor der Brust hing. Es war verschwunden!

Ich schlug die Decke zur Seite.

Die Tatsache, dass ich nicht einen Faden am Leib trug, untermauerte meine Befürchtung, dass Jane und ich …

»Was ist denn los?«, murmelte sie unwillig. »Was schreist du hier herum?«

»Das Kreuz! Wo ist es?«

»Da, wo du es hingelegt hast!« Jane klang eine Spur wacher – und genervter. »Auf dem Nachttisch. Du weißt, wie ich es hasse, wenn es mir im Gesicht hängt, wenn wir …«

Ich spürte, dass ich rot wurde, wie ein Pennäler, der bei etwas Verbotenem erwischt wurde. Gleichzeitig atmete ich auf. Mein Talisman, vor zweitausendfünfhundert Jahren von dem Propheten Hesekiel in babylonischer Gefangenschaft geschmiedet, lag wahrhaftig auf dem Nachttisch.

Ich schnappte ihn mir.

Das Silber fühlte sich normal an. Kühl, wie zu erwarten. Es hatte sich weder erwärmt noch verfärbt, für mich ein erster Hinweis, dass hier keine schwarze Magie am Werk war.

»Also ehrlich, John«, sagte Jane. »Manchmal benimmst du dich wirklich seltsam.«

Ich stand auf. Meine Freundin hatte sich umgedreht und stützte sich auf den Ellenbogen ab. Die Bettdecke war ein Stück nach unten gerutscht, ihre Brüste lagen frei. Der Anblick brachte mich ins Schwitzen.

»Was haben wir getan?«

»Also wenn ich dir das erklären muss, dann …«

Mit einer wütenden Geste schnitt ich ihr das Wort ab. »Hör auf! Was ist mit Chris?«

Jane legte die Stirn in Falten. »Mit wem?«

»Du weißt schon, wen ich meine!« Natürlich Chris Ainsworth, ihren Freund. Ich hielt nach meiner Kleidung Ausschau. Sie lag auf der Sitzfläche des Stuhls, sorgfältig zusammengelegt. Sogar das Schulterholster mit der Beretta befand sich darunter. Schon merkwürdig, normalerweise pflege ich meine Klamotten nicht so ordentlich zusammenzulegen. Jedenfalls nicht, wenn die Leidenschaft mich übermannte.

»Der Geologe«, fügte ich hinzu, als ich Janes stirnrunzelnden Blick bemerkte. »Du weißt schon, der Sohn von Creepy Gregg.«

»Nein, John, ich weiß nicht. Ich habe keine Ahnung, von wem du sprichst.«

Mir lag eine Antwort auf der Zunge, doch ich schluckte sie herunter. Janes Kommentar hatte ehrlich geklungen. Nicht wie der einer Frau, die ihren Partner verleugnete, weil sie ihn mit ihrem Ex-Freund betrogen hatte.

Mir kam ein schrecklicher Verdacht. Während ich mich ankleidete, beobachtete ich Jane durch den Spiegel. Sie musterte mich. Allerdings nicht lauernd, sondern eher … besorgt.

Bevor ich die Knöpfe des Hemdes schloss, zog ich die Kette mit dem Kreuz über den Kopf und ging um das Bett herum, bis ich neben Jane stand.

»Und was soll das jetzt werden?«

»Ich möchte, dass du das Kreuz anfasst!«

»Ernsthaft? Glaubst du, ich bin ein Dämon?«

»Wenn nicht, hast du ja nichts zu befürchten.«

Fassungslos starrte sie mich an. Fassungslos und gekränkt.

Ich beobachtete, wie sie schluckte und – nach dem Kreuz angelte. Sie umklammerte es, als wollte sie es mir aus der Hand reißen. Kurz darauf ließ sie es wieder los.

»So, zufrieden?« Sie warf sich zurück ins Kissen, zog die Decke über die Schultern und wandte mir den Rücken zu.

Nein, ich war alles andere als zufrieden. Hier stimmte einiges nicht. Mal abgesehen von dem Umstand, dass ich in einer völlig fremden Umgebung zu mir gekommen war und statt Glenda Jane Collins neben mir lag. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Plötzlich wusste ich, was mich beim Anblick von Janes Brust so verstört hatte. Es war nicht das schlechte Gewissen, dass ich mit ihr fremdgegangen war. Es fehlte etwas Entscheidendes. Etwas, das für Jane und mich mittlerweile so normal geworden war, dass wir keinen Gedanken mehr daran verschwendeten, obwohl der Anblick schreckliche Erinnerungen barg.

»Wo ist die Narbe?«

»Was?«

Jane wandte nicht mal den Kopf.

»Die Narbe auf der Brust. Von der Herz-OP.«

»Was denn für eine Herz-OP?«

So langsam verlor ich die Geduld.

»Verdammt noch mal, die Operation in San Francisco. Wo man dir ein künstliches Herz eingesetzt hat.« Der Eingriff war nötig geworden, weil Asmodis ihr das echte Herz hatte herausschneiden lassen. Ohne den Würfel des Unheils hätte Jane die Attacke damals nicht überlebt.

Jetzt wandte sie doch den Kopf. Ihre Augen funkelten zornig. »Jetzt reicht es aber. Bist du betrunken?«

»Du behauptest also, dass dir nie das Herz herausgeschnitten wurde und du immer noch dein eigenes besitzt?«

»Stell dir vor, ja, das tue ich.«

»Und was ist mit dem Geist des Rippers? Mit Wikka?« Sie schnellte hoch. Im ersten Moment fürchtete ich, sie wolle mich angreifen. Die Bettdecke rutschte von ihrem nackten Körper. Seidig glatte Haut. Jugendlich straff, wie bei einer Frau Mitte, Ende zwanzig. Und ihr Gesicht … nein, das war …

Unmöglich?

Die Stimme meines Unterbewusstseins klang fast ein wenig spöttisch. Kein Wunder, immerhin hatte ich das Wort unmöglich schon lange aus meinem Wortschatz gestrichen.

Ich zuckte zusammen, als sich Janes Hand auf meine Stirn legte. Warm und wohltuend.

»Hm, kein Fieber.«

»Mir geht’s gut«, beharrte ich.

»Den Eindruck habe ich nicht. Aber vielleicht solltest du dir einen ordentlichen Kaffee gönnen. Bei der Gelegenheit kannst du mir auch gleich einen mitbringen. Und wo wir schon mal dabei sind: Rührei, Toast und Marmelade wären auch ganz nett.«

Sie ließ sich wieder in die Kissen fallen und wickelte sich in die Bettdecke ein. Deutlicher konnte sie mir nicht zu verstehen geben, dass das Gespräch für sie beendet war. Ich öffnete das Fenster und schob die Läden zur Seite. Kühle Morgenluft wehte mir entgegen, und ein gewaltiger Berg mit karstigen, dunkelgrauen Hängen ragte vor mir auf. An seinem Fuß erstreckte sich dichter Wald, der bis an das Haus heranreichte.

»Wo zum Teufel sind wir hier?«

»Hol dir endlich ’nen Kaffee«, drang es gedämpft unter der Decke hervor.

Ich schloss das Fenster, die Läden ließ ich offen.

Auf dem Weg zur Tür warf ich einen weiteren Blick in den Spiegel. Ich sah genauso aus, wie ich mich in Erinnerung hatte. Wenigstens war ich noch derselbe. Ein Mann in den besten Jahren, wie man so schön sagte.

Ich öffnete die Tür und trat auf den Flur hinaus, der von Kerzen in altmodischen Wandhaltern erhellt wurde – als der Boden unter meinen Füßen erzitterte! Begleitet von einem dumpfen Rumoren, dessen Ursprung außerhalb des Hotels liegen musste. Die Wände schwankten, und die Luft im Flur schien zu kochen.

Die Tür schräg gegenüber flog auf. Fing Feuer.

Aus der Öffnung quoll eine glühende, zähflüssige Masse, glitt wie eine gewaltige Zunge auf den Flur hinaus. Dunkelgraue Beläge klebten auf der Oberfläche, die Luft darüber flimmerte.

Lava!

 

Kapitel 2

 

Wieder bebte die Erde. Die Flurwände erzitterten, und irgendwo klirrte Glas. Flammen leckten über den Türrahmen, durch den die Lava in den Korridor quoll. Die mintgrüne Tapete mit dem Ornamentmuster fing ebenfalls Feuer und schälte sich von der Wand. Kerzen loderten auf und zerschmolzen. Die Hitze raubte mir die Luft zum Atmen.

Heiße Dämpfe reizten meine Atemwege, die Lungen verkrampften sich. Ich hustete und vernahm einen gedämpften Schrei.

Eine weitere Tür flog auf.

Eine junge Frau, keine dreißig Jahre alt, taumelte auf den Flur. Dunkle, fast schwarze Haare wehten um ihr Haupt. Sie war in ein schlichtes weißes Gewand gehüllt, das mich im ersten Moment an ein Leichenhemd erinnerte.

Vermutlich war sie von der Lava überrascht worden, die hinter ihr fast das gesamte Zimmer füllte.

Sie warf sich mir an die Brust, krallte ihre Finger in meine Kleidung. »Bitte – bitte retten Sie meine Tochter!«

Ich schob sie zur Seite und stürmte in das Zimmer. Glühende Hitze schlug mir entgegen. Ich hielt die Luft an. Meine Augen tränten. Ich riss die Arme vors Gesicht, duckte mich und betrat den Raum, in dem nur der Türbereich noch nicht von Lava bedeckt war. Die Luft flimmerte und waberte. Auf dem Bett, das gerade im Feuer versank, kniete ein Mädchen in einem weißen Kleid mit roten Blüten. Die dunkelblonden Haare waren zu Zöpfen geflochten, die mit ebenfalls roten Schleifen verziert waren.

Ich konnte nichts mehr für das Mädchen tun. Eine Welle aus Lava schwappte auf mich zu. Ein Sekretär, der von der glühenden Masse mitgerissen wurde, brannte lichterloh. Ebenso wie die Wände und ein Bild, das über dem Bett hing.

Das Mädchen schrie, als es von den Lavamassen verschluckt wurde. Das Kleid fing Feuer, die Haare verschmorten, die Haut …

Da brach die Tür zum Bad aus den Angeln. Lava quoll wie geschmolzener Käse aus der Öffnung und klatschte mir vor die Füße.

Ich wirbelte herum und hechtete zurück in den Flur, um wenigstens die Mutter zu retten. Doch sie war verschwunden. Dafür flogen weitere Türen auf. Der gesamte Korridor füllte sich mit Lava, die Luft brannte.

Himmel, Jane! Mit drei Sätzen war ich an unserer Zimmertür, die nicht wieder ins Schloss gefallen war, und riss sie auf.

»Jane! Raus hier! Wir …«

Der Rest des Satzes blieb mir im Hals stecken.

Das Bett war leer, Jane war verschwunden!

Ich öffnete die Badezimmertür. Das Bad war ebenfalls leer. Keine Spur von Jane. Aber auch keine Lava!

Ich wankte rückwärts und versuchte, Ordnung in das Chaos meiner Gedanken zu bringen. Vergebens.

»Jane!«, brüllte ich und stürmte zurück in den Flur.

Frühmorgendliche Stille empfing mich. Sämtliche Türen waren geschlossen, die scheußliche mintgrüne Tapete unversehrt. Ebenso wie der weiche dunkelgrüne Teppichboden, der meine Schritte dämpfte.

Keine Lava, kein Feuer, keine Hitze.

Auch das Beben und Rumoren hatten aufgehört.

Da begann selbst ich an meinem Verstand zu zweifeln.

 

Ich tastete nach dem Kreuz, das ich mir wieder um den Hals gehängt hatte, nachdem ich Jane damit getestet hatte. Das Silber hatte sich leicht erwärmt.

Was war die Ursache? Schwarze Magie oder Lava?

Ein hartes Lachen entglitt meiner Kehle. Als ob die Lava in irgendeiner Weise normal gewesen wäre. Da meine Umgebung unversehrt war, musste es sich um eine Halluzination handeln. Insofern war ich über die Erwärmung des Kreuzes durchaus erleichtert. Immerhin war dessen Reaktion der Beweis dafür, dass hier finstere Mächte am Werk waren und ich eben nicht langsam dem Wahnsinn anheimfiel.

Der nächste Gedanke war, das Handy zu checken. Ich eilte zurück ins Zimmer, doch sosehr ich auch suchte, ich fand es nicht. Ebenso wenig wie irgendein Gepäckstück.

Von dem zerwühlten Bettzeug abgesehen, machte unsere Suite einen unbewohnten Eindruck.

An Zufälligkeiten wollte ich in diesem Zusammenhang nicht glauben, hinter diesem Wahnsinn steckte Methode. Blieb die Frage, wer für den Spuk verantwortlich war. Und wo Jane jetzt steckte.

Mein erster Gedanke war, in den anderen Zimmern nach ihr zu suchen, aber die waren alle verschlossen. Auch auf mein Klopfen und Rufen reagierte niemand. Schließlich gab ich es auf.

Ich dachte wieder an die unbekannte Frau, die mich angefleht hatte, ihr Kind zu retten. Am Ende des Flurs führte eine steile Treppe nach unten. Sie wurde ebenfalls von Kerzenlicht erhellt. Hölzerne, mit Teppichboden ausgelegte Stufen wurden von golden glänzenden Sprossen gehalten. An den Wänden hingen Ölgemälde. Mir fiel auf, dass sie stets dasselbe Motiv aufwiesen: ein mehrstöckiges, rechteckiges Anwesen vor einem hohen Berg. Über dem Eingang prangte ein Schild mit der Aufschrift Hotel. Im Hintergrund verschmolzen Himmel und Erde zu verwaschenem Grau.

Obwohl ich es bisher noch nicht von außen gesehen hatte, war ich mir sicher, dass sämtliche Gemälde das Haus zeigten, in dem ich mich gerade aufhielt.

Ein Klingeln unter mir im Flur riss mich aus meinen Gedanken.

»Hallo? Ist hier denn niemand?«

Rasch ließ ich die letzten Stufen hinter mir. An der Rezeption stand ein hochgewachsener Gast mit markanten Gesichtszügen, der mir vage bekannt vorkam. Er trug einen weißen Anzug, darunter ein leuchtend rotes Hemd. Die Haut war gebräunt, das Haar dunkelblond. Vor ihm auf einem Tresen aus Teakholz stand eine Tischglocke. Mein Blick schweifte weiter zu einem altmodischen Schlüsselbrett sowie einem antiken Telefon mit Wählscheibe, bei dem das Mikrofon noch in den Apparat verbaut war und nur die Muschel für das Ohr abgenommen werden konnte.

An der Decke gleißte ein riesiger Kronleuchter. In seinen Fassungen steckten mindestens fünfzig Kerzen. Das gesamte Ambiente wirkte museal und unwirklich, wie eine Filmkulisse.

»Das wurde aber auch langsam Zeit«, mokierte sich der Mann im Anzug. Wieder fragte ich mich, woher ich ihn kannte. Oder täuschte mich meine Erinnerung?

»Sobald Sie damit fertig sind, mich anzustarren, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir eine Auskunft erteilen könnten.«

»Tut mir leid, aber ich bin hier ebenfalls nur Gast und …«

»Ja, ja, ja!« Aus dem Hinterzimmer drang eine brüchige Stimme. »Ich komme ja schon! Ein alter Mann ist doch kein D-Zug.« Im schmalen Durchgang neben dem Schlüsselbrett erschien ein Greis mit krummem Rücken. Er schlurfte heran und blieb vor dem aufgeschlagenen Gästebuch stehen.

Er trug eine weinrote Livree mit goldenen Knöpfen. Schlohweißes Haar klebte auf der altersfleckigen Haut.

Er musterte uns aus wässerigen Augen. Zuerst mich, dann den Mann im weißen Anzug.

»Name?«

»Zamorra.«

»Ist das alles?«

»Professor Zamorra.«

»Aha.« Der Greis senkte den Kopf, um das Gästebuch zu studieren.

Ich dachte über den fremdartig klingenden Namen nach, aber so sehr ich auch in meiner Erinnerung kramte, mir fiel nicht ein, wo ich ihn schon einmal gehört hatte.

»Entschuldigung, Sir?«

Zunächst reagierte der Greis nicht auf meine Worte, dann hob er endlich den Kopf – langsam, wie eine Marionette, deren Haupt an einem dünnen Faden hing.

»Ja?«

»Es geht um meine … Begleiterin, Miss Collins.«

»Collins, Collins«, murmelte der Greis.

»Jane Collins. Zimmer Nummer …« Ich stockte. Ich hatte keine Ahnung, unter welcher Nummer ich eingecheckt hatte. Ah, doch. »Neunzehndreiundsiebzig.« Was für eine seltsame Nummer für ein Hotelzimmer – jedenfalls, wenn es sich um ein kleines Etablissement wie dieses handelte. Ich war sicher, dass das Gebäude höchstens drei, vier Stockwerke besaß.

»Neunzehnhundertdreiundsiebzig? Sind Sie sicher?«

»Wieso? Gibt es ein Problem?«

»Ja, das könnte man so sagen. Das Zimmer wurde von einem gewissen John Sinclair gebucht.«

»Das passt doch.«

»Ach ja? Dann muss ich Sie darauf hinweisen, Mr Sinclair, dass Sie Ihre Begleiterin anzumelden haben. Wir dulden in unserem Haus keine leichten Mädchen oder anderweitige frivole Arrangements.«

»Jane Collins ist eine … Freundin. Sie ist übrigens Privatdetektivin.«

»Warum erzählen Sie mir das? Wenn Sie sie anmelden möchten, benötige ich ihren Ausweis und keine Detektiv-Lizenz!«

»Zunächst einmal möchte ich wissen, wo ich Miss Collins finden kann.«

»Ah, Sie wissen also selbst nicht, wo sie sich aufhält?«

»Würde ich dann danach fragen?«

»Pardon, aber wie ich bereits sagte, ich kenne keine Frau mit diesem Namen. Vielleicht hatte sie ja genug von Ihrer Gesellschaft und ist abgereist.«

»Das glaube ich kaum, aber …«

»Fehlt denn etwas auf dem Zimmer?«

»Wie bitte? – Nein.«

»Dann haben Sie das Mädchen offenbar anständig für seine Dienste bezahlt.« Er grinste anzüglich.

Ich verspürte den Drang, das Männchen am Schlafittchen über den Tresen zu ziehen. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Zamorra, der unserem Gespräch interessiert lauschte.

Was für eine Art Professor war dieser Schönling eigentlich?

»Es fehlt nichts. Außer Jane. Wieso sollte sie ohne mich abgereist sein?«

Die Miene des Greises verschloss sich. »Die Motive unserer Gäste gehen uns nichts an. Aber möglicherweise ist sie einfach klüger als Sie. Inzwischen dürfte es für eine Abreise nämlich zu spät sein.«

»Zu spät?«, echote Zamorra. »Wovon zum Henker reden Sie?«

Der Greis starrte Zamorra an, als nähme er ihn zum ersten Mal bewusst wahr.

»Zamorra war der Name, ja? Sind Sie Franzose?«

»Sie haben richtig geraten.«

»Vielleicht ist Ihnen der Berg hinter dem Hotel aufgefallen, Monsieur le professeur. Es handelt sich um einen Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch steht. Natürlich wird die Lava das gesamte Hotel verschlingen. Ich würde Ihnen darum ein Zimmer im Erdgeschoss empfehlen.«

Wie aufs Stichwort fing die Erde erneut an zu beben. Die Schlüssel an der Wand klimperten.

Ich wich instinktiv einen Schritt zurück, in Erinnerung an die Lava, die aus den Zimmertüren geschwappt war. Doch hier flackerte nur das Licht. Der prunkvolle Kristalllüster an der holzgetäfelten Decke klirrte und schepperte. Eine Kerze fiel zu Boden und erlosch.

Zamorra hob eine Braue. »Gibt es in der Umgebung vielleicht noch ein anderes Hotel, das Sie …«

Er unterbrach sich, als der Spuk so rasch endete, wie er begonnen hatte.

Mein Kreuz hatte sich nicht erwärmt.

»Tja, der Vulkan«, entgegnete der Greis lächelnd. »Er ist einfach unberechenbar.«

»… noch ein anderes Hotel, das Sie empfehlen könnten?«, vervollständigte Zamorra seinen Satz. »Eines, das weniger gefährdet ist?«

Die Antwort schien dem Greis Vergnügen zu bereiten. »Hier gibt es kein anderes Hotel. Nirgends. Wir sind das einzige.«

Zamorra sah zunächst aus, als würde er die Geduld verlieren, aber dann verzichtete er auf eine Antwort. Auf einmal wirkte er, als würde er einer inneren Stimme lauschen. Oder als hätte er etwas wahrgenommen, das seine volle Aufmerksamkeit beanspruchte.

Der Greis pflückte einen Schlüssel vom Haken. »Zimmer neunzehnhundertvierundsiebzig. Den Gang runter, vierte Tür rechts. Frühstück von sieben bis neun Uhr und keine Minute später. Sofern wir den morgigen Tag noch erleben. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe zu tun.«

Ehe einer von uns einen Einwand hätte erheben konnte, verschwand der Greis im Durchgang zum Hinterzimmer.

Professor Zamorra taxierte mich. »John Sinclair.« Er schien meinem Namen nachzulauschen. »Ich schätze, wir werden uns wohl noch häufiger über den Weg laufen.«

»Sie kommen also aus Frankreich?«

»Ich besitze ein kleines Schloss an der Loire, in der Nähe von Lyon.«

Ein kleines Schloss. Wie schön. »Und wie sind Sie hierhergekommen?«

»Warum interessiert Sie das?«

Ich hob die Schultern. »Frankreich ist weit weg, und Sie haben keinen Koffer dabei.«

»Frankreich ist weit weg …« Wieder schien er über die Worte nachzudenken, und ich fragte mich selbst, woher ich die Gewissheit genommen hatte. »Nun, wie auch immer. Ich reise häufig mit leichtem Gepäck.«

Ich gab mich mit der Antwort zufrieden und verabschiedete mich.

Ich musste Jane finden. Und herausbekommen, wo wir hier gelandet waren.

Mein Weg führte an der Rezeption vorbei in den Speisesaal. Zwischen den Tischreihen bewegte sich ein dürrer Kellner und nahm die Stühle herunter. Am gegenüberliegenden Ende des Saals befand sich eine Bar mit einem Tresen und Hockern sowie kleineren Sitzgruppen mit Clubsesseln, die mit Leder bezogen waren.

Mir fiel eine zweiflügelige Klappe auf, die in die Wand eingelassen war. Vermutlich ein Küchenaufzug.

Der Kellner war näher gekommen und richtete sich auf. Es war der Greis, der eben noch an der Rezeption gestanden hatte! Allerdings trug er jetzt eine Kellnerlivree, die ihn wie ein Pinguin aussehen ließ. Wie hatte er es geschafft, sich so schnell umzuziehen?

»Möchten Sie frühstücken, Mr Sinclair?«

»Ich, äh … Was ist denn mit dem Vulkan?« Eine bessere Antwort fiel mir nicht ein.

»Solange er sich ruhig verhält, sollten wir das Leben genießen, meinen Sie nicht?«

»Aber gibt es hier niemand anderen, der … Ich meine, gibt es hier sonst kein Personal?«

»Meine Kollegen sind längst abgereist. Wie gesagt, sie sind schlau.«

»Und was tun Sie dann noch hier?«

»Einer muss ja die Arbeit machen, oder wollen Sie sich selbst bedienen?«

Ehe ich eine Antwort geben konnte, hatte er sich umgedreht und wieselte zwischen den Tischreihen hindurch zu einem Gang, von dem ich annahm, dass er in die Küche führte. Da er sich an der Rezeption um einiges langsamer bewegt hatte, war ich so erstaunt, dass ich gar nicht auf die Idee kam, ihn aufzuhalten und ihn zur Rede zu stellen.

Endlich folgte ich ihm.

Hinter dem Durchgang lag ein schmaler Korridor. Ich bog um die Ecke und wäre fast gegen die Mauer gelaufen, die zwei Schritte vor mir den Weg versperrte.

Ich tastete das Mauerwerk ab, konnte jedoch keinen Mechanismus finden, mit dem sich eine Tür öffnen ließ. Wohin war der Alte verschwunden? War er ein Geist? Doch welcher Geist überreichte Schlüssel und fühlte sich für die Bewirtung von Hotelgästen zuständig?

Ich verließ den Speisesaal und kehrte in die Eingangshalle zurück.

Möglicherweise fand ich die Antworten auf meine Fragen im Freien.

 

Draußen erwartete mich schwülwarme Sommerluft. Das Hotel war tatsächlich in die Felsen am Fuße des Vulkans hineingebaut worden. Ein gewundener Pfad schlängelte sich hinunter ins Tal.

Der Blick dorthin wurde mir von den Kronen dicht stehender Fichten und Tannen verwehrt, deren Äste sich wie geöffnete Hände in den Himmel reckten. Ich hielt nach einem Parkplatz Ausschau, doch alles, was ich erspähte, war eine verfallen aussehende Hütte, wohl eine Art Geräteschuppen.

Ich folgte dem Pfad einige Schritte und drehte mich um.

Das Hotel ragte turmhoch vor mir auf. Das spitzwinkelige Dach mit seinen Türmchen und Erkern blitzte in der Vormittagssonne. Zu meiner Rechten wölbte sich ein verglaster Vorbau aus dem Gemäuer. Dahinter lag der Speisesaal.

Wie gemalt stand die schwarze Rauchsäule über dem Vulkan. Eine stumme Drohung, auch wenn hier noch keine Asche niedergegangen war. Mein Versuch, aus der Architektur des Gebäudes darauf zu schließen, wo wir uns befanden, schlug fehl. Trotz seiner verspielten architektonischen Elemente hätte es fast überall auf der Welt stehen können. Zumindest dort, wo es aktive Vulkane gab. Andererseits, wenn hier wirklich Magie im Spiel war, stellte auch der keinen Orientierungspunkt dar.

Neben einer Kiefer mit breit gefächerter Krone blieb ich stehen. Die Nadeln standen wie Borsten von den knorrigen Ästen und Zweigen ab, und die Wurzeln ragten wie erstarrte Riesenwürmer aus der Erde, die sich auf dem felsigen Untergrund abgelagert hatte.

Ich folgte dem Pfad ein paar Schritte in Richtung Tal und näherte mich dabei der Hütte. Das Dach war löcherig, die hölzerne Fassade verwittert und das Fenster neben der Tür schon vor langer Zeit erblindet. Ein Wunder, dass der Schuppen nicht unter den Erdstößen zusammengebrochen war.

Ein gellender Schrei ließ mich zusammenfahren.

»Retten Sie meine Tochter!«, hallte es vom Hotel herüber.

Ich drehte mich um, konnte jedoch niemanden erkennen, denn die Kiefernzweige verwehrten mir die Sicht. Dennoch glaubte ich die Stimme wiederzuerkennen. Es war die Frau, die mich schon im Hotel angefleht hatte, ihr Kind zu retten. Sie musste irgendwo am Fenster stehen.

Ich wollte schon zurücklaufen, da vernahm ich hinter mir in der Hütte ein leises Wimmern. Ein Kind, das nach seiner Mutter rief!

Ich sprang zur Tür und packte den eisernen Riegel. Dabei musste ich schon all meine Kraft aufwenden, um ihn beiseitezuschieben. Wie war das Kind dort reingekommen? Hatte man es eingesperrt? Ich dachte an den Greis, der nicht nur als Portier, sondern auch als Kellner arbeitete. Sicherlich war er auch öfter hier draußen unterwegs.

Die Tür schwang so abrupt auf, dass es mich fast von den Beinen gerissen hätte. Ich fing mich jedoch wieder und trat ein. Im Innern der Hütte ballten sich die Schatten. Aus Gewohnheit tastete ich nach der Bleistiftleuchte in meiner Jacke, wurde aber nicht fündig. Sie war also ebenso verschwunden wie das Handy. Das Einzige, das ich fand, war ein – Feuerzeug. Merkwürdig. Ich hatte doch schon vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört.

»Hallo?«, rief ich in die Dunkelheit, bekam jedoch keine Antwort.

»Hey, du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin Polizist und heiße John Sinclair. Ich habe deine Mutter getroffen. Sie macht sich große Sorgen um dich.«

Ich benötigte drei Anläufe, um das Feuerzeug zu entzünden. Die flackernde Flamme enthüllte – nichts und niemanden. Die Hütte war leer. Leer bis auf ein dichtes Netz, in dem es vor dicken handtellergroßen Spinnen nur so wimmelte. Darin hatten sich Insekten ebenso verfangen wie Vögel und Mäuse. Sogar den eingesponnenen Kadaver einer Ratte entdeckte ich. Dem Körper war sämtliche Flüssigkeit entzogen worden, sodass er wie mumifiziert wirkte. Hunderter winziger Spinnen wuselten darüber hinweg. Ich schwenkte den Arm mit dem Feuerzeug. Das riesige Netz, das sich scheinbar aus Hunderten kleinerer Nester zusammensetzte, reichte vom Boden bis zur Decke. Versehentlich streifte ich das Netz. Die Fäden brannten wie Zunder! Für die Dauer eines Lidschlags war das Innere der Hütte in hellen Lichtschein getaucht, dann fielen die Flammen in sich zusammen. Der größte Teil des Netzes war unversehrt geblieben. Dennoch bemerkte ich hinter dem Loch die kleine Gestalt am Boden. Sie war ebenso eingesponnen wie die Insekten und Tiere.

Ein Mädchen in einem weißen Kleidchen mit roten Blüten.

Mir schnürte sich die Kehle zu. Wie war es den Biestern gelungen, das Kind, das eben noch verzweifelt um Hilfe gerufen hatte, innerhalb weniger Sekunden so einzuspinnen?

Das Zündrädchen an meinem Daumen war heiß geworden. Ich ließ das Feuerzeug mit einem Fluch auf den Lippen fallen, sank hastig auf die Knie und suchte danach. Endlich schloss sich meine Hand um das Feuerzeug. Es hatte sich ausreichend abgekühlt, sodass ich das Rädchen erneut betätigen konnte. Ich drehte die Gaszufuhr voll auf. Eine fingerlange Flamme schoss aus der Düse.

Das Netz verbrannte wie Zunder. Die Spinnen huschten davon und verschwanden in die Schatten und zwischen den Ritzen des Bretterverschlags. Ich kämpfte mich bis zu dem eingesponnenen Mädchen vor, streckte die Hand nach dem Gesicht aus und wischte die Spinnweben zur Seite.

Die starren, leblosen Augen einer Puppe glotzten mich an.

Wieder ein Schrei, diesmal von draußen!

Ich war sicher, dass das Mädchen ihn ausgestoßen hatte, und stürmte ins Freie. Um die Hütte herum, in den dahinterliegenden Wald und den Hang hinauf. Von dort war die Stimme doch gekommen, oder?

Überrascht stellte ich fest, dass sich der Himmel bezogen hatte. Ein sonderbares Licht hing zwischen den Bäumen, deren rissige Stämme aussahen, als wären sie mit schwarzer, ölig glänzender Farbe bestrichen worden.

Dünne, peitschenartige Zweige, von denen sämtliche Nadeln abgefallen waren, hingen unter wiederum dicht betrauften Ästen. Jetzt, aus der Nähe, vermeinte ich auch einige Birken und Buchen zu entdecken, deren Blätter jedoch einen fauligen Geruch verströmten. Längst musste ich am Hotel vorbeigelaufen sein, das sich irgendwo rechts von mir zwischen den Bäumen versteckte.

Der Boden war feucht und glitschig. Jeder meiner Schritte hinterließ ein schmatzendes Geräusch, als würde ich durch eine sumpfige Moorlandschaft waten. Stinkender, nach Schwefel riechender Brodem kroch darüber hinweg.

Mit jedem Schritt quoll mehr von den heißen Dämpfen aus dem Morast.

Ein rötlicher Lichtschein zwischen den Baumstämmen erregte meine Aufmerksamkeit. Ich verengte die Lider zu schmalen Schlitzen. Kein Zweifel, das Licht bewegte sich.

»Hallo …?«

Keine Reaktion.

Ich versuchte es noch einmal. »Ich bin Polizist! Ich heiße John Sinclair! Deine Mutter schickt mich.«

Meine Rufe verhallten, ohne dass ich eine Antwort bekam. Dafür bewegte sich das Licht schneller. Glitt den Hang hinauf, so als würde ihn jemand im Laufschritt erklimmen.

Ich nahm die Verfolgung auf.

Zweige peitschten mir ins Gesicht, gleichzeitig musste ich höllisch achtgeben, um nicht auf dem seifigen Waldboden auszurutschen. Auf einmal verschwand das Licht, als wäre es ausgeknipst worden. Vielleicht war es nur hinter einem Baum verschwunden!

Atemlos blieb ich stehen und wartete darauf, dass es erneut auftauchte. Vergeblich.

Beklommen stellte ich fest, dass ich vom Pfad abgekommen war. Ich drehte mich um die eigene Achse, konnte jedoch beim besten Willen nicht mehr sagen, aus welcher Richtung ich gekommen war. Mein Herz schlug schneller. Wohin sollte ich mich wenden? Den Hang hinauf?

Es schien mir die einzig vernünftige Lösung zu sein. Wenn ich den Berg nur weit genug emporkletterte, konnte ich vielleicht das Dach des Hotels erkennen und mich daran orientieren.

Die warnende innere Stimme im Kopf ignorierend, setzte ich im Halbdunkel einen Fuß vor den anderen.

Da sah ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel!

Ein Licht, das nur wenige Yards von mir entfernt im Dämmerlicht schimmerte.

Ich blieb stehen. Das Licht stoppte ebenfalls.

Ich ging weiter, und auch der Lichtschein setzte sich wieder in Bewegung. Und verschwand zwischen den Bäumen. Ich zerdrückte einen Fluch zwischen den Zähnen und marschierte durch das Unterholz direkt auf die Stelle zu, an der ich das Licht zuletzt gesehen hatte.

Da tauchte es links von mir wie aus dem Nichts hinter einem Baumstamm auf! Noch bevor ich mich umdrehte, wusste ich, dass es sich um das Mädchen handelte. Mein Lächeln zerbröselte, als mir eine mörderische Hitze entgegenschlug.

Es war das Mädchen, das leuchtete.

Und verglühte.

 

Kapitel 3

 

»1972, 1973 …« Zamorra blieb vor der Tür stehen und runzelte die Stirn. War das nicht das Zimmer von diesem John Sinclair?

Ein merkwürdiger Kerl.

Seltsamerweise hatte Zamorra das Gefühl, ihn schon mal gesehen zu haben. Nein, mehr noch, ihn kennen zu müssen. Noch viel merkwürdiger war jedoch, dass er aus einem der oberen Stockwerke gekommen war, obwohl sein Zimmer hier im Erdgeschoss lag.

Zamorras Gedanken schweiften weiter zu dem sonderbaren Greis. In seiner Nähe hatte Zamorra für einen kurzen Augenblick den Eindruck gehabt, einen magischen Impuls wahrzunehmen. Nicht länger als einen Wimpernschlag, aber deutlich spürbar. Nur hatte er nicht feststellen können, von wem der Impuls ausgegangen war: von dem Alten oder von John Sinclair.

So lange Zamorra nicht wusste, wie er hierhergekommen war und wer für die seltsame »Entführung« verantwortlich war, tat er gut daran, niemandem zu vertrauen. Er konnte sich jedenfalls nicht erinnern, zu einem Vortrag oder Symposium eingeladen worden zu sein.

Vor der Tür mit der Nummer 1974 blieb er stehen. Es lag der 1973 genau gegenüber. Der Schlüssel passte. In dem dahinterliegenden Zimmer herrschte schummeriges Zwielicht, das durch die hölzernen Lamellen der Fensterläden fiel.

Zamorra zückte das Handy. Er wollte Nicole verständigen. Seine Lebensgefährtin und Partnerin in Sachen Dämonenbekämpfung musste erfahren, wo er sich befand. Doch ein Blick auf das Display genügte, um ihm einen Seufzer der Enttäuschung zu entlocken.

Der Akku war leer.

»Merde!« Dabei war er sicher, dass er voll aufgeladen gewesen war. Er steckte das Handy weg und öffnete das Fenster.

Sonnenlicht flutete ins Zimmer.

Für einige Sekunden genoss Zamorra den Ausblick ins Tal, das vollständig mit Bäumen bewachsen war. Der Pfad, der sich in Serpentinen hinabschlängelte, verlor sich im Wald.

Eine einsame Gestalt wanderte den Weg entlang.

Es war John Sinclair. Er war stehen geblieben und blickte nach hinten. Es sah aus, als wollte er umkehren, dann überlegte er es sich aber offenbar anders und folgte dem Pfad.

Hätte Zamorra ein Zimmer in einem der oberen Stockwerke bezogen, hätte er Sinclair jetzt aus den Augen verloren, so konnte er seinen Weg jedoch unter der Baumkrone einer mächtigen Kiefer hindurch verfolgen.

Sinclair näherte sich einer verfallenen Hütte. Er schlich auf sie zu, schaute sich um, entriegelte die Tür und trat ein. Was trieb der Kerl da? Zamorra wandte sich ab und schaute sich im Zimmer um. Vor ihm stand ein breites, ordentlich hergerichtetes Bett mit geblümter Tagesdecke. Ein Tisch, der aus Teakholz gefertigt war. Nicht unbedingt sein Geschmack, aber hübsch anzusehen. An der Wand gegenüber duckte sich ein Sekretär unter ein Ölbild, das eine Vulkanlandschaft darstellte.

Vor dem Vulkan, auf einer Felskuppe, umgeben von dichtem Wald, erhob sich das Hotel. Sogar der Schuppen war zu erkennen.

Zamorra warf einen Blick aus dem Fenster und stellte fest, dass Sinclair die Hütte verlassen hatte. Er eilte in den Wald. Für einen Moment glaubte der Professor, ein Licht zwischen den Bäumen zu erkennen. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Das Licht war verschwunden.

Der Dämonenjäger presste die Lippen aufeinander. Schon am Tresen hatte John Sinclair sein Misstrauen geweckt. Vielleicht war er für die Entführung verantwortlich? Es konnte jedenfalls nicht schaden, sich mal in seinem Zimmer umzusehen. Im Vorbeigehen streifte Zamorras Blick das Gemälde an der Wand.

Unterhalb des Schlosses, in der Nähe der Hütte, schimmerte ein heller Fleck inmitten des Waldes. Zamorra war sich sicher, dass der Fleck eben noch nicht dagewesen war.

 

Der Professor atmete tief durch und zog das Amulett – Merlins Stern – unter dem Hemd hervor. Einst hatte der Zauberer Merlin es aus dem Licht einer entarteten Sonne erschaffen. Obwohl es nicht größer als sein Handteller war, barg es immense magische Kräfte. Auf der Oberfläche waren Symbole eingraviert. In der Mitte ein Pentagramm, ein sogenannter Drudenfuß, innerhalb eines Kreises. Darüber, am Rand der Silberscheibe, befanden sich die zwölf Tierkreiszeichen, die sich beliebig verschieben ließen. Auf diese Weise konnten bestimmte magische Funktionen ausgelöst werden.

Ehe Zamorra jedoch dazu kam, das Amulett einzusetzen, war der Fleck auf dem Bild wieder verschwunden.

Der Dämonenjäger berührte das Bild mit dem Amulett. Ohne Ergebnis.

Schulterzuckend verließ er den Raum.

Der Flur war leer. Eine beklemmende Stille lag über dem Gang. Schon vorhin in der Lobby war Zamorra das Hotel beinahe wie ausgestorben erschienen. Er hob das Amulett und verschob die Tierkreiszeichen auf dem äußeren Rand. Mit einem posthypnotischen Schaltwort versetzte sich der Meister des Übersinnlichen in Halbtrance.

Ein Schleier legte sich über die Mitte von Merlins Stern, und der Drudenfuß verschwand. Dafür bildete sich eine glatte Fläche, auf der ein Bild entstand. Zamorra hatte die Zeitschau aktiviert, mit deren Hilfe er in die Vergangenheit des jeweiligen Ortes schauen konnte, an dem er sich gerade befand. Allerdings nicht beliebig weit, denn für jeden Zauber, den Merlins Stern wirkte, entzog er seinem Träger ein Stück Lebensenergie.

Acht Stunden war die kritische Grenze. Alles was darüber hinausging, war für den Dämonenjäger potenziell tödlich.

Zamorra richtete das Amulett auf die gegenüberliegende Zimmertür und ließ die Zeit auf dem Amulettbildschirm rückwärts ablaufen. Dabei beobachtete er das Geschehen wie einen Film auf dem Display eines Smartphones.

Doch irgendetwas stimmte nicht. Das Bild war nicht so klar und deutlich, wie er es gewohnt war. Es flackerte, als würde etwas oder jemand die magischen Kräfte des Amuletts stören oder gar versuchen, sie zu blockieren. Nur dass dieser Jemand nicht stark genug war, denn trotz der Interferenzen konnte Zamorra sehen, wie Sinclair rückwärtslaufend im Zimmer verschwand.

Er stoppte die Zeitschau mit einem Gedankenbefehl. Das Bild fror kurzzeitig ein, bevor Zamorra die folgenden Ereignisse in normaler Geschwindigkeit vorwärts ablaufen ließ. Sinclair verließ das Zimmer und schritt den Gang entlang bis zu einer Treppe.

Zamorra stutzte. Treppe? Was für eine Treppe?

Das Bild flackerte. Im nächsten Augenblick war die Treppe verschwunden. Sinclair folgte dem Flur bis zur Rezeption, wo sich Zamorra selbst stehen sah. Der Meister des Übersinnlichen wollte Sinclair folgen, da bemerkte er den verwaschenen, mannshohen Fleck, der an dem großen blonden Mann vorbei auf das Zimmer mit der Nummer 1972 zuglitt. Der Fleck sah aus wie eine Person, die sich unter einem magischen Tarnschirm verbarg.

Zamorra folgte dem Schemen auf dem Amulettbildschirm und beobachtete, wie er die Tür öffnete. Der Schemen schlüpfte durch den Spalt und verschwand in dem dahinterliegenden Raum. Die Tür schwang zu, fiel aber nicht ins Schloss.

Der Dämonenjäger deaktivierte die Zeitschau, indem er sich selbst aus der Halbtrance weckte. Er schüttelte die Benommenheit ab wie ein Hund das Regenwasser. Seine Augen weiteten sich, als er bemerkte, dass die Tür nur angelehnt war.

Langsam stieß er sie auf.

»Vorsicht, junger Mann«, ertönte es vor ihm in der Dunkelheit.

Ein klobiger Gegenstand tauchte in dem schmalen Flur auf. Ein Rollwagen, dessen Gestell mit einem Sack bespannt war. Er war bis über den Rand vollgestopft mit Bettwäsche.

Der Greis von der Rezeption schob den Rollwagen an Zamorra vorbei auf den Flur hinaus. An der anderen Hand zog er einen zweiten Wagen hinter sich her, auf dem in drei Etagen frisches Bettzeug sortiert war. »1974 hab ich gesagt, nicht 1972.«

»Deshalb passte der Schlüssel also nicht«, erwiderte der Meister des Übersinnlichen geistesgegenwärtig.

Der Greis schnaubte und wollte sich entfernen.

»Einen Moment. Gibt es hier keine Zimmermädchen?«

»Alle weg.« Der Alte drehte sich um und präsentierte Zamorra sein löchriges Gebiss. »Tut mir leid, Bürschchen, aber du musst dir schon jemand anderen für deine amourösen Spielchen suchen.«

Zamorra ging nicht darauf ein. »Weg? Wie soll ich das verstehen?«

»Der Vulkan. Hab ich doch gesagt.«

Als hätte es nur der Erwähnung bedurft, erzitterten Boden und Wände erneut. Vorn in der Lobby klimperte der Kronleuchter. Irgendwo fiel ein Bild von der Wand.

»Und warum machen Sie dann noch die Betten?«, hakte Zamorra nach.

»Weil irgendwer ja für Ordnung sorgen muss. Oder wollen Sie das vielleicht machen, junger Mann?«

Der Alte griff nach der Zimmertür und wollte sie schließen.

»Lassen Sie nur, ich mach das«, bot sich der Meister des Übersinnlichen an.

Der Greis zuckte mit den Achseln. »Von mir aus.« Er schob die Wäschewagen den Flur hinunter. Vor der nächsten Tür, 1970, blieb er stehen, zog einen Schlüssel hervor und öffnete. Bevor er das Zimmer betrat, warf er Zamorra einen grimmigen Blick zu.

»Sie sollten wirklich nicht hier sein.« Er verschwand mit den Wäschewagen in der Tür.