Downton Shabby - Hopwood DePree - E-Book

Downton Shabby E-Book

Hopwood DePree

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Seit seiner Kindheit erzählten Hopwood DePrees Vater und Großvater immer wieder Geschichten über die adeligen englischen Vorfahren seiner Familie, die im 18. Jahrhundert ihr großes Anwesen verlassen hatten, um nach Amerika auszuwandern. Nachdem beide kurz hintereinander versterben, sucht der Produzent und Schauspieler aus Hollywood Trost in der Ahnenforschung – und stößt tatsächlich auf das sagenhafte Familienschloss, das sogar seinen Namen trägt: Hopwood Hall in Middelton, England. Fasziniert von seiner Entdeckung macht sich Hopwood auf ins Vereinigte Königreich, besichtigt zum ersten Mal das große geschichtsträchtige, aber recht verfallene Herrenhaus und beschließt kurzerhand sein Downton Shabby – wie er es nennt – zu renovieren. Und bekommt tatkräftige Unterstützung von seinen liebenswerten, aber manchmal schrulligen Nachbarn – über den schroffen Hausmeister Bob bis hin zu den örtlichen Aristokraten, die ihn irgendwie als einen der ihren akzeptieren. Und während Hopwood alle möglichen Hürden, Pech und Pannen überwindet, lässt er Hollywood hinter sich und findet in England und in seinem Downton Shabby eine neue Heimat. Ein unterhaltsames Werk über unerwartete neue Lebenswege, selbstauferlegtem Renovierungswahnsinn und die eigenen Wurzeln.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 472

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

In diesem humorvollen Werk trifft »Hör mal, wer da hämmert« auf »Downton Abbey«:

»Downton Shabby« erzählt die erstaunliche Geschichte des Amerikaners Hopwood DePree, der zufällig seine familiären Wurzeln in England und ein altes Familienanwesen entdeckt. Kurzerhand beschließt er, das Herrenhaus Hopwood Hall zu renovieren, und erlebt nicht nur Pleiten und Pannen, sondern trifft auf schrullige Nachbarn, britischen Humor und findet am Ende eine neue Heimat.

Der Autor

Hopwood DePree wuchs bei Michigan auf. Als von der Kritik gefeierter Autor, Darsteller und unabhängiger Filmemacher arbeitet er jetzt hauptberuflich an der Restaurierung von Hopwood Hall, dem Anwesen seiner Vorfahren.

Hopwood DePree

DOWNTON SHABBY

Ein Amerikaner in Lancastershire, ein uraltes Familienschloss und der kuriose Weg zu einem neuen Zuhause

Übersetzt aus dem Englischen von Angelica Bahlke

Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Downton Shabby bei William Morrow, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe Juli 2023 

Copyright der amerikanischen Originalausgabe © 2022 

Copyright der deutschen Erstausgabe © 2023 

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © Hopwood DePree

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München, unter Verwendung der Covergestaltung von Yeon Kim

Autorenfoto Cover: Fred Leão Prado Wall (DePree);

Weitere Covermotive: © Offset.com/ Helena Perez Garcia;

© Getty Images/ Christopher Furlong / Staff

Bildinnenteil: © Hopwood DePree

Lektorat: Franziska Willbold

MP · Herstellung: cb

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-30486-7V001

www.goldmann-verlag.de

Ich widme dieses Buch meinem Vater, meinem Großvater und all jenen, die vor mir kamen.

INHALT

Long Lost Hopwood: Nomen est Omen

Unerwartete Heimkehr

Hopwood Hall

Die Lords von Hollywood

Die Schlacht von Flodden Field

»Lord« Hopwood

Hotel Hoffnungsschimmer

Nachbarn und Morde

Die Zeit bleibt nicht stehen

Die Entscheidung

Operation »Rettet Hopwood Hall«

Einladung in ein Schloss

In adeliger Gesellschaft

Angriff auf Hopwood Hall

Midlifecrisis hoch zehn

Es braucht ein Dorf

Schießpulver, Verrat und Intrigen

Flucht nach Rochdale

Vergangene Weihnachten

With a Little Help from My Friends

Neue Entdeckungen

Lady T.

Schritt für Schritt

Die Diskomönche

Die Erleuchtung

Weihnachtsüberraschung

Epilog

Danksagung

Bildteil

Long Lost Hopwood: Nomen est Omen

Es war einer dieser Abende, an denen man hofft, für nichts weiter mehr zuständig sein zu müssen als für das Entkorken einer Flasche Wein. Wie wenig ahnte ich, dass eine einfache Internetrecherche mein Leben umkrempeln und komplett auf den Kopf stellen würde, was ich bis dato für meine Bestimmung auf diesem Planeten und meinen Platz im Weltgeschehen gehalten hatte – ganz zu schweigen von meiner bisherigen Vorstellung von einem Heimwerkerprojekt.

Es war der Frühling des Jahres 2013, und ich befand mich in meinem Zuhause in den Hollywood Hills in Los Angeles. Ausnahmsweise kreiste nur ein Helikopter über den Hügeln, es war also ruhiger als gewöhnlich. Draußen vor dem Fenster verwandelte sich das Tageslicht in Abenddämmerung, und die Schreibtischlampe flammte bernsteinfarben auf, als ich mich an meinen Laptop setzte.

An jenem Abend, wie es inzwischen meiner neuen, geheimen Weinzeit-Entspannungsgewohnheit entsprach, durchforstete ich wieder einmal verschiedene Ahnenforschungswebseiten: WikiTree.com, Ancestry.com und Myheritage.com. Inzwischen waren sie mir alle sehr vertraut.

Denn wann immer ich auch nur eine halbe Stunde Zeit hatte, wühlte ich mich etwas tiefer durch die Wurzeln und Verzweigungen meines Familienstammbaums. Falls Sie noch nie auf einer dieser Webseiten waren, seien Sie gewarnt: Sie haben großes Suchtpotenzial, und aus einer halben Stunde werden ganz schnell mehrere Stunden oder die ganze Nacht. Aus diesem Grund musste ich mir meist ein Limit setzen. Hier findet man die Kopie irgendeines vergilbten Dokuments, das man noch nie gesehen hat, klickt auf einen Link, durch den man auf die Existenz eines unbekannten Großcousins vierten Grades stößt, und findet, ehe man sichs versieht, ein altes Schwarz-Weiß-Foto irgendeiner längst verstorbenen Großtante. Davon kann einem schon mal schwindelig werden. Verbringt man genug Zeit auf solchen Seiten, fühlt man sich irgendwann wie ein Detektiv, der einer Indizienspur folgt. Nur dass in diesem Fall die meisten Menschen tot sind, und zwar bereits seit Jahrzehnten.

Eigentlich habe ich immer zu jener Sorte Mensch gehört, die sich stets an der Zukunft orientiert. Ich verbrachte wenig Zeit damit, nach hinten zu blicken. Doch das hatte sich nun geändert. Ich wurde immer neugieriger auf die Vergangenheit. Wie es dazu kam, dass ich mich von der Ahnensuche hatte packen lassen? Es hatte jedenfalls nichts mit den Fernsehsendungen zu tun, bei denen Prominente ihrer Familiengeschichte nachspüren, denn die schaute ich mir nicht an. Ich hegte auch nicht die Hoffnung, irgendeinen verschollenen Verwandten zu finden oder ein Familiengeheimnis aufzudecken. Wenn ich genau benennen müsste, warum ich plötzlich so viele Stunden meines Lebens damit verbrachte, etwas über Menschen in Erfahrung zu bringen, die ich nicht kannte und niemals kennenlernen würde, würde ich sagen, dass sehr viel davon etwas mit Verlust zu tun hatte – mit Verlust und wahrscheinlich auch etwas mit Reue.

Bis vor Kurzem war mein Großvater mütterlicherseits der Ahnenforscher in unserer Familie gewesen. Sein Name war Herbert Hopwood Black, ich nannte ihn allerdings immer Pap. Er hatte ein ansteckendes Lächeln und war über ein Meter achtzig groß, daher hatte er auf mich früher auch immer wie ein lächelnder Riese gewirkt. Als ich noch klein war, erzählte mir Pap sehr gern Geschichten über unsere Vorfahren, zum Beispiel wie sie 1791 die kleine Stadt Hopwood in Pennsylvania gegründet hatten. Und Pap musste es schließlich wissen, denn er war in Hopwood geboren und aufgewachsen. Er verließ seinen geliebten Heimatort in den 1920er-Jahren nur, weil man ihm angeboten hatte, in Michigan in ein schnell wachsendes Unternehmen namens General Motors einzusteigen. Bis ans Ende seiner Tage hätte er allerdings nicht stolzer darauf sein können, dass wir eine besondere Verbindung zu Hopwood hatten und sich unser Stammbaum dort auf acht Generationen zurückverfolgen ließ. Oder waren es sieben?

Das Problem war nur, dass ich ihm als Kind nie wirklich zugehört hatte.

Aus meiner Sicht war alles problematisch, was mit dem Namen Hopwood zu tun hatte. Ja, ich heiße Hopwood, genau wie mein Großvater. Allerdings begann ich schon sehr früh, meinen Namen zu hassen. Mich Hopwood zu nennen war die Idee meiner Mutter gewesen – es sollte eine Achtungsbezeugung gegenüber ihrem Vater und seiner Familie sein. Als Baby und Kleinkind war das auch noch okay gewesen. Hopwood wurde zu »Hoppy« oder »Woody« abgekürzt, was in der Krippe als sehr süß empfunden wurde. Mit der Hänselei ging es erst los, als ich in den Kindergarten kam. Die anderen Kinder fanden »Hopwood« irrsinnig witzig. Sie sagten, man hätte mich besser John nennen sollen. Oder Steve. Die Sache wurde so schlimm, dass ich eines Tages aus der Schule kam und meinen Eltern sagte, ich hätte genug davon.

»Ich will nicht mehr Hopwood sein!«, erklärte ich und warf dabei einen hölzernen Pflanzenständer um. Ich konnte das Holz zerbersten hören, als er auf den Boden fiel. Ich fühlte mich schlecht, als ich sah, was ich angerichtet hatte. Der Farn war umgekippt und die Erde aus dem Topf gefallen.

Mein Vater, von Natur aus ein liebevoller Pragmatiker, hatte diesen Moment kommen sehen. Als ich auf die Welt gekommen war, hatte er in letzter Minute darauf bestanden, mir zusätzlich den Namen Tod zu geben – als Ersatzname für den Fall, dass Hopwood mir nicht gefiel (die Initialen meines Vaters lauteten T. O. D.).

Es war eine große Erleichterung, Tod sein zu können. Die Kinder hörten auf mich zu hänseln. Das Leben ging weiter. Doch das hinderte meinen Großvater nicht daran, mir alles über die vielen Generationen von Hopwoods einzupauken. Er liebte alles, was mit unserer Familiengeschichte zu tun hatte.

Meine Mutter ist aus demselben Holz geschnitzt. Als ich sechs Jahre alt war, schleppte sie mich und meine beiden Schwestern nach Hopwood, Pennsylvania, um den Ort zu besuchen, den meine Vorfahren gegründet hatten. Sie nahm ihre Aufgabe, uns die Vergangenheit näherzubringen, wirklich ernst. Ich erinnere mich noch, wie sie uns bei diesem Trip damals über gruselige Friedhöfe scheuchte, auf denen wir Grabsteininschriften von Dornen und Giftefeu befreien und getrocknete Vogelkacke wegschrubben mussten. Noch heute sehe ich meine Mutter vor mir, wie sie uns – in dem für sie charakteristischen schicken Hosenanzug, mit hochgestecktem schwarzem Haar, Lippenstift und Katzenaugen-Sonnenbrille – von einem pädagogischen Abenteuer zum nächsten schleppte. Irgendwann sollten wir uns vor dem Ortsschild aufstellen: Hopwood. Ich weigerte mich zu lächeln.

Nach dem Mittagessen vor einem der Häuser aus dem 19. Jahrhundert, die unseren Vorfahren gehört hatten, gelang es ihr, mir ein spontanes Grinsen zu entlocken, indem sie mir ein neues Batman-Kostüm versprach.

Hopwood und seine Schwestern zu Besuch in Hopwood, Pennsylvania, 1976.

Foto von Deanna DePree

»Irgendwann wirst du froh sein, dass ich dieses Foto gemacht habe«, bemerkte sie noch.

Noch immer gezeichnet von meinen Erfahrungen im Kindergarten, hatte ich damals schreckliche Angst davor, jemand aus meiner Klasse könnte vorbeifahren und mich sehen. (Das war unwahrscheinlich, da unser Heimatort Holland in Michigan ungefähr achthundert Kilometer entfernt lag, aber egal.)

Auch während meiner Highschool-Zeit blieb ich bei meinem Namen Tod. Das Jahrbuch führte mich als Tod H. DePree, was für mich schrecklich war, da mich jeder daraufhin fragte, wofür das »H.« stand. Ich blieb ihnen die Antwort schuldig. Nicht einmal meine besten Freunde wussten, dass ich Hopwood hieß. Angeblich hatte man mich bei der Abschlussfeier mit »Tod Hopwood DePree« auf die Bühne geholt und damit das Geheimnis gelüftet, aber das muss ich ausgeblendet haben, denn ich erinnere mich nicht mehr daran. Schon der Klang des Wortes Hopwood reichte damals aus, um mich zusammenzucken zu lassen. Daher schaltete ich, wenn mein Großvater mir mal wieder Unterricht in Familiengeschichte gab, so gut es ging, ab.

So kam es, dass ich – all die Jahre später an meinem Laptop sitzend – zwar dieses und jenes von unserer Familienchronologie wusste, aber auch ein paar große Wissenslücken hatte. Ich wusste, dass meine englischen Hopwood-Ahnen irgendwann im 18. Jahrhundert den Atlantik überquert und wenige Zeit später den Ort Hopwood gegründet hatten. Im 19. Jahrhundert fand die amerikanische Seite der Hopwood-Linie mit der Hochzeit der Großmutter meines Großvaters – Alcinda Hopwood – ihr Ende. Denn Alcinda nahm den Nachnamen ihres Ehemannes an und war somit die Letzte, die den Namen Hopwood trug. Da dieser Umstand ein Leben lang an ihr nagte, bestand sie bei der Geburt ihres Enkels – meines Großvaters – darauf, dass seine Eltern ihm den Zweitnamen Hopwood gaben. Auf diese Weise wurde der Name schließlich an mich weitergegeben.

Es gab jedoch noch etwas anderes, was mein Großvater mir erzählt und was sich in meinem kindlichen Gehirn festgesetzt hatte.

Wenn Pap mich auf seine Knie setzte und mir Geschichten über meine Vorfahren erzählte, sprach er immer davon, dass es auch ein riesiges Stück Land namens Hopwood gäbe, auf dem unsere Vorfahren ein prachtvolles Schloss erbaut hätten.

»Als deine Vorfahren nach Amerika kamen, ließen sie das größte Schloss zurück, das du jemals gesehen hast«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »Schloss Hopwood.«

Und obwohl ich mich für meinen Namen schämte, gefiel mir insgeheim die Vorstellung, dass sich irgendwo auf der anderen Seite des Ozeans ein Märchenschloss befand, das meinen Namen trug. In meinem Kopf sah es aus wie eine Kreuzung aus dem Schloss in Disneyland und meinem damaligen Lieblingsspielzeug, dem Play-Family-Schloss von Fisher-Price.

Wo stand dieses Schloss? Hatte es überhaupt jemals existiert? Ich war mir nicht sicher. Vielleicht hatte sich Pap auch nur eine spannende Geschichte ausgedacht in der Hoffnung, sein sturer Enkel würde seinen Namen endlich lieben lernen.

So sehr ich es mir auch wünschte – wenn ich mich in der in knalligen Orange- und Grüntönen gehaltenen Siebzigerjahre-Küche in unserem knapp dreißig Jahre alten Vorstadthaus in Michigan umblickte, konnte ich nicht umhin zu denken, dass das auf keinen Fall real sein konnte.

Dann ergab es sich, nach der Schulzeit und dem Studium, dass ich den Namen, für den ich mich einst so geschämt hatte, allmählich akzeptierte – und sogar wertschätzte. Denn ich fing an, als Schauspieler und Comedian zu arbeiten und begriff, dass es in Hollywood von erheblichem Vorteil sein könnte, Hopwood und nicht Tod zu sein. So könnte ich besser aus der Menge hervorstechen. Diesen Tod hat man schnell vergessen. Aber Hopwood? Das ist jemand, den man ein zweites Mal treffen will! Als ich ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt war, ließ ich mich wieder Hopwood nennen. Meine Mutter und mein Großvater waren begeistert.

Schließlich gründete ich meine eigene Produktionsfirma und wurde ein erfolgreicher Autor und Produzent in der Film- und Fernsehbranche. Ich verbrachte den Rest meiner Zwanziger und Dreißiger damit, Rollen und Projekte zu ergattern und meinen Erfolg sowie die besondere Aufmerksamkeit zu genießen. Ich erhielt plötzlich mehr Einladungen zu Partys, und es schien, als ob die Leute mich immer interessanter fänden. Hätte ich mal besser auf das Fitnessstudio gepfiffen und mich schon vor Jahren mit diesem seltsamen Namen angefreundet, dachte ich mir damals. Trotz dieser neuen Wertschätzung für meinen Namen verbrachte ich jedoch nicht viel Zeit damit, über die Geschichte meiner Familie nachzudenken. Ich war zu beschäftigt damit, mein Leben zu leben, als dass ich zurück blicken wollte.

Doch dann, um meinen vierzigsten Geburtstag herum, ereigneten sich zwei Dinge, die meine Sichtweise vollkommen veränderten.

Das erste Ereignis war der Tod meines Großvaters.

Pap war die Grundfeste unserer Familie gewesen. Und obwohl er über neunzig Jahre alt geworden war und ein gutes und langes Leben geführt hatte, fühlte sich dieser Verlust wie eine tektonische Plattenverschiebung an. Er war der Hüter unserer Familiengeschichte gewesen, derjenige, der all die Anekdoten kannte. Nach seinem Tod bereute ich es, nicht ausführlicher mit ihm darüber geredet zu haben, woher wir Hopwoods kamen und was da alles dahintersteckte.

Ungefähr zwei Jahre später kam es zum zweiten folgenreichen Ereignis: Mein Vater verstarb sehr plötzlich an einem schweren Herzinfarkt. Er war fünfundsiebzig Jahre alt gewesen, und sein Arzt hatte ihm erst kurz zuvor eine gute Gesundheit bescheinigt. Niemand hatte das kommen sehen. Wenn mein Großvater das Fundament unter unseren Füßen gewesen war, dann war mein Vater die Säule, die uns alle trug. Ich erinnere mich noch, wie wir nach seinem Tod das Krankenhaus verließen und meine Mutter zu mir sagte: »Es ist einfach zu früh.« Sie hatte ihren Ehemann und ihren Vater innerhalb einer so kurzen Zeitspanne verloren, dass es sich wie ein Augenblick anfühlte. Ich konnte mir nur vorstellen, wie hart das für sie sein musste – schließlich war es schon für mich hart genug.

Dass die zwei wichtigsten Männer in meinem Leben kurz nacheinander verstorben waren, warf mich aus der Bahn. Und nicht nur das: Ich musste jetzt auch mit der Tatsache klarkommen, dass nun die nächste Generation, also ich, das Ruder übernehmen musste. Wo sind nur alle hin, und wie konnten wir so schnell an diesen Punkt gelangen?

Mein Haus in Los Angeles verfügte über einen spanischen Patio. Dort führte eine Wendeltreppe hinauf zu einer alten verwitterten Holztür, die gipsverputzen Wände waren von Efeu und leuchtenden fuchsiafarbenen Bougainvilleen überwuchert. Auf der einen Seite des von Kakteentöpfen übersäten Innenhofs stand ein großer Terrassenofen aus Terrakotta, in dem ich meist ein Feuer anzündete, wenn ich nach einer Veranstaltung, einer Premiere oder einer Nacht in den Clubs von Hollywood zu mir nach Hause einlud. Ich weiß noch, wie ich an jenem Abend an meinem Laptop durch das Arbeitszimmerfenster nach draußen sah und an der einen Seite des Ofens einen Riss entdeckte, der mir bisher nicht aufgefallen war. Genauso fühlte es sich in diesem Moment in jedem Bereich meines Lebens an: Nichts war mehr so wie früher.

Bis zu diesem Punkt hatte ich mir nie die Frage gestellt, wer ich war oder was meine Bestimmung im Leben sein könnte. Ich war der Sohn von Thomas O. DePree und der Enkelsohn von Herbert Hopwood Black. Ich war ein Filmemacher und Schauspieler. Ich war Hopwood, und mir ging es gut (zumindest meistens). Doch keine dieser früheren Annahmen schien jetzt noch zu stimmen. Ohne meinen Vater und Großvater – wer war ich da noch? Es war, als wäre die schützende Wand, die normalerweise zwischen mir und meiner Sterblichkeit stand, eingestürzt.

Als ich vierzig Jahre alt wurde, hatten viele meiner Freunde bereits geheiratet, Kinder bekommen und sich niedergelassen. Ich hingegen war kinderlos und befand mich in ewigen On-off-Beziehungen. Seit Kurzem war wieder eine off – und zwar mit einem Model, das bei einem hitzigen Streit unbedingt die Tatsache erwähnen musste, dass ich etwas zugenommen hatte. Das führte schließlich dazu, dass ich zu viel trank und tatsächlich zunahm, was in Hollywood einer Straftat gleichkommt. Und nicht nur das: Ich tat mich auch beruflich schwer. Ich hatte es immer geliebt, Schauspieler und Produzent zu sein, doch inzwischen war ich nicht mehr so leidenschaftlich wie zu Beginn meiner Karriere. Ich hatte einige Höhepunkte erlebt: Ich war für meine eigenen Independent-Filme ausgezeichnet worden, hatte ein viel beachtetes Filmfestival ins Leben gerufen und Projekte mit angesehenen Talenten produziert. Wenn ich jedoch genauer hinsah, erkannte ich auch, dass viele Dinge nicht so gelaufen waren, wie ich es erwartete hatte. Erst kürzlich hatte ich leidenschaftlich daran gearbeitet, eine TV-Dokuserie auf die Beine zu stellen, bei der es um innerstädtische Gang-Gewalt gehen sollte, die wirklich einen sozialen Wandel zu verursachen schien. Mir war es sogar gelungen, den für einen Oscar nominierten Regisseur John Singleton an Bord zu holen. Daher war ich auch ganz aufgelöst, als alle Sendeanstalten das Projekt ablehnten. Ich hatte hart gearbeitet, aber Hollywood belohnt harte Arbeit nicht immer. Würde sich mein achtzehnjähriges Ich, das einen Unterschied in der Welthauptstadt des Films machen wollte, mit dem zufriedengeben, was ich bis jetzt erreicht hatte? Ich konnte diese Frage nicht mit Ja beantworten.

Ich stellte alles in Frage: meine Karriere, meine Beziehungen, mein gesamtes Leben.

In der Filmbranche heißt es, dass man, wenn eine Szene nicht funktioniert, sich nicht auf genau diese Szene konzentrieren sollte, sondern auf die vorherige. Und tatsächlich war da etwas an meiner Online-Ahnenforschung, was mir etwas Trost verschaffte. Jedes Mal, wenn ich eine neue Verlinkung oder einen neuen Namen fand, fühlte ich mich etwas weniger allein. So viele Generationen unserer Familie, all ihre Namen auf der Webseite, jeder einzelne ein Blatt an einem Baum, für Jahrhunderte festgehalten. Diese Links und Namen fühlten sich an wie Anker, die mir auf dieser verrückten, sich um sich selbst drehenden blauen Murmel Halt gaben.

An jenem schicksalhaften Abend, an dem die warme Frühlingsluft durch mein Fenster strömte, wollte ich einfach nicht damit aufhören, mich durch die Ahnenwebseiten zu scrollen. Ich scrollte mich immer weiter in die Vergangenheit, auf der Suche nach etwas Bestimmtem – ich war mir nur nicht sicher, was es war. Und dann sah ich ihn. Einen Link, den ich zuvor noch nie gesehen hatte. Ich klickte ihn an.

Es war ein kurzer Artikel über einen »Lord Hopwood« von »Hopwood Hall«. Moment mal – könnte es sich bei Hopwood Hall vielleicht um das Schloss handeln, von dem mein Großvater mir immer erzählt hatte?

Vielleicht hatte sich Pap das Schloss doch nicht ausgedacht.

Ich klickte zu Google und gab »Hopwood Hall, England« in das Suchfeld ein. Es erschienen einige Einträge. Anscheinend war Hopwood Hall der Name einer Berufsfachschule irgendwo in der Nähe von Manchester. Vielleicht hatte es dort einmal ein gleichnamiges Schloss gegeben, das inzwischen längst verfallen war, und nun stand an seiner Stelle das College.

Ich scrollte immer weiter und gönnte mir nur hin und wieder einen kräftigen Schluck Wein.

Nach ein paar Seiten landete ich einen weiteren Treffer – in einer Art Umweltstudie des örtlichen Bezirksrats wurden die »Hopwood Woods« und das Herrenhaus »Hopwood Hall« erwähnt. In der Beschreibung wurde das Haus als »heruntergekommen« bezeichnet und außerdem bemerkt, dass man die Hoffnung hege, es würde eines Tages restauriert. Hieß das etwa, dass das ursprüngliche Haus noch immer stand?

Da erstarrte ich plötzlich. Vor mir auf dem Laptop-Bildschirm erschien das alte Schwarz-Weiß-Foto eines prachtvollen englischen Landhauses. Es war wunderschön. Und imposant. Es schien so groß wie ein ganzer Wohnblock, mit ungefähr dreißig Schornsteinen und unzähligen Fenstern und Türen. Ich war von Ehrfurcht ergriffen. Das könnte locker das Schloss sein, von dem mir Pap erzählt hatte. Hätte es bloß damals schon das Internet gegeben … Ich hätte niemals an ihm gezweifelt!

Hätte ich allerdings in diesem Moment auch gewusst, dass mir das Anklicken dieses Fotos unzählige schlaflose Nächte und endlose Tage körperlicher Schwerstarbeit einbringen würde, hätte ich meinen Laptop womöglich schlagartig zugeklappt und es mir nie wieder angesehen. Ich bin nämlich handwerklich nicht sonderlich begabt. Mein bis dato letztes Heimwerkerprojekt hatte damit geendet, dass ich auf dem Parkplatz eines Baummarkts fast in Tränen ausgebrochen wäre, nachdem ich versucht hatte, mein fünf Quadratmeter großes Bad mit selbstklebenden Bodenfliesen auszulegen. Kurz nachdem ich begonnen hatte, die Schutzfolie von den Fliesen abzuziehen, um die klebrige Schicht darunter freizulegen, wurde mir klar, dass das Einzige, was da festklebte, ich selbst war.

Natürlich hatte ich keine Ahnung, dass ich eines Tages die Verantwortung für das Haus auf diesem Foto übernehmen würde. Dass ich bei Regen mit einem Eimer darin herumrennen würde, um Wassertropfen aufzufangen. An jenem Abend in den Hollywood Hills wollte ich durch dieses harmlose Herumscrollen lediglich etwas mehr in Erfahrung bringen. Hopwood Hall lag scheinbar in einer Gemeinde namens Middleton, die direkt an die nordenglische Stadt Manchester angrenzte. Da kam mir der Gedanke: Wie wäre es, wenn wir dem Anwesen einen Besuch abstatten würden?

Das Anwesen Hopwood Hall in den 1950er-Jahren. Gedruckt mit freundlicher Genehmigung des De La Salle Trust, Oxford

Seit ein paar Monaten planten meine Mutter, meine Schwestern und ich eine Reise nach Europa, um die Asche meines Vaters zu verstreuen und ihm eine letzte Ehre zu erweisen. Im letzten Gespräch, das ich mit meinem Vater geführt hatte, hatten wir überlegt, im nächsten Frühling anlässlich des fünfzigsten Hochzeitstags meiner Eltern nach Frankreich zu reisen. Mein Vater war ein stolzer Soldat der US-Marine gewesen und hatte immer die Strände der Normandie besuchen wollen, um den Männern seinen Respekt zu zollen, die dort im Zweiten Weltkrieg im Kampf für die Freiheit ihr Leben gelassen hatten. Mein Vater starb, bevor er dies verwirklichen konnte, doch meine Familie und ich beschlossen, ihm zu Ehren diese Reise nach Frankreich gemeinsam anzutreten und seine Asche mitzunehmen. Es schien die perfekte Art, uns von ihm zu verabschieden.

Und falls Hopwood Hall noch stand, könnten wir, solange wir in Europa waren, vielleicht auch einen kurzen Abstecher nach England machen. Auf diese Weise würden wir sowohl meinem Vater als auch meinem Hopwood-Großvater die letzte Ehre erweisen.

Am Ende des Berichts über Hopwood Hall entdeckte ich die E-Mail-Adresse eines Bezirksratmitglieds. Also öffnete ich mein E-Mail-Programm und kopierte die Adresse in die Empfängerspalte.

»Hallo,

ich bin ein Nachkomme der Familie Hopwood und interessiere mich für die Restaurierung von Hopwood Hall. Ich werde um den 13. Mai herum in der Gegend sein und würde mich sehr freuen, wenn ich mich mit Ihnen treffen und das Anwesen besichtigen könnte. Bitte lassen Sie mich wissen, ob das möglich wäre.

Vielen Dank

Hopwood

Als ich am nächsten Morgen aufstand, befand sich bereits eine Antwort in meinem Posteingang. Sie war von Bev Percival, der Denkmalschutzbeauftragten des Bezirksrats. Sie erklärte mir, dass sie im Mai, wenn wir kommen wollten, nicht da sein würde. Allerdings würde sie einen Mann namens Geoff Wellens in CC setzen, der die Geschichte des Herrenhauses in- und auswendig kenne und uns vielleicht alles zeigen könne.

Ich antwortete Bev sofort und erklärte ihr, dass ich sehr gern Kontakt zu Geoff und jedem anderen aufnehmen würde, der mir mehr zu Hopwood Hall sagen könnte.

Noch am selben Tag erhielt ich eine E-Mail von Geoff.

Lieber Hopwood,

ich freue mich darauf, Sie kennenzulernen. Ich habe schon einmal versucht, Hopwoods über die Webseite einer gleichnamigen Familie zu kontaktieren, allerdings antworteten sie mir, dass sie in keinerlei Beziehung zu Middleton stünden.

Es gibt so viel zu erzählen, aber zuerst muss ich Ihnen noch eine Frage stellen.

Hat es in Ihrer Familie irgendwann einmal rotes Haar gegeben? Wir mussten die Grabkammer der Hopwoods wieder instand setzen, da ein paar äußere Steinplatten eingestürzt waren. Als wir das Mausoleum betraten, sahen wir, dass einer der Bleisärge komplett zersetzt war und das Skelett darin frei lag. Am Schädel befand sich noch etwas rotes Haar (ich habe Fotos gemacht).

Nach einer »archäologischen Untersuchung« betteten wir die Gebeine in einen neuen Holzsarg und führten eine christliche Begräbniszeremonie durch. Dann nahmen wir die notwendigen Arbeiten in Angriff, um das Grab wieder zu versiegeln.

Hoffentlich ist das für Sie von Interesse.

Mit freundlichen Grüßen, Geoff Wellens

Ich spürte, wie ich auf den Armen Gänsehaut bekam. Laut meiner Mutter hatte ich, bis ich sechs Monate alt wurde, rotes Haar. Dann fielen meine Haare aus und wuchsen blond nach. Irgendwie hatte dieses rezessive Gen seinen Weg über einen Ozean und Jahrhunderte hinweg zu mir gefunden …

Die ganze Sache war so surreal. Ich konnte kaum glauben, dass mir ein Mann schrieb, der vor Kurzem in den Gräbern meiner englischen Vorfahren herumgestöbert hatte.

Ich antwortete Geoff, und wir vereinbarten, am nächsten Tag zu telefonieren.

»Hopwood?«, fragte eine äußerst britische Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Hallo?«, antwortete ich.

»Sind Sie wirklich Hopwood?«, fragte Geoff.

»Ja, wirklich!«, antwortete ich.

»Nun, wenn wir da mal nicht gerade Geschichte schreiben«, meinte er. »Ein uns bekanntes Mitglied der Familie Hopwood gab es viele Jahrzehnte lang nicht. Wir hatten schon fast die Hoffnung aufgegeben, jemals wieder jemanden zu finden. Die Hall benötigt nämlich etwas Hilfe, wissen Sie.«

»Aber Moment, gibt es denn gerade keine Hopwoods, die sich um die Hall kümmern?«

»Nicht eine Menschenseele!«, antwortete Geoff. »Im Gegensatz zu den Geistern. Es ist vollkommen verlassen, wussten Sie das nicht? Wir suchen seit Jahren ein Mitglied der Familie.«

Ich erklärte ihm, nichts davon gewusst zu haben.

Geoff erzählte mir, dass die letzten Hopwoods in Hopwood Hall das Haus in den 1920ern verlassen hätten.

»Es ist wirklich eine tragische Geschichte«, führte er fort. »Die zwei männlichen Erben des Anwesens dienten beide als Offiziere und fielen im Ersten Weltkrieg, zusammen mit vierundzwanzig Haushaltsangestellten.«

Die alternden Hopwood-Eltern waren vom Tod ihrer Söhne und der Angestellten so verzweifelt gewesen, dass sie im Mai des Jahres 1922 beschlossen, auszuziehen und ihr Zuhause zum Verkauf anzubieten. Ohne ihre Söhne und das Personal konnten sie es nicht länger unterhalten. Also ließen sie das Haus zurück und zogen nach London. Da beide Söhne kinderlos gestorben waren, gab es daraufhin niemanden mehr, der die Linie der Hopwoods weiterführte – oder sich um Hopwood Hall kümmerte.

»Während des Zweiten Weltkriegs wurde Hopwood Hall von der Lancashire Cotton Corporation übernommen. Sie nutzte es als ihre Zentrale, da sie befürchteten, in Manchester bombardiert zu werden«, erzählte mir Geoff. »Und dann, Ende der Vierzigerjahre, zog eine Gruppe von Mönchen ein, welche die Hall als Bildungsanstalt für katholische Lehrer nutzte. Nachdem die Mönche fort waren, stand Hopwood Hall etwa drei Jahrzehnte lang leer. Und leider sterben die Menschen, die es wie ich für wichtig erachten solch ein historisches Gebäude zu retten, langsam, aber sicher aus. Es ist alles in einem leicht chaotischen Zustand, wissen Sie.«

Ich sagte zu Geoff, dass mir der Zustand des Herrenhauses egal sei und wir es trotzdem gern besichtigen würden.

»Sie sind wirklich herzlich willkommen«, antwortete er sofort. »Ich kann Sie vom Flughafen abholen. Und vielleicht können Sie danach noch auf ein Pint Bier bleiben. Es gibt so viel, was ich mit Ihnen besprechen möchte.«

Geoff erklärte, nicht nur ein großer Freund des Anwesens und so etwas wie ein Lokalhistoriker zu sein, sondern – bevor er sich kürzlich zur Ruhe gesetzt habe – auch der langjährige Bestatter des Städtchens. Deswegen hatte man ihn gebeten, sich die Grabkammer der Hopwoods anzusehen, nachdem ein paar Vandalen eingebrochen waren und die Totenruhe gestört hatten. Seine Aufgabe war es dann auch gewesen, die verbliebenen Gebeine wieder beizusetzen.

Wir gaben uns das Versprechen, bald wieder voneinander zu hören und Pläne zu schmieden.

Ich legte auf und versuchte, mir einen Reim aus alldem zu machen, was ich gerade gehört hatte. Vor vierundzwanzig Stunden war ich mir nicht einmal sicher gewesen, dass Hopwood Hall überhaupt existierte – und da waren wir nun und sprachen darüber, wann meine Familie und ich vom Flughafen abgeholt werden könnten. Und über Biere!

Ich rief meine Mutter an und erzählte ihr, was gerade passierte.

»Mom, du wirst es nicht glauben. Schloss Hopwood heißt Hopwood Hall! Es steht in Nordengland. Und ich habe Kontakt zu einem Mann namens Geoff aufgenommen, der möchte, dass wir dorthin kommen. Er wird uns Hopwood Hall zeigen!«

Zunächst glaubte sie, ich würde Witze machen. Doch als ich sie schließlich davon überzeugen konnte, dass ich es ernst meinte, war sie ganz perplex. Sie hatte den Geschichten meines Großvaters ebenfalls nie Glauben geschenkt.

Für sie war das noch viel aufregender als der Ausflug nach Hopwood, Pennsylvania, den wir unternommen hatten, als ich ein Kind gewesen war. Meine Mutter trauerte noch immer um ihren Mann und ihren Vater. Auf unserer Reise nach Europa einen Zwischenstopp in England einzulegen schien die bestmögliche Art zu sein, um sie etwas aufzuheitern.

»Wir können da doch nicht wirklich hin, oder?«, fragte sie.

»Doch. Ich glaube sogar, wir müssen«, sagte ich.

Unerwartete Heimkehr

Unser Flugzeug wurde von Turbulenzen durchgerüttelt, während wir durch die Wolken brachen. Dort unten konnte ich bereits die grüne und unbekannte Landschaft Nordenglands erkennen, die von weißen Schafen und schiefergedeckten Gebäuden gesprenkelt wurde. Das Land meiner Vorfahren.

»Flight attendants, please prepare the cabin for arrival«, sprach der Kapitän mit charmantestem englischem Akzent. Allein seine Stimme zu hören fühlte sich für mich »vornehm« an. Ich sammelte meinen rubbish zusammen (das englische Wort für Müll) und reichte ihn der Flugbegleiterin, die die Sitzreihen ablief.

Es wirkte alles sehr fremd auf mich, gleichzeitig fühlte ich mich so leicht wie seit Langem nicht mehr.

Am Tag zuvor hatten wir am Omaha Beach in der Normandie die Asche meines Vaters verstreut und uns tränenreich von ihm verabschiedet. Meine Mutter, meine beiden Schwestern Dori und Dana, mein Onkel und meine Tante, mein Schwager und meine fünfjährige Nichte waren alle bei mir. Wir standen am Ende eines langen Holzstegs und blickten auf den Ärmelkanal. Die Luft war beißend kalt, um uns herum war nur eisiges graues Wasser und hinter uns die lange Küstenlinie. Obwohl der Altersunterschied zwischen meinen Schwestern drei Jahre beträgt, werden sie mit ihren langen braunen Haaren und den großen Sonnenbrillen oft für Zwillinge gehalten. Während wir den gebrechlichen Steg entlanggelaufen waren, hatten sie meine Mutter in ihre Mitte genommen. Ich war vorausgelaufen und hatte nach der perfekten Stelle gesucht.

Ich sprach ein paar Worte, bevor wir die Asche verstreuten. Ich redete von Papas Liebenswürdigkeit, seinem Einfluss auf mich, wie er die Menschen immer zusammengebracht hatte – und wie er auch uns an diesem Ort wieder zusammengebracht hatte. Ich sprach ausführlich darüber, wie viel er uns bedeutete, schließlich waren wir alle um die halbe Welt gereist, um hier sein zu können. Ich sah zu meinen Schwestern hinüber, sie hielten ihre Köpfe leicht nach unten gebeugt. Sie sagten nichts, ihre Haare wehten im Wind und bedeckten ihre Gesichter. Sie verbargen ihre Gefühle gut, doch ich wusste, dass sie genauso litten wie ich. Meine Mutter ließ ihren Tränen freien Lauf. Aber selbst meine ungestüme fünfjährige Nichte blieb still.

Es war ein windiger Tag, doch plötzlich verebbten die Böen, und alles wurde sehr still. Ich öffnete den Behälter, in dem sich die Asche meines Vaters befand, und schüttete seinen Inhalt in das klare, kalte Wasser unter uns. Wir standen da und beobachteten, wie sie einen Moment lang auf der Oberfläche trieb, dann absank und im Sand am Meeresboden verschwand. In vielerlei Hinsicht hatte es sich angefühlt, als hätten wir seit seinem Tod den Atem angehalten. Nun konnten wir endlich ausatmen. Ich schoss ein Foto von der Aussicht am Ende des Piers. Selbst ohne das Bild wusste ich, dass ich niemals den Moment oder die Stelle vergessen würde, an der wir meinen Vater zur letzten Ruhe gebettet hatten.

Unser kurzer Aufenthalt in der Normandie war sehr gefühlsreich und traurig gewesen. Den englischen Part unserer Europareise begingen wir allerdings in einer ganz anderen Stimmung. Wir würden das mythische – oder nicht ganz so mythische – Schloss Hopwood besichtigen. Das war der Joker auf unserer Reise, und wir waren alle ganz aufgeregt. Es fühlte sich gewagt an und auch ein bisschen verrückt – meinem Vater hätte es gefallen. Er hatte immer seine helle Freude an unseren seltsamen Reiseabenteuern gehabt, wie das eine Mal, als meine Mutter einen Nord-Süd-Roadtrip organisiert hatte, um die Geburtsorte aller US-Präsidenten zu besuchen. Mein Vater hatte einen kleinen Whisky-Koffer aus abgewetztem Leder besessen, den er auf solchen Reisen immer mitgenommen hatte, um sich jeden Abend im Hotel ein Gläschen zu gönnen, und ich war mir sicher, dass er ihn auch auf dieser Reise nach England dabeigehabt hätte.

Der Pier von Luc-sur-Mer, Normandie, Frankreich. Freundlicherweise vom Autor zur Verfügung gestellt

Als wir uns von Frankreich verabschiedeten, wirkte meine Mutter, als wäre eine schwere Last von ihr gefallen. Sie war ganz aus dem Häuschen, Hopwood Hall besichtigen zu können. Nach einer langen und intensiven Phase der Trauer um meinen Vater und meinen Großvater fand sie gerade erst zu ihrem alten Selbst zurück – sie trug eine Marienkäfer-Spange in ihrem nun leicht ergrauten Haar und führte sogar ihr purpurfarbenes Notizbuch mit sich, aus dem Informationsbroschüren ragten. Sie liebte alles, was mit Familiengeschichte zu tun hatte, und diesmal wusste sie zumindest, dass ich ebenso aufgeregt war wie sie – anders als bei unserer letzten genealogischen Reise, die wir nach Hopwood im Bundesstaat Pennsylvania unternommen hatten, als ich sechs Jahre alt gewesen war. Es fühlte sich gut an, etwas zu tun, was ihr ein Lächeln aufs Gesicht zauberte.

Meine Mutter, meine Schwester Dana, mein Schwager und meine Nichte hatten geplant, mit einem Passagierschiff den Ärmelkanal zu überqueren und in Southampton an der Südküste Englands zu landen. Von dort aus würden sie nach Manchester fahren. Meine Schwester Dori, die drei Jahre älter ist und mit der ich schon immer Pferde stehlen konnte, würde mit mir zusammen mit dem Zug zum Flughafen fahren und dann nach Manchester fliegen, wo wir alle wieder zusammenkommen würden. Dori und ich machten uns also auf den Weg nach Paris, wo wir unser Flugzeug nach Manchester bestiegen. Ein paar Stunden später landeten wir und eilten durch den Zoll und in die Empfangshalle des Flughafenterminals.

Ich sah mich nach Geoff um, der versprochen hatte, uns abzuholen. Sofort entdeckte ich einen vertraut aussehenden, älteren Mann um die siebzig, mit weißem Haar, Brille und einem breiten Lächeln im Gesicht. Schon von Weitem nahm ich dieses gewisse Leuchten wahr, das von Menschen mit einer guten Seele ausgeht. Er trug einen langen hellbraunen Regenmantel und hielt eine karierte Schiebermütze in der Hand. Er sah sehr britisch aus und genau so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Als wir auf ihn zuliefen, streckte er seine Hand aus, um die meine zu schütteln.

»Hi, ich bin Hopwood,« begann ich.

»Das sind Sie in der Tat«, antwortete Geoff. »Die Rückkehr des goldenen Sohnes.«

Meine Schwester tippte mich am Arm an. »Oh, und das ist meine Schwester Dori«, fügte ich hinzu.

Geoff schüttelte auch ihr die Hand.

»Wir haben sehr lange auf Sie gewartet«, erklärte er uns. »Genauso wie Hopwood Hall.«

Ich konnte nicht recht sagen, ob er einen Witz machte oder es ernst meinte.

Außerhalb des Terminals regnete es in Strömen. Es war diese Art von Regen, der in Los Angeles ein besonderes Wetterereignis dargestellt hätte – kalt, nass und schnell. Büros und Schulen würden schließen. Alle Radio- und Fernsehsender würden von einem »Regenmageddon« reden. In L. A. regnet es nur ungefähr vierunddreißig Tage pro Jahr (und bei uns gilt bereits ein Niederschlag von 0,25 mm als Regen). In Manchester sind es ungefähr 140 Tage pro Jahr – und dieser ordentliche Sturm schien eher zur Tagesordnung zu gehören. Denn als Geoff uns zu seinem Auto führte, verlor er kein einziges Wort über das Wetter.

»Klettern Sie schon mal rein, während ich Ihre Taschen in den boot packe«, sagte er zu uns.

Ich war zu nass und fror zu sehr, um ihn zu fragen, wie genau und warum er unsere Taschen in seinen boot – was bei uns in den USA einem Stiefel entsprach – legen wollte. Wie groß war sein boot? Stattdessen hastete ich nach vorn, stieg ins Auto und sank erleichtert in den Sitz.

Wenige Sekunden später tauchte Geoff an der Autotür auf. »Werden Sie fahren?«, fragte er.

Ich hatte es so eilig gehabt, dem Regen zu entkommen, dass ich vergessen hatte, dass der Fahrer in England auf der anderen Seite sitzt. Ich entschuldigte mich, stieg aus, rannte zur Beifahrerseite und stieg hinein.

Kaum saß er hinter dem Steuer, drehte sich Geoff lächelnd zu mir. »Sie werden noch viel lernen müssen«, sagte er.

In den nächsten dreißig Minuten unterhielten wir uns angeregt mit Geoff, dann erreichten wir unser Hotel. Er setzte uns ab und ließ uns wissen, dass er uns am nächsten Morgen wieder abholen würde.

Wir übernachteten am Stadtrand von Middleton in einer Unterkunft namens Norton Grange Hotel. Geoff erklärte uns, es handele sich hierbei um das ehemalige Müllershaus, das einst auf dem Grundbesitz der Hopwoods gestanden hätte. Es war ein großes im 19. Jahrhundert erbautes Steinhaus, das mit einem Anbau erweitert und irgendwann in ein Hotel umgewandelt worden war.

Beim Check-in wurden wir von der Rezeptionistin begrüßt, einer jungen Frau mit rosigen Wangen, Pferdeschwanz und enthusiastischem Lächeln.

»Ya alright?«, fragte sie.

Warum fragte sie mich, ob alles in Ordnung sei? Sah ich etwa so müde und zerzaust aus? Vielleicht waren meine Augen blutunterlaufen.

»Hallo!«, antwortete ich.

»Ya alright?!«, fragte sie wieder.

»… ich denke schon. Sehe ich nicht danach aus?«

Daraufhin starrte sie mich an, als wäre ich verrückt.

Ihre Verwirrung wurde noch größer, als sie meine Buchung aufrief und sah, dass mein Name Hopwood lautete. Das Hotel befand sich nur wenige Meilen von Hopwood Hall entfernt – es hatte sogar eine Hopwood Suite –, und da war sie nun und hatte einen echten Hopwood vor sich stehen. Die arme Frau wirkte zunehmend überfordert, als sie unsere Formulare ausfüllte. Sie nannte mich ständig »Sir«, sodass ich mich schon fragte, ob sie glaubte, mich vielleicht mit »Lord« ansprechen zu müssen. Ich versicherte ihr, dass sie mich ruhig mit »Hoppy« anreden könne, meinem Spitznamen aus der Kinderkrippe.

Kurz darauf gab sie mir meinen Schlüssel und erklärte mir den Weg zu Zimmer 210, das sich ihrer Aussage nach im ersten Stock befand.

»Ist das Zimmer 210 nicht eigentlich im zweiten Stock?«

»Nein, das wäre dann Zimmer 310.«

Schon bald würde ich lernen, dass der britische erste Stock einem zweiten Stock in den USA entspricht, doch in diesem Moment kam ich mir vor, als hätte ich ein alternatives Universum betreten. Da ich wohl äußerst verwirrt wirkte, präzisierte sie.

»Nehmen Sie einfach den Aufzug und drücken Sie auf 1«, erklärte sie mir und gestikulierte in Richtung Aufzug.

Als sich die Türen des Aufzugs öffneten, passierte ich einen weiteren Hotelangestellten. »Ya alright?«, fragte auch er.

Oh mein Gott, dachte ich. Ich muss wirklich schrecklich aussehen. Außer dem einen Mal, als ich eine Treppe heruntergefallen war, hatten mich noch nie so viele Menschen auf einmal gefragt, ob mit mir alles in Ordnung sei. Hoffentlich würde ich das auch sein.

• • •

Am nächsten Morgen standen wir in aller Frühe auf, um uns mit unserer Mutter und dem Rest der Familie zu treffen, die am Abend zuvor angekommen waren. Während wir in der Lobby standen und darauf warteten, dass Geoff uns abholen würde, gab sich jeder die größte Mühe, den Jetlag zu ignorieren, der uns die halbe Nacht wachgehalten hatte.

Trotz der frühen Stunde kam Geoff fröhlich lächelnd und eine Melodie summend im Hotel an. Ich stellte ihn meiner Mutter und der ganzen Familie vor. Der jahrelange Umgang mit trauernden Angehörigen hatte Geoff offensichtlich zu einem Experten darin gemacht, Menschen zu treffen, die sich fehl am Platz oder leicht benommen fühlen und nicht genau wissen, was sie als Nächstes tun sollen. Als wir das Hotel verließen, nahm er den Arm meiner Mutter, um sie zu stützen. Für meine Nichte vollführte er einen magischen Trick, bei dem er eine glänzende Münze hinter ihrem Ohr hervorzauberte und sie ihr gab.

Als wir gingen, blickte mich eine andere Mitarbeiterin des Hotels an und fragte: »Ya alright?«

Am liebsten hätte ich mich um die eigene Achse gedreht und gebrüllt: »ES GEHT MIR GUT!!!« Was zum Teufel war hier nur los?!

Ich sagte zu Geoff, dass ich unglaublich gejetlagged oder krank aussehen müsse, weil mich jeder im Hotel ständig frage, ob bei mir alles in Ordnung sei.

»Hopwood,« sagte Geoff und lächelte kopfschüttelnd. »Fast jeder hier im Norden Englands sagt ›Ya alright?‹ statt ›Hallo‹. Es ist nichts Persönliches.«

»Oh!«, antwortete ich. »Da bin ich aber erleichtert.«

Ich musste allerdings trotzdem daran denken, dass Lionel Richies Song »Hello« ein ganz anderer gewesen wäre, wenn Richie aus dieser Gegend käme.

Mein Schwager Erik hatte einen geräumigen Van gemietet, damit wir die Gegend erkunden konnten. Wir kletterten alle hinein, auch Geoff. Es hatte zu regnen angefangen. Es war eine Art nebliger Sprühregen, der für den Rest des Tages anhalten sollte. Im Vergleich zu »Rainmageddon« war das schon fast erholsam.

Im Van erklärte Geoff, dass uns Bob, der Verwalter von Hopwood Hall, das Anwesen zeigen würde. Er informierte uns auch darüber, dass wir nicht den eigentlichen Zufahrtsweg zum Haus nehmen könnten, da er aufgrund vieler Schlaglöcher und viel Schlamm gesperrt sei. Wir müssten den Hintereingang nehmen, der über den Campus des Hopwood Hall College führte. Er erzählte, dass das College in den frühen 1990ern in einer Reihe von Lehrgebäuden, die der Mönchsorden De La Salle an dieser Stelle des Guts erbaut hatte, gegründet worden sei. Nachdem die Mönche gegangen waren, wurde der Bezirksrat Eigentümer von Hopwood Hall und trennte die Lehrgebäude vom restlichen Grundbesitz ab, um daraus ein kleines College zu machen, das nach dem Anwesen benannt wurde.

»Tatsächlich kam Queen Elizabeth 1992 hierher, um die Eröffnung des Colleges zu feiern«, erzählte uns Geoff stolz.

Wir fuhren über den Campus und zu einem Tor, an dem ein Vertreter des Bezirksrats darauf wartete, uns durchzulassen. Wir sagten unsere Hallos und »Ya-alrights«, und das Tor öffnete sich. Ich fühlte, wie mein Herz einen Sprung machte, als wir langsam weiterfuhren. Ich konnte spüren, dass wir immer näher kamen, und aus irgendeinem seltsamen Grund schien mir die Landschaft um mich herum unglaublich vertraut. Wir konnten einen Bach sehen, saftig grüne Felder und dahinter eine Hügellandschaft. Kühe grasten auf der Weide. Es sah wie in einem Gemälde aus.

»Ich kann nicht glauben, wie grün hier alles ist!«, wiederholte ich mehrmals.

Dann machte der Weg eine Kurve. Plötzlich lichteten sich die Bäume.

»Und da ist es«, sagte Geoff lächelnd.

Die Fassade des Herrenhauses, aus rotem Backstein und gelbbraunem Stein bestehend, schien durch den Schleier aus Nebel und Regen hindurchzuleuchten. Dutzende von Schornsteinen entsprossen den mit Zinnen versehenen Dächern, die in den schweren grauen Himmel ragten.

Selbst unter Wolken war es ein magischer Anblick – die riesigen Fenster Hopwood Halls schienen uns zuzuzwinkern, da sie jedes bisschen Licht auffingen und in unsere Richtung zurückwarfen. Winzige Fensterscheiben erweckten das Gebäude zum Leben – es wirkte, als würde das Licht, das auf ihnen Funken sprühte, irgendeine Form von uraltem Willkommensakt vollführen. Geoff erklärte uns den Grund für diesen Blendeffekt. »Diese Fenster bestehen eigentlich aus Hunderten von einzelnen diamantenförmigen Glasscheiben«, erläuterte er. »Deswegen schimmern sie so.«

Meine fünfjährige Nichte Jetsen starrte wie gebannt auf die Fassade. »Wow … diese Fenster sehen so aus, als wären sie aus Juwelen gemacht«, sagte sie.

Geoff lenkte unsere Aufmerksamkeit auf eine große Sonnenuhr, die oberhalb der Fensterfassade und direkt unter einer spektakulären Reihe von Zinnen am Backstein angebracht war. Auf diese Weise hatten unsere Vorfahren, zu einer Zeit, in der es noch keine mechanischen oder elektronischen Uhren gegeben hatte, die Tageszeit abgelesen.

Wir fuhren zum eigentlichen Eingang und stiegen aus dem Auto, weiter kamen wir allerdings nicht. Zwischen uns und dem Haus stand ein vier Meter hoher Sicherheitszaun, den scharfe Metallklingen krönten. Am Zaun hing ein Schild, auf dem stand: »Zutritt verboten, einsturzgefährdetes Gebäude«.

Geoff erklärte uns, dass der Zaun vom Bezirksrat aufgestellt worden war, um Diebe und Vandalen abzuhalten, die regelmäßig in das Herrenhaus einbrachen. Sie hatten bereits Blei vom Dach und wertvolle Schnitzarbeiten von den Wänden gestohlen oder mutwillig Fenster und Spiegel eingeworfen.

»Nicht dass der Zaun jemanden aufhalten würde«, bemerkte Geoff. »Sie versuchen immer noch, über ihn zu klettern. Manch einer bleibt dann an den Klingen hängen, was kein schöner Anblick ist. Die Einheimischen haben dem Zaun daher den Spitznamen ›Hodenschredder‹ gegeben.«

Auf der anderen Seite des Zauns erwartete uns ein kleiner, stämmiger Mann in seinen Fünfzigern. Sein Bart war getrimmt, doch unter seinem Schutzhelm quoll sein Haar wild hervor. Er trug eine hellgelbe Bauarbeiterweste.

»Sie sind zu spät!«, bellte er.

Hopwood Hall

Sind das die Amerikaner?«, fragte der Mann im Schutzhelm mit schroffer, stark akzentuierter Stimme und fügte hinzu: »Ich bin davon ausgegangen, dass Sie zu spät kommen würden … Sie sind ja Amerikaner.«

»Manchester Humor«, versicherte uns Geoff, bevor er uns Bob vorstellte, dem Verwalter Hopwood Halls.

»Das hat nichts mit Humor zu tun!«, schnauzte Bob zurück. »Das ist das zweite Mal in diesem Monat, dass der Rat mich darum gebeten hat, das Haus aufzuschließen. Ich kann froh sein, wenn ich dafür bezahlt werde.«

Unter lautem Geklirr schloss Bob das riesige Vorhängeschloss auf, das den Sicherheitszaun zusammenhielt, und ließ uns hinein.

Wir schüttelten Hände und nickten Bob nervös zu, der offensichtlich keine große Lust auf Small Talk hatte.

»Dann legen wir mal los mit der Führung«, sagte er.

Bob händigte uns Schutzhelme und gelbe Warnwesten aus. Geoff hatte uns bereits in einer seiner E-Mails dringend geraten, »robustes Schuhwerk« mitzubringen. Wir waren uns nicht ganz sicher gewesen, was das bedeutete, hatten schließlich Sneakers und Wanderstiefel eingepackt und auf das Beste gehofft.

»Nur ein Drittel des Gebäudes ist gefahrlos begehbar«, warnte uns Bob. »Es sind ungefähr sechzig Zimmer insgesamt, aber nur damit Sie es gleich wissen, wir können nicht in alle hinein.

Noch ein paar Regeln, bevor wir hineingehen«, fuhr Bob fort. »Marschieren Sie nicht auf eigene Faust los und gehen Sie nur dort, wo ich es Ihnen sage. Wenn Sie nicht auf mich hören, könnten Sie im Boden einbrechen und sterben. Wenn das passiert und Sie eine Uhr tragen, halten Sie bitte Ihren Arm nach oben, wenn Sie fallen. So kann ich, wenn Sie gelandet sind, leichter die Uhr einsammeln und später verkaufen.«

Meine Mutter sah mich etwas verdutzt an.

»Manchester Humor!«, flüsterte ich in dem Versuch, Bobs Regeln für sie zu übersetzen.

Wir folgten Bob, während er in Richtung Herrenhaus stapfte. Aus der Ferne sah Hopwood Hall spektakulär aus, aber bei näherer Begutachtung wurde offensichtlich, dass es schon bessere Tage gesehen hatte – seine funkelnden Fenster waren gesprungen oder zerbrochen, aus den Schornsteinen wuchsen kleine Bäume, und vor dem Haus stand ein riesiger Müllcontainer, der von Schutt und Abfällen nur so überquoll.

In diesem Moment hätte ich eigentlich wissen müssen, dass Hopwood Hall nicht so aussehen würde wie die herrschaftlichen Anwesen, die ich aus englischen Fernsehserien und Literaturverfilmungen kannte. Trotzdem stellte ich mir vor meinem inneren Auge noch immer eine Art Downton Abbey vor. Das hier war allerdings die schäbige Variante davon, also eher ein »Downton Shabby«.

Nach Bobs recht barscher Begrüßung musste ich mich zusammenreißen, um ihn nicht zu fragen: Wenn Sie hier der Verwalter sind, worum genau kümmern Sie sich dann eigentlich?

»Okay«, verkündete Bob. »Sammeln wir uns hier.«

Das taten wir. Bob stand vor zwei gigantischen Doppeltüren aus Holz.

»Hier sehen Sie die alte Kutscheneinfahrt zur Hall«, erklärte er uns. Er zeigte auf die massiven Pforten aus grobem dunklem Holz, die durch Stahlnieten, Metallbeschläge und Verzierungen zusammengehalten wurden.

»Die hauseigene Tischlerei hat diese Türen aus dem Holz der Bäume gefertigt, die hier in den Hopwood Woods gefällt wurden, ortsansässige Schmiede haben die Nieten und die Scharniere dafür geschlagen«, fuhr er fort. »Alles wurde direkt auf dem Anwesen gemacht. Man sieht sogar noch die Hammerspuren.«

Er zeigte uns die winzigen Einkerbungen, die ein Schmied vor fünfhundert Jahren hinterlassen hatte. Wir alle gaben unsere »Wows« und andere anerkennende Laute von uns.

»Und hier können Sie noch sehen, wie jemand von einem Gasversorgungsunternehmen ein Loch in die Tür gebohrt hat, um einen Luftentfeuchter zu installieren. Das war ungefähr 2012«, erläuterte Bob und brachte uns damit wieder zurück auf den Boden der Tatsachen. »Nur eines der vielen Dinge in Hopwood Hall, die repariert werden müssen.«

Dann drückte er mit seiner Schulter gegen den uralten Eingang, bis die Türen schwer ächzend aufschwangen.

Wir betraten das Herrenhaus. Vor uns befand sich ein hoher Torbogen aus Kalkstein, der in einen Innenhof führte. Dort ragten an drei Seiten Backsteinwände auf, die mit noch mehr viereckigen Bleiglasfenstern aufwarteten. Unter unseren Füßen befanden sich dicke Steinplatten. Bob erzählte uns, hier seien früher die Kutschen eingefahren und hätten die Fahrgäste abgesetzt, um dann umzudrehen und wieder herauszufahren.

»Wenn Sie im 18. Jahrhundert hierhergekommen wären«, beschrieb uns Geoff, »hätten auf diesem Anwesen mehr Menschen gearbeitet, als es damals Einwohner in Middleton gab. Die gesamte Dienerschaft wäre aus dem Haus gekommen, um Sie bei Ihrer Ankunft zu begrüßen.«

Ich versuchte mir vorzustellen, wie Butler, Lakaien und Dienstmädchen aus den Fenstern spähen und dann nach draußen eilen würden, um sich aufzustellen und uns zu begrüßen. Das war auf jeden Fall eine schönere Vorstellung als der uns in seinem Schutzhelm entgegenstarrende Bob …

Zu unserer Linken befinde sich eine kleine Kapelle, im Jahr 1690 erbaut, in der die Familie Andacht gehalten habe, wenn sie den Weg zur örtlichen Kirche nicht habe auf sich nehmen wollen, erzählte uns Geoff. Rechts von uns lag ein Raum, den Bob als den »Guards’ Room« bezeichnete.

»Dieser Raum gehört tatsächlich zu den neueren Teilen der Hall«, ließ er uns wissen. »Sie wurden während der Regentschaft von King James II. erbaut.«

Neuer? Er sprach über Gebäude, die ein Jahrhundert älter waren als die USA! Ich fragte mich, ob Bob womöglich schlecht informiert oder irgendwie mit den Jahreszahlen durcheinandergekommen war.

Geoff und Bob gingen voraus, und wir folgten ihnen in den Guards’ Room.

Wir fanden uns in einem großen leeren Raum wieder. Über unseren Köpfen erstreckte sich eine mit Blumen und anderen Mustern verzierte Stuckdecke. An den in Blassgrün gehaltenen Wänden befanden sich viele Risse, und der Putz blätterte ab.

»Im 17. Jahrhundert war dies der Raum, in dem man Sie nach Waffen durchsucht hätte, bevor Sie die Räumlichkeiten hätten betreten dürfen«, erklärte Bob.

»Also so eine Art mittelalterlicher Security-Bereich!«, sagte ich und lachte über meinen Witz. Bob verzog keine Miene. Ich hatte allerdings das Bedürfnis, die Stimmung locker zu halten.

Vor uns befand sich ein riesiger, imposanter Kamin, der links und rechts von zwei Säulen eingefasst wurde. Bob zeigte auf ein paar Hundeköpfe, die am oberen Ende der Säulen eingemeißelt waren und deren Nasen derart nach vorn ragten, als würden sie gleich zubeißen.

»Die Hunde sehen sehr wütend aus«, bemerkte Bob. »Niemand weiß genau, warum. Vielleicht mussten sie früh aufstehen, um die Besucher der Hall zu begrüßen!«

»Wie wunderschön«, sagte ich zu Bob, den dieses Kompliment sichtbar milder stimmte.

Wir stiegen ein paar Treppen hoch und gelangten zu einem noch eindrucksvolleren Raum, dessen Wände im selben Grünton gestrichen waren und den Geoff als die Empfangshalle bezeichnete.

»Hier empfing die Familie ihre Gäste und bot ihnen etwas zu essen an«, erklärte er.

Der Raum war groß, mit hohen Decken und einer langen Reihe hoher und durch steinernes Stabwerk gegliederter Fenster, von denen man auf den Innenhof blicken konnte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie die Hopwoods hier ihre Gäste in grandioser Downton-Abbey-Manier begrüßt hatten. Es fiel mir jedoch schwer. Von den Wänden rollte sich die alte Farbschicht traurig ab, die Feuchtigkeit sickerte an mehreren Stellen durch den Stuck, und von der Decke baumelten Elektrokabel. An den Fenstern lehnte eine einsame Leiter, schwarze Müllsäcke, die mit Gott weiß was gefüllt waren, waren achtlos auf den Boden geworfen worden, und überall lagen verschiedenste, nicht näher identifizierbare und mit einer Staubschicht bedeckte Werkzeuge herum. Bob führte uns zu einem weiteren Steinkamin – diesen zierte eines der Familienwappen der Hopwoods, rechts und links davon prangte der Wahlspruch By Degrees, was in etwa »Schritt für Schritt« bedeutet. Das Wappen war schildförmig und zeigte unter anderem einen Hirsch.

Wir hatten keine Ahnung gehabt, dass wir einen Wahlspruch hatten, geschweige denn ein Wappen! Eifrig schossen wir mit unseren Smartphones viele Fotos.

»Vielleicht sollten wir uns das alle eintätowieren lassen«, flüsterte ich Dori ins Ohr, die daraufhin lachte.

Dann zeigte Bob uns etwas, was er als seinen »ganzen Stolz« beschrieb. Dabei handelte es sich um lange Tische in der Mitte der Empfangshalle, auf denen lauter Trümmerteile lagen. Jedes Mal, wenn irgendetwas von den Wänden oder Decken fiel – ein Stück Stuck, ein uraltes Stück Holz –, hob er es auf und legte es hier hin, nebst einer kleinen Karte, auf der er verzeichnete, woher die Teile stammten. Bob schienen seine Tische und Karten sehr viel Freude zu bereiten, aber auf uns wirkten sie mehr wie eine Art Friedhof der Artefakte.

»Vielleicht haben wir eines Tages das Geld und die Hilfe, um all diese Teile wieder an ihren ursprünglichen Platz zu bringen«, seufzte Bob.

Der Kamin in der Empfangshalle von Hopwood Hall. Matt Wilkinson

Wahlspruch der Familie Hopwood auf dem Kamin in der Empfangshalle. Freundlicherweise vom Autor zur Verfügung gestellt

Daraufhin führten uns Geoff und Bob in die sogenannte Galerie, bei der es sich um einen langen Korridor handelte, den dunkles Tafelwerk und die gleichen quadratischen Bleiglasfenster säumten, die wir im Innenhof von außen gesehen hatten. Geoff bat uns darum, uns diesen Ort so vorzustellen, wie er einmal gewesen war: elegant eingerichtet, die Wände behangen mit den Ölgemälden unserer Vorfahren, manche von ihnen mehrere Jahrhunderte alt.

Ich blickte mich um und versuchte, mich auf seine Stichworte einzulassen und mir vorzustellen, wie luxuriös es hier zur Glanzzeit des Hauses gewesen sein musste. Dabei gab ich mir beste Mühe, die gigantischen gelben Schimmelflecken zu ignorieren, die auf den aufwendigen Stuckarbeiten an der Decke bedrohliche Muster zeichneten. Wie dieser Ort wohl aussehen würde, wenn anstatt der zerbrochenen Fensterscheiben, die den Regen hineinließen, großzügige Samtvorhänge an intakten Fensterfronten drapiert wären?

»An den Tagen, an denen es regnete oder zu heiß war, um nach draußen zu gehen«, erläuterte Geoff, »war dies der Ort, an dem die Familie ihren täglichen Spaziergang absolvierte. Sie liefen den Korridor auf und ab, anstatt in den Gärten ›zu promenieren‹. Sehen Sie den großen Erker auf halbem Weg, den mit den hohen Fenstern? Dort war es immer schön hell, und er eignete sich daher perfekt, um ein Buch zu lesen, Musiknoten zu studieren oder vielleicht etwas zu sticken.«

Anschließend riet uns Bob, unsere Köpfe einzuziehen, da wir uns unter einem niedrigen Holzbalken hindurchducken mussten, um zu einem kleinen, halbverborgenen und in die Wand eingelassenen Sitzbereich zu gelangen, der sich ganz am Ende der Galerie befand und den er als Kaminecke bezeichnete. Es war der kleinste Raum, den wir bisher gesehen hatten, und er war mit dem gleichen dunklen Tafelwerk ausgestattet wie die Galerie. Obwohl die Kaminecke vergleichsweise klein war, wurde sie von einem weiteren wuchtigen Steinkamin dominiert. Dieser war mit einem Wappen bemalt, das aus blauen, goldenen und roten Streifen bestand.

»Hier sehen Sie den Lord-Byron-Kamin«, verkündete Geoff. »Sehen Sie, dass die linke Ecke des Kamins mit der Zahl 16 und die rechte mit der Zahl 58 markiert wurde? Das bedeutet, dass der Kamin 1658 gebaut wurde. Damals war Ihr Amerika nur ein Haufen britischer Siedlungen.«

Selbst meine Nichte Jetsen hing an seinen Lippen. Geoff erklärte, dass man den Kamin nach Lord Byron benannt hatte, da man glaubte, er habe einst dem berühmten Dichter der Romantik gehört.

»Im Jahr 1811, zu Beginn seiner Dichterkarriere, war Byron ein Gast der Familie Hopwood und wohnte eine Zeit lang im Haus«, schilderte Geoff. »Damals versuchte er, Teile seines Gutsbesitzes im nahen Rochdale zu verkaufen, zu denen womöglich auch dieser mächtige Kamin gehörte, den Sie hier vor sich sehen.«

Während Byrons Besuch muss sich die Familie damit einverstanden erklärt haben, den übergroßen Kamin zu übernehmen, denn seitdem stand er dort.

»Manche glauben, dass der Kamin ein Geschenk an die Familie Hopwood war, da Byron so lange bleiben durfte, bis er sein weltberühmtes Gedicht Childe Harolds Pilgerfahrt fertiggestellt hatte.«

Ich gestand mir nur ungern ein, dass ich von diesem Gedicht noch nie gehört hatte. Aber glücklicherweise war Geoff da, um uns die Kurzversion der Geschichte zu erzählen.

»Während seines Aufenthalts spazierte Byron auf der Suche nach Inspiration gern durch die nahen Hopwood Woods. Und schließlich muss er sie gefunden haben, denn als er Hopwood Hall verließ, hatte er Childe Harolds Pilgerfahrt, mit dem er sich dann als Dichter einen Namen machte, fertiggeschrieben.« Doch Byron war nicht der einzige weltberühmte Künstler, der in jenem Jahrhundert zu Besuch kam. Es gibt sogar das Gerücht, dass der legendäre Komponist und Pianist Frédéric Chopin Mitte des 19. Jahrhunderts dem Anwesen während einer Konzertreise, die ihn in diese Gegend gebracht hatte, einen Besuch abstattete.

»In seiner Blütezeit war das einer dieser Orte, der die Besten der Besten anzog.« Geoff lächelte.