Drachenblut 3 - Lindsay Buroker - E-Book

Drachenblut 3 E-Book

Lindsay Buroker

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Beschreibung

Die Drachenblut Saga - die Bestseller Fantasy Serie aus den USA endlich auf Deutsch! Vom ersten Moment an fühlt Colonel Grat Zirkander eine magische Anziehung zur geheimnisvollen Ardelle. Doch er ist ihr Aufseher – und sie seine Gefangene. Kann er ihr trauen, wenn die Zukunft seines Landes auf dem Spiel steht? Colonel Grat Zirkander ist nicht gerade ein Musterbeispiel militärischen Gehorsams – in seiner Akte sind genug Verweise, um damit den Ballon eines Luftschiffs zu tapezieren. Weil er der beste Kampfpilot des Landes ist, lassen seine Vorgesetzten ihm vieles durchgehen. Doch dann bricht er dem falschen Diplomaten die Nase und wird in eine abgelegene Mine in den Bergen strafversetzt, um Gefangene zu überwachen. Grat ist alles andere als begeistert. Bis unter den Gefangenen die geheimnisvolle, schöne Ardelle auftaucht ... Die Magierin Ardelle erwacht in einem verschütteten Berg - nach dreihundert Jahren magischen Schlafs. Ihr Volk wurde ausgelöscht und Jaxi, ihr sprechendes Schwert, liegt tief in den Trümmern begraben. Wo einst die stolze Hochburg der Magier stand, ist heute ein Bergwerk voller Sträflinge. Ardelle braucht Hilfe, um ihr sprechendes Schwert zu bergen. Ihre einzige Hoffnung besteht darin, sich als Gefangene auszugeben. Aber Lügen sind nicht ihre Spezialität. Vor allem, wenn der Aufseher ein so charmanter und attraktiver Mann ist wie Grat Zirkander. Atemlose Abenteuer, eine verbotene Liebe und ein sprechendes Schwert halten in Lindsay Burokers fulminanter Drachenblut Saga die Spannung bis zur letzten Seite. Für alle, die epische Fantasy für Erwachsene mit Romantik und einer Prise Humor lieben! Über die Drachenblut Saga Tausend Jahre sind vergangen, seit zuletzt ein Drache gesichtet wurde. Wissenschaft und Technologie haben die alte Magie verdrängt. Doch es gibt Menschen, durch deren Adern noch immer Drachenblut fließt, entfernte Nachfahren der mächtigen Kreaturen von einst. Diese Menschen haben die Macht, Magie zu wirken, zu heilen und Waffen herzustellen, die Kriege entscheiden können. Wegen dieser Kräfte sind sie gefürchtet, und in den letzten Jahrhunderten wurden sie fast bis zur Ausrottung gejagt. Die wenigen Überlebenden müssen einen Weg finden, die Magie von einst wieder aufleben zu lassen, oder sie werden für immer aus der Welt verschwinden.

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DRACHENBLUT

Band 3Erbe der Drachen

von Lindsay Buroker

Zuerst 2015 erschienen unter dem Titel Blood Charged (Dragon Blood Book 3).

Titel: Drachenblut Band 3 – Erbe der Drachen

Autorin: Lindsay Buroker

Übersetzung: Jenny-Mai Nuyen

Von Morgen Verlag

Cover: Maria Spada

Deutsche Erstveröffentlichung: Berlin 2021

© 2022 Von Morgen Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

Nachwort des Verlags

Kapitel 1

Ardelle wurde verfolgt.

Sie hatte ihre Verfolgerin noch nicht gesehen, aber dank ihrer magischen Sinne spürte sie, dass ihr eine Frau durch die matschigen Gassen von Pinoth nachschlich. Dank ihrer magischen Sinne spürte sie auch, dass die Frau bewaffnet war. Das Jagdmesser, das an ihrem Gürtel hing, sollte keine allzu große Bedrohung darstellen, aber der Sechsschüsser, den sie in der Hand hielt, bereitete Ardelle Sorgen. Eigentlich konnte Ardelle sich vor Kugeln schützen, aber mitten in der iskandischen Hauptstadt, in der Magie verboten war, durfte sie ihre Fähigkeiten nicht offen zur Schau stellen.

Ardelle beschleunigte ihren Schritt.

Du hättest mich mitnehmen sollen, sagte Jaxi, ihre magische Seelenklinge, in ihrem Kopf.

Wie ich schon mehrmals betont habe, sind Frauen, die mit Schwertern herumlaufen, in diesem Zeitalter eine Seltenheit. Ich will nicht mehr auffallen als ohnehin. In den ersten paar Wochen, seit sie in Pinoth war, hatte Ardelle Jaxi unter ihrem Mantel getragen, zum Teil, weil sie nicht riskieren wollte, ihr Seelenschwert zu verlieren, nachdem sie Jaxi gerade erst aus dem verschütteten Berg geholt hatte, und zum Teil, weil ihr noch nicht klar gewesen war, wie sehr sich die Mode in den dreihundert Jahren ihres magischen Schlafes verändert hatte. Soldaten trugen immer noch Schwerter als Teil ihrer Uniform, aber Feuerwaffen waren die Norm, und Frauen, die sich auf der Straße verteidigen wollten, bevorzugten Pistolen, die sie in ihre Handtaschen stecken konnten. Ardelle zog schon genug Aufmerksamkeit auf sich, indem sie mit dem berühmtesten Piloten der Hauptstadt, wenn nicht sogar von ganz Iskandia, zusammen war. Da musste sie nicht auch noch mit einem Schwert herumlaufen. Glücklicherweise sah sie, wenn sie sich unauffällig kleidete, nicht anders aus als jede andere iskandische Frau: dunkles Haar, blasse Haut, ein paar Sommersprossen auf der Nase ...

Und die Fähigkeit, Horden von feindlichen Soldaten mit einer Handbewegung zu flambieren, sagte Jaxi.

Ardelle schnaubte. Pyrotechnik ist deine Spezialität.

Ja, allerdings. Nach einer Pause fügte Jaxi hinzu: Deine Verfolgerin hat sich auf die Dächer begeben, um unbemerkt mit dir Schritt zu halten. Ihr Finger ist auch fest auf dem Abzug.

Ich weiß.

Du könntest ebenfalls auf die Dächer hüpfen, sie überwältigen und ein bisschen würgen, um rauszufinden, warum sie dich verfolgt.

Ich fühle mich geschmeichelt, dass du mir das zutraust. Erinnerst du dich, dass ich gestolpert bin und mir das Knie aufgeschürft habe, als ich das letzte Mal über einen Baumstamm gesprungen bin? Ardelle bog in eine Seitenstraße ein und hoffte, dass ihre Verfolgerin durch die Überquerung des breiten Boulevards aufgehalten werden würde. Eine plötzliche Hoffnung keimte in ihr auf. Sie ist nicht zufällig eine Cofah, oder?

Blasse Haut. Sie sieht aus wie eine Eingeborene von Iskandia, sagte Jaxi.

Ardelle seufzte. Sie hätte sich weniger Sorgen gemacht, wenn ein Spion des Imperiums hinter ihr her wäre. Immerhin befand sich Iskandia mit Cofahre im Krieg. Aber wenn jemand aus Iskandia Ardelle verfolgte, ahnte derjenige vielleicht, dass sie eine Magierin war …

Ein mit großen Kanonen bestückter Dampfwagen rumpelte die Kopfsteinpflasterstraße hinunter. Die Ladefläche im hinteren Teil war abgedeckt. Spontan sprang Ardelle auf.

Sehr schön. Du hast dir nicht mal ein Knie geprellt, lobte Jaxi.

Ardelle schaute über die Schulter, ob sie ihre Verfolgerin auf einem Dach entdeckte. Doch sie sah niemanden.

Der Dampfwagen stieß stinkenden schwarzen Rauch in die Luft, und die Unebenheiten des Kopfsteinpflasters ließen Ardelle mit den Zähnen klappern, aber immerhin fuhr der Wagen schneller, als sie laufen konnte. Sie überholten Einkäufer, Arbeiter und Fahrradkuriere, die durch die matschigen Straßen stapften, und schlängelten sich furchtlos an Dampfwagen, Pferden und Eseln vorbei, die Karren zogen. Der kilometerlange Hafen von Pinoth kam in Sicht, eine Ansammlung von Fischerbooten, Frachtern und Kriegsschiffen, die auf dem trüben Wasser schaukelten. Ardelles Blick wanderte zu der Landzunge am südlichen Ende, wo der Zinnenfels aufragte, eine steile Klippe. Von hier unten aus konnte sie nicht viel vom Luftwaffenstützpunkt oben auf dem Zinnenfels sehen, aber sie war oft genug dort gewesen, um sich die Start- und Landebahnen und ihre Hangars voller mechanischer Drachenflieger vorzustellen. Der Himmel über dem Meer war klar, der Wind schwächer als sonst. Vielleicht würden die Piloten heute Übungsmanöver fliegen.

Geht dein Liebhaber heute Morgen nicht zu einer Ratssitzung?

Ah, das war richtig. Grat würde nicht da draußen sein, selbst wenn die Flieger in den Himmel stiegen. Es sei denn, es gäbe einen Alarm und sein Geschwader würde zum Einsatz gerufen.

Deine Verfolgerin fällt zurück, folgt dir aber noch. Sie weiß vielleicht, wohin du gehst.

Leider war das eine Möglichkeit. Ardelle ging nun schon am dritten Tag in Folge in das öffentliche Archivgebäude, um zu recherchieren. Vielleicht war sie gestern einem anderen Besucher aufgefallen und ihm verdächtig vorgekommen, oder die Frau, die an der Rezeption arbeitete, hatte jemandem von Ardelles unermüdlicher Neugier berichtet – dem Staub in den Regalen nach zu urteilen, teilten nicht viele Leute ihr Interesse an dem Archivgebäude.

Ich werde nicht zurück in Grats Haus flüchten, um meine toten Freunde und mein verlorenes Leben zu beweinen, während ich darauf warte, dass Grat abends nach Hause kommt. Das hatte Ardelle in den ersten Wochen bereits ausführlich getan. Zugegeben, sie hatte öfter an den Kommunikationsgeräten für Grats Geschwader gearbeitet als zu trauern – zu schmollen, wie Jaxi es genannt hatte –, also war es keine verschwendete Zeit gewesen, aber sie war begierig darauf, bei ihrer selbst auferlegten Mission voranzukommen: Sie wollte mögliche Nachfahren ihres Volkes aufspüren und nach anderen Iskandiern mit Drachenblut suchen. Wenn es sie gab, würde sie ihnen beibringen, wie sie ihre magischen Kräfte nutzen konnten. Es würde die Mission ihres Lebens werden, Nachfahren der Magier von einst zu finden. Es würde nicht einfach sein, nicht wenn jeder mit unerklärlichen Kräften schon früh gelernt hatte, sie zu verstecken. Das Archivgebäude war der einzige Ort in Pinoth, an dem sie erfahren konnte, ob jemand vor dreihundert Jahren die Vernichtung der Referatu überlebt hatte. Vielleicht war ihr Bruder damals heil davongekommen … hatte Kinder gezeugt, die ebenfalls Kinder gezeugt hatten … Es war eine naive Hoffnung, aber sie brauchte sie. Ihr Bruder hatte sie ihre ganze Kindheit hindurch unerbittlich gehänselt und gequält, und sie hatte ihn im Erwachsenenalter nur selten besucht, aber jetzt, wo es zu spät war ... bildete sich ein Kloß des Bedauerns in ihrer Kehle, wann immer sie an ihn dachte.

Ich wollte nicht vorschlagen, dass du deine Suche aufgibst und lieber mit Stricken anfängst wie Grats alte Nachbarin, aber du könntest zu mir nach Hause kommen, damit du dich besser verteidigen kannst.

Ich kann mich gut allein verteidigen.

Ich hätte mich nie für eine Bindung an dich entschieden, wenn ich gewusst hätte, dass du mich tagelang unter dem Bett zurücklassen würdest, mit nichts als Staubfusseln als Gesellschaft.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich unter Grats Bett keine Staubfusseln befinden. Der Wagen bog von der Hauptstraße ab. Als ihm ein Fahrrad in die Quere kam und ihn zum Abbremsen zwang, sprang Ardelle ab. Außerdem sollten ein paar Tage Untätigkeit nichts sein, nachdem man dreihundert Jahre lang in einem Berg verschüttet war. Es ist kaum drei Wochen her, seit du dein großes Abenteuer mit Tolemek hattest.

Du meinst das große Abenteuer, bei dem er mich als Lampe benutzt hat, weil ich so schön leuchten kann?

Du hast auch eine tödliche Giftgasbombe verbrannt, die nur Sekunden davon entfernt war, Tausende von Menschen zu töten. Ardelle hob ihren Rock an und ging eine Seitenstraße voll schmelzendem Schnee und dampfender Pferdeäpfel hinunter, froh, dass ihre pelzgefütterten Stiefel hochgeschlossen waren. Ihr Ziel ragte an der nächsten Kreuzung auf – ein tristes graues dreistöckiges Gebäude mit dem architektonischen Charme eines Türstoppers.

Ardelle trat ein. Dieselbe Frau wie immer saß hinter dem Empfangstisch, las ein Buch und schaute missmutig auf die feuchten Stiefelabdrücke, die Ardelle hinterließ. Auch die Archivarin hatte den Charme eines Türstoppers.

„Sie schon wieder?“, fragte die Frau, als Ardelle hereinkam, und blickte dann zur Tür, als ob sie erwartete, dass jemand anderes hinter ihr hereinkam. Interessant.

„Ja, ich glaube, heute ist mein letzter Forschungstag.“ Ardelle trug sich in das Register am Schreibtisch ein und benutzte denselben erfundenen Nachnamen, den sie seit Ihrem Erwachen in dieser neuen Zeit benutzte: Sordenta. Gestern hatten sich nur zwei Leute nach ihr eingetragen, und heute war sie die erste Besucherin.

„Wollen Sie wieder in die roten Bücher schauen?“

Ardelle hielt inne, den Stift immer noch auf dem Blatt. „Pardon?“

„Das muss ich melden, wissen Sie.“

Ardelle dachte an die vergangenen zwei Tage zurück. Sie hatte in Archivbücher mit roten Einbänden geschaut, sich aber nichts bei den Farben gedacht. Andere waren schwarz, blau und grün und scheinbar wahllos in den Regalen angeordnet.

„Was hat ein roter Einband zu bedeuten?“, fragte sie, obwohl sich Unbehagen wie ein kalter, nasser Mantel um ihre Schultern legte.

Die Augen der Archivarin verengten sich zu Schlitzen. „Ahnenreihe mit Hexenblut.“

Ardelle hakte zwei Finger vor ihrer Brust in einer abwehrenden Geste ein, da sie gelernt hatte, dass dies das Zeichen war, mit dem die Leute von heute Magie oder Hexen abwehren wollten. „Ich hatte keine Ahnung.“

Sie hatte zwar mitbekommen, wie die Sekretärin von Zeit zu Zeit im Gebäude herumschlenderte und so tat, als würde sie Bücher ordnen, aber sie hatte nicht bemerkt, dass die Frau sie dermaßen genau ausspionierte.

Die Archivarin blinzelte immer noch misstrauisch. „Nein? Die meisten Leute, die hierherkommen, suchen nach Informationen über ihre Vorfahren. Manche hoffen aber auch, Kontakt zu Nachfahren von Hexen aufzunehmen.“

„Ich habe einfach nach Blutlinien geforscht, die mit den Referatu in Verbindung stehen“, sagte Ardelle, „weil es neuerdings ein militärisches Interesse an den Artefakten dieser Kultur gibt.“

„Sie sehen nicht militärisch aus.“ Die Frau musterte plakativ Ardelles Kleid.

Vielleicht hättest du mich doch mitbringen sollen, sagte Jaxi in ihrem Kopf.

Schweig still.

„Ich glaube auch nicht, dass das Militär an Hexen interessiert ist“, fügte die Archivarin hinzu.

„Nicht an Hexen, aber an einigen der Artefakte, die die Referatu mit Magie erzeugten.“ Technisch gesehen stimmte das. Die alten Lampen ihres Volkes versorgten jetzt iskandische Flieger mit Energie. Nicht, dass irgendwer wusste, dass die kostbaren „Kristalle“ einmal Lampen gewesen waren.

„Hier sind die Namen von Personen aufgeführt, nicht von Artefakten“, sagte die Archivarin spitzfindig.

„Das verstehe ich, aber ich könnte hier ein paar Hinweise sammeln. Wenn Sie mich nicht daran hindern wollen, werde ich meine Nachforschungen fortsetzen.“ Ardelle hob eine Augenbraue und hoffte fast, die Frau würde sie weiter belästigen und ihr einen Grund geben, ihr einen plötzlichen Ausschlag zu verpassen.

Fang nicht wieder damit an. Das hat dich letztes Mal in Schwierigkeiten gebracht.

Das war leider wahr.

„Es ist nicht meine Aufgabe, Sie vom Forschen abzuhalten“, sagte die Frau und winkte Ardelle, weiter ins Gebäude zu gehen.

Nein, ihre Aufgabe ist nur, dich auszuspionieren, sagte Jaxi.

Das ist auch mein Eindruck. Ardelle ging in den bibliotheksähnlichen Raum und bog in einen Gang ab, um dem Blick der Frau zu entgehen. Sag Bescheid, wenn meine Verfolgerin ins Gebäude kommt, ja?

Nur, wenn du versprichst, mich nicht mehr zu Hause zu lassen. Ich mag es, die Wärme der Sonne auf meinem Knauf zu spüren.

Einverstanden. Ardelle steuerte auf einen schmalen Gang im hinteren Teil des Gebäudes zu. Sie hatte die Treppe am Ende, die in einen Keller führte, erst gestern kurz vor Schließung entdeckt. Dort unten gab es eine Menge rot gebundener Bücher. Sie hastete hinab und griff nach der Türklinke, schlug jedoch fast mit dem Gesicht gegen die Tür, als diese nicht aufging. Gestern war sie noch nicht verschlossen gewesen ...

Ardelle konnte das Schloss ohne große Mühe öffnen, aber sie fühlte sich erneut verletzt von diesem Widerstand. Vielleicht, weil es schon so viele Widerstände gegeben hatte. Vom Untergang aller Menschen zu erfahren, die sie je gekannt und geliebt hatte, war schon schwer genug gewesen, aber zu wissen, dass ihr eigenes Volk – die iskandischen Soldaten – für die Ausrottung der Magier verantwortlich war ... Die Referatu hatten seit Generationen Seite an Seite mit dem Militär gearbeitet und geholfen, den Kontinent vor den Cofah zu schützen. Das Einzige, was es ihr ermöglichte, die Menschen um sie herum nicht als Todfeinde zu betrachten, war, dass dieser Völkermord dreihundert Jahre her war.

Ich könnte den Inhalt der Bücher da drinnen durchsehen, wenn du nicht reingehen willst, schlug Jaxi vor, die wohl bemerkte, dass das Ganze eine emotionale Angelegenheit für Ardelle war.

Da sind mehrere tausend Bücher drin.

Ich habe die gesamte Gefängnisbibliothek in den Magroth’schen Minen gelesen.

Das waren fünfzig Bücher. Und du hattest dreihundert Jahre Zeit.

Es waren mindestens sechzig Bücher. Jaxi schniefte. Und sie waren nur in den letzten fünfzig Jahren da.

Ich schaue selbst nach, aber danke für das Angebot.

Jaxi konnte zwar die Nachforschungen rein mental aus der Sicherheit von Grats Haus aus anstellen, aber Ardelle wollte trotzdem lieber selbst hier sein und sich die Titel – und die roten Einbände – persönlich ansehen. Es war ihre Suche, nicht die ihres Seelenschwertes.

Mit einer Handbewegung erhöhte sie den Luftdruck im Schloss wie einen Schlüssel, um die Stifte über die Scherlinie zu drücken, dann öffnete sie die Tür. Sie trat in einen dunklen, muffigen Raum ein und vergewisserte sich, dass sie niemanden sonst dort drinnen wahrnahm, bevor sie sich einschloss. Finsternis umgab sie. Sie überlegte, ob sie einfach ein magisches Licht aufleuchten lassen sollte, aber es gab Laternen mit Öl, die an der Tür hingen. Sie erzeugte einen Funken, zündete eine an und erkundete damit den Raum. Ihre Fußabdrücke vom Vortag waren im Staub auf dem Steinboden sichtbar – zusammen mit einer weiteren Fußspur, die gestern noch nicht da gewesen war. Die Abdrücke schienen nicht viel größer als ihre. Vermutlich die Archivarin.

Ardelle holte ihren Notizblock aus dem Rucksack und wählte ein paar Register mit Namen und Adressen von Familien aus Städten in den Eisklingen aus, dem Gebirge, in dem auch sie gelebt hatte. Natürlich stand nirgends etwas über den Galmok-Berg, die unterirdische Festung, in der sie ausgebildet worden war und in der so viele Referatu gelebt und gearbeitet hatten.

Und gestorben waren.

Wir haben ein Problem, meldete Jaxi in ihrem Kopf.

Kommt jemand? Ardelle schaute zur Tür und lauschte auf Schritte.

Jemand späht hier bei mir durch die Fenster.

In Grats Haus?

Genau.

Ist es wieder die Großmutter von Oberstleutnant Ostraker? Die gute Frau, die nebenan wohnte, tat Grat gerne Gefallen und schreckte nicht davor zurück, in seine Fenster zu spähen, während sie die Hecken schnitt.

Nein. Zwei Frauen in grünen Umhängen mit tief gezogenen Kapuzen. Sie schleichen im Garten herum. Mit mehr Eifer als die neunzigjährige Frau von nebenan.

Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, Jaxi im Haus zu lassen. Das Seelenschwert konnte sich selbst davor bewahren, gestohlen zu werden – auf tödliche Art und Weise –, aber wenn ein magisches Schwert in Grats Haus ein Blutbad anrichtete, würde es Schwierigkeiten geben. Nicht nur für Ardelle, sondern auch für Grat. Sie hatte nicht mehr viel zu verlieren, aber er könnte seine Karriere, seinen Ruf und alle seine Kameraden verlieren, wenn herauskäme, dass seine Geliebte eine Magierin war. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob es egoistisch von ihr war, bei ihm zu bleiben.

Eine hat gerade Dietriche rausgeholt und ist auf dem Weg zur Hintertür. Ich werde sehen, ob ich sie davon abhalten kann, mich zu bemerken. Für den Fall, dass die Staubfussel-Tarnung versagt.

Es gibt keine Staubfussel, dachte Ardelle reflexartig, aber sie machte sich mehr Sorgen um die Eindringlinge. Sollte sie nach Hause laufen? Fast bereute Ardelle, mit Grat nach Pinoth gekommen zu sein, anstatt in seiner Hütte an diesem netten kleinen See zu bleiben, fernab der Hauptstadt. Nur weil sie dort keine Nachforschungen anstellen oder in irgendeiner Weise mit ihrem Leben weitermachen konnte ...

Und weil du in der Hütte am See einsam geschlafen hättest, während du hier mit Grat jede Nacht …

Ich dachte, das blendest du bewusst aus!

Tu ich auch. Jede Nacht. Übrigens, unsere Gäste haben die Hintertür geknackt.

Ardelle versuchte sich daran zu erinnern, ob sie an diesem Morgen, nachdem Grat gegangen war, ihre Sprengfallen aktiviert hatte.

Ja, hast du, sagte Jaxi.

Ein Knarren auf den Stufen vor der Tür unterbrach ihre Gedanken. Ardelle streckte ihre Sinne aus. Ja, jemand kam die Treppe herunter. Die Archivarin. Ardelle senkte die Laterne bis auf die kleinste Flamme. Sie glaubte nicht, dass das Licht hell genug war, um unter dem Türspalt gesehen zu werden, aber es gab keinen Grund, ein Risiko einzugehen.

Jemand rüttelte an der Türklinke. Hoffentlich nahm die Archivarin an, dass niemand drinnen war, da Ardelle die Tür wieder verschlossen hatte, aber wenn sie einen Schlüssel hatte und hereinzukam und nachsah ...

Die Stufen knarrten wieder. Ardelle stieß einen langsamen Atemzug aus. Die Archivarin ging wieder.

Wie ist die Lage bei dir, Jaxi? Sie schnappte sich die vielversprechendsten Register und stopfte sie in ihren Rucksack. Sie würde sie ausleihen müssen, ob das nun erlaubt war oder nicht.

Erinnerst du dich an den großen Kupfersuppentopf?, fragte Jaxi.

Ja?

Er ist gerade einer der beiden Einbrecherinnen auf den Kopf gefallen.

Wenn ich mich recht entsinne, stand der Topf auf dem Regal über dem Herd. Er ist also bis zur Hintertür gefallen?

Ja, verwunderlich, nicht wahr?

Ardelle schmunzelte. Sie machte sich auf den Weg zur Tür, hielt aber neben einem Behälter mit Schriftrollen inne, von denen jede mindestens einen Meter breit war. Sie hatte sie gestern nicht untersucht und fragte sich, ob es sich vielleicht um grafische Darstellungen von Stammbäumen handelte. Drei von ihnen hatten Ränder, die in rote Farbe getaucht worden waren. Sie beschloss, einen kurzen Blick darauf zu werfen, und rollte eine auf.

Sie sog scharf die Luft ein, als sie oben auf der ersten Schriftrolle einen bekannten Nachnamen entdeckte. Maricoshin. Diese Familie hatte die Referatu gegründet und zahlreiche mächtige Magier hervorgebracht, selbst nach den Maßstäben von Ardelles Zeit. Sie würde diese Schriftrollen mitnehmen müssen, ob sie nun in ihren Rucksack passten oder nicht. Sie musste sich auf dem Weg nach draußen einfach an der Archivarin vorbeischleichen.

Ein Klicken ertönte neben der Tür.

Bevor Ardelle sich auch nur fragen konnte, wer dort war, blitzte orangefarbenes Licht auf. Eine Druckwelle schlug ihr entgegen und schleuderte sie von den Füßen. Sie prallte gegen eine Bücherwand, und Schmerzen durchzuckten ihren Körper. Ihre Laterne verschwand unter herabfallenden Büchern.

Schwärze verschluckte den Raum.

Oberst „Gratwanderer“ Zirkander schlenderte durch den Hof von Schloss Harborgard und nickte und lächelte den mürrischen Soldaten zu, die vor den Türmen und anderen Gebäuden stationiert waren. Die meisten starrten stur vor sich hin und weigerten sich, seinen Gruß zu erwidern – es gab irgendeine Regel, die besagte, dass Schlosswachen mit niemandem interagieren durften, außer um Eindringlinge mit Lanzen aufzuspießen –, obwohl einige wenige ihm ein Grinsen und ein Nicken schenkten, wenn keiner ihrer sturen Brüder hinschaute.

Der Mürrischste der Mürrischen stand vor der großen Marmortür, die zum Audienzzimmer des Königs führte. Sie stand offen und ließ das Sonnenlicht herein – eine willkommene Abwechslung zum Regen und Schnee der letzten drei Wochen. Der Wachmann trug ein Gewehr, obwohl moderne Waffen innerhalb der Schlossmauern selten zu sehen waren. Eine weitere Ausnahme bildete ein dampfbetriebener Kran, der neben einem Gerüst an einem der Türme aufgestellt war. Das Schloss hatte fast ein Jahrtausend überdauert und galt als denkmalgeschützt, was bedeutete, dass etwa siebenhundert Leute in einem dysfunktionalen Komitee architektonische Ergänzungen und Veränderungen genehmigen mussten. Es hatte zwanzig Jahre gedauert, bis sie sich entschlossen hatten, die Löcher in diesem Turm nach der letzten Bombardierung zu reparieren. Zum Glück für das Schloss – und das Komitee – waren Angriffe auf Pinoth selten geworden, seit die Drachenfliegerbasis über dem Hafen der Hauptstadt gebaut worden war.

Der mürrische Wächter wusste, wer Grat war, und er wusste, dass der König ihn erwartete, aber er sagte trotzdem: „Nennen Sie Ihren Namen und Ihr Anliegen und schwören Sie dem König und Iskandia die Treue.“

„Du hast vergessen, dich zuzuknöpfen“, sagte Grat und deutete auf den Schritt des Mannes.

Der Wächter blinzelte und sah an sich herab. Er brauchte nur eine Sekunde, um zu erkennen, dass es ein Scherz gewesen war, aber da war Grat schon an ihm vorbeigeschlüpft. Er hörte ein Seufzen neben sich. General Ort, ein vertrauter grauhaariger Mann, trat aus der Nische neben dem Eingang und hob eine Hand. Seine Uniform war makellos, die Bügelfalten in der Hose stramm gepresst, die Stiefel so blank poliert, dass man sich im Spiegelbild rasieren konnte. Ordentliche Reihen von Medaillen und Bändern zierten seine Jacke.

„General Ort, Sie wurden auch zu diesem Treffen eingeladen?“, fragte Grat, obwohl er es gewohnt war, dass höherrangige Offiziere anwesend waren, wenn er ins Schloss eingeladen wurde.

„Jemand muss Ihre Hand halten und darauf achten, dass Sie nicht Ihre Füße auf die Möbel des Königs legen. Oder unpassende Witze über seine Garderobe machen.“ Ort runzelte die Stirn über Grats Lederjacke, die olivgrüne Fluguniform und die schlammverschmierten Stiefel. Sie waren sauber gewesen, als Grat die Basis verlassen hatte, aber draußen war es schlammig und nass. Ort musste in seiner Tasche ein Stiefel-Polierset mit sich führen.

„So etwas würde ich nie tun“, sagte Grat. „Die Möbel des Königs sind alle aus fünfhundert Jahre altem Holz. Sie sind nicht annähernd so bequem wie die Ledersessel in Ihrem Büro.“

„Sie hätten länger in den Minen oben in den Eisklingen bleiben sollen“, knurrte Ort. „Ihr Sinn für militärische Höflichkeit und Anstand hat sich nicht ein Jota verbessert.“ Ort ruckte mit dem Kopf in Richtung eines der hohen Gänge, die sich zu beiden Seiten des Eingangs öffneten. Der König saß zwar nicht auf dem zeremoniellen Thron am Ende des Saals, aber der General wusste offenbar, wo er zu finden war.

„Ich glaube nicht, dass irgendwer sich jemals in dieser Mine gebessert hat“, sagte Grat.

Er folgte Ort den Flur hinunter, durch eine Seitentür und auf einen Balkon mit Glasdecken, die den Raum erwärmten. Draußen mochte der Garten noch schneebedeckt sein, aber drinnen rankten sich tropische Pflanzen an Stützpfeilern und Balken entlang, und Vögel aus dem ganzen Kontinent zwitscherten zufrieden in den Zweigen von Zwergorangen- und Zitronenbäumen. An den mit blühenden Pflanzen und Sträuchern gesäumten Wänden waren ein paar Fenster offen, aber die Vögel schienen nicht in Versuchung zu geraten, zu entkommen.

König Angulus Masonwood der Dritte saß mit zwei uniformierten Männern am Kopf eines schmiedeeisernen Tisches, der mit Spitzendeckchen bedeckt war, vermutlich auf Geheiß der Königin. Er war ein stämmiger Mann mit einem breiten Gesicht, einer faltigen Stirn und kurz geschorenem Haar, wahrscheinlich, weil sein Haaransatz zurückwich wie Truppen, die vor einer überrannten Frontlinie fliehen. Trotz dieses Zugeständnisses an das Alter hatte er immer noch die muskulöse Statur eines Soldaten, auch wenn es schon zwanzig Jahre her war, dass er gedient hatte. Er war Kavallerieoffizier in einer der wenigen verbliebenen Einheiten gewesen und wurde in Porträts meist hoch zu Ross abgebildet. Auf dem Papier war er nur ein paar Jahre älter als Grat, aber er schien den Sechzig weit näher zu sein als den Vierzig. Ein stressiger Job, zweifellos. Er beobachtete die Ankunft von Grat und Ort, obwohl er immer wieder auf einen zusammengerollten Papierfetzen in seinen Händen hinunterblickte.

General Ort blieb am Fuß des Tisches stehen, schlug die Absätze zusammen und salutierte. „General Ort und Oberst Zirkander melden sich, Eure Majestät.“ Er blickte zu Grat, wahrscheinlich um sicher zu gehen, dass er salutierte.

Der König hatte ihn immer mit Respekt behandelt, und so salutierte Grat pflichtbewusst, auch wenn er oft das Gefühl hatte, dass Angulus kein Fan von Prunk und Pomp war und ihm lieber auf die Schulter geklopft hätte.

Der König winkte sie zu den Plätzen am Kopfende des Tisches. „Setzen Sie sich.“

Er war auch kein Fan von Langatmigkeit.

Die Männer, die zu beiden Seiten des Königs saßen, rührten sich nicht von ihren Positionen. Beide trugen die Uniformen und Jacken von Infanterieoffizieren, und beide hatten zusätzlich silberne Abzeichen, die gekreuzte Schwerter auf ihrer Brust hervorhoben. Die Abzeichen signalisierten die Zugehörigkeit zu einer der Elitetruppen der Armee. Der steingesichtige Oberst, der zur Rechten des Königs saß, seine fleischigen Arme über der Brust verschränkt, warf Grat einen harten, herausfordernden Blick zu. Grat widerstand dem Drang, die gleiche Bemerkung zu machen, die er beim Wächter vor der Tür gemacht hatte. Der Oberst zur Linken des Königs hatte ein fades, vergessenswertes Gesicht, braune Augen, dunkelbraunes Haar und gebräunte Haut, die darauf schließen ließ, dass er nicht nur iskandische Vorfahren hatte, sondern auch Cofah-Blut.

General Ort gestikulierte, dass Grat sich zuerst setzen solle. Grat setzte sich neben den anderen Oberst, stieß mit den Ellenbogen an, als er seinen Stuhl an den Tisch zog, und schenkte dem Mann ein unbekümmertes Lächeln, als er sich entschuldigte. Die Finger des Oberst krümmten sich, als ob er darüber nachdachte, wie viel Ärger er bekäme, wenn er jemanden am Tisch des Königs erdrosselte. Grat erkannte den Mann nicht, aber er hatte schon jede Menge Infanteristen getroffen, die von Piloten unbeeindruckt waren und Unsinn darüber erzählten, wie echte Männer von Angesicht zu Angesicht kämpften. Als ob es bei den meisten modernen Bodenkämpfen nicht darum ging, sich hinter etwas zu verstecken und von so weit weg wie möglich auf Leute zu schießen.

„Meine Herren“, sagte Angulus zügig. „Sie sind hier, um in eine geheime Mission eingewiesen zu werden, die Sie nach Cofahre führen wird.“

Grat setzte sich auf. Er war sich nicht sicher gewesen, worum es bei diesem Treffen gehen würde – in den letzten Wochen hatte er in einem niedriggradigen Zustand der Paranoia gelebt und sich Sorgen gemacht, dass jemand dahinterkäme, dass Ardelle keine Archäologin von der Charkolt Universität an der Ostküste war, wie er es allen erzählt hatte –, aber er hatte keine Mission erwartet. Auch wenn der Schnee draußen heute schmolz, war es immer noch mitten im Winter.

„Mein bester Spion wurde bei der Beschaffung dieser Information tödlich verwundet.“ Angulus breitete die Papierrolle aus, die eine eilig skizzierte Karte mit zwei Zeilen Schrift am oberen Rand enthüllte.

Grat drehte seinen Kopf und versuchte, die Worte zu lesen, aber sie waren verschlüsselt. Der König wandte sich an den Oberst zu seiner Rechten. „Nowon.“

„Der Cofah-Geheimdienst hat lebensfähige Proben von Drachenblut erhalten“, rezitierte der bleichgesichtige Offizier, die Finger vor sich gespannt. „Die Experimente laufen in einer geheimen Einrichtung. Es wurden bereits brauchbare Prototypen hergestellt.“

„Drachenblut?“, fragte Ort. „Und lebensfähige Prototypen von was?“

Grat war froh, dass sein Kommandant die Fragen gestellt hatte. In letzter Zeit hatte er von Ardelle zu viel über Magie und Magier gehört und wie das Drachenblut in ihren Adern ihre Kräfte erklärte. Er wollte allerdings nicht so tun, als ob er sich mit der Materie auskennen würde, denn der durchschnittliche Iskandier sollte das nicht.

„Drachen sind seit über tausend Jahren ausgestorben“, sagte Ort. „Wie könnte jemand Drachenblut haben?“

Der König sah den an, aber Nowon schüttelte den Kopf. „Das ist alles, was in der Notiz steht. Wir wissen schon seit einiger Zeit, dass die Cofah an Waffen und militärisch finanzierten Wissenschaftsprojekten arbeiten, aber dies ist das erste Mal, dass wir ... jemanden in eine ihrer geheimen Einrichtungen schleusen konnten.“ Nowon biss die Zähne zusammen. Er musste den toten Spion gekannt haben, ihm vielleicht nahe gestanden haben.

Grat lehnte sich zurück und strich sich übers Kinn. Er wusste natürlich, dass die Regierung Spione hatte, aber er war nie in ihre Welt eingeladen worden.

„Ist es möglich, dass Ihr Mann sich irrt?“, fragte Ort. „Dass die Cofah einfach versuchen, Drachenblut irgendwie zu synthetisieren? Vielleicht haben sie ein paar Fossilien gefunden oder so.“ Die Stirn des Generals legte sich in Falten. „Kann Blut fossilisiert werden?“ Er sah Grat an, als er diese letzte Frage stellte.

Grat schluckte und hoffte, dass er nicht gleich Ardelle erwähnen würde. Sollte er jetzt ein Archäologie-Experte sein, weil er angeblich mit einer zusammenlebte? Ardelle kannte wahrscheinlich die Antwort auf diese Frage, aber Grat hatte nicht vor, sie freiwillig zu diesem Treffen mitzubringen. Das Letzte, was er wollte, war, dass sie die Aufmerksamkeit des Königs auf sich zog.

„Unser Mann war sehr gut“, sagte Oberst Nowon. „Es ist unwahrscheinlich, dass er sich geirrt hat. Ich habe nicht nur den Verdacht, dass sie sich das Blut angeeignet haben, sondern ziehe aus ein paar Nachrichten, die wir abgefangen haben, dass die Cofah kurz davor stehen, sich irgendwie damit zu bewaffnen.“

„Ich will einen vollständigeren Bericht“, sagte der König und hielt das mitgenommene Blatt Papier mit einem Zucken seiner Lippen in die Luft. „Und wenn sie Drachenblut haben, will ich entweder, dass es vernichtet wird, oder dass es nach Iskandia gebracht wird, damit unser eigener neuer Wissenschaftler es analysieren kann.“ Sein Blick landete wieder auf Grat.

Grat ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken. Hatte man ihn deshalb hergerufen? Wegen seiner dubiosen Beziehung zu Leutnantin Caslin Ahns neuem ... Ex-Piraten? Grat bezweifelte nicht, dass Tolemek „Todbringer“ Targoson auf wissenschaftlicher Ebene einen Beitrag leisten konnte, aber Grat war von Ardelle – und ihrem beseelten Schwert Jaxi – dazu gedrängt worden, für den Mann zu bürgen. Obwohl er wusste, was Tolemek getan hatte, um der Stadt zu helfen, befürchtete Grat, dass seine Loyalität nicht viel länger anhalten würde als seine Verliebtheit in Leutnantin Ahn. Es gab einen Grund, warum das Labor des Mannes ständig bewacht wurde.

„Du kennst den Todbringer“, sagte der König. „Wie weit kann man ihm trauen?“

Grat zuckte mit den Schultern. „Ich kenne ihn nicht gut, Sire. Er ist – war – Leutnantin Ahns Gefangener. Ich vertraue Leutnantin Ahn.“

Die Augen des Oberst zur Linken des Königs schmälerten sich. Grat bezweifelte, dass der Mann etwas über die Situation wusste, aber er spürte, dass er gutes Urteilsvermögen besaß. Er hoffte, dass diese Mission keine Zusammenarbeit mit ihm erfordern würde. Nach dem Grau in seinem Haar zu urteilen, hatte er wahrscheinlich ein höheres Dienstalter.

„Ich möchte, dass Sie mit ihm reden, Zirkander“, sagte der König. „Wenn Sie nicht glauben, dass er ein Risiko darstellt, könnte er auf diese Mission mitgenommen werden.“

Die Nasenlöcher von Oberst Nowon blähten sich. „Sire, ich protestiere. Der Todbringer? Der Pirat? Es ist mir egal, wen er jetzt besteigt; er hat Tausende unserer Leute getötet.“

Grats Faust ballte sich. Er konnte sich den Ausdruck, der auf seinem Gesicht gewesen sein musste, nur vorstellen, aber es brachte General Ort dazu, ihn unter dem Tisch zu treten und seinen Kopf bedeutungsvoll in Richtung des Königs zu neigen. Grat behielt die Fassung. Gerade noch so. Aber er verabscheute die Art, wie der andere Oberst – wie hieß dieser Bastard überhaupt? – ihm wieder diesen herausfordernden Blick zuwarf.

„Oberst Therrik“, sagte der König, der Tadel in seinem Tonfall für Grats Geschmack viel zu mild. „Leutnantin Ahn ist eine Nationalheldin. Und wie alle in Zirkanders Geschwader ein unvergleichlicher Gewinn für unsere Streitkräfte. Zeigen Sie etwas Respekt.“

Therrik. Zirkander hatte diesen Namen von jungen Offizieren gehört, die gerade von der Militärakademie kamen. Er hatte dort in den letzten Jahren Kampfklassen unterrichtet und war dafür bekannt, junge Männer und Frauen zu demütigen, besonders diejenigen, die in die Nicht-Kampfabteilungen der Armee gingen. Grat hätte nicht vermutet, dass er immer noch ins Feld ging. Vielleicht war er nur als Berater hier.

„Natürlich, Majestät“, sagte Therrik, aber sein Gesicht wurde nicht weicher, und es lag auch nichts Entschuldigendes in seinem Ausdruck.

„Wenn irgendjemand Drachenblut identifizieren kann und weiß, was für seltsame Dinge damit gemacht werden“, sagte der König, „dann ist es wahrscheinlich der Todbringer.“

Oder Ardelle, dachte Grat. Er tippte mit den Fingern gegen seinen Oberschenkel und fragte sich, ob es eine Möglichkeit gab, sie mitzunehmen, ohne ihre wahre Identität zu verraten. Obwohl sie nur ein einziges Mal zusammen im Kampf gewesen waren – und technisch gesehen war es gar nicht so viel zusammen gewesen, da er geflogen war und sie am Boden gegen einen Schamanen gekämpft hatte –, hätte er sie viel lieber an seiner Seite als Tolemek oder Therrik.

„Der Todbringer ist uns gegenüber nicht loyal“, sagte Therrik. „Er wird sofort zu den Cofah zurückkehren, wenn man ihm die Gelegenheit gibt.“

„Er ist auch gegenüber den Cofah nicht loyal“, sagte Grat. „Zudem würden die Cofah ihn nie zurücknehmen. Soweit ich weiß, hat er ... beide Plumpsklos auf dem Grundstück verstopft, wie man so schön sagt.“

„Stilvoll“, murmelte Ort mit einer weiteren Kopfneigung, die Grat wahrscheinlich daran erinnern sollte, dass sie sich in Anwesenheit eines Königs befanden. Nun, wenn der König ein Soldat gewesen war, hatte er sicher ein- oder zweimal in seinem Leben ein Plumpsklo gesehen.

„Ich nehme an, dass er auch nicht zu den Piraten zurückkehren kann“, sagte Grat, „zumindest nicht zum Fliegenden Fluch. Seine ... Freundin ist hier. Er hat mehr Grund, Iskandia treu zu bleiben, als uns zu verlassen.“

„Oh, sicher“, brummte Therrik. „Ich bin sicher, der Todbringer ist die Art von Romantiker, über die Bücher geschrieben werden.“

Grat war auch nicht begeistert, dass seine junge Leutnantin mit einem massenmordenden Piraten zusammen war, aber er würde ihr Recht verteidigen, sich ihren Partner auszusuchen, wenn nötig mit den Fäusten.

„Holt ihn ins Team, wenn ihr könnt“, sagte der König.

„Das Team für was genau, Sire?“, fragte Ort.

„Zirkander und die nötigen Piloten werden Therrik und zwei seiner besten Männer“, der König nickte in Richtung Oberst Nowon, „nach Cofahre fliegen, um diese Forschungseinrichtung zu infiltrieren. Ich will, dass das Drachenblut zerstört oder hergebracht wird. Außerdem will ich wissen, woher das Blut überhaupt stammt.“

„Wer ist für die Mission verantwortlich?“, fragte Therrik, sein Gesicht kühl, als er Grat wieder betrachtete.

„Das sind Sie, Oberst.“ Der König zog ein gefaltetes Stück Papier aus seiner Tasche und schob es Grat zu. „Das sind die Koordinaten für die geheime Anlage.“ Er drehte sich wieder zu Therrik um und fuhr fort: „Zirkander und seine Leute werden Sie und Ihre Männer dorthin bringen, wo Sie hinmüssen, und auf Ihre Rückkehr warten.“

Grat schaute finster drein – er war nur für den Transport zuständig, quasi wie ein Rikschafahrer? Therrik zeigte ein wölfisches Lächeln.

„Das ist akzeptabel, Sire“, sagte Therrik.

Grat öffnete seinen Mund, und Ort trat ihn wieder unter dem Tisch. Grat schaute ihn finster an.

„Ich muss jedoch respektvoll dagegen protestieren, dass der Todbringer an der Mission teilnimmt, Sire“, fügte Therrik hinzu. „Man kann ihm nicht trauen. Warum kann er nicht einfach das Drachenblut studieren, wenn wir es zurückbringen? Und ich versichere Euch, wir sind gut genug, um es zurückzubringen.“

Die Augenbrauen von Nowon zuckten leicht bei dem Wort „wir“. Vielleicht war dies ursprünglich Nowons Mission gewesen. Immerhin war er derjenige, der von dem Spion wusste und die Nachricht entschlüsselt hatte.

„Wenn Ihnen etwas Gefährlicheres über den Weg läuft als Blutproben in Ampullen, werden Sie seine Hilfe brauchen“, sagte der König und nickte Grat zu.

Grat war derjenige gewesen, der erklärt hatte, wie Tolemek ein Gerät mit einem tödlichen Gift zerstört hatte, um die Stadt zu retten. Er war nicht in der Lage gewesen, Ardelles Rolle bei diesem Ereignis zu erläutern – oder vielmehr dieRolle ihres Schwertes– sodass Tolemek die volle Anerkennung erhielt. Grat nahm ihm das nicht wirklich übel, aber es ärgerte ihn, dass er nicht offen darüber sprechen konnte, was Ardelle getan hatte, um ihr Heimatland zu verteidigen. Es ärgerte ihn sogar noch mehr, nachdem Grat erfahren hatte, dass die berüchtigten Fähigkeiten des Piraten womöglich magisch waren.

„Sprechen Sie mit ihm und versuchen Sie ihn zur Loyalität zu überzeugen“, sagte der König und blickte Oberst Therrik fest in die Augen.

Therrik streckte seine Finger, dann ballte er sie zu einer Faust zusammen. „Ja, Majestät.“

„Zirkander, wählen Sie drei gute Piloten aus. Sie fliegen Zweisitzer und nehmen jeweils einen von Therriks dreiköpfigem Team mit, zusammen mit dem Todbringer, falls er mitkommen will. Therrik, Sie können entscheiden, ob er mit Ihnen geht oder nicht, aber ich rate Ihnen, ihn mitzunehmen, damit er Ihnen helfen kann, herauszufinden, was sich mitzunehmen lohnt und was nicht.“

„Was einen in einem Wimpernschlag töten kann und was nicht“, murmelte Nowon. Er wusste offensichtlich ein wenig mehr darüber, was in diesen Cofah-Einrichtungen vor sich ging, als auf dem Zettel stand.

„Während ihr Männer eure Mission erfüllt“, fuhr der König fort, „werden die Piloten warten. Es versteht sich wahrscheinlich von selbst, aber ich ziehe es vor, dass ihr alle rein und raus geht, ohne gesehen zu werden. Die Konsequenzen könnten weniger hart sein, wenn die Cofah nicht beweisen können, dass wir etwas mit ihren fehlenden Proben zu tun haben.“

„Wir verstehen, Majestät“, sagte Therrik.

Grat nickte, obwohl er immer noch die Vorstellung hasste, Therrik die Verantwortung für diese Mission zu überlassen. Immerhin würde Therrik sich zusammenreißen müssen, wenn Grat und seine Piloten sein einziger Weg nach Hause sein würden.

„Wegtreten“, sagte der König.

Grat schob seinen Stuhl zurück, ebenso wie Ort und Nowon.

„Darf ich noch einmal unter vier Augen mit Ihnen sprechen, Sire?“, fragte Therrik und blickte zu Grat.

Der König nickte. Grat mochte diesen kurzen Blick nicht, aber er ging mit den anderen weg. Er trödelte jedoch und hielt auf der anderen Seite eines großen Strauches inne, um seinen Stiefel auf den Topf zu stützen und die Schnürsenkel zu binden.

„Was ist?“, fragte Angulus.

„Oberst Nowons Leute sind für die externe Informationsbeschaffung zuständig“, sagte Therrik, „aber meine alte Einheit war für die interne zuständig, und ich wurde in letzter Zeit auf einige interessante Entwicklungen aufmerksam gemacht.“

Das könnte erklären, woher der Oberst von Ahns und Tolemeks Beziehung wusste. Er hob seinen anderen Stiefel an, um auch hier die Schnürsenkel neu zu binden.

„Ihr Punkt?“ Der König hatte sich vom Tisch entfernt, und Grat hörte die Worte kaum noch. Er teilte die Zweige des Strauches. Die Männer gingen auf eines der Fenster mit Blick auf den Garten zu.

„Zirkanders Hexe“, sagte Therrik, und Grats Herz blieb fast stehen. „Seid Ihr sicher, dass wir nicht –“

„Oberst“, zischte Ort von der Tür her. „Was machen Sie denn da?“

Grat versuchte ihn mit einer Geste zum Schweigen zu bringen, damit er den Rest hören konnte, aber der König und Therrik hatten sich ohnehin zu weit fortbewegt. Verdammt, er musste wissen, was sie sagten. Über seine Hexe.

Grat rannte auf die Tür zu und stieß Ort fast zur Seite, als er herausplatzte: „Ich treffe Sie im Hangar, General. Ich muss mal pissen.“

Er blickte zurück und sah, wie Ort der Topfpflanze einen langen, besorgten Blick zuwarf. Grat rannte durch den Korridor, aber nicht zur Eingangstür, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Er bog in eine schmale Treppe ein, die zu den Gärten hinunterführte. Er erinnerte sich vage an überdachte Latrinen irgendwo in dieser Richtung und hielt seine Ausrede für plausibel. Selbst wenn sie es nicht war, würde er nur eine Abmahnung von Ort riskieren. Er musste wissen, was Therrik über Ardelle sagte. Es war nicht überraschend, dass der Geheimdienst dahintergekommen war – nur weil er ihre Rolle in der Schlacht in den Minen nicht erwähnt hatte, bedeutete das nicht, dass es keine Zeugen gegeben hatte –, aber wenn jemand wie Therrik über sie Bescheid wusste, wie viele andere Leute könnten es dann noch wissen? Und was würde der König tun?

Die Seitentür war zum Glück unbewacht. Grat stürmte hinaus und sprang über den Zaun in die Gärten. Trotz der Sonne lag Schnee. Er rannte durch das schmelzende Zeug, folgte der Seite des Gebäudes und zwang sich, langsamer zu werden, als er sich dem ersten Balkon des Gewächshauses näherte. Er drückte sich an die Wand, damit niemand, der von oben hinausschaute, ihn sehen konnte. Vogelzwitschern drang nach draußen, aber er konnte keine Stimmen hören. Ein Schatten bewegte sich hinter dem Glas. Der König? Das Gemurmel eines Gesprächs drang an seine Ohren, aber er konnte die Worte nicht verstehen.

Das Skelett einer Kletterpflanze, die ihre Blätter schon vor Monaten abgeworfen haben musste, schlängelte sich an der Backsteinmauer des Gebäudes hoch, am Balkon vorbei bis zum Dach des Gewächshauses. Grat hatte keine Ahnung, ob sie sein Gewicht tragen würde, aber die Verzweiflung trieb ihn dazu, es zu versuchen.

Er packte die Pflanze und zog sich hoch. Der Stamm zitterte, und Schnee fiel auf ihn herunter. Er hoffte, dass die beiden Männer drinnen zu sehr in das Gespräch vertieft waren – über Ardelle, verdammt! –, um zu bemerken, dass die Äste in der völligen Windstille zitterten.

Grat hielt inne, bevor er das Fenster erreichte. Außerdem war die Pflanze hier bedenklich dürr geworden und begann sich zu biegen. Trockenes Holz und kalter Schnee stachen in seine Finger. Er hätte seine Handschuhe anziehen sollen. Doch seine Mühe wurde belohnt, denn diesmal hörte er mehr als Vogelgezwitscher.

„… mir erzählt“, sagte Therrik. „Den Offizieren in meiner alten Einheit entgeht nicht viel.“

„Ich nehme an, es wird bald in der ganzen Stadt bekannt sein.“ Der König seufzte.

„Ich kann nicht verstehen, warum Sie sie überhaupt nach Pinoth gelassen haben, Sire. Warum wurde sie nicht sofort erschossen, als jemand das herausfand?“

Grat knirschte mit den Zähnen, zum Teil, weil die Ranke sich langsam von der Mauer löste, und zum Teil, weil er sich durch das Fenster stürzen und Therrik erwürgen wollte.

„Ich glaube, sie wurde während des Kampfes mit den Cofah mehrmals angeschossen“, sagte der König trocken. „Eine Magierin ist nicht leicht zu töten.“

Er hatte sie nicht als Hexe bezeichnet. Konnte der König alles wissen? Der Geheimdienst musste den forschungsfreudigen Hauptmann Heriton aus Magroth befragt haben, der von Anfang an etwas gegen Ardelle gehabt hatte.

„Nicht, wenn sie wach ist“, sagte Therrik. „Wir haben Scharfschützen. Einer von unseren Männern könnte sie im Schlaf ausschalten.“

Wenn Grat den Oberst vorher nicht gemocht hatte, war er jetzt bereit, den Mann in einen Vulkan zu stoßen. Seine Schultern spannten sich an, und er stellte sich vor, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen durch das Fenster zu springen. Er biss die Zähne zusammen und beäugte den Fenstersims über sich.

„Das wäre ein schlechter Dank für Zirkanders jahrelange Treue“, sagte der König, sein Tonfall immer noch trocken.

Therrik schnaubte. „Wenn Ihr den Mann belohnen wollt, gebt ihm einen Orden, keine Hexe. Majestät, wissen wir überhaupt, ob er sie freiwillig beherbergt? Sie könnte ihn kontrollieren, ohne dass er es weiß.“

Nicht schon wieder dieses idiotische Argument. Jeder schien sicher zu sein, dass Grat einen schwächeren Verstand hatte als ein achtzigjähriger Amnesiekranker.

„Ich habe ihre Akte gelesen“, sagte der König. „Wenn sie einer der Schurken aus ihrem Jahrhundert gewesen wäre, wäre sie bereits tot. Sie war eine Heilerin, die mit der Armee zusammenarbeitete.“

Hm, die Nachforschungen des Königs waren anscheinend noch gründlicher als die von Heriton.

„Ihr ... Jahrhundert, Sire?“, fragte Therrik.

„Wie dem auch sei, ich habe alles von Ihnen gehört, was ich hören muss.“

„Bitte, Majestät. Ich glaube nicht, dass Zirkander ein geeigneter Wächter für eine Hexe ist, besonders nicht, wenn er mit ihr schläft. Außerdem ist er die Hälfte der Zeit nicht mal hier, und sie kann sich frei bewegen.“

„Ich habe Leute, die sie beobachten. Wenn sie sich verdächtig verhält, werde ich mein Vorgehen ändern.“

Leute beobachten sie? Grat schluckte. Und dabei hatte er sich über Ardelles Behauptung lustig gemacht, dass sie sich bei ihrer Arbeit auf der Basis nicht sicher fühlte.

„Das ist eine Bombe, die darauf wartet, zu explodieren, Sire. Wenn Ihr nichts gegen sie unternehmt, könnt Ihr darauf vertrauen, dass es jemand tut. Viele Menschen haben große Angst vor Magie.“

„Dessen bin ich mir bewusst, Oberst“, sagte der König, sein Tonfall war nun kühler.

Ardelle ist in Schwierigkeiten! Die Worte und ein Bild des alten Archivgebäudes in der Stadt ertönten wie ein Nebelhorn in Grats Kopf und erschreckten ihn so sehr, dass er den Halt verlor.

Er versuchte, sich zu fangen, aber die Ranke brach ab. Er stürzte auf den Boden. Er winkelte die Knie an, um die Landung abzufedern und nicht so viel Lärm zu machen, aber eine seiner Fersen rutschte auf etwas Glitschigem weg, und er landete auf dem Rücken. Er rollte sich ab und richtete sich in der Hocke auf, bereit zu fliehen, bevor jemand aus dem Fenster schauen und ihn entdecken konnte. Mit seinem ersten Schritt stieß er fast mit General Ort zusammen.

„Sind Sie wahnsinnig?“, flüsterte der General, blickte zum offenen Fenster hinauf und hielt seine Stimme leise. Er packte Grat am Arm, bevor er antworten konnte, und zog ihn zum Gartentor. „Wollen Sie eine zwanzigjährige Karriere wegwerfen?“

„Nein, Sir“, antwortete Grat, aber sein Blick war nach innen gerichtet. Das musste Ardelles Schwert Jaxi gewesen sein, das in seine Gedanken gebrüllt hatte. Jaxi hatte noch nie mit ihm gesprochen, aber er wusste, dass es mit Ardelle in Gedanken kommunizierte, und offenbar hatte es das auch mit Tolemek getan.

In was für Schwierigkeiten steckt Ardelle?,fragte er in Gedanken, ohne zu wissen, ob das Schwert ihn hören konnte.

„Sagen Sie mir nicht, dass Sie einen Platz zum Pissen im Garten gesucht haben“, knurrte Ort. „Ich bin sicher, dass es irgendwo eine Regel gibt, die besagt, dass man auf dem Schlossgelände keinen gelben Schnee hinterlassen darf.“

Grat schüttelte den Kopf und hoffte auf eine Antwort des Schwertes. Aber es kam nichts.

„Ich habe nicht nachgedacht, Sir. Das ist alles. Wenn diese Mission morgen beginnt, muss ich zum Hangar rennen, mein Team auswählen und dafür sorgen, dass morgen alles abflugbereit ist.“ Inzwischen hatten sie den Haupthof erreicht, und Grat beschleunigte seine Schritte. Ardelle war in Schwierigkeiten. Am liebsten wäre er losgerannt. „Ich werde Ihnen am Ende des Tages Bericht erstatten, Sir.“ Er wartete nicht, bis er entlassen wurde, sondern rannte los.

„Das sollten Sie besser“, rief Ort ihm nach.

Grat raste durch das Schlosstor, ohne mehr als ein anerkennendes Winken zu erhalten. Er sprintete die verschneite Straße hinunter, ignorierte die erschrockenen Blicke, die ihm die Passanten zuwarfen, und eilte auf das Archivgebäude zu.

Kapitel 2

Ardelle kauerte auf Händen und Knien in einer Ecke, während Bücher und Teile der Decke auf den Schild fielen, den sie um sich herum aufgebaut hatte. Ihre Laterne war vergraben, und sie konnte nichts sehen, aber sie spürte zwei Personen am oberen Ende der Treppe. Sie waren bewaffnet. Irgendwie bezweifelte sie, dass es sich um Besucher des Archivs handelte, die einfach nur neugierig wegen des Lärms waren. Trümmer versperrten den Eingang, also würden sie nicht so schnell hereinkommen. Sie unterdrückte ein Husten im aufwirbelnden Staub. Sie wollte auf keinen Fall verraten, dass sie noch am Leben war.

Als das letzte Buch fiel, riskierte sie es, ihren Schild zu senken, damit sie ein Licht erzeugen konnte. Ein sanftes orangefarbenes Leuchten erfüllte den Raum, gedämpft durch die Staubwolken. Es waren so viele Regale umgestürzt und Gesteinsbrocken herabgefallen, dass der Ausgang völlig versperrt war. Sie berührte die Wand hinter sich, dehnte ihren Geist in diese Richtung aus und fragte sich, ob es dort draußen mehr als nur Dreck und Erde geben könnte. In einer Stadt, die so alt war, mochte es alte Kanäle, zugeschüttete Keller und dergleichen geben.

Tatsächlich, da draußen gab es einen Durchgang. Vermutlich ein Abwassertunnel. Der Mörtel, der die alten, abgesplitterten Ziegel zusammenhielt, bröckelte bereits. Es sollte nicht viel Mühe kosten, ihn abzureißen. Sie ließ das Licht los – zwei Magieformen aufrechtzuerhalten war immer eine Herausforderung –, um ihren Schild wieder aufzubauen, falls ihre architektonische Dekonstruktion zu einem Einsturz führen sollte.

Sie hätte die Wand mit einer schnellen Bewegung einreißen können, aber sie wollte keinen Lärm verursachen. Die Leute auf der Treppe lauerten immer noch wie Scharfschützen auf ein Lebenszeichen von ihr. Ardelle wusste nicht, wer sie waren, aber sie wollte es auch nicht unbedingt hier und jetzt erfahren.

Mit Magie ließ sie vorsichtig die Ziegelsteine bröckeln. Natürlich befand sich eine weitere Ziegelmauer dahinter. Sie konzentrierte sich und löste auch diese Mauer auf.

Ein leises Klappern kam von der anderen Seite des Schutthaufens. Jemand versuchte, die Tür zu öffnen. Wer auch immer es auf sie abgesehen hatte, war offenbar des Wartens müde geworden. Doch ihr blieb noch etwas Zeit, bevor die beiden Fremden sich einen Weg durch den Schutt gebahnt hätten.

„Nein“, kam ein entfernter, schriller Befehl von der Archivarin von der Treppe. „Kein Sprengstoff mehr. Nicht in meinem Gebäude.“

Ardelle brach die Ziegelmauern energischer ein, ungeachtet des Lärms, den sie damit verursachte. Ein muffiger Geruch wehte herein, zusammen mit einem kühlen Luftzug. Es roch nicht wie in einer Kanalisation. Das war vielversprechend.

„Ich höre sie“, sagte jemand auf der anderen Seite der Tür.

Als das Loch in der Ziegelmauer groß genug war, schlüpfte sie hindurch. Sie war schon halb hinaus, als sie sich an die Schriftrollen mit den Stammbäumen erinnerte. Sie machte ihr Licht wieder an und stolperte über die Trümmer zu der Stelle, wo sie sie zuletzt gesehen hatte. Ein zerbrochener Tisch lag über dem Behälter mit den Schriftrollen. Sie warf die Trümmer beiseite, ohne sich darum zu kümmern, ob ihre Angreifer sie hörten, und holte die Schriftrollen mit den roten Bändern heraus.

„Beeil dich“, drängte jemand auf der anderen Seite der Tür.

Wer waren diese Leute? Spione der Regierung, die den Auftrag hatten, sie loszuwerden? Sie hatte gespürt, dass Leute Grats Haus beobachteten, aber sie hatten sich ihr nie genähert.

Eine Frage, die sie später beantworten musste. Mit den Schriftrollen, die sie kurzerhand zu den Büchern in ihrer Tasche stopfte, kletterte sie durch das Loch in den Ziegelsteinmauern. Hinter ihr ertönte ein Knall. Ardelle türmte die Ziegelsteine mit einer raschen Handbewegung wieder auf, sodass das Loch halbwegs wieder verschlossen war. Ihre Verfolger würden es irgendwann bemerken, aber nicht sofort. Hoffte sie zumindest.

Sie versuchte sich in ihrer neuen Umgebung zu orientieren. Es war eng, ihre Schultern schrammten gegen raue Wände. Der Boden war uneben und übersät mit Steinen und Stöcken oder einer anderen Art von Schutt. Sie machte kein Licht – sie wollte nicht, dass ein Schimmer sie verriet, falls das Loch nicht vollständig verschlossen war. So tastete sie sich voran, wobei ihr schwerer Rucksack gegen die Wände stieß und sie am Vorankommen hinderte. Wenigstens schien sie in einem Gang zu sein, der Richtung Straße führte.

Ihr Rucksack verfing sich an einem Hindernis. Sie beugte sich zurück und versuchte das Problem zu ertasten. Dabei verhedderten sich ihre Haare an etwas. Grummelnd versuchte sie sich zu befreien. Da schien ein Ast zu sein oder vielleicht eine Baumwurzel.

Ardelle riskierte ein kleines Licht, keuchte und stolperte rückwärts. Der menschliche Beinknochen, der aus der Wand ragte, war ganz und gar nicht das, was sie erwartet hatte.

Sie wäre zu Boden gestürzt, wäre der Gang nicht so eng gewesen, dass sie sich abstützten konnte. Was sie für Steine im Boden gehalten hatte, waren Schädel. Sie war unachtsam über sie hinweggestapft. Überall ragten Skelette aus den Wänden.

Es dauerte einen Moment, bis ihr Herz sich beruhigt hatte und sie begriff, dass sie sich unter einem Friedhof oder einer Katakombe befinden musste. Die Knochen waren gelb und brüchig vor Alter.