Drachenfrau - Hildegunde Artmeier - E-Book

Drachenfrau E-Book

Hildegunde Artmeier

3,8

Beschreibung

Ein Mann wird in seiner Wohnung in Regensburg grausam ermordet. Die Situation am Tatort deutet auf einen Lustmord hin. Der Tote ist an sein Bett gekettet, die Pulsadern sind aufgeschnitten und die Tatwaffe liegt ein paar Meter vom Opfer entfernt - neben einer Peitsche ... Lilian Graf, die toughe Kommissarin und ihr Kollege stehen zunächst vor einem Rätsel. Wer ist die unbekannte Frau im schwarzen Lackmantel? Hat Sie etwas mit dem Mord zu tun? Und was ist mit der seltsamen Thea? Auch die Firma BioMed gibt Rätsel auf. Und dann gerät Lilians Privatleben auch noch ins Wanken, als sie überraschend ihrer großen Liebe begegnet und die alten Gefühle wieder aufflammen.

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Hildegunde Artmeier

Drachenfrau

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2004 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

ISBN 978-3-8392-3118-0

Haftungsausschluss

Für Herbert und die Freiheit der Gedanken

Tempus vincit omnia …

(Lateinische Weisheit)

Kapitel 1

Sofort nach dem ersten Klingelzeichen öffnete er die Tür. »Bin gespannt, was du heute vorhast«, sagte er ohne Begrüßung, fasste sie am Arm und zog sie in die Wohnung. Die Tür fiel ins Schloss.

Als er sie an die Wand drängen und küssen wollte, drückte sie ihn von sich weg. »Lass dir Zeit. Heute habe ich was Besonderes vor. Es wird dir gefallen.«

Mit einem geheimnisvollen Lächeln schob sie sich an ihm vorbei und ging von der Diele ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch stand eine Champagnerflasche in einem mit Eis gefüllten Sekteimer. Er hatte bereits zwei Sektgläser mit der prickelnden Flüssigkeit gefüllt. Doch anstatt sich eines der Gläser zu nehmen, knöpfte sie langsam ihren schwarzen Lackmantel auf und ließ ihn über die Schultern zu Boden gleiten. Es raubte ihm fast den Atem, als er sah, was darunter zum Vorschein kam. Sie war ganz in Schwarz gekleidet. Ihren schlanken Hals zierte ein breites, eng anliegendes Lederband. Ein knappes Satinmieder verbarg ihre vollen Brüste im genau richtigen Maße. Das gefiel ihm mehr als jedes bloße Zur-Schau-Stellen. Ihre Beine steckten in hauchzarten Strümpfen, die fast nachlässig an den Strapsen des Mieders befestigt waren. Am aufregendsten aber fand er die hochhackigen Lackpumps und die Satinhandschuhe, die ihr bis zu den Oberarmen reichten. Das roch nach purer Verheißung. Ihre Haare waren streng nach hinten gekämmt und kaum zu sehen. Nur ein leichtes Schimmern durch die Maschen eines Haarnetzes. Kein Schmuck, wenig Schminke an den Augen. Nur ihr sinnlicher Mund leuchtete ihm in einem erregenden Blutrot entgegen.

Sie sah so anders aus. War das die Frau, die er kannte? Ein anerkennendes Lächeln huschte über sein Gesicht. Als er langsam auf sie zuging, begann er, sein Hemd aufzuknöpfen. Aber sie trat dicht an ihn heran, schob seine Finger weg und machte das Hemd zu. Ihre verführerischen Lippen näherten sich seinem Mund. Bevor sie ihn berührten, glitten sie weiter über seine rechte Wange, nur wenige Millimeter darüber. Bis zum Ohr. »Nicht so schnell! Erst kommt unser Spiel.«

Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch.

Abrupt wandte sie sich ab und ging zielstrebig ins Schlafzimmer, das neben dem Wohnzimmer lag. Die Rollos waren heruntergelassen. Nur eine kleine Nachttischlampe war angeknipst. Er folgte ihr langsam, fasziniert von dieser unerwarteten Verwandlung. Zwar spürte er, wie seine Hose schon zu eng wurde und er hätte sich am liebsten ohne weiteres Vorspiel auf sie gestürzt. Doch ihr heutiges Verhalten reizte ihn mehr als der Gedanke an eine überstürzte Nummer und seine sonst übliche Rolle dabei.

»Hast du alles dabei, so wie wir es besprochen hatten?« fragte sie beiläufig.

Ihr Ton war geschäftsmäßig.

Auch der war neu. Sie wirkte so distanziert und überlegen. Keine Spur von angespannter Erwartung, wie sonst. Das machte ihn an. Er wollte wissen, was dahinter steckte. Gleichzeitig war er irritiert. Hatte das Gefühl, als bewege er sich auf dünnem Eis. Ob es einbrechen konnte? Doch wie herrlich es glitzerte! Die Verführung war zu groß. Er wusste, er war bereit mitzuspielen. »Ja, dort auf dem Tisch.«

Ihre Augen folgten seinem Blick zu einem kleinen Mahagonitisch in einer Ecke des Schlafzimmers. Es war alles da. Zwei rote Kerzen in Kerzenhaltern, eine Schachtel Streichhölzer, ein Paar Handschellen mit Schlüssel, das Jagdmesser, die Peitsche mit langen Lederriemen, eine schwarze Augenbinde. Sie trat an den Tisch, nahm die Kerzen und verteilte sie auf den Nachtkästchen. Mit einem Streichholz zündete sie die erste Kerze an. Blies es aus und legte es in die halb geöffnete Streichholzschachtel zurück. Als die andere Kerze brannte, landete das zweite Streichholz neben dem ersten. Sorgfältig schob sie die Streichholzschachtel zu, knipste die Nachttischlampe aus, ging wieder zu dem kleinen Tisch. Die Zündholzschachtel legte sie auf die Tischplatte. Ihre Bewegungen waren exakt und mechanisch. Fast rituell. Als hätte sie diese vorher genauestens einstudiert. Ohne ihn anzusehen, nahm sie die Handschellen und den Schlüssel und sperrte die Ringe auf. Langsam, einen nach dem anderen. Den Schlüssel legte sie zurück auf den Tisch. Einen Moment lang stand sie unbeweglich wie eine Marmorstatue. Ohne Gedanken, ohne Wärme, ohne Leben. Der Augenblick war so schnell vorbei, dass er sich fragte, ob er real gewesen war. Wie gebannt hatte er sie beobachtet und keinen Blick von ihr gelassen. Ihr verheißungsvolles »Komm!« wäre gar nicht nötig gewesen, denn in diesem Moment wäre er ihr überallhin gefolgt. Sogar in die Hölle.

Sie ging vor ihm her zum Bett, dessen Kopf- und Fuß-enden aus massiv geschmiedeten Eisenstäben gefertigt waren. Während sie die Handschellen daran befestigte, legte er sich mit dem Rücken aufs Bett und streckte seine Arme nach oben. Sie umschloss seine Handgelenke mit den Ringen.

»Bist du bereit?« Ein kurzer Blick in seine Augen, ihr Gesicht direkt über ihm. Die Art, wie sie ihn ansah, verursachte ein Kribbeln in seinem Magen. Er nickte. Die Handschnellen schnappten zu.

Sie stand auf. Ging zurück zum Mahagonitisch. Ohne zu zögern, wählte sie das Jagdmesser mit dem Griff aus fein bearbeitetem Horn. Sie kam zum Bett und beugte sich über ihn. Mit der spitzen Klinge des Messers beschrieb sie langsam feine Linien auf seiner Brust, die sich so schnell hob und senkte, als wollte sie davonflattern. Wie ein Vogel. Die Schneide glitt über den dünnen Stoff seiner Kleidung bis zum Bauch. Bis zu seiner Hose, unter der sich sein steifer Schwanz gierig emporreckte. Bald würde er platzen, so voll war er schon. Warum fasste sie ihn nicht an? Aber alles, was sie tat, war zu lächeln. Und die Klinge wieder hinaufwandern zu lassen. Bis zu seiner Brust und weiter bis zur linken Schulter.

Er atmete schwer und stoßartig, stöhnte. »Oh Gott, ich halt es nicht mehr aus! Mach schon die Hose auf und setz dich auf ihn drauf! Los! Und küss mich endlich. Ich will deine Lippen spüren!«

Leise lachte sie. »Ich würde gerne, aber es geht nicht. Leider.« Die Klinge suchte sich ihren Weg über seinen muskulösen Oberarm.

Er wurde ungeduldig. »Was soll das heißen? Dein Spielchen ist zwar phantastisch, aber jetzt will ich dich haben. Sofort!« Sein Tonfall nahm einen herrischen Klang an.

Nun war die Klinge an seinem Ellenbogen. »Das Spiel ist aber noch nicht zu Ende.« Fast gluckste sie vor Belustigung.

Der kalte Stahl berührte seinen Unterarm. Als sie sich niederbeugte, hätte er so gerne ihre seidigen Haare gespürt. Doch er fühlte nur einen kurzen, heftigen Schmerz am Handgelenk. Blitzschnell rollte sie sich über ihn zur anderen Seite des Bettes. Genauso unerwartet ein schneidender Schmerz am zweiten Handgelenk.

Es zuckte, pulste, rauschte. Was war das? Das konnte doch nicht … Nein, das war unmöglich … Es dauerte ein paar Sekunden, bis er realisierte, dass diese warme, zähflüssige Brühe, die sich in schwallartigen Fontänen über ihn ergoss, Blut war. Sein eigenes Blut. Scheiße, verdammte! Sie hatte ihm die Pulsadern aufgeschnitten!

Er brach in Panik aus, versuchte sich loszureißen. Wie ein Besessener zerrte er an den eisernen Fesseln. Das Bett schwankte unter seinen ruckartigen Bewegungen. Doch es half nichts, er kam nicht los. Er fing an zu schreien. Sein Kopf dröhnte von seinem eigenen Gebrüll.

»Hilf mir! Du musst mich losmachen, los, schnell, schnell! Los, hilf mir, bevor ich verblute!« Er schrie und brüllte, er zog und zerrte. »Hilf mir, du verdammtes Miststück! Bist du wahnsinnig geworden? Ruf einen Arzt! Mach schon, los!«

Sie stand hinter dem Mahagonitisch, das Messer in der Hand. Starrte ihn mit großen Augen an. Sah nur das Blut, das überall war. An den Wänden, auf dem Boden, auf den weißen Bettlaken und seiner hellen Kleidung, am Hals, im Gesicht. Sie wusste nicht, wie lange sie dastand und zuschaute. Zuschaute, wie mit jedem der spritzenden Blutschwalle das Leben aus ihm wich. Seine zunächst kraftvollen Bewegungen wurden schwächer. Das Bett krachte nicht mehr so, als würde es jeden Moment auseinander brechen. Sie hörte nur noch leise Geräusche. Sein aggressives Brüllen ging in ein hoffnungsloses Wimmern über. Seine Beschimpfungen wichen flehentlichen Bitten. »So hilf mir doch! Bitte ruf einen Arzt an! Wir sagen einfach, es war ein Unfall. Bitte, geh zum Telefon!«

Als sie endlich anfing, mit ihm zu reden, war ihr Mund trocken. »Ich werde dir nicht helfen. Du wirst sterben. Aber weißt du, was das Schlimmste ist?« Sie hörte sein Winseln, die bettelnden Worte. Sie schaute direkt in seine Augen. Sah darin erst Ungläubigkeit, dann Verzweiflung und schließlich die Gewissheit über seine hoffnungslose Lage.

»Das Schlimmste ist, dass ich dich liebe.«

Der Lärm des Radioweckers war so unbarmherzig wie immer. Viertel vor sechs.

Es half nichts, sie musste raus.

Lilian Graf, Oberkommissarin bei der Kriminalpolizei Regensburg, stand auf und ging ins Bad. Nach dem Duschen richtete sie Frühstück und Pausenbrote für Miriam und Tobias her. Miriam war ihre siebenjährige Tochter. Tobias war ein Jahr jünger und Miriams bester Freund. Seine Mutter, Hanna Freileben, war Lilians Busenfreundin. Die Vier bewohnten ein alleinstehendes Haus in Regensburgs Stadtteil Prüfening. Gut, dass Hanna, allein erziehende Mutter wie Lilian, so geschickt im Umgang mit dem Malerpinsel und dem Bohrer war. Auf jeden Fall geschickter als sie. Unter ihrer Anweisung hatten die beiden Frauen das anfangs nicht gerade ansehnliche Gebäude in ein gemütliches Heim verwandelt. Jeder Besucher bewunderte die zarten Farben der Wände. Und die Bordüren aus Schmetterlingen und Blumen in der Wohnküche und im Wohnzimmer. Die einzigen weißen Wandflächen im Erdgeschoss waren unter einer Flut von Bildern verborgen. Berge, Berge, Berge – wohin man blickte. Berge mit schneebedeckten Hängen. Bewaldete Berge in der Herbstsonne in leuchtenden Rot- und Gelbtönen. Berge in der Ferne, die blau und verschwommen an ein längst vergessenes Märchenland aus der Kindheit erinnerten. Lilian wunderte sich, wie Hanna immer wieder einen Platz für ein neues Bergpanorama auftrieb. Hanna sammelte Fotos, Bilder, Drucke – Hauptsache von Bergen. Die wurden ihr nie zu viel. Auch Lilian nicht, obwohl sie das Meer bevorzugte. Sie liebte es, die Winterabende im Ohrensessel vor dem gusseisernen Schwedenofen zu verbringen. Und in die Flammen zu schauen, während sie vom nächsten Urlaub für sich und ihre Tochter an einer italienischen Küste träumte.

Gerade, als sie Tobias wecken wollte, kam er bereits fertig angezogen in die Wohnküche spaziert. Er war daran gewöhnt, dass es morgens schnell gehen musste. Miriam konnte länger schlafen, denn ihr Schulbus ging später. Während Tobias seine Cornflakes löffelte, trank Lilian ihren Cappuccino. Dann schnappte sie sich die ausgebeulte Umhängetasche. Halt, wo hatte sie denn den Brief für die Versicherung und die Überweisung für die Bank liegen gelassen? Ah, da unter dem Telefonbuch. Die landeten auch in der Tasche zwischen Terminkalender und Lippenstift. Noch ein Guten-Morgen-Bussi für Miriam, die nachher mit Hanna frühstücken würde. Mit Tobias im Schlepptau verließ Lilian kurz darauf das Haus. Der Zwischenstopp im Kindergarten dauerte heute länger als sonst, weil Tobias ihr unbedingt noch seine Vorschularbeit vom Vortag zeigen wollte. Aber die paar Minuten würde sie schon wieder reinholen. Allerdings war von der grünen Welle auf Regensburgs Hauptstraßen nichts zu merken. Aber war das nicht immer so, wenn sie es eilig hatte? Mist, schon wieder schaltete eine Ampel auf Rot. Lilian bremste scharf. Außerdem war halb Regensburg auf den Beinen. Genauer gesagt auf den Reifen. Trotzdem schaffte sie es mit nur fünfminütiger Verspätung bis zum Minoritenweg 1 ins Polizeidirektorium.

Im Büro im zweiten Stock befand sich das Fachkommissariat K1 für Tötungsdelikte und Suizide. Lilian wurde von ihrem Kollegen Helmut Brunner mit einem undefinierbaren Seitenblick empfangen. Obwohl er selbst Vater eines fast zweijährigen Jungen war und seine Frau ihr zweites Kind erwartete, erschöpfte sich sein Verständnis für ihre Situation als allein erziehende Mutter meist in einem skeptischen Stirnrunzeln. Typisch Mann, dachte sie genervt.

Im Büro war es heiß. Fast so heiß wie draußen. Lilian konnte sich nicht erinnern, dass sie schon einmal einen 10. Mai erlebt hatte, an dem es annähernd so heiß gewesen war wie heute. Heute war erst Mittwoch. Wie sollte sie es nur bis zum Wochenende hier drinnen aushalten?

Kurz vor zehn läutete Helmuts Telefon. Seine kurz angebundene Sprechweise und sein charakteristischer Tonfall waren wie Schlüsselreize. Aha, ein neuer Fall. Gut, vielleicht bekam sie draußen etwas mehr Luft. Lilian packte eilig ihre Sachen zusammen.

»Die Einsatzzentrale. Ein Toter am Oberen Wöhrd. Sieht nach SM aus.«

Zehn Minuten später fuhr Lilian vor dem zweistöckigen Altbauhaus direkt am Donauufer vor. Traumhafte Lage: mitten in Regensburg und doch wie auf einer Insel. Was auch stimmte. Das Haus befand sich auf der Wöhrdinsel zwischen der Donau und dem Kanal. Im Vergleich zu den schmucklosen Nachbarhäusern fiel das hellblau gestrichene Gebäude aus der Reihe. Es war als einziges frisch renoviert. Weißer Stuck an der Frontseite des Jugendstilgebäudes. Und ein Erker, der in einem Türmchen mit überdachtem Balkon endete.

Wie erwartet, war es schwierig, einen Parkplatz zu bekommen. Die Schaulustigen überschwemmten die schmale Uferstraße und versperrten den Fahrzeugen der Kriminalpolizei und der Spurensicherung den Weg. Ein Streifenpolizist versuchte, die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Kein einfaches Unterfangen angesichts der vielen gaffenden Passanten. Hier handelte es sich ja um was richtig Aufregendes! Das durfte man sich nicht entgehen lassen. Als Lilian ausstieg, drängte eine Frau mit einer Küchenschürze über ihrem gepunkteten Kleid sie unsanft zur Seite. Ihre Augen suchten gierig nach Spuren des Schreckens, der sich in dem noblen Haus dort drüben abgespielt haben musste. Gut, dass es auch mal einen von denen erwischte. Morgen würden ihre Nachbarinnen die grausamen Details in der Zeitung lesen können. Die würden vor Neid erblassen, weil nur sie selbst die Sache hautnah miterlebt hatte. Zumindest würde sie es so darstellen, während sie genüsslich ihren Kaffee schlürfte.

Lilian und Helmut bahnten sich mit Hilfe ihrer Dienstausweise einen Weg bis zu einem gewölbeartigen Durchgang, der in einen großen Innenhof führte. Auf dem gepflasterten Viereck standen mindestens ein Dutzend Terrakottatöpfe mit Oleander und Palmen. Wie entspannend wäre es doch, auf der Teakholzbank neben der Eingangstüre den Tag zu vertrödeln. Aber an diesem Mittwochvormittag war in dem sonst so stillen Innenhof mit südlichem Flair von Ruhe und Beschaulichkeit nichts zu spüren. Dicht an dicht drängten sich die Fahrzeuge des Rettungsdienstes, des Notarztes und von der Streife. Den Wagen da hinten mit Münchner Nummer kannte Lilian nicht. Gehobene Preisklasse. Das passte zur Jugendstilvilla.

Vor einem Streifenwagen standen zwei uniformierte Beamte und ein Sanitäter. Sie redeten auf eine junge Frau ein. Die sah ziemlich verstört aus. Das lange schwarze Haar hing ihr in ungeordneten Strähnen ins Gesicht, das verschmierte Augen-Make-up bildete hässliche Flecken um die großen Augen. Vom ehemals blutroten Lippenstift war nicht mehr viel übrig. Eine verquollene Nase, die sie ständig schniefend hochzog. Dazu rote Streifen auf den schmalen Wangen. Kamen die vom Weinen? Oder waren das die Reste des Lippenstiftes?

Einer der Polizisten löste sich aus der Gruppe und kam auf Lilian und Helmut zu. »Sind Sie die Verstärkung vom K1? Gehmeier ist mein Name. Ich war mit meinem Kollegen als erster vor Ort.« Er setzte eine gewichtige Miene auf. »Bei dem Opfer handelt es sich um Dr. Andreas Robner, 46 Jahre alt, Biochemiker, ledig, keine Kinder. Die junge Dame dort drüben hat den Toten gefunden. Hat per Handy gleich die Einsatzzentrale verständigt. Das war um 9:55 Uhr. Vier Minuten später waren wir da.« Das klang stolz.

»Wie heißt sie?« fragte Helmut.

»Paula Gerber. Sie kennt den Toten. Arbeitet als Sekretärin in der gleichen Firma. Gestern war er noch in der Arbeit, hat sie gesagt. Sie wollte ihn aus dem Bett klingeln. Um 11:00 Uhr hätte er eine wichtige Besprechung gehabt. In der Firma dachte man, er hätte verschlafen. Die heißt« – er blätterte in seinem Notizblock – »BioMed GmbH. So’n modernes Biotechnologieunternehmen im Stadtosten. Die Frau war völlig hysterisch. Verständlich, bei einem Chef mit aufgeschnittenen Pulsadern.«

»Hört sich nach Selbstmord an. Ich dachte, hier geht’s um SM.«

»Tut es auch. Der Tote ist mit Handschellen ans Bett gekettet. Und die Tatwaffe liegt vier Meter davon entfernt.«

»Ist die Zeugin vernehmungsfähig?« fragte Lilian zweifelnd. Die junge Frau hatte wieder zu weinen angefangen.

»Der Sanitäter sagt schon«, meinte Gehmeier. »Sollen wir sie zur Vernehmung ins Polizeidirektorium bringen?«

Helmut war einverstanden. Während der Fahrt zum Tatort hatten sie über Funk erfahren, dass er als leitender Ermittlungsbeamter in diesem neuen Fall die einzelnen Aktionen zu koordinieren hatte. Beim K1 war es üblich, dass die Verantwortungsbereiche wechselten. »Aber sorgen Sie dafür, dass eine Frau mit ihr spricht. Ein bisschen Feingefühl wäre angebracht.«

Er wandte sich zum Eingang. Lilian folgte ihm. Das Türschloss an der Haustür war unversehrt. Sie stiegen eine knarrende Holztreppe hinauf. Bei der Wohnung im obersten Stock stand die Türe weit offen. Auch hier keinerlei Zeichen eines gewaltsamen Eindringens.

Im Inneren des geräumigen Appartements wimmelte es vor Menschen: Kollege Hakan Özmöd – ein türkischstämmiger Berliner – vom K1, haufenweise Leute vom Erkennungsdienst, Polizisten in Uniform und ein weiterer Sanitäter. Lilian war froh über das übliche Anfangschaos, auch wenn dadurch Spuren verwischt werden konnten. Sonst hätte das Grauen sie überwältigt. Wie so oft. Trotz der vielen erschütternden Anblicke, die sie im Laufe ihrer Karriere bei der Kriminalpolizei aushalten hatte müssen, war sie noch nicht wie so manch anderer abgestumpft, immer mit einem lässig-morbiden Spruch auf den Lippen. Vielleicht war sie einfach noch nicht lange genug bei der Kripo. Auf jeden Fall war das ein Teil ihrer Arbeit, auf den sie gern verzichtet hätte. Auch jetzt zwang sie sich, das getrocknete Blut auf Wänden, Boden, Bett und dem Opfer selbst als das zu sehen, was es war. Einfach nur der Blutfarbstoff Hämoglobin, der Sauerstoff transportiert und ohne den der menschliche Organismus nicht lebensfähig ist. Das war alles.

Helmut pfiff leise durch die Zähne. »Na, das sieht ja wie in einem Schlachthof aus. Das arme Schwein, das diese Sauerei hier aufräumen muss, tut mir jetzt schon Leid.«

Lilian sagte nichts. Mit undurchdringlicher Miene konzentrierte sie sich auf den Tatort. Der Tote lag vollständig bekleidet auf dem Bett. Er musste ein attraktiver Mann gewesen sein mit seinem muskulösen Körper und den kantigen, männlichen Gesichtszügen. Jetzt war allerdings alles an ihm durch seinen letzten Kampf entstellt: Weit aufgerissene Augen. Ungläubig. Als ob sie es nicht fassen konnten, dass dies das Ende sein sollte. Die dunklen Haare verklebt, blutverschmierte Haut, aufgeschnittene Handgelenke. Dazu die Handschellen. Die sahen irgendwie unfein aus. Passten nicht zur Villa, dem schönen Innenhof und den wertvollen Möbeln.

Das Bett mit den langen Eisenstäben am Kopf- und Fußende – bestimmt ein sündhaft teures Designerteil, Marke ‚Jailhouse Fuck‹ – stand schief. Das Bettlaken – war das einmal weiß gewesen? – hing über den Bettrand auf den Boden hinunter. Auf einem kleinen Tisch in einer Zimmerecke lag ein blutbeflecktes Messer. Lilian trat näher. Es sah aus wie ein Jagdmesser. Mit kunstvoll bearbeitetem Horngriff, leicht gezackter Klinge. Daneben lagen eine Peitsche mit langen schwarzen Lederbändern und ein etwa zehn Zentimeter breites Tuch aus schwarzem Filz. Was war das? Eine Augenbinde?

Lilian nahm den Rest des großen Schlafzimmers in Augenschein. Eine Deckenlampe verbreitete helles Licht. Heruntergelassene Rollos. Auf den beiden Nachtkästchen zwei Kerzenhalter mit heruntergebrannten Kerzen. Unregelmäßige, dunkelrote Wachsflecken an den Ständern und außen herum. Ansonsten sah der Raum sauber und aufgeräumt aus. Beim Durchqueren der anderen Zimmer auf dem Weg hierher war ihr aufgefallen, dass es dort genauso ordentlich gewesen war. Nur auf dem Wohnzimmertisch eine Flasche Champagner mit zwei gefüllten Sektgläsern. Im hinteren Teil des Schlafzimmers war eine schmale Türe in der Wand. Lilian öffnete sie. Sie führte in ein kleines Ankleidezimmer.

Ein weißgekleideter Mann kam auf Helmut zu. »Ich bin soweit fertig. Der Totenschein ist ausgestellt. Brauchen Sie mich noch?«

»Sind Sie der Notarzt?«

Der Mann nickte. Wippte ungeduldig auf den Fußspitzen hin und her.

»Ist die Leichenstarre schon eingetreten?«

»Ja.« Er sah angestrengt auf seine Armbanduhr.

»In Ordnung. Sie können gehen.«

Der Arzt verabschiedete sich kurz angebunden und verschwand.

»Also ist er schon seit ein paar Stunden tot«, sagte Lilian.

»Ja, die Blutlachen auf dem Boden sind zum Teil auch schon getrocknet.«

»Dann muss er in der Nacht oder gestern Abend gestorben sein.«

»Sieht wirklich nach einem Lustmord aus.« Helmut deutete vielsagend zu den Utensilien auf dem kleinen Tisch hinüber.

»Wahrscheinlich erwartete er eher ein amüsantes Bettspielchen als so was.« Lilian verzog das Gesicht. »Aber warum ist er komplett angezogen? Komisch, nicht?«

»Vielleicht war’s ja nur ein Unfall im Eifer des Gefechts.«

»Du meinst, der Täter – oder die Täterin – wollte nur ein bisschen mit dem Messer spielen und hat ihn aus Versehen getötet?« Lilians Blick war skeptisch.

»Nein, das macht keinen Sinn. Dann hätte er nur eine Schnittwunde.« Helmut überlegte. »Schau dir das viele Blut an den Wänden an. Schleuderspuren wie aus dem Lehrbuch. Er hat sich also wie ein Wahnsinniger gewehrt. Ich wette, das war mächtig laut. Das Bett ist total verrutscht.«

»Davon muss doch jemand im Haus was mitbekommen haben. Oder sogar von draußen.«

Lilian schaute zu den Fenstern. Alle waren fest verschlossen. Helmut registrierte es im gleichen Moment wie sie.

Ein uniformierter Kollege kam ins Zimmer.

»War das Licht hier an, als Sie gekommen sind?« fragte Lilian.

Nicken. »Auch in der Diele und im Wohnzimmer. Die Frau, die den Toten gefunden hat, hat allerdings gesagt, dass es hier im Schlafzimmer dunkel war. Erst sie hat dann das Licht angemacht.«

»Wie ist sie in die Wohnung gekommen?«

»Unter einem der Blumentöpfe im Innenhof lag ein Schlüssel.«

»Woher wusste sie davon?«

»Sie hat hier früher schon mal die Post abgeholt. Für ihn, war doch ihr Chef.«

»Dann hätte jeder andere genauso in die Wohnung gelangen können«, bemerkte Helmut. »Trotzdem muss unser Herr Doktor den Täter gekannt haben. Sonst hätte er sich wohl kaum ans Bett fesseln lassen.«

»Stimmt«, sagte Lilian. »Kräftig genug war er ja. Keine Hinweise auf einen Kampf. Sieht so aus, als ob er sich erst nach den tödlichen Schnitten gewehrt hat.«

Helmut nahm den Streifenpolizisten ins Visier. »So, und jetzt sorgen Sie mal dafür, dass alle überflüssigen Leute hier verschwinden. Ich brauche Timo Meier vom Erkennungsdienst. Das Bestattungsunternehmen können Sie auch anrufen. Das war’s. Danke.«

Der Beamte entfernte sich eilig.

»Warum hat der Täter die Tatwaffe hier gelassen?« überlegte Lilian. »Das Messer ist so ungewöhnlich, so was gibt’s nur in einem Fachgeschäft. Daran würde sich doch sicher jeder Verkäufer erinnern.«

»Aber nur, wenn es erst vor kurzem gekauft worden ist.« Helmut wischte sich über die Stirn. Auch hier war es furchtbar heiß. Und stickig. »Mal schauen, was die beim LKA in München herausfinden. Vielleicht sind noch andere Blutspuren als die des Toten drauf.«

Timo Meier erschien in der Tür. »Wir haben was für euch. Der Anrufbeantworter blinkt.«

Lilian und Helmut folgten ihm in die Diele zu einem alten Vertiko. Ein bemerkenswertes Stück mit einem geschliffenen Kristallspiegel. Etwa Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, bestimmt schweineteuer. Darauf standen ein Telefon und ein Anrufbeantworter. Hakan Özmöd wartete auch schon. Timo Meier drückte mit seinen behandschuhten Händen auf eine Taste am Anrufbeantworter. Die ersten beiden Anrufe stammten von der Sekretärin Paula Gerber, die den Toten entdeckt hatte. Sie erinnerte Dr. Robner an seine Besprechung um 11:00 Uhr und bat um seinen Rückruf. Dabei benutzte sie seinen Vornamen. Na also, dachte Lilian – daher die vielen Tränen … Dann war eine Männerstimme zu hören. »Guten Morgen, hier Demel. Leider ist Ihre Bestellung vom 19. April erst heute fertig geworden. Aber ich musste direkt beim Hersteller ordern. Bitte geben Sie mir Bescheid, ob Sie das Paket wie immer bei uns abholen.« Der Mann nannte eine Münchner Nummer und legte auf.

»Hört sich nach einem Geschäft an. Ich werd das überprüfen.« Lilian notierte sich die Telefonnummer und den Namen des Anrufers.

Die letzte Nachricht war von einer Frau. »Hallo Andreas, hier ist Thea. Warum meldest du dich nicht mehr? Ich rufe ständig bei dir an. Und du lässt einfach nichts von dir hören. Ich finde das ziemlich armselig, vor allem nach unserem letzten Termin. Wenn das so weitergeht, dann kann ich wirklich keine Verantwortung mehr übernehmen für irgendwelche … Vorkommnisse. Bitte ruf mich an.«

Timo Meier spulte das Band zurück.

»Klingt ja fast wie eine Drohung«, sagte Helmut.

»Ob das eine verschmähte Geliebte ist? Und was meint sie mit ›Vorkommnisse‹?« Lilian schrieb den Namen der Frau ohne große Hoffnung in ihr Notizbuch. Thea war zwar ein seltener Name, aber ohne Nachnamen oder Adresse konnte sie damit nichts anfangen.

»Okay, das bringt uns im Moment nicht weiter.« Helmut sah Lilian an. »Fahr bei dieser Biotechnologiefirma vorbei, wo der Tote gearbeitet hat. Schnapp dir den Chef. Guck dir schon mal die Leute an, die am engsten mit dem Toten zusammengearbeitet haben.« Er wandte sich an Timo Meier. »Ich bleibe noch ein bis zwei Stunden hier. Dann nehmen wir uns die Wohnung gemeinsam vor, bevor die Leiche abtransportiert wird. Nimmst du mich in deinem Auto zum Bergfriedhof mit? So kann Lilian den Dienstwagen nehmen, während wir bei der Obduktion sind.«

Timo Meier nickte.

»Hakan, du übernimmst die Hausbefragungen hier im Haus und in der Nachbarschaft. Stell die üblichen Fragen: Wer kannte den Toten, was war er für ein Mensch, hatte er oft Besuch … Wir brauchen Infos, um die Tatzeit genauer eingrenzen zu können.«

Auch Lilian wollte sich noch in der Wohnung umsehen. Überall teure, antike Holzmöbel. Im Esszimmer ein Bauernschrank mit farblich aufwändigen Malereien und ein Tisch aus dunkel lasiertem Holz. Darauf eine Glasvase mit einem Strauß gelber Tulpen. Das Wasser roch frisch. Alle glatten Flächen im Raum blank gewischt, die Glasscheiben poliert. Sogar auf den Bilderrahmen der teuren Kunstdrucke, die überall die Wände zierten, war kein Staubkorn zu entdecken.

Der Herr Doktor hatte wohl eine zuverlässige Putzfrau, dachte Lilian. Aber irgendetwas stimmte hier nicht. Es fehlte etwas, bloß was? Sie ging in den hinteren Teil des Raumes, der durch ein hohes Bücherregal abgetrennt war. Der Schreibtisch dahinter war ein einziges Chaos. Sie grinste. Das sah ja fast wie Helmuts Schreibtisch im Büro aus. Und das schien der einzige Ort in der Wohnung zu sein, an dem Andreas Robner gelebt hatte. Das Durcheinander im Regal passte dazu. Neben einer Reihe von Wälzern über Molekularbiologie und Biochemie gab es dicke Nachschlagewerke über Kunstgeschichte, Politik und Literatur mit Eselsohren und zerdrückten Seiten. Und plötzlich wusste Lilian, was fehlte: Fotos. Nirgendwo ein einziges Foto. Auch in den anderen Zimmern war ihr keines aufgefallen. Warum gab es hier keine Erinnerungsfotos? Auch wenn der Tote unverheiratet gewesen war, so hatte er doch sicher Verwandte oder Freunde gehabt.

Mit dem Handy wählte Lilian die Telefonnummer des Münchner Geschäftes. Während sie darauf wartete, dass jemand den Hörer abnahm, ging sie auf den überdachten Balkon hinaus. Hier war es zwar nicht kühler, dafür aber angenehm still. Trotz des gedämpften Verkehrslärms jenseits der Donau. Unter ihr lag der Fluss, in dessen starker Strömung vereinzelt Strudel gurgelten. Es war ein sanftes, glucksendes Geräusch. Eine Flussmöwe flog vorbei. Lilian sah ihr nach. Sie schwebte über die Spitzen der Bäume, die die Uferstraße zur Donau hin abgrenzten, und weiter zum Eisernen Steg. Die schmale Fußgängerbrücke führte rechts von Lilian über den breiten Strom, links von ihr die uralte Steinerne Brücke. Am gegenüber liegenden Donauufer drängten sich die Häuser der Altstadt. In zartem Hellgrün und Rosa. Oder in kräftigem Ocker und Zinnoberrot. Manche zierten Rundbögen oder Erker, andere schmale Türmchen, putzige Gauben oder gotische Fenster mit Spitzbögen und kleinen Säulen an den Seiten. Zwischen den Hausdächern guckten überall Kirchturmspitzen von Regensburgs unzähligen Gotteshäusern hervor. Die Zwillingstürme des gotischen Doms St. Peter überragten diese abwechslungsreiche Pracht.

Was für ein herrlicher Blick auf Regensburgs mittelalterliches Stadtpanorama! Auf den Ansichtskarten in den Buchgeschäften oder Andenkenläden für Touristen empfand Lilian ihn als kitschig. Aber in Natura war er einfach überwältigend. 14 Jahre lebte sie nun schon hier. Regensburg war für sie in der Zwischenzeit mehr zur Heimat geworden als der kleine, verträumte Weiler am Chiemsee nahe bei Seebruck, wo sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte. Sie überlegte, woher diese Verbundenheit kam. Vielleicht weil sie so viele entscheidende Lebensabschnitte mit dieser Stadt teilte.

Hier hatte sie ihr Jurastudium begonnen und schweren Herzens wieder abgebrochen. Das Studium war ihr zu trocken gewesen, zu theoretisch. Auch sonst hatte sie sich nicht immer mit der Interpretation der Gesetzestexte identifizieren können. Aus beruflicher Sicht hatte sie es zwar nie bereut, sich als Quereinsteigerin für den Polizeidienst entschieden zu haben. Aber es kratzte am Selbstbewusstsein, den Schwanz eingezogen zu haben. Na ja, nur sprichwörtlich. Aber trotzdem.

Hier hatte sie Stefan kennen gelernt, ihren Ex. Verliebt, verlobt, verheiratet – wie romantisch. Jetzt war sie schon lange geschieden. Weniger romantisch. Kurz nach der Trennung hatte sie ihre Tochter zur Welt gebracht. Ohne Stefan. Noch weniger romantisch. Hatte dafür mit Miriam Höhen und Tiefen durchlebt, die man nur mit seinem Kind durchleben konnte. Das zählte mehr als dumme Romantik.

Hier hatte sie Freunde gefunden, auf die sie sich verlassen konnte. Hatte sich durchgesetzt und in ihrem Beruf etabliert. Sich ihr eigenes Leben aufgebaut. Der Zauber dieser Stadt würde sie nie wieder loslassen.

Nach 20 erfolglosen Klingelzeichen am anderen Ende der Telefonleitung gab Lilian auf. Warum war bei dem Laden außerhalb der Öffnungszeiten kein Anrufbeantworter eingeschaltet? Komisch, dass die überhaupt am Vormittag geschlossen hatten. Sie beschloss, es später noch einmal zu versuchen.

Kapitel 2

Das Unternehmen BioMed befand sich im Osten von Regensburg. In einem Neubau mit Fenstern so groß wie Türen, davor frisch gepflanzte Bäume auf einer gepflegten Rasenfläche. Innen ein moderner Eingangsbereich, lange Korridore, viele Türen. Am Empfangstresen eine gut gekleidete, blonde Dame mit einem Zahnpastareklamelächeln. Lilians Dienstausweis ließ es sofort verschwinden. Ihre Erklärung hinterließ Betroffenheit in den großen, braunen Augen. »Das ist ja schrecklich! Wie geht’s Paula?«

»Den Umständen entsprechend.«

»Kommt sie noch mal vorbei?«

Komische Frage. Die Frau, die den Toten gefunden hatte, hatte jetzt bestimmt andere Sorgen.

»Paula und ich teilen uns diesen Arbeitsplatz. Da ich noch eine Präsentation fertig machen musste, bin ich früher gekommen. Dafür wollte ich eher gehen«, erklärte die Frau, die Lilians Gedanken zu erraten schien. »Ich wette, Paula ist total fertig.«

Den letzten Satz betonte sie seltsam. Lilian wollte nachhaken, wie sie das meinte. Aber da erschien ein leicht untersetzter Mann mit dunklen, gewellten Haaren und einem Raverbart, der auf den ersten Blick gar nicht zu seinem Alter Ende 40 und dem schicken Designeranzug passen wollte. Mit dynamischen Schritten und einem Stapel Kopien in der Hand federte er auf den Schreibtisch der Empfangssekretärin zu. Als er sah, dass sie nicht alleine war, setzte auch er sein freundlichstes Lächeln auf.

»Die Dame ist von der Kriminalpolizei.« Das kam zögernd. Wie aus einem Springbrunnen sprudelte dann die Neuigkeit von Dr. Robners Tod aus der blonden Frau hervor.

»Ist das wahr? Andreas ist ermordet?« Fassungslos sah der Mann Lilian an. »Das kann ich nicht glauben!«

Lilian nickte ernst und stellte sich vor.

»Ich bin Dr. Bruno Winters, der Inhaber von BioMed. Am besten gehen wir in mein Büro.«

Lilian folgte Dr. Winters. An der Tür zu seinem Büro fiel ihm ein, dass er bei der Empfangssekretärin Silke Kämmerer noch zwei Tassen Kaffee in Auftrag geben wollte. Er ließ sie eintreten und verschwand. Lilian sah sich um. Schreibtisch, Regale und eine einladende Sitzgruppe. Lilian strich mit der Hand über den Bezug des Zweisitzers. Schwerer Stoff mit zartem Blumenmuster, fühlte sich gut an. Dann bemerkte sie ein paar kunstvoll bemalte Zinnfiguren auf dem Schreibtisch. Ein Soldat mit einer Lanze, ein prunkvoll gekleideter König, ein bunter Harlekin. Die gefielen Lilian. Sie nahm eine Figur nach der anderen in die Hand. Wo der Unternehmer die wohl aufgegabelt hatte? Ob er am Wochenende die Flohmärkte in Regensburg unsicher machte? Schwer vorstellbar, dass er seine teueren Klamotten gegen ein paar ausgewaschene Jeans und ein Hemd von der Stange tauschte. Daneben entdeckte Lilian ein Foto mit zwei Kindern und einer dunkelblonden, hübschen Frau, die auf einer Wiese saß und Ketten aus Gänseblümchen knüpfte. Der Junge und das Mädchen knieten vor ihr und sahen ihr eifrig zu, während ihr Blick auf den lachenden Kindergesichtern ruhte. Die Harmonie auf dem Bild verzauberte Lilian.

»Das ist meine Frau mit unseren Kindern.«

Lilian drehte sich um. Dr. Winters schloss gerade die Tür hinter sich. »Wie klein die zwei da noch sind. Julia muss acht gewesen sein und Fabian vier. Jetzt ist Fabian acht und Julia zwölf. Wo ist nur die Zeit geblieben?« Er sah Lilian prüfend an, als forsche er in ihrem Gesicht nach einer Antwort.

»Ihre Zinnfiguren gefallen mir.«

Dr. Winters lachte. »Die hat meine Frau mir geschenkt. Nicola fährt mit Fabian am Wochenende oft in die Stadt und streift stundenlang herum, um nach lauter unnötigem Firlefanz zu suchen.«

Also war nicht er der Trödelliebhaber. Das hätte Lilian auch gewundert.

Sie setzten sich. Lilian holte einen Notizblock aus ihrer Tasche. Es schien, als rufe Dr. Winters, der ihr aufmerksam zusah, sich erst jetzt den tatsächlichen Grund ihres Besuches ins Gedächtnis.

»Es ist furchtbar!« Pflichtbewusst setzte er eine traurige Miene auf. Den Schreck von vorhin hatte er offenbar schon verdaut. »Was genau ist denn passiert?«

Lilian schilderte die Situation am Tatort, ohne ins Detail zu gehen. Das wollte sie sich für später aufheben.

Bestürzt lauschte Dr. Winters. Seine Reaktion zeigte aber, dass sein Mitgefühl nicht nur dem Unglück des Opfers galt. »Das ist eine Katastrophe! Andreas, also Dr. Robner, war erst seit Mitte Februar für mich tätig. Er leitete die Einführung einer neuen Produktionslinie. Was soll jetzt bloß aus diesem Projekt werden? Ich weiß überhaupt nicht, wie das weiter gehen soll.« Das klang so, als hätte der Mann sich absichtlich umbringen lassen, um Dr. Winter’s Firma in den Ruin zu treiben. »Sein Tod kommt zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt. Aber lieber jetzt als vor sechs Wochen.«

Lilian schwieg. Dachte sich nur ihren Teil.

Er schien zu merken, dass diese Äußerung geschmacklos war. »So meine ich das natürlich nicht! Aber ich bin für mehr als 20 Arbeitsplätze verantwortlich. Da kann ich mir persönliche Gefühle nicht leisten. Wissen Sie, wir entwickeln und produzieren biochemische Teststreifen für den medizinisch-pharmazeutischen Laborbedarf. Die Konkurrenz ist enorm. Mitte des letzten Jahres ist mein wichtigster Sub-Lieferant abgesprungen. Das war kurz nachdem wir hier in diese neuen Räume eingezogen sind. Was für ein Schlag!« Er seufzte tief. »Wir sind mehr schlecht als recht über die Runden gekommen. Dann konnte ich Andreas für uns gewinnen. Mit seinen guten Kontakten zu den Lieferanten und dem neuen PCR-Projekt ging es wieder aufwärts. Und jetzt ist er tot.« Da hellte sich seine Miene auf. »Aber vielleicht kann auch sein Assistent Anton Perlinger das Projekt alleine leiten. Andreas hat ihn in alles eingeweiht.« Mit einem Mal sah er wieder ganz zufrieden aus.

»Was ist das für ein Projekt?«

»PCR bedeutet Polymer Chain Reaction, also Polymerkettenreaktion. Die Methode kennen Sie doch sicher aus der forensischen Medizin.«

Lilian fühlte sich durch seinen herablassenden Ton an einen ihrer Lehrer am Gymnasium erinnert, der niemals Mitleid bei vergessenen Hausaufgaben gehabt hatte.

In belehrendem Tonfall fuhr er fort: »Man braucht nur winzigste Mengen an DNA, der menschlichen Erbinformation, um einen Täternachweis durchzuführen. Es genügt eine Haar- oder Spermienprobe. Das Prinzip ist sehr einfach und bietet ein breites Einsatzspektrum, etwa im klinischen Bereich bei der Diagnose von Infektionskrankheiten. Die Erbsubstanz wird in vitro, das heißt im Labor außerhalb der normalen zellulären Bedingungen, mit Hilfe eines Enzyms millionenfach angereichert und kann so weiter untersucht werden. Die Methode an sich ist ausgereift. Woran es allerdings fehlt, ist die Optimierung der Testbedingungen, so dass die Tests zuverlässig und jederzeit reproduzierbar ablaufen können. Diese Marktlücke wollten wir für uns nutzen. Andreas meinte, das könnte vor allem im Genfood-Bereich der Renner werden.« Auf Lilians verständnislosen Blick hin erklärte er ungeduldig: »In der Nahrungsmittelbranche produziert man zunehmend Nahrungsmittel mit verändertem Genmaterial. Denken Sie zum Beispiel an Mais, der besonders große Körner haben soll. Dafür wird eine bestimmte Stelle im Erbmaterial der Pflanze verändert. Wir arbeiten Tests aus, um das fertige Nahrungsmittel auf Abweichungen von der Vorgabe zu untersuchen.« Dieses Thema gefiel ihm offenbar, denn sein Gesicht leuchtete vor Begeisterung.

Lilian war sich nicht sicher, ob sie alles verstanden hatte. Eigentlich war sie aber auch hier, um ein Verbrechen aufzuklären. »Wie lange hätte Dr. Robner dieses Projekt betreut?«

»Ein bis zwei Jahre.«

»Woher kannten Sie ihn?«

»Von einer Fachmesse in den USA. Das war vor acht Jahren. Er arbeitete dort als Assistent bei dem Forschungsinstitut, wo er auch promoviert hatte. Kurz darauf ging er nach München zurück. Dort war er aufgewachsen, hatte eine Ausbildung zum Chemielaboranten gemacht und danach Biologie studiert. In München war er dann als freier Mitarbeiter bei verschiedenen Unternehmen tätig. Da liefen wir uns wieder über den Weg. Die PCR kannte er aus den Staaten. Das interessierte mich. Also zog ich Erkundigungen über ihn ein. Sie wissen ja: Vertrauen ist gut, Kontrolle besser.« Sein Lächeln war vielsagend. »Sein Leumund im Bereich der Biotechnologie war hervorragend. Also bearbeitete ich ihn so lange, bis er bei mir anfangen wollte.«

»Kannten Sie ihn auch privat?«

»Wenig. Er kam zwei-, dreimal zu uns zum Essen. Hin und wieder war ich mit ihm beim Golfspielen.« Er räusperte sich, als sei ihm unwohl. »Aber ein allein stehender Mann hat andere Interessen als ein Familienvater mit zwei Kindern. Außerdem habe ich wenig Zeit. Ich arbeite oft am Wochenende. Nicht einmal für meine Familie habe ich die Zeit, die ich mir wünsche. Eigentlich nur die zwei Wochen Skiurlaub in der Schweiz und im Sommer die drei Wochen Cluburlaub am Meer.«

Na, immerhin. Das konnte sich nicht jeder leisten.

Ein Klopfen. Die Sekretärin Silke Kämmerer kam mit einem voll beladenen Tablett herein, stellte es auf einen Beistelltisch und verschwand wieder. Lilian nahm sich eine Tasse Kaffee, gab Milch und Zucker hinein. Sie trank einen Schluck. Der Kaffee war zu wässrig. Automatisch musste sie an den herrlichen Cappuccino denken, den sie sich jeden Morgen mit ihrer Cappuccinomaschine machte. Die hatte sie von einer Italienreise mitgebracht. Mindestens dreimal war sie in den kleinen Laden in Mailand gegangen, wo sie um das fast unerschwingliche Designerstück aus glänzendem Edelstahl herumgestrichen war wie ein Bär um ein Honigfass. Ob das überhaupt stimmte – dass Bären Honig naschten? Irgendwann hatte ihre Tochter Miriam entnervt gefragt, wann sie endlich wieder etwas anderes tun könnten, als immer nur in diesem langweiligen Geschäft herumzulungern. Inzwischen war Lilian süchtig nach dem Geruch der fein gemahlenen Kaffeebohnen, der so anders war als der von deutschem Filterkaffee. Trotzdem war sie jetzt froh um diese Stärkung, auch wenn sie nur halb so gut schmeckte wie gewohnt. Höchstens.

»Wissen Sie, ob Dr. Robner eine feste Beziehung hatte?«

»Ich denke schon. Er machte sogar Andeutungen, als ob er nicht nur eine einzige Freundin hätte.« Sein Lächeln war durchtrieben. Dann wurde ihm bewusst, mit wem er sprach. »Unter Männern, Sie verstehen schon …«

Und wie ich dich verstehe, dachte Lilian. »Hieß eine seiner Freundinnen Thea?«

»Diesen Namen habe ich noch nie gehört.«

»Hat Ihnen Dr. Robner auch von seinen ungewöhnlichen sexuellen Neigungen erzählt?«

»Was meinen Sie damit?« Entrüstet löffelte Dr. Winters drei Berge Zucker in seine Tasse und rührte geräuschvoll um. »Auf mich hat er immer einen normalen Eindruck gemacht.«

Lilian verstand nicht, warum er sich über diese Frage so aufregte. »Dr. Robner war mit Handschellen ans Bett gefesselt. Neben ihm fanden wir eine Peitsche und eine Augenbinde. Hört sich nicht gerade normal an, oder? Man denkt eher an Sado-Maso. Vielleicht war er auch homosexuell veranlagt?«

»Das meinen Sie doch nicht ernst!« Fassungslos inspizierte Dr. Winters seine blank geputzten Schuhe. »Andreas hat sich immer vorbildlich verhalten und beruflich war er ein absolutes Ass. Sie glauben doch nicht, dass ich ihn für meine Firma angeworben hätte, wenn mir etwas Derartiges bekannt gewesen wäre?«

Lilian überlegte, was die sexuellen Vorlieben des Toten mit seiner fachlichen Qualifikation zu tun gehabt hätten. Aber sie wollte sich nicht auf eine solche Diskussion einlassen. Und bei diesem Herrn schon gar nicht. »Ist Ihnen nichts aufgefallen?«