Feuerroß - Hildegunde Artmeier - E-Book

Feuerroß E-Book

Hildegunde Artmeier

4,7

Beschreibung

Kommissarin Lilian Graf will endlich ihren wohlverdienten Urlaub antreten. Auch der Mord an einem Regensburger Antiquitätenhändler soll sie nicht daran hindern. Sie überlässt die Ermittlungen ihren Kollegen und genießt in der Toskana Sonne, Strand und das Dolce Vita Italiens. Als ein deutscher Geschäftsmann in einem Hotel ermordet wird, mischt sich Lilian aber in die Ermittlungen der italienischen Polizei ein und stößt dabei auf einen Zusammenhang zu dem noch immer ungeklärten Mordfall in Regensburg. Sie bringt damit nicht nur sich selbst in größte Lebensgefahr ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 341

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,7 (34 Bewertungen)
27
5
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titel

Hildegunde Artmeier

Feuerross

Der vierte Lilian-Graf-Krimi

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2006 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2006

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von pixelquelle.de

Gesetzt aus der 10,5/14 Punkt GV Garamond

ISBN 13: 978-3-8392-3272-9

Bibliografische Information

der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Widmung

Für Amelie

Als Dank für ihren wunderschönen Titel

1

Lieber Papa,

heute Nacht ist es wieder durch meine Träume galoppiert. Lodernd, gewaltig, bedrohlich. Eine Gestalt aus Feuer. Warum ist es nicht weiß odersilbern? Dieses flammende Schwarz macht mir Angst. Erbarmungslos zerstört es jeden Strauch, jeden Baum, jedes Leben. Sogar dieses andere Bild, das der großen Hände. Näher und näher tasten sie sich, unaufhaltsam. Warum hab ich trotzdem Angst? Nein, weg mit euch! WEG! Ich ... muss schreien, keine Luft, nein, nein ... NEIN!

Licht, ich brauche Licht. Wo ist der Schalter? Ich sehe, wo ich bin. Alles noch am gleichen Platz. Meine Bücher, auf dem Schreibtisch die Bilder, der Koffer in der Ecke, fertig gepackt. Trotzdem klopft mein Herz immer noch so schnell. Bumm bumm, bumm bumm, bumm bumm. Sei doch still! Aber es rattert und rattert. Was soll ich nur tun?

Wo bist du, Papa? Frieden, endlich Frieden. Sonne, nasses Gras, Kiesel unter den Zehen, meine Fußsohlen auf feinem Sand, weiße Wolken, die mich sicher tragen und nach Vergessen duften. Das wünsch ich mir. Und kein nass geschwitztes Nachthemd, keine Angst mehr, kein Galopp in meinen Träumen.

Ich bin traurig. Ich will mit dir reden. Aber ich kann nicht, du bist so weit weg. Warum hast du mich allein gelassen?

2

Lilian Graf, Kriminaloberkommissarin bei der Kripo Regensburg, schreckte hoch. Es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, wo sie war. Es war dunkel, nur die Straßenlaterne leuchtete durchs Fenster. Alles in Ordnung. Sie war dort, wo sie sein sollte, lag friedlich in ihrem Bett. Irgendwo schlug eine Autotür zu, ein Motorrad knatterte über die nachtstille Straße, eine Katze miaute. Doch diese Geräusche hatten sie nicht geweckt. Sie spürte, wie ihr der Schweiß über den Rücken rann, das Nachthemd am Körper klebte, sie immer noch zitterte, das Herz in rasender Geschwindigkeit pochte. Eine Erinnerung durchzuckte sie, blieb hängen, ganz hinten im Kopf. Eine Erinnerung an zwei Arme, die sie hielten, umfingen, trugen. Danach kam die Angst, wie immer.

Sie setzte sich auf, zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, merkte irgendwann, wie die Zähne aufhörten zu klappern und ihr Pulsschlag sich langsam beruhigte. Ein Traum. Nur ein schlechter Traum. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Halb drei. Also noch genug Zeit, erst um sechs musste sie aufstehen. Dann begann ihr letzter Arbeitstag. Beim Gedanken daran spürte sie Erleichterung, Vorfreude sogar. Ob sie wieder einschlafen konnte? Sicher nicht in diesem feuchten Nachthemd. Also stand sie auf, holte sich ein frisches, kuschelte sich ins Bett und zog sich die Decke bis über die Ohren.

Fünf Minuten später war sie wieder eingeschlafen.

»Ist das dein Ernst?«

Freitag, fünfzehnter Mai, halb acht Uhr morgens, zwei Tage vor Pfingstsonntag. Dann würde Lilian in ihrem wohlverdienten Urlaub in der Toskana sein, bei Sonne, Sand, Meer und allem, was dazu gehörte. Inklusive David. Punktum.

»Ich werde meinen Urlaub nicht um noch eine Woche verschieben«, lautete ihre Antwort.

»Du weißt, dass ich im Allgemeinen sehr darum bemüht bin, die Urlaubswünsche meiner Mitarbeiter zu respektieren. Deshalb machen wir ja die Planung schon im Januar.« Ihr Chef, der Kommissariatsleiter Schindlbeck, schnaubte unüberhörbar. »Aber keiner kann damit rechnen, dass ausgerechnet drei Kollegen auf einen Schlag für längere Zeit ausfallen. Ein Bandscheibenvorfall, ein Autounfall, der dritte hat solche Panikattacken, dass man ihn auf keinen Fall allein lassen kann.«

»Die drei wären in der Sache mit dem Antiquitätenhändler sowieso nicht zu gebrauchen, weil sie nicht von Anfang an dabei waren.« Ihr Lächeln war süßer als Zucker. »Aber Hakan war am ersten Tag am Tatort. Er kann Helmut unterstützen. Was jetzt zu tun ist, ist reine Routinearbeit. Da kommt ihr auch ohne mich zurecht.«

»Hakan ist gerade erst von der Computerschulung zurück. Seit er sich in das Thema Internetkriminalität einarbeitet, kann ich ihn nicht wie sonst einsetzen.«

Schindlbeck strengte sich wirklich an, ein besorgtes, fast unheilschwangeres Gesicht zu machen. Im Geiste zollte Lilian ihm Respekt.

»Eine Woche, Lilian!«

»Nicht mal einen Tag. Mir hängt noch dieser letzte Fall nach. Ich brauche dringend Erholung – das weißt du so gut wie ich.«

Kindesmissbrauch mit Vergewaltigung und schlimmsten Misshandlungen, die ganze Litanei von vorne bis hinten, inklusive Duldung durch die Eltern. Nicht bloß Augen zudrücken und wegschauen – im Gegenteil, gute Gelegenheiten einfädeln. Bis schließlich der ältere Bruder die Rolle der Großen übernommen und den Großvater erstochen hatte. Nein, abgestochen wie das Schwein, das er gewesen war. Lilian drehte sich jetzt noch der Magen um bei der Erinnerung an die endlosen Gespräche mit dem schüchternen Jungen und dem kleinen Mädchen. Sie war so behutsam gewesen wie möglich, aber in solchen Fällen konnte man nie einfühlsam genug sein. Die Wunden waren so tief, dass auch noch nach Jahrzehnten die Narben aufbrechen und ein scheinbar intaktes Gewebe zerstören konnten. Ein Scheiß-Job war das. Manchmal. Aber nicht heute. Heute war ihr letzter Arbeitstag für die nächsten zwei Wochen, daran würde niemand etwas ändern.

»Dann setz dich bitte mit Hakan und Helmut zusammen, damit es da keine Unklarheiten gibt.« Schindlbeck nickte ergeben. »Am besten jetzt gleich, dann hat Hakan bei der Dienstbesprechung die aktuellen Infos. Die ist heut übrigens erst um Viertel nach acht, ich hab noch ein dringendes Telefonat zu erledigen.«

Lilian rätselte, ob mit dem Oberstaatsanwalt oder mit dessen Frau. Es war ein offenes Geheimnis im K1, dass die schwarzgelockte Schönheit mit dem umwerfendsten Lächeln von ganz Regensburg Schindlbecks Geliebte war. Gut, dass der Oberstaatsanwalt nur in die Geheimnisse des Gerichtsgebäudes eingeweiht war.

»Das hatte ich sowieso vor«, sagte Lilian. »Und für Notfälle habt ihr ja meine Handy-Nummer.«

Dass sie das Handy selten anmachen würde, brauchte sie ihrem Chef ja nicht auf die Nase binden.

»Ich schick euch auch eine Ansichtskarte, versprochen.«

Hakan Özmöd wartete schon im Büro und hatte sogar eine frische Tasse Kaffee für seine Kollegin bereit gestellt.

»Was hat er gesagt?«, empfing er Lilian ungeduldig.

»Was zu erwarten war.«

»Du bist natürlich standhaft geblieben«, knurrte Helmut Brunner in seine Tasse.

Auch er war Kriminaloberkommissar und teilte mit Lilian das Büro. Vor seiner zweiten Tasse Kaffee war er grundsätzlich nicht ansprechbar. Heute würde es vermutlich noch länger dauern, bis seine Laune sich besserte. Die Aussicht, dass seine Kollegin bald in den Urlaub fuhr, während er sich mit alten Akten herumschlagen durfte, hellte seine Stimmung nicht auf.

»Was sonst?« Lilian schmiss sich auf ihren Drehstuhl. »David steigt mir sonst endgültig auf die Zehen. Noch mal eine Woche verschieben – das geht nicht. Er hat Termine bei Gericht.«

»So ist das optimal für dich«, bemerkte Hakan, der nach der PC-Schulung froh über ein wenig Abwechslung war, wie er Lilian vor ihrer Unterredung mit dem Kommissariatsleiter verraten hatte. Hakan war türkischstämmiger Berliner oder deutscher Türke aus Berlin, je nach Sichtweise. Er hatte es auf der Rangleiter erst bis zum Kriminalkommissar geschafft. Doch das beeinträchtigte ihre Zusammenarbeit nicht, denn bei der Kripo Regensburg bearbeitete man die Fälle nicht nach Aspekten der Hierarchie. Da machte das Kommissariat K1, in welchem man sich mit Suiziden und Tötungsdelikten befasste, keine Ausnahme.

»Deine Tochter fährt morgen in die Pfingstferien«, überlegte er. »Wenn du schon vor einer Woche gefahren wärst, dann hättest du dich wieder nach einer Betreuung für sie umsehen müssen.«

»Miriam bleibt nur eine Woche. Und Hanna ist sowieso da.«

Hanna war Lilians beste Freundin, hatte einen Sohn und war wie sie allein erziehend.

»Dann fangen wir mal an.« Lilian holte sich die Akte Anton Haslinger und schlug sie auf. »Die Tatortfotos hast du ja vor der Schulung schon gesehen. Ein Schuss in den Brustkorb. Die 9 mm-Patrone zerriss die Körperschlagader, durchtrennte das Rückenmark und trat wieder aus. Nach maximal einer halben Minute war Haslinger tot. Die Patrone stammt eindeutig aus Haslingers eigener Beretta 92, die neben ihm auf dem Boden lag.« Sie reichte Hakan die Fotos von der Leiche.

»Lecker!« Er schnalzte mit der Zunge. »Saubere Eintrittsstelle, der Rücken zerfetzt. Die typische Wunde für dieses Kaliber.«

Lilian sparte sich einen Kommentar. Inzwischen wusste sie, dass das coole Gehabe so mancher Kollegen nur der verzweifelte Versuch war, nicht irgendwann den Verstand zu verlieren. Auch für sie war das Opfer einer dieser Toten, den sie am liebsten vergessen hätte. Nicht nur wegen der Eindrücke am Tatort, die sie noch nicht wirklich verdaut hatte, sondern auch, weil der Mann eine Frau und zwei Kinder hinterließ.

»Wie kommt ein Antiquitätenhändler zu einer Beretta?«, fragte Hakan.

»Vor zwei Jahren gab’s einen unangenehmen Vorfall, da hat ihm einer mit ’nem Baseball-Schläger eins übergezogen und die wertvollsten Stücke mitgehen lassen. Haslinger hatte einen Waffenschein und kaufte die Beretta kurz danach, alles ordnungsgemäß registriert. Seither hatte er das Ding im Laden«, erklärte Helmut. »Die Aushilfe in seinem Geschäft hat bestätigt, dass er die Waffe in einer Schublade unter der Kasse aufbewahrte.«

Hakan besah sich das Geschoss, das durch Haslingers Brustkorb gedrungen war, als wäre dieser so weich wie ein Pfund Butter, und jetzt in einem unscheinbaren Plastikbeutelchen lag. »Wenn ich mich recht erinnere, ist in dem Laden einiges zu Bruch gegangen.«

»Allerdings«, bestätigte Lilian und hielt ihm die Fotos hin. »Es gab eindeutige Kampfspuren und die Kasse war aufgebrochen. Zertrümmerte Thonet-Stühle, eine zerdepperte Vase aus der Ming-Dynastie, ein unglaublicher Verlust, wie der Sachverständige meinte. An der Leiche selbst Schürfwunden, Prellungen, Quetschungen. Eine größere Wunde am Kopf, aber sie war nicht die Todesursache. An der Kante des Schreibtisches, auf dem die Kasse steht, fanden sich Haare, Blut- und Gewebespuren vom Opfer. Er muss gegen den Tisch geknallt sein.«

»Unter seinen Fingernägeln waren Hautfetzen und Blutspuren«, sagte Helmut und fingerte an einem abgerissenen Papierstück herum. »Laut Labor eindeutig von ein und derselben Person.«

»Allerdings stammen die Fingerabdrücke auf der Leiche von zwei verschiedenen Personen«, ergänzte Lilian. »Wir können also nicht von einem Einzeltäter ausgehen.«

»Zeugen?«, fragte Hakan.

»Zum einen die Aushilfe. Sie hat das Geschäft um halb sieben abends verlassen.« Lilian nahm die Protokolle aus der Mappe. »Haslinger sagte, er werde noch länger bleiben, weil er auf einen Lieferanten warten wolle, Name unbekannt. Der hatte sich für acht, neun angemeldet. Das war nichts Ungewöhnliches, denn Haslinger hatte oft geschäftliche Termine am Abend.« Sie blätterte um. »Über dem Laden befindet sich eine Wohnung. Da wohnen zwei Studentinnen, die eine war zu Hause. Sie hat gegen halb neun Lärm gehört, zuerst schepperte etwas, dann folgte ein Riesengepoltere.«

»Die Ming-Vase.« Hingebungsvoll rollte Helmut mit seinen derben Fingern das Kügelchen auf der Tischplatte hin und her, das inzwischen aus dem Papierfitzelchen entstanden war. »Außerdem die wertvollen Thonet-Stühle. Betont man übrigens auf dem O.«

»Ist das was Besonderes?«, fragte Hakan irritiert.

Helmut warf sich in Pose. »Weltberühmte Bugholzstühle aus der Wiener Möbelmanufaktur der Gebrüder Thonet. Das Unternehmen revolutionierte die industrielle Produktion von Sitzmöbeln«, deklamierte er. »Da soll noch einer sagen, Polizisten seien ungebildet.«

»Wenn manche schon so unmögliche Holzfällerhemden aus der Mottenkiste anziehen, dann müssen sie zumindest mit ihrem Wissen glänzen.« Das kam von Lilian.

Helmuts Schrankhüter aus dickem Flanell waren berüchtigt. Auch heute war er in einem seiner altmodischen Dinger erschienen. Allerdings passte es besser zum Wetter als Lilians dünne Sommerhose, auf die sie am Morgen in Einstimmung auf ihre baldige Reise nicht hatte verzichten wollen. Draußen regnete es in dichten Schnüren, der Himmel war grau in grau. Zwei Tage noch. Innerlich atmete Lilian schon jetzt auf.

»Mit was hat Maika dich bestochen? Immer wieder versucht sie, meine liebsten Hemden zur Altkleidersammlung zu geben.« Helmut schleuderte das Kügelchen nach Lilian. »Weiber!«

Die wich geschickt aus und warf ihm eine Kusshand zu. Hakan bezog sicherheitshalber keine Stellung und grinste nur.

»Danach hörte die Studentin einen Knall«, nahm Lilian den Faden wieder auf. »Könnte ein Schuss gewesen sein.«

»Oder Haslingers Kopf, der gegen die Tischkante schlug«, gab Helmut zu bedenken.

»Das war gegen Viertel vor neun. Die Besitzerin eines Andenkenladens eine Ecke weiter ist etwa zur gleichen Zeit unserem Freund Karinkov begegnet, der aus der Kreuzgasse gekommen ist. Eine Frau Baum. Sie sperrte gerade die Tür ab, und der Kerl hat sie fast umgerannt.«

Hakan vertiefte sich ins Protokoll. »Ihre Beschreibung ist genau: ›Zwischen dreißig und vierzig, langes, fettiges Haar, Brille, stechende Augen, unrasiert, grauer oder dunkelblauer Parka, dick wattiert und irgendwie ausgebeult, Jeans. Der Mann stank nach Bier und sprach mit stark ausländischem Akzent. Als ich ihm nachrief, so geht das aber nicht, zeigte er mir den Stinkefinger und beschimpfte mich in einer Sprache, die ich nicht kenne. Muss Russisch, Polnisch oder so was gewesen sein. Dann rannte er weiter. Der war bestimmt betrunken‹!« Er sah auf. »Was ist bei dem Phantombild rausgekommen, das in der Zeitung abgedruckt war?«

»Siebenunddreißig Spurenblätter, fünf davon vielversprechend, zwei trugen zur Inhaftierung des Verdächtigen bei«, antwortete Lilian. »Juri Karinkov, Kroate, Gelegenheitsarbeiter, seit sieben Wochen arbeitslos. Er ist vor fünf Jahren nach Deutschland gekommen, seit einem Jahr lebt er in Regensburg. Zweimal wegen Einbruchs vorbestraft, einmal wegen schwerer Körperverletzung. Die Gegenüberstellung mit Frau Baum war eindeutig. In Karinkovs Bude hat man wertvollen Goldschmuck gefunden, antike Ohrringe. Außerdem zwei silberne Kerzenleuchter, auch alt. Haslingers Aushilfe hat die Leuchter identifiziert, beides Stücke aus dem Bestand, sagte sie. Den Schmuck hat sie noch nie gesehen. Sie kommt allerdings nur dreimal die Woche, sie ist Studentin.«

»Karinkovs Fingerabdrücke stimmen mit der einen Sorte überein, die man auf der Leiche gefunden hat«, bemerkte Helmut. »Die DNA-Analyse und Auswertung der Blutspuren hat aber nichts gebracht, auch die Hautfetzen unter Haslingers Fingernägeln stammen nicht von ihm.«

»Fingerabdrücke auf der Waffe?«

»Bloß welche von Haslinger. Ansonsten nur verwischte Spuren, nicht zu gebrauchen.«

»Karinkov weigert sich nach wie vor, eine Aussage zu machen«, ergänzte Lilian. »Hat mächtig gegen unser Rechtssystem gewettert. Wenn er nicht zu randalieren angefangen hätte, hätte ich ihm glatt zugestimmt.«

»Seit einer Woche sitzt er also in der JVA in U-Haft«, sagte Hakan mit einem Blick auf die Unterlagen. »Vielleicht überlegt er sich’s doch noch anders und erzählt uns was von seinem Kumpan, der ihn jetzt hängen lässt.«

»Oder er ist froh über seine hübsche Zelle und das gute Essen und erschwert uns weiterhin die Arbeit«, warf Helmut skeptisch ein. »Das Loch, in dem er haust, ist das Allerletzte.«

»Wie sieht’s in Haslingers Umfeld aus? Gibt’s jemanden, der was gegen ihn hatte?«

»Eher umgekehrt«, antwortete Lilian. »Wenn der Kerl, von dem Haslinger die Ladenfläche gemietet hat, tot wäre, dann würde ich auf Haslinger tippen. Seit gut zwei Jahren wird ständig die Miete erhöht, vor vier Wochen zum letzten Mal. Die erste Zeit sah es so aus, als ob Haslinger pleite machen würde. Seine finanzielle Lage war nicht die rosigste und diese zusätzliche Belastung hat ihm sehr zugesetzt.«

»Warum hat er sich nicht nach anderen Räumen umgeschaut?«

»Dann hätte er den Rest seiner Stammkundschaft auch noch verloren, so Haslingers Frau. Der Laden lief immer schlechter, Haslinger musste die damalige, fest angestellte Verkäuferin entlassen. Bei seinen Kollegen hieß es, man rechnete jeden Tag damit, er würde Pleite machen. Aber irgendwie kam er doch über die Runden.«

»Wer soll sich zu Zeiten unseres geschätzten Teuro auch so antiken Kram leisten können?«, grollte Helmut.

»Den Rest machen wir nach der Morgenbesprechung.« Lilian sah auf ihre Armbanduhr und stand auf. »Ich schätze, Schindlbeck hat mit seiner Liebsten zu Ende telefoniert.«

3

Immer noch hing dieser bleigraue Himmel zwischen den Häusern und erinnerte Lilian daran, dass es Zeiten gab, in denen der Frühling noch unberechenbarer war als die anderen Jahreszeiten in Süddeutschland, auch wenn es im Moment einmal nicht regnete. Eigentlich sollten überall die Farben explodieren und lachende Kinder auf ihren Fahrrädern um die Wette sausen. Stattdessen verkrochen sie sich in zu kalten Wohnungen, langweilten sich und gingen ihren Eltern auf die Nerven.

Aber das konnte Lilian jetzt nicht beunruhigen. Sie zog die Tür des Kripogebäudes hinter sich zu und ihren schwarzen Chip über das Lesegerät. Ihr letzter Arbeitstag war geschafft, nur noch schätzungsweise sechsunddreißig Stunden trennten sie von ihrem Urlaub. Jeder Schritt, mit dem sie sich von ihrem Arbeitsplatz entfernte, hob ihre Stimmung. Protokolle, Akten, überfällige Berichte, Verhöre – bald war alles weit, weit weg. Zwei Wochen Ausschlafen und nichts zu tun, außer den Tag zu vertrödeln. Endlich die Bücher lesen, die sich seit Monaten neben ihrem Bett stapelten, und die feinsten toskanischen Gerichte genießen, nicht zu vergessen den zart duftenden Kaffee und die besten Rebentropfen der Region. Selbstverständlich würde jeden Tag die Sonne scheinen, wie es sich für einen ordentlichen Urlaub gehörte. Erholung pur. Schuhe zum Reiten würde sie vorsorglich einpacken, obwohl sie sicher war, sie würde sie nicht brauchen. Was sie brauchte, waren ein fremder Ort und Ruhe. Und David. Nur sie beide, was für ein Luxus.

Lilian sprang die Treppe hinunter, spazierte durch den Innenhof, hüpfte die Stufen ins Parkhaus hoch und sperrte summend den Wagen auf. Es war noch ziemlich voll. Heute war sie eine der ersten, die ihren Parkplatz räumte. Eine praktische Einrichtung, dieses neue Parkhaus. Im vergangenen Sommer war die Kripo Regensburg in das ehemalige, komplett renovierte Kasernengebäude in der Bajuwarenstraße umgezogen. Nur die Fahndung befand sich noch in der alten Polizeidirektion im Minoritenweg. Das schuf manchmal logistische Probleme, aber Lilian bevorzugte das helle Gebäude mit Schreibtischen aus nussbraunem Holz und Drehstühlen in wohltuendem Blau. In den meisten Büros gab es glänzende Parkettböden, die einen wie die bequemen Möbel fast vergessen ließen, dass man hier arbeiten sollte. Und endlich eine neue Kaffeeküche, auch wenn es immer noch keinen Cappuccino, sondern nur den üblichen Filterkaffee zu trinken gab. Gut, dass sie bald nach Italien fuhr. So konnte sie sich die Espressomaschine für die Herdplatte besorgen, die sie schon seit Ewigkeiten für die Arbeit haben wollte. Mit dem batteriebetriebenen Milchaufschäumer, den David ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, kam so auch im Büro ein richtiger Cappuccino in greifbare Nähe. Natürlich warfen einem sämtliche Kaufhäuser Regensburgs die zusammen schraubbaren Espressokannen nach, dafür musste man nicht tausend Kilometer fahren. Aber eine original aus der Toskana importierte Maschine, bei deren bloßen Anblick man an azurblauen Himmel, schlanke Zypressen und warmen Wind dachte, war durch nichts zu ersetzen. Sogar Helmut in seinem üblichen Morgenfrust würde sich so schnell an den würzigen Duft von gerösteten Arabica-Kaffeebohnen gewöhnen, dass er den wässrigen Kripokaffee ohne mit der Wimper zu zucken in die Blumentöpfe kippen würde.

Pfeifend fuhr sie aus dem Parkhaus, bog in die Bajuwarenstraße ein und ein paar hundert Meter weiter in die Einfahrt zum Media Markt ab. Sie brauchte noch einen Adapter für die Reise, sonst würde sie den Haarfön ganz umsonst einpacken.

Gleich vor den Eingangsdrehtüren fand sie einen Parkplatz. Offenbar war schon ein Großteil der Regensburger in den Süden gefahren. Am letzten Schultag warteten die Eltern in vollgepackten Autos reihenweise vor den Schulen, um beim finalen Gong ihre Sprösslinge einzusammeln und vor dem großen Stau am morgigen Samstag über die Hauptverkehrsstraßen nach Bella Italia zu rauschen. Lilian und David würden erst in den frühen Sonntagmorgenstunden aufbrechen, wenn die endlosen Wagenschlangen sich bereits aufgelöst hatten.

Zehn Minuten später saß Lilian wieder im Wagen und fuhr Richtung Prüfening, an Regensburgs Kinopalast, dem Cinemaxx, vorbei und am Evangelischen Zentralfriedhof, die ganze lange Frieden- und Kirchmeierstraße stadtauswärts. An der Ecke, wo Lilians Lieblingsrestaurant ›San Daniele‹ lag, bog sie rechts in die Lilien-thalstraße ein, dann links in die Prüfeningerstraße. Im REZ, dem Rennplatz Einkaufszentrum, kaufte sie Brot, Tomaten und Käse, wartete so geduldig wie nie an sämtlichen Kassen, schaufelte alles in den Kofferraum, ohne sich von fluchenden Autofahrern stören zu lassen und fuhr in die Ligastraße. Hier lag das renovierte Altbauhaus mit Garten, das sie und Hanna mit ihren Kindern bewohnten. Hanna bevorzugte Ausdrücke wie ›Insel‹ oder ›Traumland‹ für ihre Vierer-WG, die sie mit Pinsel, Bohrer und harter Arbeit in ein schmuckes Juwel verwandelt hatten.

Als Lilian ausstieg, fing es an zu regnen. Aber das kümmerte sie nicht. In fünfunddreißig Stunden fing eine neue Zeitrechnung an.

»Hast du alles?« Lilian warf einen Blick auf Miriams Packzettel. »Wanderschuhe, Turnschuhe, Regenkleidung ...«

»Hab ich.« Miriam klopfte auf den vollgepackten Rucksack.

»Was ist mit deiner Fleecejacke? Mit einem zweiten Pulli, falls der andere nass wird?«

»Alles drin.« Ein genervter Blick von Lilians fast zehnjähriger Tochter. »Außerdem zwei lange Hosen, dicke Wollsocken und natürlich ein warmer Schlafanzug. Denn ich weiß, wie kalt es am Bodensee im Mai werden kann.« Miriam verdrehte die Augen. »Ich fahre in die wärmste Gegend Deutschlands, Mama! Frag mich mal nach Sommerkleidern und Bikini!«

Lilian musterte sie streng. »Hast du schon mal aus dem Fenster geschaut? Draußen regnet es und es hat höchstens zwölf Grad!«

»Ab morgen scheint die Sonne«, verkündete Miriam strahlend und fasste Hannas Sohn Tobias, der neben ihr stand, an den Händen. Laut singend hüpften die beiden zu den Klängen von Anastacias neuester CD durch Miriams Zimmer.

»Ist das ein Regentanz?«, fragte Lilian skeptisch.

»Das ist ein Liebe-liebe-Sonne-komm-ein-bisschen-runter-Tanz«, prustete Miriam übermütig, boxte Tobias in die Rippen und sprang zur Seite, bevor der arme Kerl wusste, wie ihm geschah.

Bis vor wenigen Monaten hatte Lilian geglaubt, verschont zu bleiben. Aber seit einiger Zeit musste sie den Tatsachen ins Auge schauen: Das Zickenalter hatte auch in ihrem schnuckeligen Häuschen Einzug gehalten. Auf einmal war es unübersehbar, dass sich Miriam, die ein Jahr älter war als Tobias, in Riesenschritten auf die Pubertät zu bewegte. Hin und wieder überredete sie ihn noch zum Barbiespielen und kuschelte mit ihm wie in alten Zeiten auf dem Sofa, um gemeinsam ein Micky-Maus-Heft zu lesen. Aber immer öfter schwatzte sie ihm eine ihrer hoffnungslos veralteten CD’s auf, für die er ihr ohne zu murren die Hälfte seines monatlichen Taschengeldes aushändigte, oder verabredete sich mit ihren gleichaltrigen Freundinnen, während er vergebens hoffte, in ihrem Zeitplan berücksichtigt zu werden. Oft, zu oft siegte Lilians Gerechtigkeitssinn und sie mischte sich trotz ihrer Vorsätze, die Kinder einfach machen zu lassen, in die Händel ein. Hanna meinte bei solchen Gelegenheiten gelassen, auf diese Weise könne ihr Sohn die wertvollsten Erfahrungen seines Lebens machen.

Überraschenderweise schoss Tobias dieses Mal zurück. Grinsend schubste er Miriams Schmusebärchen zu Boden, wohl wissend, dass auch fast erwachsene Noch-Neunjährige nicht damit fertig wurden, wenn ihr Gute-Nacht-Kuscheltierchen so grob behandelt wurde. Er wurde sofort belohnt: Miriam stieß einen empörten Schrei aus und verteidigte ihr Bärchen unter Einsatz aller körperlichen Kräfte, die ihr zur Verfügung standen. Tobias ließ sich nicht lumpen und zeigte seiner Ziehschwester, dass er ihr trotz des Altersunterschiedes physisch haushoch überlegen war.

»Das reicht! Auf der Stelle auseinander!« Genervt trennte Lilian die Kampfhähne. »Ihr benehmt euch wie Kleinkinder.«

»Sie hat angefangen!« Tobias rieb sich die Wange, auf der Kratzspuren zu sehen waren.

»Bin ich froh, wenn ich dich eine Woche lang nicht sehe«, fauchte Miriam und zog ihr T-Shirt dorthin zurück, wo es hin gehörte. »Es gibt nichts Schlimmeres als kleine Buben!«

Tobias streckte ihr die Zunge raus. »Wetten, dass dir mit deinen Kommunionstussis schneller langweilig wird als mit mir? Die schleppen dich von einer faden Kirche in die andere, während ich Skateboardfahren lerne. Ohne dich!« Trotzig setzte er noch eins drauf: »Außerdem darf ich heut bei Maxi übernachten!«

Neidvoll starrte sie ihn an. Schließlich setzte sie ihr ›Keiner-liebt-mich-Gesicht‹ auf, das immer dann zum Einsatz kam, wenn ihr nichts anderes mehr einfiel, und wimmerte so bemitleidenswert vor sich hin, dass sie damit selbst die hartnäckigsten Eiszapfen zum Schmelzen brachte.

Lilian hatte genauso wenig Lust auf Gejammere wie auf Streit. Sie bestand darauf, dass die beiden sich versöhnten. Zähneknirschend reichten Miriam und Tobias sich schließlich die Hände und drei Minuten später hüpften sie schon wieder ausgelassen auf dem Bett herum.

Lilian stellte Miriams Gepäck auf den Gang, der Bus ging in einer Stunde. Dann würde Miriam zur Fahrt nach Lindau mit den gleichaltrigen Kommunionskindern aus dem Viertel aufbrechen. Diesen ersten Urlaub ohne Lilian und fern der Heimat würde Miriam ebenso genießen wie Tobias seinen Skateboard-Kurs in Regensburg. Nach der ereignisreichen Woche würden die beiden sich um den Hals fallen, sich von ihren Abenteuern berichten und am nächsten Tag wieder so hingebungsvoll zanken wie gerade eben. Sie hassten und sie liebten sich, so würde es immer bleiben.

»Du hast mich um meinen letzten Abend im Ohrensessel vor dem Kamin gebracht«, schmollte Lilian, drückte Viktor aber doch einen dicken Begrüßungskuss auf die Wange. »Morgen Abend muss ich packen.«

»Ich weiß deinen Verzicht zu schätzen«, entgegnete Viktor galant und half ihr aus der Jacke.

Der Tisch im Esszimmer sah so aus, wie Lilian es erwartet hatte. Manche Gegebenheiten, die man kennt und von denen man weiß, dass sie sich nie verändern, entpuppen sich irgendwann als öde Sackgasse. Bei anderen hofft man inbrünstig, dass sie ein Leben lang so bleiben mögen, denn man will einfach nicht auf sie verzichten. Viktors Abendeinladungen gehörten zur letzten Kategorie. Mit seinen vierundfünfzig Jahren war er ein langjähriger Freund und Vertrauter Lilians, den sie seit Kindertagen kannte. Seine Kochkünste waren sprichwörtlich. Spanisch, französisch, russisch, vietnamesisch – die Palette seiner immer gelungenen Rezepte kam aus allen Ländern dieser Erde, und er verstand es geradezu meisterhaft, das Besondere der einzelnen Speisen hervorzuheben. Zudem verfügte er über ein ausgeprägtes Gespür für visuelle Feinheiten und setzte seine Gourmetkreationen genauso gekonnt in Szene. Die einfache Tischdecke aus weißem Batist gab dem schimmernden Porzellan und den hochstieligen Gläsern erst Gelegenheit, ihre Leuchtkraft zu entfalten. Knallrote Servietten und Dutzende von Kerzen in der gleichen Farbe lenkten Lilians erwartungsvollen Blick auf sich. Grüne Kordeln aus glänzendem Garn, die sich um Teller, Kerzenhalter und Karaffen schlangen, schlossen das farbliche Potpourri ab und machten von vorn herein klar, aus welchem Land die heutige Speisenfolge zu erwarten war.

»Du hast es natürlich sofort erraten.« Anerkennend begutachtete Viktor das Etikett des eisgekühlten Prosecco in der kobaltblauen Flasche, die Lilian ihm als Dankeschön in die Hand gedrückt hatte.

»Dummerweise passt das Blau nicht zu den Farben der italienischen Trikolore«, bedauerte Lilian.

»Kein Problem.« Viktor machte sich schon am Korken zu schaffen. Ein sanfter Knall, ein feines, glucksendes Geräusch, als er die mit zarten, eingravierten Blumen-ornamenten verzierten Sektflöten füllte. »Die Flasche stelle ich solange in den Kühlschrank, dann bleibt sie schön kalt und stört mein Farbenarrangement nicht.«

Sie prosteten sich zu, tranken den ersten Schluck und Viktor verschwand mit dem Prosecco in Richtung Küche. Sofort zog er die Küchentür hinter sich zu. Trotzdem wehte ein vielversprechender Duft nach Rosmarin und Knoblauch an Lilian vorbei und kitzelte ihre Geschmacksnerven, die ohnehin schon auf Äußerste angespannt waren. Viktors Abendeinladung zu einem Abschiedsessen vor dem Urlaub hatte sie unvorbereitet getroffen. Hanna half Lilian aus der Verlegenheit und zauberte den Prosecco aus den Tiefen des Kellers. Danach setzte sie sich mit einem Buch in Lilians Ohrensessel und freute sich auf einen Abend mit sich selbst. Sie würde ihn genießen. Als selbstständige Übersetzerin verbrachte sie die meisten Abende am Schreibtisch, erschöpft von den ereignisreichen Tagen mit Miriam und Tobias. Und bald hätte Hanna noch weniger Zeit als ohnehin schon: Sie war im fünften Monat schwanger.

Der Regen trommelte gegen die Scheiben und strafte alle meteorologischen Aussichten auf Wetterbesserung Lügen. Aber am Bodensee war es sicher wärmer und in Italien sowieso und hier drin war es jetzt so richtig gemütlich. Der flackernde Kerzenschein spiegelte sich im Kristall der hohen Gläser, in denen der italienische Rotwein sein Bouquet entfaltete, und auf den Bilderrahmen an der Wand, in denen sich Gustav Klimts goldene Frauengestalten räkelten. Sogar auf Viktors Saxophon, das zwischen Brokatkissen vor dem Bücherregal lehnte, wagten sich die Reflexe, als wollten sie dem Instrument wohlige Töne entlocken.

Lilian nippte von ihrem Glas und freute sich über diese so unerwartete wie gelungene Einstimmung auf ihren Urlaub. Der Meister trat durch die Tür und balancierte eine Platte in den Händen, auf der sich wohlriechende Bruschette al Pomodoro türmten.

»Als Gaumenkitzler«, verkündete er und häufte Lilian eine großzügige Portion der knusprig überbackenen Weißbrotscheiben auf den Teller.

»Arme Hanna«, sagte Lilian ohne großes Mitleid und biss herzhaft in einen Traum aus in Olivenöl gedünsteten Tomatenstücken und Zwiebelwürfelchen mit viel Knoblauch. Egal, was es noch zu essen gab, hier würde sie sich nicht mit nur einer Portion begnügen.

»Warum?«, fragte Viktor zwischen zwei Bissen. »Hanna lade ich morgen zum Essen ein.«

»Dann koch bloß nicht wieder zu viel, sonst jammert sie mir die Ohren voll. Sie hat sowieso schon mehr als genug zugenommen.«

»Wenn sich einer das anhören darf, dann bin das ich«, sagte Viktor achselzuckend. »Erstens bist du nicht da ...«

»Und zweitens hast du das verdient«, fiel Lilian ihm ins Wort. »Als Koch und werdender Vater.«

Inzwischen sagte sie das ohne Ressentiments. Zuerst war sie entsetzt gewesen, als aus ihrem langjährigen Freund und ihrer Freundin Hanna ein Liebespaar geworden war. Zwar nur aus praktischen Gründen, wie beide ihr versicherten, da Viktor der gentechnisch vielversprechendste Mann in Hannas Bekanntenkreis war. Aber was half es? Lilian war der Meinung, Viktor sei zu alt für solche Spielereien, und hoffte, es würde nichts werden mit seiner großzügigen Samenspende. Doch der Mensch gewöhnt sich bekanntlich an fast alles und inzwischen störte es Lilian nicht einmal, wenn die beiden vor ihr zärtlich wurden. Vor zwei Wochen hatte sie sich sogar bereit erklärt, das Amt der zukünftigen Taufpatin zu übernehmen.

Die Sektgläser waren geleert und Viktor hob sein Weinglas.

»Auf deine Reise in die Toskana«, sagte er feierlich. »Ein denkwürdiger Moment, auf den ich jahrelang gewartet habe. Dazu stoßen wir mit einem ganz besonderen Tropfen an. Der Wein stammt vom Landgut deines Vaters. Du wirst sehen, Lilian: eines der letzten Paradiese auf Erden.«

Lilian antwortete nicht, sondern probierte und lauschte. Der Wein erzählte ihr vom Wind, der im Frühjahr durch die Blätter der Weinstöcke auf dem Gut ihres Vaters fegte, von der brennenden Sonne auf den Rücken der Frauen und Männer, die im September die Trauben ernteten, und von der erschöpften Leichtigkeit, mit der sie nach getaner Arbeit den Weinberg verließen. Er sprach von der Anmut, die in alten Barriquefässern reifte, von dunkler Schwere, von Vergänglichkeit, denn selbst der beste Wein muss eines Tages getrunken werden, um geehrt zu werden. Zwischen den Zeilen hörte sie noch eine andere Geschichte. Die Geschichte einer Tochter und eines Vaters, die jahrelang voreinander weg gelaufen waren, sich aber umso stärker annäherten, je weiter sie sich voneinander entfernten.

Auch Viktor blieb still. Er hatte schon immer gewusst, wann die Zeit zu reden vorbei war.

Bei der zweiten Vorspeise, Spaghetti al Salmone, surrte Lilians Mobiltelefon.

»Ich bin in Urlaub und gar nicht da«, bellte sie ins Handy.

»Dann geh nicht ran«, knurrte Helmut zurück.

»Was gibt’s?«

»Einen Zeugen. Der behauptet steif und fest, er hätte mit dir geredet.«

»In Bezug worauf?«

»Er sagt, er habe einen Mann am Tatabend aus dem Hintereingang von Haslingers Antiquitätenladen laufen sehen. Das muss Karinkovs Komplize gewesen sein. Kurz vor neun soll das gewesen sein, würde also passen. Er beschwört, dass der Typ nicht mehr der Jüngste war, graues Haar hatte und einen teuren Mantel trug.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Das dachte ich mir. In der ganzen Akte gibt es keinen einzigen Hinweis darauf.«

»Mit wem kann er geredet haben?«, überlegte Lilian und spießte ein Stück Lachs auf. Viktor hatte dazu eine Soße aus Tomaten, Chili und Knoblauch gezaubert, die wie immer zu einem Löffel zuviel verleitete.

»Da gibt es tausend Möglichkeiten. Lisa Kolb hat gepennt oder irgendjemand hatte keine Lust auf eine ausführliche Telefonnotiz und wusste am nächsten Tag nicht mehr, was da auf dem Zettel stand, oder ...«

»Lisa Kolb pennt nie. Es gibt keine Sekretärin in der ganzen Kripo, die so auf Zack ist wie sie.«

»Auf jeden Fall hat unser Zeuge vorhin angerufen und gesagt, es hätte wenig Sinn, jetzt, nach zwei Wochen, die Aussage noch zu Protokoll zu geben.«

»Der hat vielleicht Nerven!«, entrüstete sich Lilian. »Warum ist er nicht vor zwei Wochen gekommen?«

»Er hatte eine Lungenentzündung und musste bis vorgestern das Bett hüten.«

»Reicht seine Beschreibung für ein Phantombild?«

»Schätze nicht. Wird sogar mit einem Medienaufruf schwierig werden, aber wir müssen nehmen, was wir kriegen.«

»Hast du schon mit Karinkov geredet?«

»Wie denn? Der macht keine Aussage mehr ohne seinen Anwalt und Graf Koks ist natürlich übers Wochenende nicht zu erreichen. Kurzurlaub in London, nebst Gattin.« Ein seltsames Geräusch, fast ein Grunzen. »Warum hab ich nicht auf meine Alten gehört und mir einen anderen Beruf ausgesucht? Einen, wo man nicht nur malocht, während andere sich ’ne goldene Nase verdienen und durch Europa jetten.«

Lilian hatte kein Mitleid mit ihm. Auch sie wünschte sich einen Job, bei dem sie nicht noch vor der dritten Gabelladung Spaghetti gestört wurde.

»Also ein Aufruf in der Presse«, stimmte sie zu. »Das schafft ihr vielleicht noch für die Wochenendausgabe der MZ.«

Helmut murmelte etwas Unverständliches und legte auf. Lilian übte sich in positiven Gedanken und redete sich ein, es habe nach ›Trotzdem ’nen schönen Urlaub‹ geklungen.

»Gibt’s Ärger?«, fragte Viktor teilnahmsvoll.

»Nicht mehr als sonst.« Nachdenklich wickelte sie die Nudeln auf die Gabel. »Ich verstehe nicht, warum unser Verdächtiger nicht auspackt.«

Vorsichtig fasste Viktor nach. Lilian klärte ihn auf, wie immer unter dem Vorbehalt, dass er zu uneingeschränktem Stillschweigen verpflichtet war. Viktor nickte, schwieg, hörte zu, nickte wieder. Alles, was er von Lilian erfuhr, rangierte grundsätzlich auf der Ebene Top Secret. Da er als praktizierender Psychotherapeut ohnehin die intimsten und schrecklichsten Geheimnisse der Menschheit kennen lernte, konnte ihn nichts so leicht aus der Fassung bringen.

»Es gibt nicht viele Möglichkeiten«, folgerte er am Ende von Lilians Bericht. »Entweder kriegt dieser Karinkov Druck von seinem Kumpel und hält vorsichtshalber den Mund – wer will schon auf eine solche Weise enden wie dieser Antiquitätenhändler Haslinger? Oder Karinkov will sich nicht selbst belasten.«

»Oder er hat überhaupt nichts mit der Sache zu tun«, spann Lilian den Gedanken weiter. »Vielleicht hat er nur beobachtet, was in dem Laden passiert ist. Haslinger erwartete einen Lieferanten.«

»Vielleicht hatten sie einen Streit, Haslinger wollte nicht bezahlen, irgend so was.«

»Aber warum hält Karinkov dann den Mund?«, fragte Lilian mehr sich selbst als Viktor. »Der hat doch nichts zu verlieren!«

Unmissverständlich widmete sie sich ihrem Essen. Sie hatte keine Lust auf weiteres Fachgeplänkel und auch keine Lust auf Ermittlungen. Sie hatte Lust auf den nächsten Gang und einen geruhsamen Urlaub.

4

Der Morgen war erstaunlich lau nach der kühlen Nacht. Ein leichter Blütenduft vertrieb Lilians Müdigkeit, und die Luft wurde von Sekunde zu Sekunde durchsichtiger, weicher. Der erste Vorgeschmack auf Italien. Nicht einmal die tiefhängenden Wolken, die die Spitzen der Nadelhölzer über den saftigen Almwiesen säumten, beeinträchtigten ihre gute Laune. Trotz der Nackensteifheit fühlte sie sich wohl. Sie hatte noch nie entspannt im Auto schlafen können, irgendwo ziepte es immer. Aber egal. Endlich auf dem Weg in den Süden! Endlich allein mit David!

David saß neben ihr und steuerte den Wagen. Sie streckte sich und warf ihm einen Blick zu. Seine schwarzen Haare waren leider etwas kürzer geworden, sie reichten ihm nur noch bis zum Kinn. Dafür waren ihre blonden wieder länger, wie er schmunzelnd bemerkte, wenn sie sich beschwerte, seine Ausstrahlung habe unter der neuen Frisur gelitten. Aber sein markantes Profil und die dunklen Augen entschädigten sie, er kam ihrer Vorstellung eines Traummannes immer noch nahe genug.

»Gut geschlafen?«, fragte er lächelnd.

»Wunderbar«, flunkerte sie und rieb sich den Nacken. »Wenn ich dich ablösen soll, dann sag’s bitte.«

»Hinter dem Brenner.«

Zufrieden betrachtete Lilian die Landschaft. In der Ferne drängten sich weiße Tupfer im Grün, vermutlich Schafe. Ein Alpengipfel durchbrach gerade den Morgennebel und räkelte sich übermütig in der Morgensonne, deren Strahlen stellenweise den Dunst zerteilten. Nicht einmal von dem immer noch dichten Schneeteppich ließ er sich stören. Bald wäre der letzte Rest geschmolzen, auch in dieser Höhe.

Innsbruck West. Hier war nur 100 erlaubt. Gehorsam stieg David auf die Bremse. Einmal Gesetzesmann, immer Gesetzesmann. Wahrscheinlich konnte er nicht mal was dafür, er war eben Jurist.

Lilian drehte die Musik weiter auf und sang mit, so laut sie konnte, übertönte sogar die Stimmen der A capella-Band. David grinste. Immerhin ein Jurist mit Humor. Sie wusste eben doch, warum sie ihn liebte.

Sie kurbelte das Fenster ganz herunter und lies sich den Fahrtwind um die Nase blasen. Trotz der immer noch dichten Wolken war es unerwartet schwül. Der Morgen in Regensburg hatte wieder einmal kalt und grau begonnen. Meteorologe war ein beneidenswerter Beruf. Da konnte man so viel Blödsinn erzählen, wie man wollte, und brauchte nie die Konsequenzen fürchten. Immerhin war es in Lindau inzwischen warm geworden, wie Lilian gestern von einer aufgedrehten, geradezu atemlosen Miriam am Telefon erfahren hatte.

»Hast du Viktors Wegbeschreibung griffbereit?«, fragte David.

»Liegt in meiner Tasche.«

Das Landgut ihres Vaters befand sich im Norden der Alta Maremma, einem Naturschutzgebiet im Herzen der Toskana, nicht weit vom Meer entfernt. Laut Viktors Aussagen konnte man sich in den Bergen mit den nicht immer eindeutig beschilderten Sträßchen leicht verfahren.

»Ich denke, dass wir noch sieben, höchstens acht Stunden brauchen«, sagte David.

Lilian nickte, atmete tief ein und gleich wieder aus.

»Du hast also noch ein bisschen Zeit.«

»Was meinst du damit?«, fragte Lilian so unbekümmert wie möglich.

»Jeder, der mit seinem Vater im Streit auseinander gegangen ist und ihn zehn Jahre lang nicht gesehen hat, wäre aufgeregt.«

Sie schwieg und fasste nach seiner Hand. Er drückte sie zärtlich. Ein Audi mit Schweizer Kennzeichen scherte knapp vor ihnen ein, David legte die Hand wieder ans Steuer und betätigte die Lichthupe. Der Audi brauste davon.

»Übrigens hab ich was zum Reiten eingepackt«, sagte David, als sie den Brennerpass erreichten.

Sie hob die Augenbrauen. »Ich wusste gar nicht, dass du reitest.«

»Tu ich auch nicht. Aber Viktor hat mir so von diesen ausgeglichenen Maremma-Pferden vorgeschwärmt, die dein Vater züchtet, dass ich schon richtig gespannt bin.«

Wieder Stille.

Rechts tauchte der Brennersee auf, danach die alte Brennerstation, früher voll von pulsierendem Leben, seit vielen Jahren aber wie ausgestorben.

»Vielleicht hast du ja auch Lust zum Reiten?«, fasste er vorsichtig nach.

»Hm.«

»Warum hast du eigentlich aufgehört?«

»Hm.«

»Du hast nie darüber geredet.«

Das würde sie auch jetzt nicht tun. Sie schluckte den Kloß im Hals hinunter und schaute aus dem Fenster.

Mantua, Poebene, um diese Jahreszeit war noch Wasser im Flussbett. Wieder sah David das inzwischen vertraute Schild: lavori stradali. Sogar heute am Sonntag Straßenarbeiten. Zäher Verkehr, dann Stau, nichts ging mehr. Ohne Fahrtwind wurde es schnell heiß im Wagen. Die italienischen Autofahrer warteten geduldig, die meisten deutschen Urlauber hatten auch in den Ferien keine Zeit und wechselten hektisch die Spur. Trotzdem kamen sie nicht schneller vorwärts als die Anderen, irgendwann zuckelte ein jeder an der Baustelle vorbei. Warum bloß staute sich hier alles? Verlassene Bagger und niemand, der arbeitete. Danach ging es problemlos weiter. Nie würde David die Eigendynamik von Autobahnstaus verstehen.

Über die Reisfelder flogen Reiher, auf der Suche nach unvorsichtigen Fröschen. Verfallene Bauernhöfe zeigten sich zwischen den noch intakten, ein Großteil der Landbewohner floh auch hier in die Großstädte. Dann die Abzweigung nach Milano, immer weniger deutsche Autoschilder, dafür umso dichterer Verkehr. Bald kam Parma, die Autobahn wurde ruhiger, kletterte den Apennin hinauf. Eine sanft gewellte Berglandschaft mit eigenwilligem Charme, trotz der vielen Laubbäume karg, auch hier verlassene Bauernhäuser. Sogar das Wetter passte sich den landschaftlichen Gegebenheiten an, Wolken zogen auf und feine Regentropfen perlten über die Windschutzscheibe. Schwindelnd hohe Brücken, wieder Straßenarbeiten, dieses Mal ohne Staus, ein Tunnel nach dem anderen. Irgendwann neigte sich die Straße, die Landschaft wurde wieder lieblicher, der Himmel heller, an den Straßenrändern quollen die vollen weißen Blütentrauben der Akazien und Holunderbüsche förmlich über. Erste Häuser tauchten auf, mit hohen schmalen Fenstern, grünen Fensterläden und vier gleichseitigen rotschindeligen Dachgiebeln, die sich am höchsten Punkt trafen. Irgendwann zwischen La Spezia und Livorno ein erster Blick aufs Meer. Verheißungsvoll glitzerte es in der Ferne, ein wolkenloser Himmel spannte sich über den gleißenden Spiegel in silbernem Blau. Auf dem Mittelstreifen ein Oleander nach dem anderen, im Sommer wäre das Rot, Pink und tiefe Purpur überwältigend. Links in der Ferne zog der Marmorsteinbruch von Carrara vorbei. Sie waren schon mitten in der Toskana.

»Bald haben wir’s geschafft!« David fing zu summen an.

»Wie wär’s mit einer Pause?«, fragte Lilian unruhig.

»Schon wieder? Wir haben doch erst angehalten.«

»Ich brauche einen Cappuccino.«

»Wie viel verträgst du von dem Zeug?«, brummte er und hielt Ausschau nach dem nächsten Autogrill-Schild, das eine Raststätte ankündigte.

David bevorzugte Café au Lait mit fünfmal so viel Milch wie Kaffee und höchstens einem halben Teelöffel Zucker, aber nur zum Frühstück. Hauptsache, kein Herzklopfen und nicht zu viele unnötige Kalorien. Doch für Lilian war alles, was ohne cremigen Schaum und weder stark noch pappsüß war, kein richtiger Kaffee – egal zu welcher Tageszeit. Dann also wieder eine Pause. Ergeben setzte er den Blinker. Er würde eben eine Spremuta trinken, frisch gepressten Orangensaft, den man in jedem Autogrill bekam. Danach konnten sie sich die Füße vertreten und die Wärme genießen.

Und Lilian war glücklich über einen weiteren Aufschub.

5

Lieber Papa,