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Der neue Romantasy Roman von Annika Neuhaus - ein rasantes Fantasy-Abenteuer voller Magie, Drachen und prickelnder Gefühle! Auf einem von Elaras Streifzügen durch London bestiehlt sie eines Tages ausgerechnet Aiden, einen Eismagier der Magiergilde. Mit fatalen Folgen. Denn Aiden entdeckt dabei ein Geheimnis: in Elara wohnt ein Magiefunke. Etwas, das eigentlich nur bei Magiern vorkommt, die sich diesen Funken durch eine grausame Jagd erbeutet haben. Ein Verbrechen in Elaras Augen. Trotzdem soll sie zur Drachenjägerin ausgebildet werden. Und das ist nicht der einzige Grund, warum zwischen Elara und Aiden bald die Fetzen fliegen und Funken sprühen – geleitet von eisigem Hass, glühender Leidenschaft und ewiger Treue. Für Fans der beliebten Tropes: Strangers to Lovers Slow Burn Found Family Als hochwertige Hardcover-Sonderedition mit zusätzlichem Papierumschlag und passendem Farbschnitt in der ersten Auflage.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Drachenfunke
Annika Neuhaus
Annika Neuhaus Drachenfunke Social-Media: @annika.loves.books Content Notes: Gewalt gegen Tiere, Berichte über sexuelle Gewalt, Tod/Trauer – Verlust geliebter Personen, Suizidgedanken, Selbstverletzung 1. Auflage 2025 Copyright © Novel Arc Verlag, Fridolfing 2025 Novel Arc Verlag, Kirchenstraße 10, 83413 Fridolfing Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf im Ganzen, wie auch in Teilen, nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben, vervielfältigt, übersetzt, öffentlich zugänglich gemacht oder auf andere Weise in gedruckter oder elektronischer Form verbreitet werden. Bei Fragen der Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an: [email protected] Umschlaggestaltung: Guter Punkt GmbH & Co. KG Lektorat: Die Korrekturen Korrektorat: Tino Falke Buchsatz: Novel Arc Verlag Shutterstock Bildnachweis: Fernando Cortes, putra_purwanto, Andriy_A Gebundene Ausgabe: 978-3-910238-12-1 E-Book Ausgabe: 978-3-910238-75-6
Für all jene, die den Mut haben,
Funken in Flammen zu verwandeln
und für das Richtige zu kämpfen.
Elara
Mein Herz klopft schneller, als es sollte, und Aufregung schießt durch meine Glieder. Der Mann vor mir – seinem beschwingten Gang nach zu urteilen kaum älter als ich – trägt einen mit Silberfäden durchwirkten Schal und feine Lederhandschuhe. Eine dicke Ausbuchtung in der Seite seines Mantels lässt auf eine gut gefüllte Brieftasche schließen.
Ich ziehe meine Schultern hoch und schlinge meine ausgeblichene Jacke enger um mich. Die Londoner Winterkälte kriecht mir bis in die Knochen, greift mit eisigen Fingern nach mir. Scharfer Wind bläst von der Themse über den Battersea Park, und ich fröstele. Der Nieselregen benetzt meine Haare, lässt sie mir vom Kopf abstehen.
Kann ich es wagen, die Hand nach dem Mann auszustrecken? Schnellen Schrittes biegt er in die Macduff Road ein. Ohne nachzudenken, folge ich ihm. Ein geschicktes Anrempeln, eine hastige Entschuldigung und die Brieftasche gehört mir. Ich spanne meine Muskeln an. Obwohl kleinere Diebstähle seit Jahr und Tag zu meinem Leben gehören, bin ich seltsam nervös. Der Mann strahlt etwas aus. Etwas, dem ich nicht zu nahe kommen will. Unschlüssig mustere ich seinen schmalen Rücken. Trotz des schneidenden Windes scheint ihm warm genug zu sein, um seinen Mantel offen zu lassen. Ich verkneife mir ein Schnauben, als mein Blick auf seine Schuhe fällt. Eindeutig, dieser Kerl trägt mehr Geld am Körper, als ich je besessen habe.
All meinen Mut zusammennehmend, laufe ich an ihm vorbei. Nur nicht zögern oder nachdenken.
»He«, entfährt es ihm, als ich seine Schulter streife und er ins Straucheln gerät.
»Entschuldi…« Das Wort bleibt mir im Hals stecken. Seine Hand schnellt nach vorne und packt mich am Arm. Wie ein Schraubstock umklammern seine Finger den Stoff meiner Jacke. »Du bist eine Diebin«, stellt der Mann mit emotionsloser Stimme fest. Beinahe so, als wäre er kein bisschen sauer. Dennoch hält er mich fest. Ich zerre an meinem Arm, aber er lässt nicht locker.
»Bin ich nicht«, erwidere ich lahm, gebe meinen Widerstand für den Moment jedoch auf. Ich hebe den Kopf, und mein Blick verfängt sich in seinem. Mein Herz galoppiert in meiner Brust. Seine Augen sind so grau wie der Nebel im November und gleichzeitig so durchdringend und scharfkantig wie Eissplitter. Für einen Atemzug erstarre ich zur Salzsäule.
Der Mann greift mit seiner freien Hand nach meiner rechten, und ein Stromstoß durchfährt mich, als sein Ärmel hochrutscht und Haut auf Haut trifft. »Au!« Erschrocken reiße ich mich los.
»Du bist also auch eine«, murmelt der Mann.
»Eine was? Hey, Sie tun mir weh!«
»Eine Magierin und eine Diebin.«
»Hä?« Der Mann hat wohl nicht alle Schuppen am Leib. »Ich bin keine – he, geht’s noch?« Ungläubig starre ich auf die Nadel, die der Fremde in der Hand hält. Ein Tropfen Blut quillt aus meinem Finger. Scheiße, der Typ ist verrückt. »Lassen Sie mich los oder ich schreie!« Es ist das Erstbeste, mit dem mein gelähmtes Hirn auf die Schnelle aufwarten kann. Halb erwarte ich, dass er »Schrei doch« erwidert, denn immerhin wissen wir beide, dass ich die Diebin bin. Doch zu meiner Überraschung lässt er mich los und tritt einen Schritt zur Seite.
Ohne nachzudenken, renne ich los. Meine hastigen Schritte hallen von den Fassaden der Häuser wider. Meine Lunge brennt, als würde ich Eiskristalle einatmen. Dennoch laufe ich weiter. Immer weiter, bis ich mir sicher bin, dass der Kerl mir nicht folgt. Shit. Das war verdammt knapp. Ich stütze mich auf meinen Oberschenkeln ab und ringe nach Luft. Nur langsam lässt das Stechen nach. Schweiß läuft mir den Rücken hinunter, tränkt meine Klamotten. Verdammter Drachenmist. Mein Magen knurrt und erinnert mich an die Erfolglosigkeit meiner Diebestour. Nächstes Mal passe ich besser auf und vertraue meinem Bauchgefühl!
In normaler Geschwindigkeit biege ich zweimal rechts ab, werfe dabei jedoch immer wieder einen Blick über die Schulter. Niemand folgt mir. Ich schüttele den Kopf und wische meine Bedenken fort. Oder versuche es zumindest. Warum zum Teufel dieser komische Mann denkt, ich wäre eine Magierin, ist mir schleierhaft. Weder meine Eltern noch ich wollten je auch nur einen Drachenfunken besitzen. Im Gegenteil.
Vielleicht hat der Mann einfach Wahnvorstellungen, und ich war dumm genug, mich mit ihm anzulegen.
Mit aller Macht schiebe ich meine Gedanken in den hintersten Winkel meines Bewusstseins und konzentriere mich stattdessen auf meine Umgebung.
Baufällige Häuser stehen neben solchen, die nie fertiggestellt wurden. Putz bröckelt von den Fassaden, die meisten hätten einen Anstrich dringend nötig. Vor mir liegt der Kanal. Home sweet home. Bug an Bug ankern Boote auf dem breiten Fluss. Mit einem Aufseufzen lasse ich den festen Grund hinter mir und setze einen Fuß auf das Deck meines kleinen schwimmenden Zuhauses. »Ich bin zurück«, rufe ich munter, öffne die knarzende Tür und trete gebückt ein.
Amarion tapst mir entgegen. Als er mich erblickt, rollt er sich zu einem schuppigen Ball zusammen und schlägt eine Art Purzelbaum. »Ich hab dich auch vermisst.« Ich bücke mich und streiche ihm über die glatten Schuppen. Trotz der Dunkelheit wirkt mein Winddrache so durchscheinend wie immer. Das helle Blau seines Körpers spiegelt das schummrige Licht, das noch durch das kleine Bullauge fällt. Ich verziehe den Mund. Wer hat sich bitte den Scheiß mit dem Winter ausgedacht? Sonnenuntergang mitten am Nachmittag, nasskalte Tage und noch windigere Nächte. Zu Weihnachten habe ich auch schon seit Ewigkeiten nichts mehr geschenkt bekommen. Von mir aus kann man den ganzen kitschigen Mist sein lassen.
Amarion stupst mich mit der Schnauze am Knöchel an, breitet seine Flügel aus und flattert auf den altersschwachen Esstisch. Aus meiner Tasche hole ich eine tote Ratte hervor und halte sie am Schwanz vor seine Nase. Er schnappt nach ihr. Die Knochen knacken, während er das Tierchen zermalmt. Fordernd blickt er mich mit seinen babyblauen Augen an. »Tut mir leid, mehr hab ich heute nicht dabei.«
Müde wische ich mir über die Augen und lasse mich auf die zerschlissene Matratze auf der Bugseite nieder. Mein Drache kommt angetapst, rollt sich neben mir zusammen und sieht mich erwartungsvoll an. »Ich versteh dich. Ich hab auch Hunger«, sage ich, und wie auf ein Stichwort knurrt mein Magen. Fest presse ich die Hände darauf, als könnte ich so die Leere darin ersticken. Was jetzt? Ich könnte noch ein paar Stunden lang mein Glück versuchen, vielleicht fällt irgendwo etwas zu essen für mich ab? Das Gedränge des Borough Markets wäre die perfekte Tarnung.
Aber die bleierne Müdigkeit kriecht in all meine Glieder, füllt mich aus. Mir ist bereits jetzt eiskalt, und ich will mich dem grässlichen Regen auf gar keinen Fall erneut aussetzen. Zärtlich streiche ich über Amarions Schuppen. Sein kühler Leib hebt und senkt sich regelmäßig. Für einen Winddrachen ist er winzig. Gerade einmal so groß wie eine Hauskatze. Ich ziehe die fadenscheinige Wolldecke über mich und starre an die Decke. Kaum merklich schaukelt das Boot, und hin und wieder knarzt eine Planke. Mit geschlossenen Augen träume ich mich in den Regenwald. An einen Ort, an dem die Sonne immer scheint und es nie kalt wird. Heiße, schwüle Luft, die sich wie eine Umarmung anfühlt. Üppige Pflanzen, sämtliche Grünschattierungen und Blumen! Bunte Farbtupfer, die hier und da das Grün unterbrechen.
Ich seufze auf. Warum mussten meine Eltern ausgerechnet im nebligen London leben? Und wieso hat mir mein Arschloch von Vater nicht mehr Reichtum hinterlassen, bevor er verschwunden ist? Schließlich muss er mit dem Verkauf unserer anderen Winddrachen ziemlich viel verdient haben.
Müde blinzle ich und werfe einen liebevollen Blick auf das kleine Tier. Amarion niest im Schlaf und leckt sich mit seiner winzigen Zunge über die Schnauze. Nie im Leben würde ich ihn verkaufen, egal wie viel Geld er mir auf dem Magierschwarzmarkt einbringen würde. Dafür ist er viel zu –
Ein lautstarkes Klopfen reißt mich brutal aus meinen Gedanken.
»Aufmachen. Polizei«, fordert eine mürrische Stimme, und ich reiße die Augen auf. Hat mich etwa der Dreckskerl von vorhin verpfiffen? Oder bin ich jemand anderem auf den Schlips getreten?
»Machen Sie auf, wir wissen, dass Sie da sind!«
»Ich komme. Einen Moment.« Hastig schnappe ich Amarion, der zusammenzuckt und blinzelt. »Sei ganz leise, okay?«, flüstere ich ihm zu, und nicht zum ersten Mal bin ich dankbar, dass Drachen gemeinhin schlauer als Katzen oder Hunde sind. Auch diesmal scheint Amarion den Ernst der Lage zu erfassen. Bereitwillig lässt er sich in den Waschbeckenunterschrank stopfen. Ein weiches Handtuch und ein Kauspielzeug liegen dort für genau solche Fälle bereit.
Ein weiteres Klopfen, oder vielmehr Donnern. »Meine Güte, ich komme ja schon«, rufe ich gereizt und reiße die Tür auf. Völlig verdutzt blicke ich dem Kerl von heute Nachmittag ins Gesicht. Neben ihm steht ein etwas jüngerer Mann, dessen Augen purpurn leuchten. »Ihr seid gar nicht die Polizei«, stelle ich konsterniert fest. Diese Augen gehören eindeutig einem Magier. Elende Bastarde. »Und, welchen Drachen habt ihr auf dem Gewissen?« Provokant hebe ich beide Augenbrauen und starre sie herausfordernd an.
»Feuer«, sagt der Jüngere, während der mir Bekannte gleichzeitig »Geht dich nichts an« erwidert.
»Feuer also. Und du?« Ich mustere den Kerl mit den langen, fast schwarzen Haaren. Nach wie vor trägt er seinen mit Silber bestickten Schal.
»Erstens geht dich das überhaupt nichts an und zweitens: Tu nicht so. Du besitzt einen Drachenfunken. Behaupte also nicht, dass du besser wärst.«
»Ich besitze einen was?«
»Sagte ich doch bereits. Du bist Magierin. Deswegen sind Ilias und ich hier.«
Mit in die Hüften gestemmten Armen starre ich den Kerl an. »Du irrst dich. Ich bin keine Magierin und habe noch nie in meinem Leben einen Drachen getötet. Im Gegenteil, ich beschütze –«
Eine unwirsche Handbewegung seinerseits bringt mich zum Schweigen, und ich verschränke die Arme. Ganz toll, Elara. Bindest jedem Dahergelaufenen auf die Nase, dass du dich dem Schutz der Drachen verschrieben hast. Sie werden dich lieben.
»Lass die Faxen. Ich habe den Funken bei dir gespürt. Als Sicherheitsbeauftragter der Londoner Magiergilde ist es meine Aufgabe, zu überprüfen, ob du registriert bist. Zumal du mich beklauen wolltest.«
Ich verdrehe die Augen. Entschlossen mache ich einen Schritt nach hinten und knalle die Tür schwungvoll zu, bevor einer der Knallköpfe reagieren kann. Scheiße. Meine Hände zittern, als ich die große Reisetasche greife, mein Drachenlexikon hineinstopfe, den Unterschrank öffne, Amarion packe und meinen Geldbeutel in die Tasche werfe. Zugegeben, Letzteres hätte ich mir sparen können.
»Halt! Mach sofort die Tür auf«, brüllt der Kerl mit dieser Stimme, die mir eisige Schauer über den Rücken jagt. Doch ich denke gar nicht daran. Ich reiße das Fenster auf und quetsche mich hindurch. Nur wenige Zentimeter ist das Deck breit. Vor mir das tiefschwarze Wasser. Eisiger Wind zerrt an meinen dunklen Haaren und greift mit seinen kalten Fingern nach mir. Ich ignoriere den Regen in meinem Gesicht und springe auf das benachbarte Boot. Dort balanciere ich an der Kabine entlang und stoße mich ab. Unelegant lande ich auf einem weiteren. Die pechschwarze Nacht kommt mir bei meiner Flucht zwar gelegen, doch meine schweren Schritte sind in der nächtlichen Stille viel zu laut.
Hastig überwinde ich den letzten Abstand zum Ufer und renne los. Keine Sekunde später pralle ich gegen eine Wand und strauchle. Die Tasche gleitet mir aus den Händen und schlägt auf dem Kopfsteinpflaster auf. Hoffentlich haben die Kleider Amarions Sturz gedämpft! Eine Hand packt mich am Oberarm und zieht mich hoch. »Du schon wieder.« Diesmal schaffe ich es nicht einmal, ihn drohend anzusehen. Ich bin viel zu müde. Die Erschöpfung der letzten Tage sitzt mir noch tief in den Knochen. Der Hunger und die Kälte haben mir alle Lebensgeister geraubt. »Was wollt ihr von mir?«
Aiden
Reglos starre ich auf das besonders widerspenstige Exemplar einer Frau vor mir. Vielleicht doch nicht so schlecht, dass Kyrill mir Ilias als Verstärkung aufs Auge gedrückt hat. »Da du anscheinend nicht registriert bist, müssen wir dich mitnehmen.«
»Wohin mitnehmen?«, will sie wissen. Ihre Stimme ist nicht mehr ganz so kratzbürstig wie zuvor. Die Schultern zieht sie gegen die Kälte hoch. Ich atme tief ein. Der Duft des Winters hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf mich.
»Wir bringen dich zum Hauptquartier. Dort stellt unser Chef fest, ob du tatsächlich eine nicht registrierte Magierin bist, wie Aiden es felsenfest behauptet«, mischt sich Ilias ein. Obwohl seine Antwort mich gewissermaßen beleidigt, regt sich kaum etwas in mir. Nur das Eis um mein Herz zieht sich für einen Augenblick zusammen, und mir wird kalt. »Lasst uns gehen.« Ich greife nach ihrer Tasche, woraufhin sie mich anfaucht.
»Schon gut.« Mit erhobenen Händen nicke ich ihr zu. »Dann trag sie eben selbst. Aber lass dir gesagt sein, dass ich keinen weiteren Fluchtversuch zulasse.«
»Und lass dir gesagt sein, dass ich keine weiteren Unhöflichkeiten von dir dulde«, schießt sie zurück und hängt sich mit abgehackten Bewegungen die Tasche über die Schulter.
»Gut, dass du bereits dein ganzes Zeug dabeihast«, sage ich.
»Wahnsinnig schön. Ich wollte schon immer mal von zwei Drachenmördern entführt werden«, wirft sie mir an den Kopf. Ihre Bemerkung entlockt mir eine eigenartige Zufriedenheit. Auch wenn ich selbst nur wenig fühlen kann, ist es faszinierend, Gefühle bei anderen Menschen zu beobachten, und diese kleine Taschendiebin scheint genug Emotionen für uns beide zu haben.
Ilias läuft voran, hinter ihm die Diebin, und ich sichere als Schlusslicht die Umgebung. Zu dieser Zeit sitzen die meisten Londoner zu Hause, wenn sie sich nicht gerade in einem der Pubs betrinken. So kurz vor Weihnachten scheinen Honigwein und Ale noch größeren Anklang zu finden als sonst.
Dennoch bin ich froh, dass uns niemand sieht. Hin und wieder werfen Ilias’ Augen Fragen auf, und die können wir jetzt so gar nicht gebrauchen. Es wissen längst nicht alle Menschen, dass es Magie und Drachen auch außerhalb von Märchenbüchern gibt.
Keine fünf Minuten hält die Taschendiebin die Stille zwischen uns aus. »Wo gehen wir genau hin?«
»Zum Buckingham Palace«, erwidere ich. Scharf zieht sie die Luft ein, und die Muskeln in ihrem Rücken spannen sich an. Dass ihr nicht kalt ist mit diesem dünnen Mantel?
»Erzähl ihr doch nicht so einen Blödsinn.« Ilias dreht sich halb im Laufen um. »Natürlich bringen wir dich zu einem supergeheimen Versteck unterhalb der Themse.«
Diesmal schnaubt sie, und Ilias feixt. Sie schlingt ihre Jacke enger um sich und senkt den Kopf. Aus schmalen Augen mustere ich sie. »Wir residieren in der Nähe des London Tower. Ist nicht mehr weit.« Kaum merklich nickt sie, und ihre linke Hand spielt nervös mit dem Griff der Tasche.
»Wie habt ihr mich überhaupt gefunden?«
Ich verziehe den Mund. »Mit einem Blutzauber. War ganz einfach.«
»Aha.«
»Ein Tropfen Blut und etwas Silber und schon kann man ganz leicht eine Art Kompass herstellen.«
»Und warum habt ihr behauptet, Polizisten zu sein?«
Diesmal dreht sich Ilias wieder um. »Na, wenn du die falsche Person gewesen wärst, wären wir sonst in Erklärungsnot gekommen.«
Die Diebin nickt und rückt die Tasche auf ihrer Schulter zurecht. Hat sie wirklich gedacht, dass sie uns entwischen könnte? Dann ist diese Frau dümmer oder zumindest naiver, als ich gedacht hatte.
»Wie heißt du eigentlich?«, will Ilias wissen.
»Geht dich einen feuchten Dreck an.«
»Das ist dein Name? Wie grässlich.« Ilias gluckst, woraufhin die Diebin theatralisch aufseufzt.
»Elara.«
»Ilias. Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Das hier ist Aiden.«
Die kleine Diebin murmelt so was wie eine Zustimmung.
Eine schiere Ewigkeit laufen wir schweigend durch die Nacht. In der Ferne ragt das London Eye beleuchtet in die Höhe. Links von uns taucht die Tower Bridge auf. Da ist der Hauch einer Erinnerung in mir, wie mein Vater mir damals das eindrucksvolle Bauwerk zeigte. Es dauerte mehr als acht Jahre und brauchte über vierhundert Arbeiter, um die Brücke zu bauen. Gute Sachen benötigen viele Stunden Arbeit, hatte er mir erklärt. Obwohl ich damals nicht so richtig verstanden habe, was er mir damit sagen wollte, klammere ich mich an diesen Moment, diese letzte Erinnerung an ihn. Seit Kyrill den Eisfunken auf mich übertragen hat, verschwimmen meine Erinnerungen und versinken jeden Tag tiefer in der Schwärze. Aber es hat auch Vorteile, kaum etwas zu fühlen: Die meiste Zeit ist es mir egal.
Vor uns taucht das graue Gemäuer unseres Zuhauses auf. Finster ragt es in die Luft. Die Mauern bestehen aus mehreren Tonnen Sandstein und Putz, ein schmiedeeisernes Tor versperrt uns den Zutritt. Ilias holt einen großen Schlüssel aus der Tasche und öffnet klackend das Schloss. Elara legt den Kopf in den Nacken, mustert die Erker und die vergitterten Fenster. Keine Sekunde später schlagen die beiden Dobermänner an. Sie kommen aus der Dunkelheit auf uns zugeschossen, und Elara zuckt merklich zusammen. Sie packt ihre Tasche etwas fester. »Ernsthaft? Ihr habt Wachhunde? Ich dachte, ihr Magier haltet euch für unbesiegbar.«
Ich ignoriere ihren Einwurf. »Auf jetzt, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.« Ich lege ihr die Hand auf den Rücken und übe etwas Druck aus. Das Bellen der Hunde dröhnt in meinen Ohren. »Aus, Hades!« Streng blicke ich den größeren der beiden Hunde an.
»Hades? Wie passend.« Sie schüttelt abfällig den Kopf und schürzt die Lippen, woraufhin Ilias mit den Schultern zuckt. Er hebt die Hand und betätigt den silbernen Klopfer, der in Form eines Drachenkopfes an der Haustür hängt. Dumpf schallt das Klopfen durch die Nacht. Zeus schnüffelt an meinem Hosenbein und verteilt Sabber auf dem Tweed. Ich verziehe den Mund.
Mit einem Knarzen öffnet sich die Tür. Edmund steht im Rahmen und zieht beim Anblick der kleinen Diebin die Augenbrauen hoch. »Wer ist das?«
»Hat versucht, mein Portemonnaie zu stehlen. Dabei habe ich einen Funken abbekommen. Allerdings will sie uns nicht verraten, ob sie registriert ist, und behauptet felsenfest …«
»Ich bin nicht registriert, weil ich keine Magierin bin. Ich besitze keinen Funken!« Elaras Wangen leuchten rot.
»Siehst du«, brumme ich.
Edmund tritt beiseite. Sein schwarzer Umhang schleift dabei über den Boden. Keine Ahnung, warum er sich einen so lächerlich großen Mantel gekauft hat. Ja, wir sind Drachenjäger, aber wir müssen uns doch nicht als Krähen verkleiden.
Damit Elara keine Dummheiten macht, lege ich ihr eine Hand auf die Schulter. »Der Oberste erwartet uns.«
»Der Oberste?« Ihre Stimme trieft vor Skepsis. Mit zwei Fingern massiere ich meine Nasenwurzel. »Los jetzt.« Ich bugsiere sie den Gang entlang. An den Wänden verströmen kleine Lämpchen gelbes Licht.
»Was sollen diese ganzen Drachenstatuen?« Sie dreht den Kopf und mustert im Gehen die Nachbildung eines Erddrachens. Ein Jäger rammt dem Ungeheuer seinen Speer in den Rachen. »Das sind Erinnerungen an all unserer Triumphe.«
Elara erschauert. »Das bedeutet, jede Figur stellt einen Drachen dar, den ihr tatsächlich erlegt habt?«
»Da die Viecher zu Asche zerfallen, sobald sie ihren Lebensfunken ausgeatmet haben, behalten wir so den Überblick über alle erfolgreichen Jagden.«
»Mörder.« Sie zischt das Wort mehr, als dass sie es spricht, doch ihre Stimme klingt nicht mehr so selbstbewusst wie noch vor ein paar Stunden. Ich erinnere mich sehr gut, wie einschüchternd das Gebäude beim ersten Mal auf mich gewirkt hatte: die ebenholzfarbenen Dielen, die angesengten Balken, der metallische Geruch nach Blut und Magie. Ich muss etwa acht Jahre alt gewesen sein, als meine Eltern der Gilde beitraten.
Am Ende des Ganges bremst Elara vor einer massiven dunkelgrünen Tür ab. »Was jetzt?«
»Der Oberste wird prüfen, ob du einen Drachenfunken besitzt.« Dass die Prüfung nicht sehr schön werden wird, verschweige ich. Das wird sie sowieso gleich merken. Ich klopfe an die Tür, dreimal laut, zweimal leise, und warte, bis Kyrills Stimme erschallt. »Herein.«
Ich drücke die schwere Klinke nach unten und schiebe Elara vor mir ins Zimmer. Kyrill sitzt in seinem ledernen Sessel hinter dem ausladenden Schreibtisch. In einem Regal hinter ihm thronen die Statuen dreier Drachen, deren Funken er in sich aufgenommen hat und die ihn zum aktuell mächtigsten Magier Londons machen. Er erhebt sich und blickt uns durch seine Brille an. »Aiden.«
»Das ist die kleine Diebin.«
»Verstehe.« Geschmeidig setzt er einen Fuß vor den anderen und wendet sich an Elara. »Du hast dich also mit dem Falschen angelegt.«
»Das war so nicht geplant.«
Kyrill zieht einen Mundwinkel nach oben, was bei ihm als Lächeln durchgehen könnte. »Aiden erzählte mir, dass du eine nicht registrierte Magierin bist. Das ist eine schwere Anschuldigung.«
»Warum denken alle, dass ich eine verdammte Drachenmörderin wäre? Ich tue keinem Tier etwas zuleide und würde niemals einen Drachenfunken stehlen.« Ihre Augen funkeln, und sie richtet sich zu ihrer vollen Größe auf. »Und warum zum Henker reitet ihr ständig auf dieser bescheuerten Registrierung herum? Nicht registriert, nicht registriert, du meine Güte. Habt ihr sonst nichts zu tun in eurem Leben, als Lebewesen zu töten und Leute zu beschuldigen?«
Ihre feurige Rede imponiert einem winzigen Teil von mir, Kyrill scheint dagegen unberührt. »Setz dich auf den Stuhl.« Er deutet auf einen uralten Holzstuhl. Um die Erinnerungen zu unterdrücken, die dabei in mir aufkommen, verschränke ich die Arme.
Der Oberste wartet, bis sich Elara – nicht ohne zu murren – auf dem klapprigen Teil niederlässt. »Streck die Hand aus.«
»Erst wenn ihr mir erzählt, was zum Teufel hier vor sich geht.«
Kyrill holt tief Luft. »In jedem der fünf Elementdrachen wohnt ein Funke, der sie am Leben erhält. Überträgt man den Funken auf einen Menschen, erhält dieser eine magische Fähigkeit und wird damit zum Magier.«
»Ich bin nicht naiv, ich weiß, was eine Übertragung ist. Aber warum dieser Aufriss über Registrierung?«
»Ah. Nun, das ist einfach: Politik. Menschen mit einem Funken besitzen deutlich mehr Macht als Menschen ohne. Es muss also Kontrolle geben. Stell dir vor, jemand würde seine Gabe, die Zeit anzuhalten, nutzen, um eine Bank zu überfallen. Deshalb ist es wichtig, zu wissen, wer welchen Funken besitzt.« Kyrill schüttelt sich, als stellte er sich eine apokalyptische Welt vor, in der sämtliche Magier Verbrechen begehen. »Sobald ein Mensch einen Drachenfunken aufnimmt, muss er sich bei der nächstgelegenen Gilde registrieren. Tut er das nicht, ist das eine Straftat. Diese kann von unserem Gericht verfolgt werden.«
»Ich bin kein verdammter Schwerverbrecher. Wenn, dann seid ihr das, weil ihr die Drachen einfach abschlachtet, nur weil ihr nach ihren Funken giert.« Wütend funkelt Elara abwechselnd mich und Kyrill an.
»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.« Kyrill streckt seine Hand nach ihrer Wange aus, woraufhin sie zurückzuckt.
»Fass mich an, und es wird dir leidtun«, faucht sie.
Ohne sich um ihre Drohung zu scheren, streicht er mit seinen wulstigen Fingerspitzen über ihre Haut. Ein leises Zischen ertönt, als würde ein Wassertropfen auf eine heiße Herdplatte treffen. »Keine Magierin, behauptest du?« Er zieht die Augenbrauen hoch. »Aiden hat leider recht, du bist eine Diebin und eine Lügnerin.« Seine Stimme ist sanft, doch vor meinem Eisfunken hätte sie mir eine Gänsehaut beschert.
»Schert euch zum Teufel!« Elara springt auf, greift nach ihrer Tasche und rempelt Kyrill heftig an. »Niemand kann mich zwingen hierzubleiben.«
»Oh doch.« Kyrill hebt die Hände, und ich springe zur Seite. Ohne Vorwarnung erbebt der Boden. Die Dielen fühlen sich an, als wären gekochte Spaghetti über Wackelpudding drapiert worden. Prompt strauchelt Elara. Im gleichen Moment ist Kyrill bei ihr und hat sie auf dem Stuhl gefesselt. Blinzelnd verziehe ich das Gesicht. Ich hasse es, wenn Kyrill seinen Windfunken anwendet und die Zeit verbiegt.
Auch die kleine Diebin ist mehr als verdutzt. Mit großen Augen starrt sie abwechselnd auf ihre gefesselten Arme und Kyrill. »Wie … Was ist passiert?«
Der Oberste legt den Kopf leicht schief, schweigt sich aber aus. Auch ich halte den Mund. Mit Kyrill legt man sich lieber nicht an.
»Schön. Kann ich jetzt auf deine Zusammenarbeit vertrauen?« Mit festem Blick mustert er die Diebin. Ob die unterschiedlichen Farben seiner Augen sie wohl irritieren?
Obwohl ihre Kiefermuskeln deutlich hervortreten und sie die Augen verdreht, nickt sie schließlich. »Meine Güte, dann tut, was ihr nicht lassen könnt.« Sie sieht mich an, und der Zorn in ihren Augen spricht Bände.
Ich lehne mich gegen die Wand rechts von Kyrills Schreibtisch und falte die Hände. Mit schief gelegtem Kopf behalte ich sie im Blick, studiere die Regungen in ihrem gleichmäßigen Gesicht. Als Kyrill einen Schritt auf sie zugeht, vergrößern sich ihre Pupillen, und winzige Falten erscheinen auf ihrer Stirn. Sie hat Angst, auch wenn sie das hinter ihrer kratzbürstigen Art zu verstecken sucht.
Ohne sich um ihre Reaktion zu scheren, greift der Oberste in seine Hosentasche und zieht eine goldene Münze hervor. Glänzend hebt sie sich von seiner fahlen Haut ab. Die deutlich sichtbaren Schwielen an seinen Fingern zeugen von zahlreichen Feuerzaubern.
Elara
Skeptisch beobachte ich den älteren Mann, der sich vor mir aufbaut. Sein Oberkörper wirkt wie eine überzeichnete Popeye-Comicfigur, doch die an den Schläfen ergrauten Haare verleihen ihm etwas Ehrwürdiges. Wie eine Mischung aus George Clooney und Dwayne Johnson. Als ob das jetzt wichtig ist. Ich schüttle innerlich den Kopf. Anscheinend beschäftigt sich mein Gehirn lieber mit unmöglichen Vergleichen, als darüber nachzudenken, was nun mit mir geschehen wird. Der Clooney-Verschnitt hat immerhin den Boden in Wackelpudding verwandelt und nur ein Augenblinzeln später die fiesen angerauten Seile um meine Arme geschlungen.
»Hand auf.«
»Was wird das?« Mit dem Kopf deute ich auf die übergroße Münze in seiner Hand.
»Hand auf.« Seine Stimme zerschneidet mühelos die Stille im Raum.
Unbehaglich schaue ich auf seine Finger. Die Münze schimmert glühend rot, so als würde er sie im Feuer erhitzen. Ich schlucke, und mein Herzschlag beschleunigt sich.
Mit einem Schritt überbrückt der Magier die Distanz und packt grob meine Hand. Er biegt meine Finger auseinander und platziert die Münze in meiner Handfläche. Schmerz schießt durch meine Nervenbahnen, zerrt an mir. Ein Aufschrei löst sich aus meiner Kehle, und ich schüttle verzweifelt die Hand, bis die Münze mit einem Klimpern zu Boden fällt. »Du mieses Schwein!« Ungläubig starre ich auf die rote Stelle in meiner Hand, die Blasen wirft. Das Blut pocht in meinen Fingern. »Hackt’s bei dir?« Meine Stimme zittert vor Wut.
Der verdammte Arsch zuckt nicht einmal zusammen. Ich werfe einen Blick zu Aiden. In seinem Gesicht meine ich so etwas wie Bedauern auszumachen, doch bereits im nächsten Moment glätten sich seine Züge. Das war dann wohl reines Wunschdenken.
»Also Feuer ist es nicht, sonst hätte die Münze dich nicht verbrannt«, stellt der ältere Mann fest. Er tritt einen Schritt zurück, hebt die Münze auf und lässt sie zurück in seine Hosentasche gleiten.
Zorn kocht in mir hoch. Der miese Typ redet mit so neutraler Stimme über mich, als wäre ich ein Gegenstand. »Du hast mir verdammt noch mal die Hand verbrannt!«
»Das heilt wieder.«
»Das …?« Seine Unverfrorenheit lässt mich sprachlos zurück.
»Aiden, hast du eine Vermutung, um welches Element es sich bei ihr handeln könnte?« Keine Ahnung, ob der Anführer seinen Handlanger wirklich um Rat fragt oder ob ihm das Ganze einfach unglaublich viel Spaß bereitet.
»Eis ist es sicher nicht. Dafür reagiert sie zu emotional.« Mit seinen hellblauen Augen fixiert Aiden mein Gesicht. »Wasser?«
Ich atme tief ein. »Ich. Habe. Keinen. Drachenfunken. Lasst die Scheiße. Es tut mir leid, dass ich dich beklauen wollte, kommt nicht wieder vor. Bindet mich einfach los und wir vergessen das Ganze, okay?«
Der Anführer fährt sich mit seinen dicken Fingern durch das kurze Haar. Wie befürchtet, ignorieren beide meine Ansprache.
»Wasser, sagst du? Hol Edmund.«
Aiden nickt knapp und stößt sich von der Wand ab. Auch wenn der Kerl streng genommen für meine Entführung verantwortlich ist, jagt er mir seltsamerweise weniger Angst ein als der ältere Mann. Ich schlucke, als er den Raum verlässt und die Tür hinter ihm ins Schloss fällt. »Bitte, ich bin ein Niemand. Wirklich. Tagsüber gehe ich dem Tierarzt zur Hand, und nachts verdiene ich mir etwas dazu. Aber ich will niemandem etwas Böses.« Super, Elara. Jetzt verfallen wir also ins Betteln. Zumal sich die Sache mit dem Tierarzt schon vor einiger Zeit erübrigt hat.
Die braunen Augen meines Gegenübers fixieren mich. Seine Mundwinkel zucken, als wollte er lächeln. »Das ist gut. Wir wollen ebenfalls niemandem etwas Böses.«
Ja, na klar. Deswegen bildet sich auch keine Brandblase in meiner Handinnenfläche, die noch immer brennt wie blöd.
»Solange Aiden beschäftigt ist, probieren wir doch die Erde aus.« Er tritt auf mich zu und packt meine beiden Oberarme. Zischend hole ich Luft. »Du tust mir weh.«
Seine Finger graben sich noch tiefer in meine Muskeln, bis ich beinahe aufschreie. Der Kerl ist verrückt und gemeingefährlich. So viel steht fest.
Immer fester wird der Griff seiner Hände. Wie Schraubstöcke zerquetschen sie meine Sehnen und Fasern. Ein lautes Knacken ertönt, und ich schreie auf, zerre an meinen Fesseln. Ein unsichtbarer Druck breitet sich auf meiner Brust aus, nimmt mir die Luft. Mein Kopf summt. Schwarze Punkte flimmern vor meinen Augen. Stück für Stück sacke ich in mich zusammen, als würde ein ganzer Fels auf mir lasten. Ein Stöhnen ertönt, hallt von den Wänden wider, und es dauert eine Sekunde, bis ich verstehe, dass das animalische Geräusch von mir kommt.
Die Tür geht auf, und mit größter Mühe hebe ich den Blick. Aiden und der Türsteher betreten den Raum.
»Kyrill?« Aiden klingt genervt oder einfach nur gelangweilt, doch für mich ist es das schönste Geräusch aller Zeiten. Als hätte Aiden das Zauberwort ausgesprochen, lockert sich beinahe augenblicklich der Griff um meine Arme, und der Druck auf meiner Brust lässt nach.
Ich schnappe nach Luft. Jede Zelle meines Körpers ist erschöpft, und mein Kopf wirkt viel zu schwer für meinen Hals.
Erst jetzt bemerke ich, dass mir Tränen übers Gesicht laufen.
Aiden verdreht die Augen. »Ich hatte doch gesagt, dass sie bestimmt Wasser besitzt.«
Popeye streicht sich über die Clooney-Frisur, die kein bisschen verrutscht ist. Nur eine Schweißperle auf seiner Stirn zeigt, dass ihn der Zauber ebenfalls erschöpft haben muss. »Nun, bevor wir eine Überraschung erleben, wollte ich lieber auf Nummer sicher gehen. Edmund.« Er macht eine einladende Geste in meine Richtung. »Teste das Wasser.«
Keine Ahnung, was auf mich zukommt, aber mein Körper schaltet in Panikmodus. Meine Zähne klappern, und Angst peitscht durch mich hindurch. »Lass deine Finger von mir!«, brülle ich den Türsteher-Kerl an, dessen Augen unnatürlich türkis wirken. Ungelenk zerre ich an den Fesseln, scheuere meine Haut auf. Nicht einmal meinen Drachen kann ich zu Hilfe rufen. Sollten die verdammten Arschgeigen ihn in die Finger bekommen, hätte sein letztes Stündlein geschlagen.
Der Kerl legt mir seine schmalen Finger auf die Brust, ohne sich um mein Zappeln zu scheren. Augenblicklich füllt sich meine Lunge mit Wasser. Ich huste. Meine Augen tränen. Keuchend spucke ich aus, ringe um Atem. Ohne Vorwarnung verschwindet der Magier vor mir. Obwohl ich seine Hand noch immer auf mir spüren kann, wird der Türsteher unsichtbar. Ein Moment später flackert seine Silhouette wie ein kaputter Monitor, dann steht er wieder vor mir. Das Wasser in meiner Lunge verschwindet. Das Gefühl, beinahe ertrunken zu sein, jagt mir dennoch einen Schauer über den Rücken. Ich wusste aus Erzählungen von meinen Eltern, dass es Magie gibt, aber noch nie bin ich mit so viel Macht konfrontiert worden.
Der Kerl mit den Türkisaugen tritt zurück und verschränkt die Hände. »Wasser ist es ebenfalls nicht.«
Aiden stöhnt auf, als wäre das seine letzte Hoffnung gewesen. Dann kommt er jedoch, ohne zu zögern, auf mich zu und hebt die Hand. Einen Herzschlag lang sieht er mich an, als warte er auf meine Zustimmung.
Ich wende den Blick ab. Bin zu keinem ordentlichen Gedanken mehr fähig. Kein Wasser. Kein Feuer. Keine Erde. Fast zärtlich streifen warme Finger meine Schläfen. Ich wimmere. Will nicht noch eine weitere Tortur über mich ergehen lassen. »Bitte«, wispere ich. »Lass mich.« Meine Atmung beschleunigt sich. Schon wieder bekomme ich keine Luft. Meine Finger zittern. Mein Innerstes fühlt sich wund an. Zorn, Wut, Hilflosigkeit, Ekel und Scham treiben mir Tränen in die Augen, bis –
Kühle breitet sich in mir aus. Nicht unangenehm. Sie fängt meine Gefühle ein, dämpft sie. Als würde mich jemand in eine überdimensionale Zuckerwatte verwandeln. Alles dringt nur noch wie aus weiter Ferne zu mir. Die Kälte fließt von seinen Fingern aus in mich, wird stärker, erreicht mein Innerstes und friert es ein. Scharfe Eiskristalle bohren sich in meine Brust. Ein Schrei löst sich von meinen Lippen. Keine Sekunde später zieht sich die Kälte zurück und gibt meine Gefühle wieder frei.
Vorsichtig streicht Aiden eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. »Interessant …« Er wendet sich zu Kyrill. »… denn Eis ist es ebenfalls nicht.«
Der Anführer hält inne, dann schüttelt er den Kopf. »Nein. Das kann nicht sein. Ich kenne keinen anderen Windmagier neben mir.«
Der Türsteher und Aiden murmeln etwas Zustimmendes.
»Wenn sie einen Windfunken beherrschen würde, hätten wir sie auch nie fangen können.« Clooney starrt mich an, als wäre ich ein besonders seltenes Zootier. »Aber gut, es kann nichts anderes sein.« Er tritt erneut auf mich zu, und diesmal spucke ich ihm vor die Füße. »Du mieses Arschloch. Gib zu, du hast Spaß daran, mich zu foltern. Ich hab euch von Anfang an gesagt, dass ich keinen Funken besitze.«
Eine Ader beginnt auf seiner Stirn zu pulsieren, und sein Gesicht läuft rot an. »Wage es nie wieder.« Obwohl er nicht laut wird, oder vielleicht gerade deswegen, stellen sich die Härchen auf meinen Armen auf. »Wag es nie wieder, mich anzufassen.«
Natürlich ignoriert er meine Warnung und greift nach meinem Kinn. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie Aiden und Edmund erstarren. Und zwar nicht zur Salzsäule, sondern richtig. Als hätte jemand Statuen aus ihnen gemacht. Der Clooney-Verschnitt blinzelt. Ich lege so viel Wut in meine Miene, wie ich kann. Mit aller Macht wünsche ich ihm die Drachenpest an den Hals. Es nutzt nichts. Weder fällt der Kerl tot um, noch lässt er mich los.
Die beiden anderen Magier erwachen wieder zum Leben, nur um eine Sekunde später zu erstarren.
»Was ist mit ihnen?«
»Der Windfunke macht es mir möglich, die Zeit anzuhalten. Und weil der Zauber dir nichts ausmacht, bedeutet das, dass du ebenfalls einen besitzt.«
»Was zur Hölle?«
Der Magier lässt mein Kinn los und tritt beiseite. »Du hast recht, Aiden, sie ist eine Windmagierin.«
Ein schmales Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, das seine Augen jedoch nicht erreicht. Der Türsteher, dessen dunkler Mantel ihn wie eine gut gekleidete Vogelscheuche aussehen lässt, strahlt mich an. »Wow. Das ist ja fantastisch!«
»Fantastisch wäre es, ihr würdet mich endlich losbinden«, knurre ich, weil mir die Bewegungsunfähigkeit auf den Keks geht, aber auch weil ich nicht darüber nachdenken will, was das nun heißt. Ich besitze einen Funken? Das kann nicht sein. Meine Familie hat sich dem Schutz der Drachen verschrieben. Niemals hätte einer von uns einem Tier seinen Funken gestohlen.
»Natürlich. Entschuldige den rauen Empfang. Aiden?« Clooney nickt in meine Richtung, und Aiden zückt einen Dolch.
Ich reiße die Augen auf. Ohne sich um das Wimmern zu scheren, das ich nicht zurückhalten kann und das mir Hitze in die Wangen treibt, kniet er sich nieder und durchtrennt die Seile um meine Arme und Knöchel.
»Gib mir deine Hand.« Bittend sieht er von unten zu mir auf.
»Vergiss es«, zische ich und drücke meine Rechte vorsichtshalber an meinen Körper.
Aiden holt tief Luft. »Ich tu dir nichts. Versprochen.« Wartend sieht er mich so lange an, bis ich ihm zögerlich meine Finger in die Hand lege.
Aus dem Nichts materialisiert sich ein runder Eiswürfel dort, wo meine Haut Blasen wirft. Sofort lässt das Pochen nach. »Ähm, danke«, sage ich und verdrehe innerlich die Augen. Warum zum Teufel sollte ich dankbar dafür sein, dass er den Schmerz lindert, den ich ohne ihn gar nicht erlitten hätte?
»Gern geschehen.« Aiden steht auf und gibt mein Sichtfeld auf Popeye frei. »Was nun?«
»Sie ist eine von uns. Eine Windmagierin kann ich zudem durchaus gebrauchen.« Er legt die Finger aneinander.
»Geht’s noch?« Ich springe vom Stuhl auf und schnappe mir meine Tasche. »Ganz sicher bleibe ich nicht bei euch Spinnern!«
»Das wäre ungünstig.« Er verzieht das Gesicht, bis es so etwas wie Bedauern ausdrückt. »Dann müssten wir dich dem Gericht melden, um deinen Funken entfernen zu lassen. Jeder Magier muss mit der zuständigen örtlichen Gilde kooperieren. Schließlich obliegt es der jeweiligen Gilde, zu kontrollieren, dass kein Magier etwas Illegales mit seinem Funken anstellt. Solltest du dich also weigern, werden wir das melden, und das Gericht kann als Sicherheitsmaßnahme beschließen, deinen Funken zu entziehen.«
Ich lege den Kopf in den Nacken und stöhne. »Ich habe keinen verdammten Drachen getötet. Mir kann also kein Funke entzogen werden.«
»Erzähl das dem Gericht. Immerhin hast du gerade eindrucksvoll bewiesen, dass du eine Windmagierin bist.« Abwartend sieht er mich an. »Wenn du Pech hast, hat sich der Funke so in dir eingenistet, dass dein Lebensfunke ebenfalls herausgezogen werden würde.«
»Herausgezogen?«
»Das bedeutet, du stirbst«, klärt mich Aiden auf. Er fährt sich durch die langen Haare, die ihm bis über die Schultern fallen.
»Ich habe also die Wahl, euch beizutreten oder womöglich zu sterben?«
Der Clooney-Verschnitt lächelt und nickt. »Du hast es erfasst.«
»Schön.« Ich verschränke die Arme und starre alle drei wütend an. »Dann mach ich eben bei eurer Scheiße mit, aber nur, wenn ihr euch entschuldigt.« Und bei der erstbesten Gelegenheit werde ich mich verdünnisieren.
»Wieso sollten wir uns entschuldigen?« Der Türsteher runzelt die Stirn.
»Vielleicht, weil ihr mich gefoltert habt?«, helfe ich seinem Gedächtnis auf die Sprünge.
Der Anführer behält sein mildes Lächeln. »Sieh es als Feuertaufe an. Wir mussten testen, ob du wirklich einen Funken besitzt. Diese Tests sind nie schön.«
Wütend schnaube ich, doch die drei ignorieren es.
Elara
»Aiden, zeig unserem Gast ihr Zimmer.« Der Clooney-Verschnitt zieht ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischt sich mit einer schnellen Bewegung über die Stirn. Meine Feuertaufe scheint Spuren hinterlassen zu haben.
Aiden nickt ihm zu und dreht sich zu mir. »Soll ich dir diesmal deine Tasche abnehmen?«
»Nein«, fauche ich und schultere die fadenscheinige Reisetasche. Nicht auszudenken, er würde einen neugierigen Blick hineinwerfen und mein kleines Geheimnis sehen!
Ohne sich zu vergewissern, ob ich ihm wirklich folge, verlässt Aiden den Raum. Aber ich kann sowieso im Moment nirgendwo anders hin. Genauso gut kann ich mir das sogenannte Hauptquartier einmal zeigen lassen. Wenn ich demnächst abhauen will, schadet es nicht, sich auszukennen.
Wir folgen einem langen gewundenen Gang, dessen Wände mit schwarzem Holz vertäfelt sind. Intarsien ranken sich wie Efeu auf meiner Augenhöhe entlang. »Aleister Crowley. John Dee«, lese ich und widerstehe dem Impuls, mit meinem Zeigefinger die eingeritzten Namen zu berühren. »Wer ist das?«
»John Dee war Mathematiker, Astronom und Geograf. Er hat die Drachenfunken wissenschaftlich erforscht. Obwohl er wichtige Schriften verfasste und unser Wissen vorantrieb, war er als Schwarzmagier verschrien und starb im 17. Jahrhundert einsam.«
»Na super.« Ich verziehe den Mund. Die Leute damals haben die Drachenmagier also bereits als üble Bagage entlarvt, und jetzt soll ich zu ihnen gehören? Leise seufze ich.
»Aleister Crowley ist eine weitere Größe gewesen. Er war Schriftsteller, Okkultist und Bergsteiger. Er beschäftigte sich viel mit Sexualmagie.«
»Sexualmagie? Na, dann hat er sicher nicht nur Berge bestiegen«, murmle ich.
Aiden entfährt ein Laut, den man glatt mit einem Lachen verwechseln könnte. »Crowley vertrat die Ansicht, dass bei sexuellen Handlungen Energie freigesetzt wird. Je mehr man dabei seine Hemmungen abbaut, desto stärker.«
»Hemmungen?«
»Ja. Damals war ganz besonders die Masturbation verpönt sowie andere autoerotische Spielereien. Aber auch alles, was wir heute als BDSM kennen.«
»Mhm. Wie jeder weiß, erreicht man allein oder gefesselt die stärksten Höhepunkte«, sage ich trocken. Wie sind wir in dieses abstruse Gespräch gekommen? Irgendwo müssen wir falsch abgebogen sein. Eindringlich mustere ich den schlanken Kerl neben mir. Es fühlt sich surreal an, mit einem Drachentöter, der mich streng genommen entführt hat, über Masturbation zu sprechen.
Ohne Vorwarnung setzt sich der Magier wieder in Bewegung, und ich beeile mich, mit ihm Schritt zu halten. »Oh. Ist das eure Bibliothek?« Neugierig spähe ich in das Zimmer hinein, das vom Gang abzweigt. Wobei Zimmer das falsche Wort ist. Vielmehr scheint es sich um eine Halle zu handeln. An den Wänden reihen sich Regale voller Bücher aneinander, von denen die meisten in dunkles Leder gebunden zu sein scheinen. Einige der Buchrücken glänzen, als hätte sie jemand frisch geputzt, andere wiederum sind staubig. Ein Kristallleuchter verbreitet warmes Licht. Ein Geruch nach altem Pergament und Weihrauch liegt in der Luft.
»Genau. Das hier ist unsere streng geheime Bibliothek, in der wir Mörder nach verbotenem Wissen für die Drachenjagd und dunklen, uralten Zaubersprüchen suchen.«
»Haha.«
»Was war das?« Aiden dreht sich abrupt zu mir um und mustert mich mit seinen nebelgrauen Augen. Irgendwie passen sie zu dem rabenschwarzen Haar.
»Nichts. Ich zische manchmal. Ist ’ne blöde Angewohnheit von mir«, behaupte ich. Ich plustere die Backen auf und lasse die Luft wieder entweichen. Im Stillen bete ich, dass Amarion nicht noch einmal faucht, bevor ich in meinem Zimmer angekommen bin. Das ich mir hoffentlich mit niemandem teilen muss. Sonst ist mein Winddrache geliefert und ich wahrscheinlich gleich mit.
Der Magier blinzelt verblüfft, und ich drehe den Oberkörper unauffällig, sodass die Reisetasche außerhalb seines Blickfeldes verschwindet. Zu meiner grenzenlosen Erleichterung fragt er nicht weiter nach und macht eine unwirsche Bewegung mit der Hand. »Also gut, komm jetzt, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.« Wie aufs Stichwort gähne ich ungeniert und folge ihm, vorbei an weiteren geheimnisvoll anmutenden Türen. Aiden gibt mir nur spärliche Erklärungen, und so muss ich die wenigen Informationen mit meiner Fantasie ergänzen.
»Wofür braucht ihr so viele Zimmer?«, frage ich etwas atemlos, weil wir gerade eine schier endlose Treppe erklimmen. An vielen Treppenabschnitten gehen Gänge mit weiteren Türen ab. Die Wände scheinen allesamt mit Mahagoni oder Eiche getäfelt, sämtliche Fenster sind mit schweren weinroten Samtvorhängen versehen.
»Wir befinden uns im Hauptquartier. Hier werden Drachenmagier ausgebildet, beherbergt und die komplette Gilde repräsentiert. Dafür braucht man nun einmal Übungsräume, Schlafzimmer und formelle Esszimmer.«
»Es gibt also auch ein informelles Esszimmer?« Meine Güte, wie reich sind diese Leute bitte? »Wohnen alle Mitglieder der Gilde hier?«
Aiden schüttelt den Kopf. »Hier halten sich hauptsächlich diejenigen auf, die noch in Ausbildung sind oder nicht wissen, wo sie sonst hinsollen. Unsere Gilde umfasst aber auch sogenannte Anwärter. Menschen, die gerne einen Funken besäßen, aber noch keinen haben. «
»Schön zu hören, dass es weitere Menschen gibt, die Drachen für ihre Funken abschlachten wollen«, murmle ich wütend. »Und wie viele Gilden gibt es so?«
»In diesem Land drei. Eine in Edinburgh, eine in Dublin und uns«, gibt er bereitwillig Auskunft.
Diese Informationen muss ich erst mal verdauen. Zwar haben mich meine Eltern immer wieder vor sogenannten Magiervereinigungen gewarnt, aber dass es Gilden gibt und davon gleich mehrere, wusste ich bislang nicht.
Schnaufend erklimme ich weitere Stufen. Vor uns ist ein bodentiefes Fenster eingelassen und ermöglicht mir einen Blick in die Winterlandschaft. Eine feine Puderschicht bedeckt mittlerweile die Straßen. Ich reiße die Augen auf und bleibe stehen. Schnee! Das gibt es in London wirklich selten. Zugegeben, von einem warmen Platz aus wirkt der Winter wie eine besondere Zeit. Wenn nur die Kälte nicht wäre. Jetzt gerade reflektiert der Schnee das schummrige Mondlicht, erleuchtet die Gassen und taucht alles in einen weißen, wohligen Mantel des Vergessens. Egal wie dreckig die Pflastersteine sind und wie funzlig die Straßenlampen brennen, die hellen Flocken verstecken alle Makel und vervielfältigen das Licht.
»Schön, nicht?«
Erschrocken trete ich einen Schritt zur Seite, weil Aiden plötzlich gefährlich nahe neben mir steht. So nahe, dass ich den Hauch seines Duftes wahrnehme. Er riecht überraschend frisch dafür, dass er so einen biederen Strickpulli in gedecktem Grün trägt. Ich hätte erwartet, dass er nach zu viel Aftershave duften würde. Stattdessen erinnert er mich an den Geruch von Eiszapfen und Schneeblumen.
Weil mich diese Erkenntnis irgendwie überfordert, räuspere ich mich und straffe dann die Schultern. »Ja, der Schnee ist schön. Ich liebe Winterlandschaften, zumindest wenn ich im Warmen bin. Aber ich liebe es ebenfalls, meine Ruhe zu haben. Wenn du mir also endlich mein Zimmer zeigen könntest? In diesem vermaledeiten Wohnsitz kann man ja eine Wandertour starten.«
»Du bist stehen geblieben«, erinnert er mich, setzt sich aber wieder in Bewegung. Inzwischen spähe ich weder in Zimmer hinein, noch bewundere ich das kunstvoll geschnitzte Treppengeländer. So langsam will ich einfach nur in mein Bett.
»In diesem Gang liegen die Schlafzimmer für die Mitglieder der Gilde.«
Mein Blick folgt der auslandenden Geste, die der nach Eis riechende Kerl macht. Ähnlich wie in einem Hotel gehen rechts und links mehrere schlichte Türen ab. Bei der dritten drückt Aiden die Klinke. »Bitte sehr. Bis dein Aufenthaltsstatus geklärt ist, handelt es sich hierbei um dein neues Heim.«
»Ich dachte, es wäre alles geklärt. Ihr seid felsenfest davon überzeugt, dass ich etwas auf dem Kasten habe, und wenn ich nicht bei eurer doofen Drachengilde mitmache, liefert ihr mich ans Gericht, und die werden mich umbringen.«
Ein freudloses Lächeln breitet sich auf seinen Lippen aus. »So ungefähr. Du vergisst dabei, dass du erst mal lebend durch das Training kommen musst.«
»Ah, noch besser. Die Chancen stehen also so oder so gut, dass ich draufgehe?«
Er wiegt den Kopf hin und her. »Nicht, solange ich dich ausbilde.«
Gerade so verkneife ich mir ein Stöhnen. Mister Nebelauge will mir also zeigen, wie sie Drachen töten. Einsame Spitze. Das kann er jedoch vergessen. Vorher nehme ich Reißaus. »Kannst du mich jetzt bitte alleine lassen? Ich will die letzte Nacht, in der ich noch keinen Drachen auf dem Gewissen habe oder andere Leute foltern muss, genießen.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtet er mich geringschätzig. »Die ersten Wochen lasse ich dich nicht mal in die Nähe eines Drachen. Das sind gefährliche Tiere.«
Ich setze eine erschrockene Miene auf und nicke ernst. »Stimmt. Hab ja total vergessen, dass ihr nur auf meine Sicherheit bedacht seid.« Wenn der wüsste, dass ich bereits seit einigen Stunden einen Winddrachen mit mir herumschleppe … Einen Drachen, der immer ungeduldiger wird. »Also danke und tschüss.«
Beherzt trete ich in den Raum und greife nach der Tür, um sie vehement vor seiner etwas krumm geratenen Nase zuzuschlagen. Doch zu früh gefreut. Reflexartig schiebt er seinen braunen Lederschuh in den Rahmen. »Was?«, schreie ich beinahe und bin kurz davor, mir die Haare zu raufen. Meine Tasche zappelt spürbar, und ich kann nur hoffen, dass Aiden das Zischen überhört, das daraus hervordringt.
»Du hast doch bestimmt Hunger.«
»Hab ich nicht.« Mein Magen knurrt. »Na gut, hab ich vielleicht.«
»Ich hole dich in einer halben Stunde ab. Es sollte noch etwas Pie übrig sein.«
»Ach toll. Das lohnt sich ja kulinarisch richtig, zu eurer Truppe zu gehören.«
»Sagt die Person, die offensichtlich arm genug zum Stehlen ist.« Ungerührt zieht er seinen Fuß aus dem Türrahmen.
Gut so. Vielleicht hätte ich mich sonst an Körperverletzung versucht. »Wer sagt, dass ich nicht einfach ein gelangweiltes Mädchen auf der Suche nach einem Kick bin?«
»Die Flicken in deinem Pullover und der Riss in deiner durchgescheuerten Hose«, erwidert er, ohne eine Miene zu verziehen.
Ich verschränke die Arme vor meiner Brust und funkle ihn an. Weil er recht hat. Neben ihm komme ich mir schäbig vor. Seine Schuhe sehen maßgefertigt aus, und die dünnen Lederhandschuhe, die er immer noch trägt, haben bestimmt so viel wie meine gesamte Garderobe gekostet. Warum trägt er die auch im Haus?
Ohne ein weiteres Wort schlage ich die Tür zu. Er kann mich mal. Die Flicken in meinem Pullover zeugen einfach davon, dass ich viel erlebe und wenig Wert auf Äußerlichkeiten lege. Das hat rein gar nichts … ach scheiße, wem mache ich hier denn was vor? Ich lasse mich an der Wand herunterrutschen und greife nach dem Reißverschluss der Tasche. Ich bin arm wie eine verdammte Kirchenmaus. Ein winziger Teil in mir ist sogar froh, hier zu sein. Einfach nur, weil es scheint, als würde ich ein warmes Plätzchen und Essen umsonst bekommen. Zumindest vorerst.
Ein Quäken ertönt aus meiner Reisetasche, und keine Sekunde später folgen eine niedliche runde Schnauze und zwei Kulleraugen. Gelenk klettert das Reptil aus der Tasche und auf meinen Schoß. Zärtlich streichle ich über die kühlen Schuppen, die sich beinahe wie eine Sommerbrise anfühlen. Er schmiegt sich an mich und legt den Kopf auf meine Schulter, als wäre er eine Katze.
»Pff, von wegen gefährlich«, murmle ich. Wo bekomme ich sein Futter in nächster Zeit her? Schließlich kann ich Aiden und diesen ätzenden Anführer schlecht um ein paar Ratten bitten. Vielleicht schaffe ich es, in der Küche ein paar Eier zu ergattern. Und mit etwas Glück gibt es hier Kakerlaken, um die sich Amarion kümmern kann.
Gedankenverloren drücke ich meinen schlauen Drachen an meine Brust. »Du hast gut stillgehalten«, sage ich lobend. Amarion prustet zufrieden in mein Ohr und bringt mich zum Kichern. Mit ihm im Arm mustere ich mein neues Heim. Der Raum ist länglich und misst sicherlich mehrere Meter in der Tiefe. Ein schmales Bett mit einer flauschigen Daunendecke steht an der rechten Wand. Daneben ein Tisch mit einem Stuhl und einer Lampe darauf. Hinter den zugezogenen Vorhängen verbirgt sich sicherlich ein Fenster. Eine weinrote Bordüre schlängelt sich auf Augenhöhe an der Wand entlang. Von der hohen, mit Gipsplatten gedeckten und verzierten Decke baumelt ein kleiner Kronleuchter.
»Also dann.« Ich setze Amarion vorsichtig neben mir ab, greife nach der Tasche und platziere sie auf dem Tisch. Nacheinander lege ich meine Klamotten, ein abgegriffenes Taschenbuch, mein Notizbuch und ein Foto meiner Mutter auf das Bett. Kurz streiche ich mit den Fingerspitzen darüber. Hätte sie mir Amarion nicht vor ihrem Tod vermacht, besäße ich keinerlei Erinnerungsstück an sie. Ich werfe einen liebevollen Blick auf das Tier.
Dann sortiere ich meine wenigen Habseligkeiten in das schmale Regal daneben. Weil ich keine Ahnung habe, wo das Bad ist, bleiben Zahnbürste und Kamm vorerst auf dem Tisch. Zu guter Letzt beule ich die leere Tasche aus und polstere sie mit dem platt gelegenen Lammfell. Ohne zu zögern, tapst mein Drache herbei und rollt sich in dem provisorischen Körbchen ein. Seine großen Augen starren mich fragend an. Er wartet unverkennbar auf sein Abendessen. »Bald, Amarion, okay? Sobald ich etwas für dich auftreiben kann, bringe ich es vorbei. Versprochen.«
Ein Klopfen an der Tür lässt mich aufschrecken. Hastig stürze ich darauf zu, ehe sich derjenige Zutritt zu meinem Zimmer verschaffen kann. Einen Spaltbreit öffne ich sie und strecke den Kopf hindurch.
»Bereit für ein spätes Abendessen?« Aiden steht wie bestellt und nicht abgeholt im Gang.
»Klar.« Ich schlüpfe durch die Tür und ziehe sie hinter mir zu. »Du hast vorhin vergessen, mir den Schlüssel zu geben.«
»Falsch.«
»Wie falsch?«
»Ich hab es nicht vergessen. Ich habe ihn dir mit Absicht nicht gegeben. Zimmer werden bei uns nicht abgeschlossen.«
Ich runzele die Stirn. »Und warum nicht?«
Aiden seufzt. »Erstens ergibt das keinen Sinn. Die Hälfte von uns kann entweder ein Erdbeben oder ein Feuer auslösen und sich ganz einfach Zutritt verschaffen oder gleich durch Wände gehen. Zweitens …«
»Es gibt Magier, die durch Wände gehen können?«
Aiden nickt. »Ilias kennst du bereits. Aber auch Isadora und Genevieve und ein paar andere können das.«
Großes Kino. »Und wer garantiert mir, dass niemand in meinem Zimmer rumschnüffelt?«
»Niemand. Das wollte ich gerade sagen.« Er lächelt freudlos. »Zweitens will Kyrill jederzeit wissen, was passiert, und im Zweifel besucht er einzelne Zimmer.«
Innerlich stöhne ich. Scheiße. Ich kann nur hoffen, dass niemand neugierig wird und Amarion findet. »Schön für Kyrill«, sage ich nur und folge Aiden, ohne weiter nachzubohren. Das würde ihn sonst sicherlich erst recht misstrauisch machen. In den nächsten Tagen muss ich mir aber dringend was einfallen lassen.
Eine gefühlte Ewigkeit stapfe ich dem schmalen Kerl hinterher, der mich um einige Zentimeter überragt. Dieses Anwesen ist wirklich verdammt groß. Keine Ahnung, wie ich mich hier jemals zurechtfinden soll. Aber vielleicht muss ich das gar nicht. Schließlich bleibe ich hier nur, bis ich meinen Feind gut genug kenne, um nicht noch mal aufgespürt zu werden.
Dann endlich biegen wir in einen Raum ab, den ich unschwer als Küche identifiziere. Der Geruch nach gebackenem Fett und geschmolzenem Käse lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. In einer gusseisernen Pfanne brutzeln ein paar Eier munter vor sich hin. Der Herd wirkt, ebenso wie alles andere, überdimensioniert. Wahrscheinlich würde mein komplettes Hausboot in diesen Raum hier passen.
»Hey, du musst die Neue sein. Ich bin Isadora.« Eine Frau mit einem wilden braunen Dutt lächelt mich freundlich an. Ihre Iriden schimmern rubinrot. Hatte Aiden die Frau nicht gerade erwähnt?
Kapitel 1 – Diebesgut und Blutzauber
Kapitel 2 – Windfunken und Nieselregen
Kapitel 3 – Feuertaufe und Eiskristalle
Kapitel 4 – Freundschaft und Shepherd’s Pie
Kapitel 5 – Eiweißmangel und Kindheitserinnerungen
Kapitel 6 – Glacéhandschuhe und Gegenmittel
Kapitel 7 – Federbett und Judo
Kapitel 8 – Schwerpunkt und Fußfeger
Kapitel 9 – Porridge und Parcours
Kapitel 10 – Spinnweben und Atemübungen
Kapitel 11 – Herzenswärme und Uhrenraum
Kapitel 12 – Übelkeit und Knusperhäuschenhexe
Kapitel 13 – Rückendeckung und Winter Wonderland
Kapitel 14 – Hotdog und Freefall-Tower
Kapitel 15 – Glückskeks und Gehirnwäsche
Kapitel 16 – Drachenhatz und St. Dunstan
Kapitel 17 – Feuerwand und Espenlaub
Kapitel 18 – Vertrauen und Nebelzungen
Kapitel 19 – Dark und Stormy
Kapitel 20 – Maulkorb und Teufelspakt
Kapitel 21 – Hausdrache und Tapetenwechsel
Kapitel 22 – Shepherd’s Hut und Kaminfeuer
Kapitel 23 – Wetteranomalie und Schneesturm
Kapitel 24 – Filterkaffee und Schreckensstäbe
Kapitel 25 – Magie und Minusgrade
Kapitel 26 – Drachenkäfig und Doppelbett
Kapitel 27 – Gänsehaut und Eisblumen
Kapitel 28 – Superkraft und Ouija
Kapitel 29 – Geheimnisse und Erinnerungen
Kapitel 30 – Ehrfurcht und Abscheu
Kapitel 31 – Schwarztee und Jungfrau
Kapitel 32 – Sorgen und Dosenbier
Kapitel 33 – Unterschriften und Revolution
Kapitel 34 – Aufstand und Lebensversicherung
Kapitel 35 – Dunkelheit und Monster
Kapitel 36 – Geheimnis und Wahrheit
Kapitel 37 – Mondscheinauge und Masken
Kapitel 38 – Vergangenheit und Schmerz
Kapitel 39 – Lichterfäden und Racheengel
Kapitel 40 – Konsequenzen und Mörder
Kapitel 41 – Oberhaupt und Misstrauen
Epilog – Zwei Jahre später
Danksagung
Cover
