Drachenseele (Band 2) - Anja Bärike - E-Book

Drachenseele (Band 2) E-Book

Anja Bärike

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Beschreibung

Als Saiwala und ihre Gefährten endlich das zweite Ziel ihrer abenteuerlichen Reise erreicht haben, währt die Freude darüber nur kurz. Ihre Verfolger tauchen knapp hinter ihnen auf und machen damit klar: Sie kennen den Rätselspruch der Drachen und wissen genau, wo sie ihre Beute abpassen können. Während Saiwala sich ihrer größten Angst stellen muss, begreift sie allmählich, welche Opfer das Schicksal von ihr tatsächlich fordert. Nicht nur, dass ihre Familie mittlerweile an den Ort gebracht wurde, an dem König Talon die Träger von Drachenseelen in ihr Verderben jagt – auch unter ihren Freunden säht sich Zwietracht. Zudem rückt ihre Verwandlung mit jedem Tag näher und noch ist nicht klar, ob sie tatsächlich würdig ist, das Geheimnis der Goldschwingen zu lüften.

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Seitenzahl: 545

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Landkarte

Prolog

Kapitel 1 - Saiwala

Kapitel 2 - Gadeltha

Kapitel 3 - Saiwala

Kapitel 4 - Saiwala

Kapitel 5 - Saiwala

Kapitel 6 - Gadeltha

Kapitel 7 - Saiwala

Kapitel 8 - Gadeltha

Kapitel 9 - Saiwala

Kapitel 10 - Gadeltha

Kapitel 11 - Saiwala

Kapitel 12 - Gadeltha

Kapitel 13 - Saiwala

Kapitel 14 - Saiwala

Kapitel 15 - Gadeltha

Kapitel 16 - Saiwala

Kapitel 17 - Saiwala

Kapitel 18 - Gadeltha

Kapitel 19 - Saiwala

Kapitel 20 - Saiwala

Kapitel 21 - Saiwala

Kapitel 22 - Saiwala

Kapitel 23 - Gadeltha

Kapitel 24 - Saiwala

Kapitel 25 - Saiwala

Kapitel 26 - Gadeltha

Kapitel 27 - Saiwala

Kapitel 28 - Saiwala

Kapitel 29 - Gadeltha

Kapitel 30 - Saiwala

Kapitel 31 - Saiwala

Kapitel 32 - Saiwala

Kapitel 33 - Gadeltha

Kapitel 34 - Saiwala

Kapitel 35 - Gadeltha

Kapitel 36 - Saiwala

Kapitel 37 - Gadeltha

Kapitel 38 - Saiwala

Kapitel 39 - Saiwala

Kapitel 40 - Saiwala

Kapitel 41 - Saiwala

Kapitel 42 - Gadeltha

Kapitel 43 - Saiwala

Kapitel 44 - Saiwala

Kapitel 45 - Saiwala

Epilog

Dank

Glossar

 

Anja Bärike

 

 

Drachenseele

Band 2: Das Geheimnis der Goldschwingen

 

 

Fantasy

 

 

Drachenseele (Band 2): Das Geheimnis der Goldschwingen

Als Saiwala und ihre Gefährten endlich das zweite Ziel ihrer abenteuerlichen Reise erreicht haben, währt die Freude darüber nur kurz. Ihre Verfolger tauchen knapp hinter ihnen auf und machen damit klar: Sie kennen den Rätselspruch der Drachen und wissen genau, wo sie ihre Beute abpassen können. Während Saiwala sich ihrer größten Angst stellen muss, begreift sie allmählich, welche Opfer das Schicksal von ihr tatsächlich fordert. Nicht nur, dass ihre Familie mittlerweile an den Ort gebracht wurde, an dem König Talon die Träger von Drachenseelen in ihr Verderben jagt – auch unter ihren Freunden säht sich Zwietracht. Zudem rückt ihre Verwandlung mit jedem Tag näher und noch ist nicht klar, ob sie tatsächlich würdig ist, das Geheimnis der Goldschwingen zu lüften.

 

 

 

 

Die Autorin

1986 bei Leipzig geboren und aufgewachsen arbeitet Anja Bärike derzeit als Software-Entwicklerin. In ihrer Freizeit ist sie leiden-schaftliche Cosplayerin, die in zwei Kostümvereinen Geld für den guten Zweck sammelt. Dem Schreiben verfiel sie schon in der Grundschule nach einem Kurzgeschichtenwettbewerb für die Schülerzeitung. Mit der ›Herr der Ringe‹-Verfilmung ent-deckte sie schließlich ihre Leidenschaft für das Genre Fantasy und begann ihren ersten Roman zu schreiben sowie Kurzge-schichten in Anthologien zu veröffentlichen. Sie liebt es, die kreativen Geschichten zu Papier zu bringen und so mit anderen teilen zu können. Außerdem verbringt sie sehr gerne Zeit auf Buchmessen, egal ob im Cosplay oder zivil.

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, Oktober 2025

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2025

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Lektorat: Lektorat Laaksonen | Stefan Wilhelms

Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-371-4

ISBN (epub): 978-3-03896-372-1

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Dieses Buch ist meinen Eltern gewidmet,

die mich immer auf all meinen Wegen

unterstützt und ermutigt haben.

Meine Mutti verschlingt jedes meiner Bücher

und ich glaube, niemand macht mehr Werbung

und verkauft mehr meiner Bücher eigenhändig wie mein Vati.

Ich liebe euch von ganzem Herzen.

Danke, dass es euch gibt.

 

Prolog

 

Seine Lunge brannte von der eisigen Kälte, sein Atem hinterließ kleine Wolken in der Luft, während er durch die anbrechende Nacht hetzte.

Tränen rannen dem Jungen über die Wangen. Er schluchzte, hielt sich die Brust, auf die eine Last drückte, die ihn zu ersticken drohte.

Seine Füße versanken bis zu den Knien im Schnee, seine Hose war längst durchnässt, doch er nahm es kaum wahr. Nur ein einziger Gedanke hallte in seinem Kopf wider. »Sie ist tot. Er ist fort. Ich werde sie nie wiedersehen.«

Kahle Sträucher zerrten an seinen Ärmeln, er stolperte über vom Schnee verborgene Wurzeln. Ein kleiner Vogel stob erschrocken davon. Doch er sah ihm nicht hinterher, rannte weiter, immer tiefer in den Wald hinein.

Seine linke Seite stach, aber er ignorierte den Schmerz. Viel zu nah war er seiner Heimat noch.

Fort, er musste fort von hier. So weit, wie es ging. Nur wohin sollte er gehen? Was würde aus seinem Vater werden?

Erneut schluchzte er.

Sie war tot.

Seine Finger waren eiskalt, er spürte sie kaum noch, obwohl sie sich in den Saum seines Umhanges krallten.

Er war fort.

Der Wind pfiff durch seine Haare, brannte auf seinen Wangen.

Er würde sie nie wiedersehen.

Plötzlich sank er ein. Der Schnee hatte sich in einer Senke aufgetürmt und brachte ihn zu Fall.

Zitternd lag er da, von kahlen Bäumen umringt, hatte nicht die Kraft, sich zu erheben.

Sie war tot.

Schnee fiel unaufhörlich auf ihn nieder, bedeckte den bebenden Körper.

Er war fort.

Die Nacht legte ihr düsteres Tuch über die Welt.

Er würde sie nie wiedersehen.

Ein Rascheln ging durch die Zweige des Baumes. Goldene Augen musterten den Jungen. Grüne Schuppen verschmolzen mit den Schatten.

»Du musst aufstehen«, ermahnte ihn eine ruhige Stimme in seinem Kopf.

Er blinzelte, starrte in die durchdringenden Iriden über sich und schniefte. »Wozu?«

Der kleine Drache huschte zum nächsten Zweig, kam ihm näher. »Dein Schicksal ist noch nicht geschrieben.«

Zitternd stemmte der Junge die Arme in den Boden, schaffte es, sich auf die Knie aufzusetzen. »Ich sehe keinen Weg, ihm zu entrinnen.« Er ließ den Kopf hängen, doch der Drache blieb unbeirrt.

Flink wie der Wind hüpfte er auf die Schneewehe, um dem Jungen in die Augen sehen zu können. »Dann werde ich ihn dir zeigen.«

Erschrocken schnappte der Junge nach Luft, als sich ein Bild in seinen Geist drängte. Es war ein Drachenmal, das auf dem Rücken eines Trägers prangte, den er nicht zu erkennen vermochte.

Viele der Linien strahlten ihm in hellem Gold entgegen und er vernahm noch einmal die Stimme des Baumhüters. »Wenn dir dieses Bild das nächste Mal begegnet, ist es Zeit, dein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.«

 

Kapitel 1 - Saiwala

 

Drei lange Tage waren Saiwala und ihre Gefährten nun schon auf der Ebene von Lendiaskliffe gen Süden unterwegs. Die unermüdlichen Laufvögel trugen sie sicher über Dünen und durch hohes Gras. In stetigem Takt gruben sich ihre kräftigen Hinterläufe in den sandigen Boden, während ihre halb ausgebreiteten Flügel ihnen Stabilität verliehen.

Vom Handelsweg hatten sie sich möglichst ferngehalten. Zu groß war die Gefahr, dass jemand eines der Gesuche in Hohklif gesehen hatte und sie erkannte. Lediglich in der Morgen- und Abenddämmerung wagten sie, zu ihm zurückzukehren, da es nur entlang der Wege die Brunnen mit dem überlebensnotwendigen Wasser auf der sonst trockenen Steppe gab.

Die Wirtshäuser und Herbergen, die sich in regelmäßigen Abständen an der viel befahrenen Handelsstraße befanden, mieden sie gänzlich.

Auch wenn Saiwala mittlerweile einiges für ein weiches Bett oder gar einen heißen Zuber geben würde.

An tagelanges Wandern hatte sich ihr Körper bereits gewöhnt. Doch das Reiten war eine andere Tortur. Ihre Beine brannten und sie hatte Schürfwunden an den Unterschenkeln, wo ihre Unterkleider endeten und sie am Sattel rieben.

Einmal mehr sehnte sie sich Hosen herbei, die ihr auf der Flucht besser gedient hätten als ihr mittlerweile ziemlich verdrecktes Kleid.

Sie hatte die Überreste der Salbe aus dem Bergdorf benutzt, um die Wunden zu behandeln, und die Heilkräfte ihrer Drachenseele tat ihr Übriges, damit es wenigstens nicht von Tag zu Tag schlimmer wurde.

Doch solange sie jeden Morgen wieder auf den Sprintläufer stieg, würde es auch nicht abheilen.

Noch mehr als ihre körperlichen Schmerzen erdrückten ihre Gedanken Saiwala. Unfähig, sich über den Wind hinweg mit ihren Gefährten Agja oder Woi zu unterhalten, drehten sie sich stets um die gleichen Fragen.

Wie ging es ihrer Familie nach Wochen der Gefangenschaft? Hatte sie die Kraft, dem Spruch des Rätselsprechers bis zum Ende zu folgen? Würden Agja oder sie es tatsächlich schaffen, sich in eine Goldschwinge zu verwandeln und König Talon und seine Pechbringer aufzuhalten? Oder würde sein Sohn Jiukan sie vorher schnappen und zu ihm bringen, damit er aus ihr einen der schwarz geschuppten Pechbringer erschaffen konnte? Hatte Jiukan es durch die Barriere der Geister in die Wasserburg geschafft? Wusste er, wohin sie unterwegs waren?

Ein ums andere Mal gingen ihr auch jene Zeilen durch den Kopf, die der Rätselsprecher ihnen mitgegeben hatte.

Den Blick aufs Meer gerichtet,

die Seele lebt schon lang.

Sie nimmt und sie verzichtet,

bei Hohklif dies erklang.

 

Die Seele lebt umgeben,

von Steinen dunkelrot.

Mit Eukoraruts Segen,

so einsam ohne Not.

 

Vom Unglück sie berichtet,

von Garis Untergang.

Viel Seelen hier vernichtet,

wo Leben wurde Zwang.

 

Im Turm des Wissens liegt sie,

bewacht vom Aufgebot,

die Schrift der Drachenmagie,

wähl Aufstieg in der Not.

 

Immerhin hatten sie das erste Rätsel bereits gelöst. In Hohklif waren sie auf Waga getroffen, die ihnen erklärt hatte, dass jede ihrer Taten und die Intention dahinter darüber entschied, in welchen Drachen sie sich letztlich verwandeln würden. Nur durch selbstloses Handeln würde eine Goldschwinge entstehen. Eine Zwickmühle, über die sich Saiwala stetig mehr den Kopf zerbrach. Wie konnte eine Tat selbstlos sein, wenn sie doch genau das beabsichtigte und benötigte, um die wichtigen goldenen Sprenkel in ihrem Drachenmal zu formen?

Die bleierne Müdigkeit, die mittlerweile auch Woi und Agja aufs Gemüt schlug, half ihr auch nicht, klarer zu denken.

Ohne den Spürsinn von Saiwalas geliebten Hunden, die sie bei Hohklif gegen den dritten Sprintläufer hatte eintauschen müssen, mussten sie Nachtwachen einteilen. Und im Gegensatz zum breiten Rücken der Stachelechse gab es auf den schlanken Laufvögeln keine Möglichkeit, den fehlenden Schlaf nachzuholen.

Selbst in den wenigen Stunden, die Saiwala ihre Augen schließen konnte, fand sie kaum Ruhe. Sie vermisste Wamm und Ausoa so sehr, dass es beinahe körperlich schmerzte. Jeden Abend rollte sie sich zusammen und konnte die Tränen nicht zurückhalten, weil sich kein warmes Fellknäuel mehr an sie kuschelte und ihr Sicherheit schenkte. Natürlich wären sie ohne dieses Opfer nie so weit gekommen, doch das machte in der Einsamkeit der Nacht keinen Unterschied.

Ihr einziger Lichtblick in den vergangenen Tagen war Gadeltha gewesen. Sie wurde endlich in Ruhe gelassen. Weshalb ihre Widersacher die Quälereien, die sie in der letzten Woche jede Nacht heimgesucht hatten, aufgegeben hatten, wusste sie nicht. Doch sie war dankbar dafür. Vor allem, weil es ihrer Cousine seither gut zu gehen schien. Über den Drachenschuppenring spürte sie zwar die stetig vorhandenen Sorgen und Ängste, aber keine akuten Gefahren oder Schmerzen.

Wois Sprintläufer krächzte und Saiwala sah auf. Im Westen ging die Sonne hinter den Ausläufern des Zentralgebirges glühend unter, lange Schatten zogen über die Ebene. Das letzte Tageslicht wurde glitzernd von den Wellen des Ozeans reflektiert, der sich zu ihrer Linken unendlich weit erstreckte.

Den Brunnen an der Straße hatten sie heute Abend schon passiert und suchten nun in gebührendem Abstand zum Handelsweg nach einem Platz für die Nacht. Das war nicht einfach, da es nur wenige Verstecke in den Dünen oder unter trockenen Sträuchern gab.

Auch dieses Mal trieb Woi seinen Laufvogel wieder an, nachdem er ihn neben einem Busch verlangsamt hatte. Hätte sie es nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte sie dem schlaksigen jungen Mann nicht zugetraut, so gut mit diesen kräftigen Tieren umgehen zu können. Der bunt geschuppte Kinderstreich hockte auf Wois Schulter, halb verborgen in den vom Wind zerwühlten hellblonden Haaren, und hielt die Nase in die Luft, als der Sprintläufer an Geschwindigkeit gewann.

Saiwala hasste diesen Wechsel zwischen dem langsamen Schreiten und dem schnellen Lauf. Auch nach drei Tagen wurde sie jedes Mal so heftig auf dem Rücken des Tieres hin und her geworfen, dass sie sich mit der linken Hand um den Sattelknauf krampfte, um nicht hinunterzufallen. Ob sie es noch erlernen würde, bevor sie alle vier Ziele, die der Rätselsprecher ihnen genannt hatte, erreichten?

Das Gefühl, verfolgt zu werden, war seitdem sie das Gesuch mit ihrem und Agjas Abbild gesehen hatte, stärker denn je. Jede Begegnung mit einem Fremden konnte das Ende ihrer Reise und damit das Todesurteil für ihre Familie bedeuten.

Morgen würden sie endlich am roten Berg Eukorarut ankommen, den sie bereits seit dem Mittag am Horizont ausmachen konnten.

Wieder gab Wois Laufvogel einen lauten Ton von sich, als dieser ihn zügelte. Diesmal blieb er gänzlich stehen und winkte sie heran. »Hier gibt es eine Senke, die sollte genug Schutz bieten.«

Agja und Saiwala brachten ihre Tiere neben ihm zum Stehen. Die sandige Kuhle war tief genug, dass man auch die Sprintläufer nicht aus der Ferne erspähen könnte, wenn diese sich zum Schlafen hinlegten und die Köpfe unter ihr helles Gefieder schoben.

Agja fuhr sich durch die langen schwarzen Haare und stieg mit einer geschmeidigen Bewegung ab. »Ja, besser wird es wohl nicht mehr.« Dem Soldaten schienen die langen Strecken und der wenige Schlaf nicht so viel auszumachen wie ihr. Trotzdem erkannte sie die Anspannung in dem Blick, den er über die Ebene schweifen ließ.

Saiwala schlüpfte stöhnend aus den Steigbügeln und streckte ihre schmerzenden Knie, ehe sie sich vorbeugte, das rechte Bein langsam über den Rücken des Tieres schob und sich zu Boden gleiten ließ. Jeder Muskel schmerzte beim Aufprall auf dem eigentlich weichen Untergrund, und einen Moment kämpfte sie darum, nicht zu stürzen.

Sanft strich sie über die beigen Federn ihres Sprintläufers. »Entschuldige meine Ungeschicklichkeit, Kleine.«

Der Vogel klapperte mit dem großen Schnabel, als hätte er sie verstanden, und Saiwala löste lächelnd den Gurt des Sattels.

Woi trat zu ihr, übernahm die Zügel und führte das Tier zu seinem, das bereits an einem kargen Busch angebunden war.

Auch Agja hatte seinen grau gefiederten Sprintläufer festgemacht und holte nun große Fleischbrocken aus dem Rucksack, die Woi für die Verpflegung der Tiere aus Hohklif mitgebracht hatte. Der ehemalige Soldat warf sie den Laufvögeln zu, die sie geschickt fingen und gierig verschlangen.

Saiwala breitete in der Zeit ihre Decken aus und holte den Proviant hervor. Es war ein Ablauf, der sich in den letzten Tagen gut eingespielt hatte.

Missmutig verzog sie das Gesicht beim Anblick der kläglichen Verpflegung.

Agja brummte, als er sich auf der Decke niederließ und nach der schmalen Brotscheibe griff. »Ein wenig großzügiger hätte dein Einkauf ruhig ausfallen können«, beschwerte er sich an Woi gewandt.

Dieser schnappte sich einen Apfel und zuckte mit den Schultern. »Dann wäre nicht genug Münzen für die Sprintläufer übrig gewesen.«

Agja schnaubte, seine braunen Augen fixierten den schlaksigen Mann neben sich herausfordernd. »Ach komm, gekauft hast du die beiden von den Talern, die ich dir mitgegeben habe, niemals. Wie bist du an sie rangekommen? Nun rück schon raus damit.«

Saiwala spülte ein kleines Stück Pökelfleisch mit reichlich Wasser herunter und lauschte aufmerksam. Sie hatten auf den Rücken der Laufvögel keine Möglichkeit, sich zu unterhalten, und die letzten Tage waren so zermürbend gewesen, dass abends niemand mehr groß Lust gehabt hatte, lange zu reden, ehe sie sich schlafen legten. Selbst Faro, der bunt geschuppte Kinderstreich, der die langen Ritte oft verborgen im Gefieder von Wois Sprintläufer verbrachte, hatte sie mit seinen Witzen meist verschont.

Einen Moment druckste der Übersetzer herum, kämpfte innerlich damit, wohlwissend, wie skeptisch Agja und sie den Wetten, denen er nur allzu gerne nachging, gegenüberstanden. Doch der Drang, mit seinem Sieg zu prahlen, gewann letztlich die Oberhand. »Schon gut, ich habe sie gewonnen.«

Agja lachte kurz auf und hakte zwischen zwei Bissen nach. »Wusste ich es doch. Und wie?«

Nun trumpfte Woi mit seiner Geschichte auf. Sein mittlerweile so vertrautes Grinsen zog sich von einem Ohr zum anderen und er richtete sich stolz auf. »Das war wirklich ein Kunststück, das sag ich euch. Also, ich bin in die Stadt gekommen und direkt auf den Markt. Neben dem Einkaufen ist das ohnehin der Ort, an dem man alle Neuigkeiten und jedes Gerücht erfahren kann. Man muss nur wissen, welche Quellen verlässlich sind.« Er biss noch ein kleines Stück von seinem Apfel ab und hielt ihn dann dem bunt geschuppten Drachen hin, der zufrieden daran knabberte.

Saiwala konnte in Wois wachen grauen Augen lesen, wie er den Moment genoss, den sie darauf warteten, dass er weitersprach.

»Jedenfalls habe ich dort die ersten Gesuche von euch gesehen. Die Händler hatten sie alle an ihren Ständen, doch niemand schien wirklich glücklich darüber. Immer wenn ich sie darauf ansprach, fingen sie an zu wettern, wie es nur Marktweiber können. Was sich der Regent von Hallus erlaube, sich hier einzumischen. Wie er wohl den Rat bestochen habe, um so etwas durchzusetzen. Seit wann wir gemeinsame Sache mit Kriegstreibern machen … Sie wollten mit ihnen zum Glück nichts zu tun haben.«

Saiwala atmete erleichtert durch. Wenigstens war nicht gleich die ganze Bevölkerung dieses Landes hinter ihnen her, auch wenn es sicherlich genug zwielichtige Gestalten gab, die ihnen gefährlich werden konnten.

»Jedenfalls hatte ich gerade die ersten Portionen Proviant gekauft, als ein Obstbauer meine Münzen begutachtete und mir zuflüsterte, dass ich diese anderswo besser einsetzen könne. Wie es der Zufall wollte, fand in den Gassen der Unterstadt ein kleines … sagen wir mal unangemeldetes Rennen von Sprintläufern statt.«

Er zwinkerte ihnen zu und Faro kicherte.

Agja schüttelte seufzend den Kopf. »Und du bist natürlich dorthin.«

Woi zuckte mit seinen hageren Schultern. »Ansehen kann ja nicht schaden, dachte ich mir. Und zumindest das Nötigste hatte ich ja schon besorgt.«

Nun brummte sogar Saiwala. Es war wirklich nur das Allernötigste. Wenn sie an ihrem nächsten Ziel kein Essen fanden, würden sie doch noch auf eines der Wirtshäuser zurückgreifen müssen.

»Ich musste nicht lange suchen, um die Veranstalter dieses Spektakels ausfindig zu machen. Wenn man einmal weiß, worauf man achten muss, dann ist das ganz einfach. Und wenn man dann noch mehr oder weniger auffällig mit einem Münzsack herumklimpert, hat man den Wettmeister schneller an seiner Seite, als man Sprintläufer sagen kann.«

Er lachte, und trotz des gebrochenen Versprechens konnte Saiwala ihm wirklich nicht böse sein. Es fiel ihr nicht schwer, sich Woi in seinem Element in den Gassen von Hohklif vorzustellen.

»Ich konnte beobachten, wie er einigen Männern das Geld aus den Beuteln zog, ohne dass diese auch nur einen Blick auf die beteiligten Vögel und Reiter geworfen hatten. Aber so etwas lass ich nicht mit mir machen. Ich habe darauf bestanden, mir alles vorher anzusehen, und wurde schließlich in einen abgelegenen Hinterhof geführt, wo die Tiere gerade vorbereitet wurden.«

Saiwala verschluckte sich an dem trockenen Brot, das sie eben in den Mund gesteckt hatte. Sie hustete und war sprachlos, dass Woi wildfremden Menschen in irgendwelche Gassen und Höfe folgte. Noch dazu mit einer nicht unerheblichen Menge an Münzen. Als sie endlich wieder Luft bekam, hakte sie nach. »Hattest du keine Angst, dass die dich ausrauben?«

Doch Woi winkte ab. »Ach was. Die haben einen Ruf zu verlieren. Mit diesen Rennen lässt sich viel mehr Geld verdienen als mit Überfällen auf kleine Bauern.«

Zu ihrer Überraschung nickte Agja zustimmend. »Das ist wahr. Wenn es ums Glücksspiel geht, bringen die Menschen von allein all ihr Hab und Gut zu diesen Veranstaltern.« Der Unterton, mit dem er verdeutlichte, für wie verwerflich er das Ganze hielt, war nicht zu überhören.

Woi störte sich nicht daran. Er schlang ein weiteres Stück Apfel herunter und beeilte sich, fortzufahren: »Jedenfalls habe ich mir jeden Sprintläufer genau angesehen und mit den Reitern gesprochen. Die Quoten lagen ziemlich hoch auf zweien, die schon in der Vergangenheit Siege errungen haben. Aber einer der Vögel hatte die ganze Zeit über sein Gewicht nur auf einem seiner Beine. Irgendetwas musste mit dem anderen nicht stimmen. Und bei dem zweiten war mir der Reiter zu siegessicher. Wenn man so überheblich an ein Rennen herangeht, dann geht mit Sicherheit etwas schief.«

Ob Woi bewusst war, dass er mit all diesen Details verriet, wie viel Erfahrung er bereits gesammelt hatte? Der ganze Bericht ließ für sie keine Zweifel mehr daran, dass er schon einige Wetten eingegangen war. Vielleicht zog er deshalb mit nichts als einem kleinen Bündel über den Schultern durch die Lande. Doch für den Moment wollte sie seine Laune nicht trüben und vergrub ihre Sorgen um ihn tief in sich.

»Dann habe ich mir die Neuen in der Runde angesehen und dabei ein prächtiges Exemplar entdeckt, dessen Reiterin ihn selbst aufgezogen hat. Sie kannte das Tier in- und auswendig und noch dazu hatte sie einen Gewichtsvorteil gegenüber den meisten anderen Reitern. Also habe ich das restliche Gold auf sie gesetzt und haushoch gewonnen.« Er grinste bis über beide Ohren und Faro kicherte erneut. »Dass der Gewinn glatt zwei dieser wundervollen Wesen sein würde, daran hatte ich am Anfang nicht einmal gedacht. Da waren die Götter wahrlich auf meiner Seite, oder auf eurer.«

Saiwala sah hinüber zu den Laufvögeln, die sich Kuhlen in den Sand scharrten. Sie glaubte nicht an die Götter der Alten Welt, aber in diesem Krieg würde sie jede Hilfe annehmen, die sie bekommen konnte. Wer wusste schon, ob nicht doch ein Funken Wahrheit darin steckte.

Während Agja und Woi noch eine Weile über das Geschehene redeten, richtete Saiwala ihre Decke und legte sich hin. Die Sommernächte waren so warm, dass sie sich selbst ohne Feuer kaum zudecken musste. Sie starrte in den sternenklaren Himmel hinauf und bewunderte die unzähligen funkelnden Lichter. Noch war der Mond nicht aufgegangen und er nahm auch schon wieder ab. Umso heller strahlte das weiße Band, das ihre Ahnen für die Geister der Vorfahren hielten, die darauf warteten, wiedergeboren zu werden. Ihre Großtante hatte sie manchmal in Neumondnächten mit hinaus genommen und von ihren Urahnen erzählt. Bisher kannte Saiwala nicht viele, die auf sie herabsahen, und sie hoffte inständig, dass dies lange so bleiben möge.

Ihre Gedanken drifteten erneut zu ihren Eltern und ihrem Bruder ab. Zu Gadeltha und dem Gefängnis, in dem sie aller Wahrscheinlichkeit nach saßen. Ob Fripus bereits Vater geworden war? Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Was für eine grässliche Vorstellung, ein Kind in Gefangenschaft zur Welt zu bringen.

Liebevoll strich sie über den Drachenschuppenring, dachte daran, dass sie morgen den Eukorarut erreichen würden, und sandte die Hoffnung, die an dieser Tatsache hing, an ihre Cousine.

Langgezogene, hohe Töne durchdrangen die Stille und Saiwala fuhr auf, horchte. Da waren sie wieder, ein zweiter und ein dritter, sie sangen im Chor. »Was sind das für Geräusche?«, hakte sie an ihre Begleiter gewandt nach.

Agja sah sich verwirrt um, aber Woi sprang auf und eilte auf die höchste Düne, die an ihr Lager grenzte.

Ohne zu zögern, folgten sie ihm.

Der Sand gab unter Saiwalas Füßen nach und erschwerte ihr den Aufstieg. Sie kam gerade rechtzeitig an, um die silbrig glänzenden Körper zu erspähen, die sich aus den Wellen des Ozeans erhoben, ihre ledrigen Schwingen ausbreiteten und über das Wasser hinwegglitten.

»Meeresriesen!«, verkündete Faro begeistert.

Woi kraulte den kleinen Drachen am Kinn. »So nah an der Küste sind sie selten zu sehen. Vielleicht sind sie einem Schwarm Fische gefolgt.«

Angestrengt starrte Saiwala auf die endlose dunkle Weite, in die sich der Ozean erstreckte. Sie versuchte zu erahnen, wo sich die geschmeidigen Körper über die Wellen erheben würden, nur um nach kurzem Gleitflug wieder in diesen zu versinken.

Ihre tiefen Brummlaute und hellen Rufe durchzogen die Nacht und erfüllten ihr Herz. Ihre Angst vor den reißenden Fluten hatte sie längst nicht überwunden, trotzdem verlieh ihr dieses Bild ein Gefühl von Freiheit, nach dem sie sich verzehrte. Seit der Drachenweihe schien ihr Leben davon bestimmt zu sein, ob sie eine Goldschwinge werden oder zu einem Pechbringer gemacht würde. Dabei hatte sie in ihrem Leben noch so viele Ziele gehabt, die nun unerreichbar waren. Wer wusste schon, ob ihre Drachenseele nicht ein gänzlich anderes Wesen hervorbringen würde? Wie lange blieb ihr wohl noch, ehe sie ihre menschliche Gestalt verlor?

Furcht ließ Saiwalas Mund trocken werden und sie dachte zurück an das Gespräch, das sie mit ihrem Vater am Morgen der Drachenweihe geführt hatte. Würde er sie tatsächlich wiedererkennen, egal, in welcher Gestalt?

Sie standen auf der Düne, beobachteten die Drachen und lauschten ihnen voller Bewunderung und Sehnsucht.

Als die Meeresriesen nur noch schemenhaft in weiter Ferne auszumachen waren, raunte Agja mehr zu sich selbst als zu den anderen: »Was man wohl tun muss, um sich in einen Meeresriesen zu verwandeln?«

Saiwala sah wehmütig lächelnd zu ihm herüber und ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus. Es war das Wissen, genau zu verstehen, was ihrem Gefährten durch den Kopf ging, weil es ihren eigenen Gedanken und Empfindungen entsprach.

Sie musterte sein Gesicht, auf dem sich Sorgen und Sehnsüchte abzeichneten, die sie nur zu gut kannte.

In diesem Moment wurde ihr bewusst, wie verbunden sie sich ihrem Begleiter fühlte und wie nahe er neben ihr stand.

Ihre Finger kribbelten. Es hätte nur eine winzige Regung, kaum mehr als ein Zucken gebraucht, um nach seiner Hand zu greifen. Allein bei dem Gedanken wurden ihre Wangen warm.

Rasch wandte sie den Blick zurück aufs Wasser. Wie lange hatte sie Agja angesehen? Hatte er etwas bemerkt?

Sie schluckte.

Was sollte das hier werden?

Saiwala verschränkte ihre Arme vor der Brust. Sie hatte wahrlich genug Probleme, da musste sie ihre Situation nicht noch verkomplizieren. Agja und sie würden sich in absehbarer Zeit in Drachen verwandeln. Und wäre sie Familienhüterin geworden, hätte sie auch nie eine Familie gründen dürfen.

Woi gähnte und streckte sich, ehe er sich abwandte, in die Senke zurückging und sein Nachtlager vorbereitete. Faro schlang sich um seinen Hals und summte ein Schlaflied.

Saiwalas Herz machte einen verräterischen Hüpfer, weil sie und Agja allein zurückblieben. Doch kaum hatte sie das realisiert, drehte er sich ebenfalls um und ging zurück zum Lager.

Nur Saiwala blieb auf der Düne stehen und sah hinaus auf die schwarzen Fluten, versuchte, die Enttäuschung über den verflogenen Moment zu verarbeiten.

Nachdem die Meeresriesen gänzlich verschwunden waren, fiel ihr auf, dass sie zum ersten Mal nicht mit Furcht auf das Wasser blickte. Es konnte auch daran liegen, dass sich zwischen ihr und den Klippen einiger Abstand befand und sie nicht Gefahr lief, bei einer Unachtsamkeit hineinzufallen. Oder dass ihre Gedanken und Gefühle gerade Achterbahn fuhren und sie keinen Platz mehr für ihre alten Ängste ließen. Trotzdem war sie stolz darauf, dass der Anblick sie heute nicht nervös machte.

Am liebsten hätte sie ewig hier oben gestanden, doch ihre Beine schmerzten fürchterlich und ihre Augen fielen beinahe im Stehen zu. Also wandte auch sie sich letztlich ab und verkroch sich in ihren Decken, während Agja seinen Beobachtungsposten bezog.

Sie drehte sich absichtlich auf die andere Seite, um ihn nicht wieder anzustarren, und bemerkte nicht einmal, dass ihre Gefühle sie zum ersten Mal seit Hohklif vom Trennungsschmerz ablenkten und sie ohne Tränen einschlief.

Kapitel 2 - Gadeltha

 

Die Käfigwagen waren in einem weiten Kreis aufgestellt worden. Zwischen ihnen hatten die Soldaten Stoffbahnen gespannt, um die Gefangenen vor der sengenden Sonne abzuschirmen, und es gab zwei hölzerne Waschtröge, an denen sie sich endlich etwas frisch machen konnten. Gadeltha hatte versucht, die Blutspuren aus ihrem Zeremoniengewand zu waschen, doch es hatte nur unzulänglich geklappt. Immerhin sorgte der Schatten dafür, dass sie sich in dem rückenfreien Kleid nicht verbrannte.

Die Familien lagen in der Mitte auf trockenem Stroh. Nur die Träger der Drachenseelen blieben in den Käfigen zurück, die ebenfalls mit Leinentüchern überspannt waren. So wollten die Wachen die Motivation für Fluchtversuche möglichst gering halten.

Außerdem standen Soldaten rund um den Wagenkreis platziert und wenn sie einen Flüchtenden nicht erwischten, so gab es den Pechbringer, der lauernd seine Kreise drehte.

Regelmäßig fing er Beutetiere in den Bergen oder auf der Ebene und verspeiste sie in unmittelbarer Nähe des Lagers. Niemand bezweifelte, dass er auf Rampas Befehl auch einen Menschen zerreißen würde.

Gadelthas Wagen war der einzige, der gänzlich leer stand. Nach wie vor gab es keine Neuigkeiten vom Verbleib ihrer Cousine. Doch bei dem warmen Kribbeln, das sich durch den Ring bis in ihr Innerstes ausbreitete wie Sonnenstrahlen, schien sie nicht in Gefangenschaft geraten zu sein.

»Wie geht es ihr?«, hauchte Saiwalas Mutter an ihr Ohr. Die Nacht war angebrochen und die ersten Gefangenen schliefen bereits. Auch Gadeltha und ihre Familie hatten sich hingelegt.

Sie lächelte. Daila musste bemerkt haben, wie sie die Drachenschuppe in ihrem Ring streichelte. Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. »Ich bin mir nicht sicher. Definitiv besser als in den letzten Tagen.«

Daila stützte sich auf die Ellenbogen und legte den Kopf leicht schief. »Was genau fühlst du denn?«

Gadeltha schloss die Augen und spürte noch einmal bewusst, was ihre Cousine empfand. »Sie ist nervös und verlegen. Ich weiß nicht … aufgeregt? Unsicher? Und gleichzeitig fühlt es sich … warm an und sehnsüchtig.«

Langsam tauchte sie aus dem Strudel auf und blickte ihre Tante an. Diese hatte ein seltsames Lächeln auf den Lippen.

»Was denkst du?«, hakte Gadeltha nach.

Daila sah sich kurz um, als befürchtete sie, belauscht zu werden, ehe sie sich dicht zu ihr beugte. »Ich glaube, unsere Sai ist dabei, sich zu verlieben.«

Mit großen Augen starrte Gadeltha Saiwalas Mutter an. Konnte das sein? Es passte so überhaupt nicht zu ihrer Cousine.

Die Konsequenzen, die die Rolle der Familienhüterin trug, war ihnen bewusst, seit sie für diese unterrichtet worden waren. Gerade Saiwala hatte damit nie Probleme gehabt. Während die anderen Mädchen kichernd die Köpfe zusammengesteckt und über Jungs gesprochen hatten, hatte sie nur die Augen verdreht.

Auch Gadeltha hatte nie für einen der jungen Männer in Barun geschwärmt. Umso besser, da sie nun Familienhüterin war, konnte sie nichts vermissen. Vorausgesetzt, sie würde das Ganze hier tatsächlich überleben.

Daila legte ihr sanft eine Hand an die Schulter. »Zerbrich dir nicht den Kopf. Ich freue mich, dass meine Tochter dieses unvergleichliche Gefühl zumindest ein Mal erleben darf.«

Ihre Tante lächelte ihr zu, ehe sie sich abwandte und an ihren Mann schmiegte. Gadeltha war nicht entgangen, dass sich Tränen in ihren Augenwinkeln gesammelt hatten. Sie schluckte, hätte gerne noch Worte des Trostes gespendet, doch ihr fielen keine ein. Daila hatte bereits den Tod ihres Bruders zu verkraften und die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre Tochter wiedersah, war verschwindend gering.

Gadeltha zuckte zusammen, als auf ihrer anderen Seite ein leises Kichern ertönte. Sie wandte den Kopf und blickte in die hellgrünen Augen einer jungen Frau, deren wilde rote Locken ihr schon vor Tagen aufgefallen waren. Sie hatte nicht bemerkt, dass sich Halba heute neben ihr Schlafen gelegt hatte. Immer wieder hatte sie mit ihr kurze Gespräche am Waschtrog oder bei der Essensausgabe geführt. Viele der Gefangenen redeten kaum ein Wort mit anderen und blieben lieber unter sich. Nicht so Halba. Sie war offen und stürmisch, lachte und provozierte die Wachen, so oft sie konnte. Gadeltha war sich nie sicher, ob ihr Verhalten sie beeindruckte oder eher abschreckte.

Trotzdem genoss sie ihre Unterhaltungen, weil es der jungen Frau immer wieder gelang, sie aufzumuntern.

So hatte Gadeltha erfahren, dass Halba aus einem kleinen Ort an der Küste Hardankwas stammte und ebenfalls diesen Sommer die Drachenweihe durchlaufen hatte. Sie war zwar keine Trägerin, dafür jedoch ihr Zwillingsbruder, der im Karren hinter ihr lag.

Ein Mundwinkel Halbas kräuselte sich. »Du weißt nicht, wie es sich anfühlt, verliebt zu sein?«

Vollkommen überrumpelt spürte Gadeltha, wie ihre Wangen warm wurden. Das war eine sehr persönliche Frage von jemandem, den sie erst wenige Tage kannte. Und doch gelang es ihr nicht, den Blick abzuwenden. Neugier sprach aus Halbas Augen, in denen Gadeltha kleine braune Sprenkel entdeckte. Verunsichert presste sie die Lippen aufeinander und deutete zaghaft ein Kopfschütteln an.

Halba strich sich eine Strähne ihres langen Haares hinters Ohr und musterte Gadeltha aufmerksam. Es lag kein Spott in ihrer Stimme, als sie weiter nachfragte: »Das heißt, du wurdest auch noch nie geküsst?«

Nun brannten Gadelthas Wangen, sie starrte die Rothaarige an und schluckte allein bei dem Gedanken daran, wie es sich wohl anfühlen würde, jemanden zu küssen.

Ihr Gesicht musste Bände sprechen, denn nun kräuselte sich auch Halbas zweiter Mundwinkel und sie rutschte ganz nah an Gadeltha heran. »Wenn Rampa recht behält und wir bald alle sterben, kann ich dich nicht von dieser Welt gehen lassen, ohne zu wissen, wie es sich anfühlt, geküsst zu werden.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Lufthauch. Halba kam ihr noch näher, beinahe berührten sich ihre Nasenspitzen, als sie innehielt, anscheinend eine Reaktion abwartete.

Gadelthas Gedanken rasten ebenso wie ihr Herz, doch sie wich nicht zurück, was Halba auszureichen schien.

Sie schloss ihre Augen und drückte sanft die Lippen auf ihre.

So plötzlich der Moment gekommen war, so rasch war er vorbei.

Halba kicherte leise. »So, ein Punkt weniger, den du im Leben verpasst hast.« Nach einem Zwinkern schloss die Rothaarige ihre Augen und kuschelte sich in eine der kratzigen Decken, die man ihnen gegeben hatte.

Gadeltha blieb wie versteinert liegen, es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Was war da gerade passiert? Verwirrt starrte sie auf das von Sommersprossen übersäte Gesicht vor sich, auf dem noch immer ein freches Grinsen ruhte.

Halba war ihr sympathisch, besonders weil sie stets den Eindruck erweckte, sich nicht von der Gefangenschaft unterkriegen zu lassen. Ihre Selbstsicherheit hatte Gadeltha imponiert. Aber das hier hatte sie in hundert Jahren nicht kommen sehen.

Hatte es überhaupt eine Bedeutung? Für sie? Für Halba? Oder war es nur ein weiteres Auflehnen der wilden jungen Frau gegen ihr Schicksal? Ein unbedeutender Moment im Angesicht des lauernden Todes?

Es dauerte lange, ehe Gadeltha in dieser Nacht Ruhe fand, und als sie am nächsten Morgen erwachte, war Halba bereits aufgestanden und versorgte ihren Bruder mit Brot und Wasser.

Auch Gadeltha erhob sich und ging ihren Aufgaben nach. Doch ihr Blick wanderte ein ums andere Mal zurück zu der Frau mit den wilden roten Locken, die sie so sehr verwirrte, wie es niemand zuvor geschafft hatte.

Kapitel 3 - Saiwala

 

Der nächste Morgen brach früh an.

Saiwala hatte die letzte Schicht übernommen und war nun froh, vereinzelte erste Sonnenstrahlen auf dem Wasser tanzen zu sehen. Sie weckte ihre Gefährten und nach einem kleinen Frühstück brachen sie ihr Lager ab. Endlich bedeckten ein paar kleine Wolken den Himmel, die zumindest vorübergehend für Schatten sorgten.

Faro versuchte, die müden Geister mit einem seiner Witze zu wecken. »Was liegt am Strand und redet undeutlich?«, warf er die Frage mit einem Kichern in die Runde.

»Ha, das weiß ich!«, verkündete Woi und sah die anderen erwartungsvoll an.

Saiwala zuckte mit den Schultern und teilte einen kurzen Blick mit Agja, der ebenso ahnungslos aussah wie sie.

Grinsend löste Woi auf. »Natürlich eine Nuschel!«

Faro und er lachten um die Wette, während Agja nur eine Augenbraue hob und Saiwala blinzelnd den Kopf schief legte. Sie war eindeutig noch zu müde für die Scherze des Kinderstreichs.

Als sie ihren Sattel auf den treuen Sprintläufer hob, kribbelte ihr Magen vor Aufregung. Wen würden sie wohl an ihrem zweiten Ziel antreffen? Immer wieder ging ihr der Rätselspruch durch den Kopf, während sie mit inzwischen geübten Griffen den Gurt festzog und den Rucksack schulterte.

Es erstaunte sie, wie schnell ihr mittlerweile alles von der Hand ging, was ihr noch vor Kurzem vollkommen unbekannt und neu gewesen war. Nur die verdreckte Kleidung und ihre Haare, die sie kaum mit den Fingern entwirrt bekam, störten sie zunehmend. Sie roch nicht nur nach ihrem eigenen Schweiß, sondern auch nach dem Federkleid ihres Reittieres. Hatte sie zu Beginn nicht einmal wahrgenommen, dass diese Tiere einen Eigengeruch hatten, so wurde sie diesen nun nicht mehr los. Dass sie so vor den nächsten Hinweisgeber treten sollte, beschämte sie.

Trotzdem konnte sie den roten Berg gar nicht schnell genug erreichen. Mit jedem Schritt kam er näher. Der Farbtupfer war ein seltsamer Anblick in der sonst in Beigetöne getränkten Ebene.

Als die Sonne ihren höchsten Stand erreichte, legten sie eine kurze Rast ein. Der Berg nahm bereits einen Großteil des Horizontes ein.

Sie hatte sich flach auf den Bauch gelegt, um ihr schmerzendes Hinterteil zu entlasten, stützte ihr Kinn auf die Hände und teilte ihre Frage mit Woi: »Hast du schon einmal davon gehört, dass jemand auf diesem Berg lebt?«

Er überlegte einen Moment und sah Faro fragend an. Doch beide schüttelten letztlich die Köpfe. »Nein. Hier ist der Boden so sandig, dass nichts Nahrhaftes mehr wächst, und die Handelsstraße ist zu weit weg. Es lohnt sich einfach nicht, hier zu siedeln.«

»Außerdem brüten hier alle dreißig bis fünfzig Jahre die Feuerkrieger«, mischte sich Faro ein. »Sie haben es gar nicht gern, wenn sich jemand ihren Nestern oder Jungtieren nähert.«

Saiwala blinzelte. »Bloß gut, dass wir kein Brutjahr haben.«

Agja stocherte mit einem Stecken im Sand herum. »Ich kann auch nicht verstehen, dass jemand die Abgeschiedenheit sucht. Selbst wenn es der Träger einer Drachenseele ist. Bevor Talon angefangen hat, sie zu jagen, gab es keinen Grund, sich zu verstecken.«

Saiwala sah ihn nachdenklich an. »Vielleicht ist die Seele ja noch nicht lange hier, sondern erst im letzten Jahr aus Hallus geflüchtet?«

»Möglich.« Er legte die Stirn in Falten. »Aber selbst dann hätte er oder sie sich ein normales Leben in Lendiaskliffe aufbauen können. Zumindest habe ich nie zuvor gehört, dass andere Drachenseelen bis über die Landesgrenze hinaus verfolgt wurden.«

Saiwala seufzte. »Stimmt auch wieder. Tja, ich denke, wir werden es bald erfahren.«

Mit diesen Worten bettete sie ihren Kopf auf die Hände, schloss die Augen und versuchte, sich ein wenig zu entspannen, bevor sie ihren Ritt fortsetzten.

Doch Woi hatte ganz andere Gedanken zu ihrem Ziel als seine beiden Begleiter. »Ich bin wirklich gespannt, was uns an diesem Berg erwartet.«

Ihr Mundwinkel zuckte, weil seine Stimme verriet, wie dringend er darauf wartete, dass jemand nachfragte. Sie tat ihm diesen Gefallen. »Tatsächlich?«

Sie musste ihre Augen nicht öffnen, um das zufriedene Grinsen in Wois Gesicht zu sehen. »Als die Menschen das erste Mal diesen Berg erblickt haben, waren sie der Meinung, er wäre die neue Heimat von Teiwaz. Dem Gott der Jagd. Er sei rot getränkt mit dem Blut all der Drachen, die er erlegt hat.«

Weder sie noch Agja erwiderten etwas darauf. In Hardankwa und Hallus glaubte man seit beinahe zweitausend Jahren nicht mehr an die alten Götter. Saiwala kannte sie nur, weil es Teil ihrer Ausbildung gewesen war, die Geschichte aller Länder und deren Traditionen zu lernen.

Sie öffnete ihre Augen wieder. »Wusstest du, dass Teiwaz früher mal der Gott des Krieges war und erst, nachdem die Ahnen hier auf die Drachen stießen, zum Gott der Jagd wurde?«

»Das habe ich noch nie gehört.« Mit großen Augen sah Woi den bunt geschuppten Drachen auf seiner Schulter an. »Weißt du etwas darüber?«

Der Kinderstreich kicherte. »So alt bin ich nun auch wieder nicht.«

Saiwala lächelte und beobachtete die beiden, bevor sie sich auf die Ellenbogen stützte. »Dann lasst uns weiterziehen und nachsehen, was an diesem Berg so besonders ist.«

Sie rappelten sich hoch und sammelten die Sprintläufer ein, die in der Zeit trockene Gräser und Samen von den Dünen gepickt hatten.

Wie groß der Eukorarut wirklich war, erkannten sie erst, als sie seinen Fuß erreichten. Sie mussten die Köpfe in den Nacken legen, um seinen Gipfel noch sehen zu können. Einsam stand er zwischen flachen Hügeln, seine Wände stiegen steil an.

Sie zügelten ihre Tiere und ließen sie in langsamem Tempo um den Berg wandern. Es kostete sie Stunden und die Sonne senkte sich bereits dem Horizont entgegen. Doch nirgends fanden sie ein Haus oder eine Hütte, sodass sie schließlich anhielten.

Agja hatte die Brauen dicht zusammengezogen und sah Saiwala ernst an. »Wiederholst du bitte noch einmal die Strophe?«

Sie tat wie geheißen. »Die Seele lebt umgeben, von Steinen dunkelrot. Mit Eukoraruts Segen, so einsam ohne Not.«

Während Woi seine Begeisterung dafür ausdrückte, dass sie jedes Detail auswendig wusste, ging ihr selbst ein Licht auf.

»Natürlich gibt es hier kein Haus. Es heißt, die Seele lebt umgeben von Steinen dunkelrot. Da wohnt jemand nicht auf, sondern im Berg.«

Die beiden Männer sahen sie verwirrt an und Agja warf ein: »Aber in Bergen leben nur die Zwerge.«

Woi lachte auf, die grauen Augen groß vor Erwartung. »Ha, na, das wäre mal ein Spaß, einen Zwerg zu treffen. Vielleicht hat er guten Met da.« Ein schelmisches Grinsen zierte sein Gesicht.

Saiwala erinnerte sich daran, wie er im Zentralgebirge davon geschwärmt hatte, wie gerne er einmal einem Zwerg begegnen würde. Sie legte den Kopf schief, als ihr ein ganz anderer Gedanke kam. »Ich habe noch nie darüber nachgedacht, ob Zwerge ebenfalls Träger von Drachenseelen sein können.«

Agja zog die Brauen hoch und fuhr seinem Sprintläufer, der nervös auf der Stelle tänzelte, beruhigend über den Hals. »Gute Frage. Ich weiß es nicht. Aber es muss sich ja nicht um einen Träger handeln, den wir hier suchen. Oder um einen Zwerg.«

Doch Woi schien hochmotiviert, einen Zwergen zu treffen. Er sprang von seinem Sprintläufer und führte ihn dicht an den Fels heran. »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden. Lasst uns nach Eingängen suchen.«

Auch Saiwala und Agja stiegen ab und folgten ihm, doch den Optimismus ihres Begleiters teilten sie nicht.

»Falls überhaupt einer existiert. Wenn es ein Zwerg ist, könnte er den ganzen Weg vom großen Gebirge durch Tunnel gekommen sein«, mutmaßte Saiwala.

Hohl lachte Agja auf. »Das wäre irgendwie typisch Rätselsprecher. Uns hierherzuschicken, nur um zu erfahren, dass man woanders hinmuss, um das endgültige Ziel zu erreichen.«

Faro kicherte, während Woi sich einen Weg am Berghang entlang suchte und das rote Gestein begutachtete. »Die Zwerge sind zwar wahre Meister, wenn es um Höhlenbau geht, aber einen unter der ganzen Ebene hindurchzugraben, das wäre doch des Aufwandes zu viel.«

Auch Saiwala betrachtete die felsigen Wände. »Stimmt wohl. Außerdem würde es dann wahrscheinlich nicht heißen, dass die Seele allein wohnt. Wenn sie eine so direkte Verbindung zum Rest ihres Volkes hat.«

Agja klopfte vorsichtig gegen einen Streifen, der dunkler erschien als das umgebende Gestein. »Ich denke eher, es ist nur ein Mensch, der es vorzieht, allein zu hausen. Oder ein Drache, wäre ja auch möglich.«

Saiwalas Magen kribbelte nervös. »Sollte es ein Drache sein, dann müssen wir uns vorsehen. Tief in den Bergen leben die Steinwandler und die verstehen überhaupt keinen Spaß, wenn man sich in ihre Höhlen wagt.«

Woi wischte sie mit ihren Bedenken trotzdem nicht das Grinsen aus dem Gesicht. »Dafür gäbe es kostbare Edelsteine zu erbeuten. Die größten und schönsten stammen immer von diesen Wesen.« Sein gläserner Blick wanderte bei der Vorstellung in die Ferne.

Aber Saiwala musste nichts sagen, denn Agja schnaubte schon. »Ja, klar, als ob der Drache dich mit seinen Juwelen einfach so ziehen lassen würde. Du würdest es nicht einmal aus dem Berg heraus schaffen.«

Woi winkte ab. »Ach, nun sei doch nicht so ein Spielverderber. Man wird ja wohl noch träumen dürfen. Oder wetten. Hei, wie wäre es? Wer tippt auf Zwerg, wer auf Mensch und wer auf Drache?«

Zwinkernd zog er weiter, auch wenn niemand auf seinen Vorschlag eingegangen war.

Saiwala ließ ihre rechte Hand über den warmen Fels streifen, dessen Maserung aussah wie rote Wellen, die sich schräg in die Höhe wanden. Dabei hielt sie Ausschau nach einem Weg, der anzeigen könnte, wo sich ein Eingang befand.

So machten sie sich ein zweites Mal daran, den Berg zu umrunden.

Die Sonne stand bereits tief am Himmel und sie hatten ein gutes Viertel hinter sich, als Saiwalas Hand plötzlich ins Leere griff und sie beinahe das Gleichgewicht verlor.

Ihr Sprintläufer krächzte erschrocken und raschelte mit den Flügeln.

Gerade noch konnte sie sich auf den Beinen halten und starrte die Felswand verwirrt an. Die Maserungen hatten die Spalte, die sich vor ihr auftat, so gut verborgen, dass sie an einen Illusionszauber dachte. Doch es hatte schon seit Jahrhunderten keine Magier mehr gegeben, die einen solchen zustande gebracht hätten.

»Hast du etwas entdeckt?«, riss Agja sie aus den Gedanken.

Sie nickte und wies vor sich. »Hier ist eine große Felsspalte.«

Woi legte die Stirn in Falten und Agja trat näher heran. Ungläubig fuhr er mit den Händen über die Kanten. »Unfassbar, wir wären beinahe daran vorbeigelaufen.«

Woi hatte den Kopf schief gelegt. »Wir sind schon einmal daran vorbeigelaufen … oder geritten.«

Saiwala lachte auf. »Stimmt. Also wenn alle Eingänge zu den Zwergenreichen so aussehen, wundert es mich nicht, dass ihre Tunnel den Menschen auch nach Tausenden von Jahren verborgen geblieben sind.«

Ihre Begleiter nickten und Woi grinste wieder breit. »Also doch ein Zwerg?«

Faro kicherte und tapste aufgeregt auf seiner Schulter umher. »Selbst ich habe noch keinen gesehen.«

Agja ignorierte die beiden und machte einen Schritt in den Spalt hinein. Er war breit genug für einen Mann und lief nach oben hin spitz zu. Die Enden trafen sich erst ein gutes Stück über ihren Köpfen. »Eine Fackel haben wir nicht mitgenommen, oder?«, fragte er resigniert in die Runde.

Saiwala seufzte. »Ich fürchte nicht.« Suchend sah sie sich um. »Die trockenen Sträucher würden zwar gut brennen, jedoch nicht ansatzweise lange genug, um uns durch diese Höhle zu führen. Und ohne Fett, Öl oder Harz bringt es uns auch nichts, sie mit Kleidungsfetzen zu umwickeln.«

Während sie noch mit Agja diskutierte, schritt Woi plötzlich an ihnen vorbei, den Sprintläufer am langen Arm hinter sich, steckte den Kopf neugierig in die Dunkelheit und rief laut: »Hei, jemand zu Hause?«

Ungläubig starrte Saiwala ihn an und lauschte dem Hall, der seine Worte immer tiefer in den Berg hinein trug.

Sie zuckte zusammen, als einen Augenblick später tatsächlich eine Antwort erklang.

Eine brummende Stimme, rau wie der Felsen selbst, hallte aus der Spalte. »Hver afgalpa?«

Woi hüpfte beinahe auf der Stelle, seine Augen leuchteten begeistert und seine Stimme überschlug sich. »Definitiv ein Zwerg. Nur was er fragt, kann ich euch leider nicht sagen. Ich spreche zwar die Sprachen der Menschen, auch mit Dialekten, aber Zwergisch ist mir zu kompliziert.«

Doch Saiwala stellte verwirrt fest, dass sie Wois Wissen gar nicht brauchte. »Er hat gefragt, wer stört«, erklärte sie mit unsicherer Stimme.

Woi und Agja starrten sie an und Agjas Augenbrauen wanderten ein Stück nach oben. »Woher weißt du das?«

»Ich habe absolut keine Ahnung.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es einfach.«

Faro kicherte. »Deine Drachenseele wird stärker. Du solltest schnell antworten. Wir wollen doch einen möglichen Verbündeten nicht warten lassen.«

Ruckartig schüttelte sie den Kopf, wie um ihre Gedanken aus dem Nebel zu befreien. Schließlich drängte sie sich an Woi vorbei und holte sich die Worte des Zwerges ins Gedächtnis, ehe sie sprach: »Wir sind Drachenseelen auf der Suche nach Wissen. Der Spruch eines Rätselsprechers hat uns zu Euch geführt.« Sie wandte den Kopf zur Seite, als könnte sie dadurch mit ihrem linken Ohr besser lauschen, und bemerkte die beiden großen Augenpaare, die sie anstarrten. »Was ist?«, flüsterte sie ihnen zu.

Agja blinzelte. »Du hast gerade in der Sprache der Zwerge gesprochen. Ich habe keine Ahnung, was du gesagt hast.«

Sie kniff verständnislos die Brauen zusammen, konnte jedoch nichts mehr erwidern, da sie feste Schritte vernahm, die sich ihr aus dem Inneren des Berges näherten.

Eilig entfernte sie sich vom Eingang, um weniger wie ein Eindringling zu wirken, und die beiden Männer taten es ihr gleich. Dabei warfen sie ihr musternde Blicke zu, wandten ihre Aufmerksamkeit erst zur Felsspalte, als die Schritte unüberhörbar nah waren.

Saiwalas Herz klopfte laut. Sie zeigte es nicht so offen wie Woi, doch trotzdem war es unfassbar aufregend, einen Zwerg zu sehen. Belegbare Begegnungen mit jenen Wesen, die schon vor den Menschen in Idaldra zu Hause waren, konnte man auch nach zweitausend Jahren an zwei Händen abzählen.

Welche Gerüchte waren wahr, und was entsprang den wilden Fantasien ihrer Vorfahren?

Endlich löste sich ein Schatten aus dem Dunkel der Felsspalte und trat ihnen entgegen.

 

Kapitel 4 - Saiwala

 

Der Zwerg reichte Saiwala gerade bis zur Brust, hatte eine kräftige Statur und übergroße graue Augen, die er mit der Hand vor dem Licht der sinkenden Sonne abschirmte. Er hielt eine zweischneidige Axt, die er nun demonstrativ vor ihnen abstellte. Sein Haupt war kahl, doch zeichneten sich Federn darauf ab, von denen Saiwala nicht zu sagen vermochte, ob sie gezeichnet oder angeboren waren. Die Haut war grau meliert wie Felsgestein, weshalb die Muster eingemeißelt erschienen. Kinn und die Wangen des Zwerges waren hingegen von echten Federn geschmückt. Sie waren lang und dünn, bedeckten seinen Hals bis hinunter zu seiner Brust und schimmerten im Sonnenlicht in den schönsten Farben.

Die Kleidung war in den gleichen Grautönen wie die Hautfarbe gehalten. Er trug ein weites Hemd und einen in viele Falten gelegten Rock, unter dem nackte Füße hervorragten, die kurze Krallen besaßen.

Durch seine ungewöhnliche Farbe fiel es Saiwala schwer, einzuschätzen, wie alt der Zwerg sein mochte. Es war beinahe unmöglich, auf der Maserung Falten zu erkennen. Nur seine runden Augen wirkten hellwach und aufmerksam, was ihn uralt und kindlich zugleich wirken ließ.

Misstrauisch und unverhohlen musterte er alle drei der Reihe nach, bis er Saiwala anstarrte. Seine Stimme war dunkel und rau, als würde sie aus den Tiefen des Berges zu ihr hallen. »Woher kennt Ihr unsere Sprache?«

Sie hielt seinem Blick stand. Versuchte, weder zu unsicher noch zu schmeichlerisch zu klingen, um sein Vertrauen zu gewinnen. »Ich habe sie nie erlernt. Wenn ich mich nicht irre, sorgt meine Drachenseele dafür, dass ich mit Euch sprechen kann.« Nun, da sie wusste, dass sie in einer ihr fremden Sprache kommunizierte, konnte sie ihre Worte auch hören. Sie verstand diese und gleichzeitig klangen sie so ungewohnt.

Der Zwerg brummte, fixierte sie, ohne zu blinzeln. Dann nickte er kurz, aber bestimmt. »Eine Gabe, die nicht selten bei Trägern auftritt, die es mit anderen Völkern zu tun bekommen. Kommt herein, damit wir beide reden können. Die Sonne schmerzt meinen Augen.«

Ohne abzuwarten, drehte er sich um und schritt zurück in den Berg.

Woi hatte den Kopf schief gelegt und murmelte, dass er nun verstehe, wie sich seine Kunden die ganze Zeit fühlen mussten.

Doch Agja überging ihn und wandte sich an Saiwala. »Was ist passiert?«

Sie drückte ihm die Zügel ihres Sprintläufers in die Hand und setzte sich, noch während sie sprach, in Bewegung. »Es tut mir leid, aber er hat nur mich eingeladen. Ich glaube, ihr solltet besser hierbleiben.«

Sie wartete nicht darauf, dass ihre Begleiter protestieren konnten, sondern eilte dem Zwerg hinterher und verschwand in der Finsternis des Berges.

Noch wurden die Wände vom Licht der untergehenden Sonne erhellt, doch je tiefer sie in den Berg eindrangen, desto schummriger wurde es. Bald war es so dunkel, dass Saiwala ihre rechte Hand ausstreckte, um sich am Fels entlangzutasten. Ihre Schritte wurden immer unsicherer, je weniger sie sah. Sie wusste nicht mehr, wohin sie ihre Füße setzte und versuchte, sich auf das Stapfen des Zwerges zu konzentrieren. Seine Krallen verursachten klackernde Laute auf dem Boden.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, ihre Instinkte riefen sie an, stehen zu bleiben, umzukehren, doch sie hörte nicht darauf. Sie musste herausfinden, weshalb der Rätselsprecher sie zu diesem Zwerg geführt hatte.

Mit wackeligen Knien tastete sie sich vor, hatte nun zusätzlich die linke Hand ausgestreckt, um nicht plötzlich in etwas hineinzulaufen.

Totale Finsternis umschloss sie, das Blut rauschte in ihren Ohren, übertönte die Schritte vor ihr. Saiwala hatte das Gefühl, vom Berg verschluckt zu werden. Ihr Mund wurde trocken und ihre Finger waren kalt.

Gerade hatte der Zwerg sich so weit entfernt, dass sie rufen wollte, er möge auf sie warten, da erspähte sie ein zartes Glimmen ein Stück vor sich.

Bildete sie sich das nur ein? Versuchten ihre Augen so verzweifelt, etwas zu erkennen, dass sie ihr Bilder vorgaukelten?

Mit unsicheren Schritten kämpfte sich Saiwala voran und kam dem sachten Leuchten näher. Es musste da sein, denn nun konnte sie wieder schemenhafte Umrisse der Höhle und den Schatten des Zwerges ausmachen, der ein gutes Stück entfernt ohne ein Wort immer weiter voranschritt.

Woher kam nur dieses rötliche Glimmen? Es war so fein, dass es draußen bei Tag niemand wahrgenommen hätte. Doch hier drinnen reichte es aus, um ihr den Weg zu weisen.

Langsam gewöhnten sich ihre Augen daran, sodass sie immer mehr Details ihrer Umgebung wahrnahm. Sie erkannte, dass aus der natürlich aussehenden Felsspalte ein künstlich in den Stein getriebener Gang entstanden war.

Die Wände glänzten glattpoliert, kantige Knotenmuster verzierten den Übergang zur Decke und die Ecken von Abzweigungen, die nun häufiger wurden.

Schließlich erspähte sie die Quelle des rot schimmernden Leuchtens. In regelmäßigen Abständen waren Drachenschuppen in die Knoten eingearbeitet. Sie waren so groß wie ihr Kopf, rot wie der Fels selbst und ihr Licht war warm wie glühende Kohlen.

Saiwala hatte nicht gewusst, dass es Schuppen gab, die eine solche Magie wirkten. Vielleicht stammten sie von Wesen, die weit unten in den Bergen lebten und die kein Mensch jemals zu Gesicht bekommen hatte.

Stetig tiefer führte der Zwerg sie und sie war froh, dass er dem breiten zentralen Gang folgte und nicht ständig abbog. Das Gefühl, sich hier drin verlaufen zu können, nagte auch so an ihr. Immerhin kannte sie die Person, der sie hinterherlief, überhaupt nicht. Doch als die Gedanken, worauf sie sich hier eingelassen hatte, immer stärker wurden, bog er ab.

Sie eilte ihm hinterher, um den Anschluss nicht zu verlieren, und betrat einen sechseckigen Raum. Er war in perfekter Gleichmäßigkeit in den Stein gehauen und strahlte wohlige Wärme und Gemütlichkeit aus. In seiner Mitte türmte sich ein Stapel der roten Drachenschuppen, so wie man sonst Hölzer für ein Feuer aufstellte. Ihre Magie verstärkte sich gegenseitig.

Sie leuchteten viel heller als jene im Gang und Saiwala meinte, winzige Flammen auf ihnen tanzen zu sehen, die jedoch nicht qualmten und die Schuppen nicht verzehrten.

Um den leuchtenden Stapel herum war eine im Kreis in den Stein gehauene Bank, die mit dicken Kissen gepolstert war.

Der Zwerg war davor stehen geblieben, musterte Saiwala und griff plötzlich nach den Federn an seinem Kinn. Er bündelte sie mit einer Drehbewegung seiner Hand und hielt sie straff zur Seite, sodass Saiwala seinen Hals sehen konnte.

Die dunkle Stimme des Zwerges hallte im Raum wider. »Aurnir Grar Fjall, möge der Fels Euch stets beschützen.«

Da ihre neue Gabe die ersten Wörter nicht übersetzte, vermutete Saiwala, dass es sich um den Namen des Zwerges handelte.

Ihre Hände begannen zu schwitzen. Wie sollte sie den Gruß erwidern? Sie hatte schließlich keine Federn oder einen Bart und sich ihre Haare irgendwie ums Handgelenk zu wickeln, mutete ihr albern an. Sie wollte um jeden Preis sicherstellen, ihren Gastgeber nicht in irgendeiner Art zu beleidigen.

Seinen verwundbaren Hals zu offenbaren, schien Teil des Begrüßungsrituals der Zwerge zu sein und erinnerte sie an eine sehr alte und förmliche Art der Vorstellung, die Alduma ihr beigebracht hatte. Sie wurde nur noch in den Königshäusern praktiziert, doch Saiwala fand sie in diesem Moment passend.

Sie schluckte den Kloß, der sich vor Aufregung in ihrem Hals gebildet hatte, herunter, ehe sie Haltung einnahm.

Mit der linken Hand zog sie den Ärmel ihres Kleides am rechten Arm ein Stück hoch, um ihr Gelenk und einen Teil des Unterarmes zu entblößen. Anschließend streckte sie sich mit geradem Rücken hinunter und hob den Rocksaum an, um zuerst den rechten, dann den linken Knöchel zu zeigen, ehe sie sich wieder aufrichtete und zuletzt auch das zweite Handgelenk preisgab.

Die Abfolge wurde eingehalten, um seinem Gegenüber zu zeigen, dass man keine versteckten Waffen bei sich trug. »Saiwala dau Daila, mögen die Drachen stets über Euch wachen.«

Einen Moment lang musterte der Zwerg sie aus seinen runden Augen. Dann nickte er, ließ die Federn los und wies auf die Kissen. »Bitte setzt Euch.«

Saiwala atmete erleichtert durch und folgte der Aufforderung.

Die Bank war nicht für ihre Größe ausgelegt und so kam sie sich vor, als würde sie auf einem Hocker für Kinder platznehmen. Sie streckte ihre Beine ein Stück und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie unbequem diese Position war.

Die Drachenschuppen vor ihr strahlten ebenso viel Wärme ab, wie es ein Lagerfeuer getan hätte. Winzige Flammen züngelten darüber, verbanden und teilten sich. Sie beobachtete dieses Schauspiel, bis sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Aurnir richtete. Er stand vor einer Anrichte, die in einer Ecke des Raumes in den Stein gehauen war. Daneben befand sich ein ebenso steinernes Regal. Beides wies feine Verzierungen auf. Ihr Blick folgte den kantigen Mustern und ihr Mund blieb offen stehen, als sie feststellte, dass sich diese über die gesamte Decke des Raumes zogen. Die sechseckige Form wiederholte sich immer aufs Neue, bis sie in der Mitte zu einem Punkt verschmolz.

Rasch schloss Saiwala ihren Mund und sah zurück zu ihrem Gastgeber, als sie seine Schritte hörte.

Er kam mit zwei silbernen Krügen auf sie zu und reichte ihr einen davon. »Die Gepflogenheiten meines Volkes gebieten es, Gästen den besten Met anzubieten.«

Sie nickte und nahm das Getränk entgegen. »Ich danke Euch vielmals. Auch dafür, dass Ihr mich überhaupt eingelassen habt.«

Aurnir setzte sich ihr gegenüber und trank.

Eilig nippte sie an ihrem Krug, um die Gastfreundschaft nicht zu gefährden, und war überwältigt von der schweren Süße, die sich über ihre Zunge ergoss. Einen so intensiven Honigwein hatte sie noch nie gekostet.

Sie genoss einen weiteren Schluck und lächelte dann aufrichtig. »Das ist mit Abstand der beste Met, den ich je probieren durfte.«

Der Zwerg brummte, doch sie erkannte ein leichtes Zucken seiner Mundwinkel, bevor er seufzte. »Ihr solltet erst das Gebräu meiner Brüder im Zentralgebirge kosten.«

Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie zwischen den Zeilen lesen konnte, dass auch er diese Freude lange nicht erlebt hatte. Stattdessen nickte sie. So gerne sie mit Aurnir ausgiebig über sein Volk gesprochen hätte, es blieb ihr nicht viel Zeit. »Es wäre mir eine Ehre. Doch der Rätselsprecher hat mich ausdrücklich zu Euch geschickt.«

In den übergroßen Augen des Zwerges spiegelten sich die glühenden Drachenschuppen und er lehnte sich ein Stück vor. »Das ist in der Tat eine spannende Angelegenheit und nebenbei der einzige Grund, weshalb ich Euch eingelassen habe. Erzählt mir, was in der Welt vor sich geht, dass es einen neuen Rätselspruch ausgelöst hat.«

Einen Moment lang musste Saiwala ihre Gedanken sortieren. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Zwerg so abgeschieden lebte, dass er nichts von der Außenwelt mitbekam.

Rasch räusperte sie sich und begann von jenem Krieg zu erzählen, der ihr Leben zerstört hatte. »Talon, der König von Hallus, hat mit seiner Armee mitten in der Drachenweihe Hardankwa angegriffen. Sie haben meine Heimatstadt Barun überrannt, während die Menschen auf dem Festplatz feierten.« Saiwala musste schlucken und die Bilder zurückdrängen, die sich mit ihren Worten erneut vor ihr inneres Auge schoben und die Wut in ihrem Bauch schürten. »Er hat mich und meine Familie gefangen genommen und nach weiteren Trägern von Drachenseelen gesucht. Die Menge hielt er problemlos unter Kontrolle, weil er nicht nur mit Soldaten, sondern auch mit drei Pechbringern angegriffen hat.«

Aurnirs Augen weiteten sich, doch er unterbrach sie nicht.

»Mittlerweile sind wir uns sicher, dass Talon einen Weg gefunden hat, aus den Trägern von Drachenseelen absichtlich Pechbringer zu erschaffen, die ihm hörig sind. Er nutzt ihre Familien und Freunde als Druckmittel. Damit hat er das natürliche Gleichgewicht durcheinandergebracht. Ein Mondsänger sagte mir, dass es der Grund sei, dass die Drachen jenen Menschen helfen, die versuchen, ihn aufzuhalten.«

Aurnir hing so gebannt an ihren Lippen, dass er weit nach vorn gelehnt saß, seine Arme auf die Knie gestützt. Eine ganze Weile sagte er nichts, starrte erst Saiwala, dann die glühenden Drachenschuppen vor sich an. Immer wieder fuhr er sich durch die langen Federn, die im Schein der Schuppen rötlich schimmerten.

Sie wagte es nicht, ihn aus seinen Gedanken zu reißen. Abwartend nippte sie an ihrem Met und dachte an Gadeltha, die ihr vor einer gefühlten Ewigkeit den Mondsänger geschickt hatte.

Ihr Herz zog sich zusammen, denn sie vermisste ihre Familie und machte sich große Sorgen um sie.

Schließlich brummte Aurnir mit tiefer Stimme, in der Saiwala Unmut hörte. Sie musterte sein Gesicht, aber es fiel ihr schwer, seine Mimik zu lesen.

Hatte ihn etwas verärgert, das sie getan oder gesagt hatte?

Mit einem weiteren Brummen sprach ihr Gastgeber endlich: »Die Menschen erstaunen uns auch nach beinahe zweitausend Jahren immer wieder.«

Verblüfft zog Saiwala die Stirn in Falten. »Wie meint Ihr das?«

Der Zwerg nahm einen kräftigen Schluck aus dem silbernen Becher. »Ihr seid dazu imstande, wahrhaft Großes zu vollbringen. Doch seid Ihr ebenso fähig, Tod und Zerstörung herbeizurufen. Wusstet Ihr, dass es vor den Drachenseelen weder Pechbringer noch Goldschwingen gab?«

Überrascht schüttelte sie den Kopf. »Nein, das ist mir neu.«