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Wie gut ist das Leben, für das ich mich entschieden habe, wirklich? Zwanzig Jahre nach dem Abitur stehen Tabea, Anna und Christina mitten im Leben. Tabea lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in einer schönen Eigentumswohnung, Anna jongliert souverän Familie und Beruf, Christina lebt mit ihrer Patchworkfamilie auf dem Land. Doch hinter dem geordneten Alltag zeigen sich erste feine Risse und das bislang gültige Lebenskonzept gerät ins Wanken. "Drei Leben später" erzählt leise, eindringlich und mit psychologischem Feingefühl von drei Frauen in gefestigten Strukturen und der Frage, ob das Leben, das man gewählt hat, zu einem passt. Und ob es je zu spät ist, sich umzuentscheiden. In wechselnden Perspektiven entfaltet sich ein Netz aus Gedanken, Prüfungen und innerer Suche. Erst im Epilog wird deutlich, welche Rolle die Erzählerin bei alldem spielt - und was uns alle verbindet. Ein vielschichtiger Gesellschaftsroman über weibliche Lebensentwürfe, verletzliche Stärke und die Kraft, das eigene Leben neu zu gestalten.
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Seitenzahl: 275
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ich danke
…Stefan für die Inspiration.
…Tanja für das Wissen, dass man vom eigenen Weg nicht abweichen kann.
…Debby und UTi für die Begleitung in der Dunkelheit.
…mir selber für mein Licht.
Es ist nie zu spät.
Nie zu spät, um neu anzufangen.
Nie zu spät, um glücklich zu sein.
Jane Fonda
Die Einladung
SOMMER
Tabea
Anna
Christina
HERBST
Tabea
Anna
Christina
WINTER
Tabea
Anna
Christina
FRÜHLING
Das Klassentreffen
Die Realität hat lose Fäden geliefert. Die Fantasie hat sie zu Geschichten versponnen.
Alle Ereignisse, Dialoge und Entwicklungen sind rein fiktiv und entspringen der Vorstellung der Autorin.
Nichts davon ist je passiert – zumindest mir nicht. Dabei passiert es überall. Jedes Haus hat Risse.
23.06.2023
Um Himmels willen. Ich habe eine Anfrage bekommen, ob ich in eine WhatsApp-Gruppe mit dem Namen „20-jähriges Jubiläum“ eintreten möchte. Gar keinen Bock. Ist das kindisch oder verständlich? Heilt die Zeit alle Wunden? Meine Schulzeit war die Hölle. Buchstäblich. Auf einem Elite-Gymnasium in den 1990ern war auch nichts anderes zu erwarten. Ich war nie wie die anderen. Weder waren wir reich, noch hat einer meiner Eltern einen Doktortitel. Ich komme aus der Arbeiterklasse, wenn man so will. Bis ich 17 war, haben wir mit vier Personen in einer 66-Quadratmeter-Wohnung gewohnt. Ein eigenes Zimmer bekam ich erst mit 14. Es gab keine fancy Markenklamotten oder USA-Reisen. Zu allem Überfluss war ich noch dick und unsportlich. Zumindest Letzteres habe ich beibehalten. Während der Großteil der Mädchen aus meiner Stufe „Team pink“ war, war ich „Team Schwarz“. Was haben die mich fertig gemacht... Sie haben mich mit offenen Tetrapaks mit Kakao beworfen und mir Reißzwecke in den Rucksack und auf den Stuhl gelegt. Sie haben meine Fahrradreifen zerstochen und später mein Auto zerkratzt. Und niemals hat irgendjemand etwas gehört und gesehen.
Meine Kiefermuskulatur ist direkt wieder angespannt, wenn ich nur an die Zeit denke. Ich hasse diese Menschen. Ich war nie wie sie, aber ich bin auch nichts Besonderes. Ich war ein ganz normales Mädchen. Wie sie mich behandelt haben und dass fast alle Lehrer weggesehen haben, war nicht fair. Dass ich überhaupt noch am Leben bin, habe ich einzig und allein meinen drei damaligen Schulfreundinnen zu verdanken. Einer von ihnen im Speziellen, weil sie mich damals abgefangen hat, als ich den Entschluss gefasst hatte, meinem Dasein ein Ende zu setzen. Zu der Zeit war nichts Außergewöhnliches vorgefallen und ich war ganz ruhig; niemandem hatte ich von meinem Vorhaben erzählt. Den Abschiedsbrief hatte ich in meiner Hosentasche, damit er nicht aus Versehen zu früh gefunden werden würde. Also saß ich als 16-jähriges Kind auf einer verlassenen Parkbank, halb versteckt im Grünen, mit einer Tasche voller Tabletten und wollte nur, dass es aufhört. Der Schmerz, die Demütigung, die Minderwertigkeitsgefühle. Den Begriff „Mobbing“ gab es in den frühen 90ern noch nicht. Mittlerweile gibt es Workshops, Beauftragte und sogar Projektwochen in den Schulen zu dem Thema. Früher war das anders. Da wurde einem gesagt, man müsse sich eben wehren oder noch besser „Was einen nicht tötet, härtet ab.“ Mich härtete es nicht ab. Ich wollte sterben. Und plötzlich, einfach so, war sie da. Bis heute weiß ich nicht, woher sie wusste, dass ich dort war und mehr noch: Woher sie wusste, dass ich jemanden brauchte. Wir haben außer einem „Hey“ zur Begrüßung kein Wort gesagt. Sie legte ihren Arm um mich und ich konnte mich ausweinen, bis es dunkel wurde. An dem Tag hat mir meine Freundin das Leben gerettet. Seitdem habe ich weitaus schlimmere Dinge erlebt und trotzdem bin ich nie wieder an einen Punkt gekommen, an dem ich lieber tot als lebendig wäre. Hundert Jahre ist das her. Tatsächlich ist sie auch die einzige Person aus meiner ehemaligen Stufe, zu der ich noch Kontakt habe, wenn auch nur ein oder zweimal im Jahr. Von ihr habe ich dementsprechend auch die Einladung für das Ehemaligentreffen bekommen.
„Ist das dein Ernst? Da gehe ich nicht hin!“ Zwar ist kein Geburtstag, aber ich fand den Anlass für ein Telefonat jetzt schon gegeben. „Hä? Warum nicht? Doch, mach das. Guck dir doch an, was das alles für Versager geworden sind.“ Das Argument scheint mir bestechend logisch zu sein. „Ihr kommt aber auch, oder?“ In der großen Gruppe der Außenseiter hatte sie in der Oberstufe ihren Menschen gefunden, mit dem sie bis heute zusammen war. „Geht nicht. Das Kind hat Geburtstag und ich habe die Hütte voll. Aber du gehst und danach berichtest du mir jedes Detail.“ Atemübungen helfen in Stress-Situationen. Okay, diese Stress-Situation ist gar nicht physisch greifbar und ausschließlich in meinem Kopf, aber sie reicht vollkommen, um meinen Herzschlag zu erhöhen. Ich weiß nicht, wie gut das wäre, dorthin zu gehen. Die machen mir Angst; was zugegebenermaßen lächerlich ist. Ich bin fast 40 Jahre alt. Ich bin eine erwachsene, starke, unabhängige Frau. Wenn es stimmt, dass man an Krisen wächst, dann habe ich in meinem Leben bereits derart viel Wachstum an den Tag gelegt, dass es auf keine Kuhhaut geht. Außerdem altere ich wie Wein. Das liegt sicherlich auch an der verheerenden Ausgangssituation von damals, aber ich bin im Vergleich – zu meinem früheren Ich, nicht zu Frauen in meinem Alter – wirklich schön.
Ein paar Jahre nach dem Schulabschluss habe ich in einem Club einen der gemeinen Stufenkameraden getroffen und der, getrübt von Alkohol und meinem veränderten Aussehen, versuchte, bei mir zu landen. Erstens: Unverschämtheit. Was denken sich solche Leute? Erst jahrelang einen Menschen fertig machen und dann versuchen, den ins Bett zu bekommen. Pfui. Zweitens: Diesem Typen eine Abfuhr zu erteilen, hat mir wirklich ein Hochgefühl beschert. Nachhaltig, wie man merkt, sonst würde ich das nach der ganzen Zeit nicht mehr in Erinnerung haben.
Möglicherweise würde mir das im Sinne einer Aufarbeitung der Vergangenheit guttun. Wir sind die Summe unserer Erfahrungen, hat Prentice Mulford gesagt. Wenn man sich das so Butterfly-effect-mäßig überlegt, ist die Frage, wie sich unsere Erfahrungen verändern würden, wenn wir davor andere Erfahrungen gemacht hätten, aber das ginge jetzt zu weit.
Wenn das Klassentreffen ätzend ist, kann ich immer noch direkt gehen. Vielleicht habe ich auch Glück und eine der anderen beiden ist da. Soweit ich weiß, ist eine von ihnen nach Bayern gezogen und die andere hat in Baden-Württemberg eine Ausbildung gemacht. Sicher bin ich mir allerdings nicht. Wo und wie auch immer sie leben und wohnen, ist auch unschädlich, solange sie es im nächsten Frühjahr zurück zur Wurzel schaffen. Bis dahin habe ich auch ausreichend Zeit, mir zu überlegen, ob ich dahin gehen möchte oder nicht.
Selbstverständlich bin ich mittlerweile in dieser WhatsApp-Gruppe. Das ist ganz nützlich, weil ich so schon mal einen Vorgeschmack bekomme, indem ich mir die Profilbilder ansehen kann. Es stellen sich alle mit Namen vor. Auch das ist hilfreich, und trotzdem verdrehe ich die Augen. Ob ich verbittert oder emanzipiert bin, liegt wohl im Auge des Betrachters. Mir hätten die Vornamen gereicht oder Beschreibungen. „Homophober, blonder Jüngling im Polohemd“ oder „übergewichtiger Unternehmers-Sohn, der vorne an der Mobberfront ist, um nicht selber Opfer zu werden“ oder sowas Schmissiges, aber gut. Ich kann nicht aus meiner Haut. Nach der x-ten „Nachname, ehemals Nachname“-Nachricht meiner früheren Mitschülerinnen schreibe ich „Repstadt. Nach wie vor.“, und ernte dafür lachende Emojis. War kein Scherz.
Das Pärchen war in ein rotes Licht getaucht. Die Menschen um sie herum und im Hintergrund vermischten sich zu einer unklaren, homogenen Masse; nur der junge Mann und die Frau an seiner Seite waren scharf zu erkennen. Die Jahreszeit war schwer zu definieren, nicht nur, weil die beiden offensichtlich am Rande einer Tanzfläche in einem Club standen, sondern auch, weil ihre Kleidung keinen wirklichen Aufschluss bot. Er trug eine dunkelblaue Sweatjacke, die am Hals nur wenige Zentimeter geöffnet war. Sie trug ein ärmelloses, schwarzes Rollkragentop. Durch die Beleuchtung und die verschwommenen Menschen um sie herum schienen sie in einer eigenen Zeitzone zu sein. Der Mitte 20-jährige Mann stand frontal zur Kamera und lächelte in die Linse. Seine Begleiterin war zu ihm gewandt, ihre Hände ruhten auf seiner Schulter, während sie ihm mit geschlossenen Augen einen Kuss auf die Wange gab. Glück und Hingabe in einem Bild.
Tabea lächelte, als sie das Foto aus der Kiste holte. „Oh, ihr Babys! Wie alt seid ihr da?“ fragte Nadine. Ihre beste Freundin hatte an der Fotokiste mindestens genauso viel Spaß wie Tabea selber. Das Foto war gute achtzehn Jahre alt und ganz am Anfang ihrer Beziehung entstanden. Mit den Jahren waren es immer weniger Bilder geworden; zumindest was Bilder mit ihnen als Paar betraf. Familienfotos oder Fotos von ihnen mit Freunden hatte sie viele, und trotzdem hatte Tabea sich vorgenommen, Sebastian zum Hochzeitstag eine Collage der gemeinsamen Zeit zu schenken. Also verbrachte sie den Nachmittag mit Kaffee und Erinnerungen im Schneidersitz auf ihrer Terrasse.
Das grau-gestreifte Polster auf der Lounge-Sitzecke war dick und weich, und die Sonne strahlte auf ihre nackten Beine. Die Luft roch nach frisch gemähtem Gras und Kaffee. Das Zischen des Wasserschlauchs aus dem Garten rechts von ihr und das Brummen des Rasenmähers aus dem Garten links von ihr verschmolzen in ihren Ohren zu einem wohligen Hintergrundgeplätscher. Irgendwo unterhielten sich zwei Nachbarn über den Zaun hinweg, und aus der Ferne hörte sie die Sirenen eines Rettungswagens, der vermutlich das nahegelegene Krankenhaus ansteuerte. Während ein Foto nach dem anderen erst aus der Erinnerungskiste heraus und nach eingehender Begutachtung wieder hineingelegt wurde, holte Nadine ihre Zigaretten aus ihrem Auto. Der Garten lag vor ihr. Die Grashalme waren kurz und saftig grün, in der Mitte der Wiese führte ein Steinplattenweg zum Ende des Gartens, verlief an dem kleinen Geräteschuppen vorbei und endete direkt am Gartentor, durch das man auf den angrenzenden Parkplatz gelangen konnte.
„Wo ist Sebastian denn jetzt?“ Nadine hielt Tabea eine Zigarette entgegen und Tabea schürzte die Lippen. „Er ist unterwegs – Bildchen machen.“ Sebastian hatte mit einem alten Bekannten einen Termin ausmachen können, um das vor langer Zeit stillgelegte Stadtbad fotografieren zu können. Sie war es schon gewohnt, dass die kleine Selbstständigkeit ihres Mannes Lob und Anerkennung fand, sobald sie sie erwähnte. Als die beiden sich kennengelernt hatten, war Sebastian Party-Fotograf gewesen und jedes Wochenende in sämtlichen Clubs der Stadt unterwegs gewesen, um betrunkene, schwitzende und glückliche Feierwütige abzulichten. In ihrem gemeinsamen Prozess des Erwachsen-, also Eltern-Werdens, hatte er dieses Hobby erst pausiert und dann an die Lebensumstände angepasst. Er fotografierte seitdem Landschaften, Denkmäler und verlassene Orte. Für Tabea war Sebastians Fotografie nicht mehr als eine Taschengeldaufbesserung und so wirklich verstand sie nicht, warum alle wegen ein paar Bildern so aus dem Häuschen waren. Dass er ein Hobby hatte, war schön, aber für ihr Hobby, das Töpfern, begeisterte sich nie jemand so richtig, obwohl sie in der Zwischenzeit so gut war, dass ihre Schalen und Vasen fast wie aus dem Laden wirkten. Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt: Alle liebten Sebastian. Ihr schien es manchmal, als könnte er machen, was er wollte, und die ganze Welt würde ihn lieben. Für den Gedanken schämte sie sich ein wenig, deshalb redete sie nicht darüber und zeitgleich blieb der Neid immer ein bisschen bestehen und sorgte dafür, dass sie sich für seine Erfolge nur gedämpft freuen konnte, als müsste sie dagegenhalten. Dabei war er wirklich ein toller Mann. Er war hilfsbereit und höflich, durchsetzungsfähig und verlässlich und er war gut zu ihr. Während sich viele Frauen in ihrem Umfeld darüber beschwerten, dass sich ihre Partner an der Hausarbeit und der Erziehung nicht oder nur wenig beteiligten, war es für Sebastian von Anfang an vollkommen selbstverständlich gewesen, dass zwischen ihm und Tabea alle Aufgaben aufgeteilt wurden. Allein damit war er in den Augen anderer schon ein Kolibri. Alle hatten schonmal gehört, dass es solche Männer geben sollte, aber niemand hatte jemals so jemanden gesehen. Und obwohl ihr bewusst war, dass gerade diese Eigenschaften ihn für andere Frauen wahnsinnig attraktiv machten, gab es zwischen ihnen keine Eifersucht. Sie wusste aus eigener schmerzhafter Erfahrung, dass man für niemanden die Hand ins Feuer legen durfte und quittierte jegliche „MIR würde sowas nie passieren“-Ausrufe von Freundinnen immer mit einem wissenden „Sag niemals nie“. Zeitgleich wusste sie auch, dass ein Seitensprung nicht mehr als eine Krise sein konnte, die man überwinden konnte, wenn beide nur hart genug für die Beziehung kämpften. Vor ein paar Jahren hatte ihre gemeinsame Zukunft am seidenen Faden gehangen. Tabea hatte ihr Glück und ihre Ehe riskiert und sich auf einen anderen Mann eingelassen. Andre war ein Freund der beiden gewesen, den sie schon gekannt hatten, bevor sie Eltern geworden waren. Nach der Schwangerschaft hatte sich Tabea auf die Rolle als Mutter reduziert gefühlt. Bei Andre hatte sie das Gefühl gehabt, wirklich gesehen zu werden. Er hatte ihr Komplimente gemacht und von einer freien Zeit erzählt, die sie so vermisste. Sie hatte sich bei ihm ausweinen können, als das Leben mit Sebastian sie so ermüdet hatte und sie sich gefühlt hatte, als würde sie in einer Sackgasse stecken. Die Liaison war nicht mehr als ein Aufflackern gewesen. Sobald sie sich von Sebastian getrennt hatte und in eine eigene Wohnung gezogen war, hatte sie feststellen müssen, dass ihr Liebhaber seine Zukunftspläne mit ihr auf Sand gebaut hatte. Dass Sebastian sie nach fast einem Jahr und nach vielen langen Gesprächen wieder zurückgenommen hatte, dankte sie ihm noch heute. Ihre Tochter war damals noch viel jünger gewesen und konnte sich erfreulicherweise an diese Episode nicht erinnern. Sie sollte nicht das Gefühl haben, Tabea würde ihr Familienleben als Trostpreis empfinden. Jetzt war sie in ihrem Leben komplett angekommen. Natürlich gab es gelegentlich Aufgaben, die zu bewältigen waren, und Stressfaktoren, aber nie zwischen ihnen beiden.
Es gab keine stressigen Tage mehr. Es gab nur Tage wie heute. Es war ein ganz normaler Tag in einer normalen Woche in einem ganz normalen Monat im Sommer. Es gab keine Höhen und Tiefen mehr in ihrem Leben. Schon lange nicht mehr. Die ganzen Abenteuer, das Drama und das Wilde waren zur Vergangenheit geworden, und das war gut so. Sie liebte ihre Familie, ihren Mann, ihr Zuhause und die Routine. Das alles gab ihr Sicherheit. Die wiederkehrenden Abläufe brauchte sie, um sich wohlzufühlen, genauso sehr wie ihre gewohnte Umgebung. Natürlich gab es immer noch Kleinigkeiten, die sie an ihm störten – andersrum sicherlich genauso –, aber sie wusste die tiefe Freundschaft, die sie verband, zu schätzen. Sie würde sich nie wieder von ihm trennen.
Die Fotokiste brachte Erinnerungen an die Oberfläche, an die Tabea schon seit Jahren nicht mehr gedacht hatte; hauptsächlich aus einer Zeit vor Sebastian, als sie noch jung und ungebändigt gewesen war. Als Jugendliche hatte Tabea gestohlen und die Schule geschwänzt, hatte eine Klasse wiederholt und sich, während ihre Klasse einen Ausflug ins Neandertal-Museum im bergischen Land gemacht hatte, heimlich mit ihren Freundinnen den Weg in ein Tattoo-Studio gesucht und sich eine Schleife auf den Rücken stechen lassen. „Ewiges Leben“ sollte das bedeuten. Sie dachte, sie würde für immer wild bleiben. Von raspelkurz bis hüftlang hatte sie ihre Haare in jeder erdenklichen Länge getragen und sich quer durch die Farbpalette probiert. In der Rückschau hätte sie sich die weißen Haare mit blauen Strähnen sparen und die schwarze Kurzhaarfrisur mit leuchtend pinken Akzenten früher ausprobieren können. Tabea war mit Männern und Frauen zusammen gewesen, hatte nach dem Abitur spontan Freunde in anderen Bundesländern besucht und war dort wochenlang geblieben. Sie war bis nach Frankreich getrampt, ohne ein Wort Französisch zu sprechen. Die Piercings, die Augenbraue, Nase und Unterlippe geziert hatten, waren von einer Bekannten auf der Couch ihrer ersten eigenen Wohnung in einem Hochhaus gestochen worden. Tabea hatte viel getrunken, geraucht, gekifft und allerlei andere Dinge ausprobiert. Und irgendwann zwischen der Begründung einer WG mit einem völligen Fremden aus einem Internetforum und fünf Tassen Glühwein an einem Stand auf dem örtlichen Weihnachtsmarkt, der von einem Bekannten betrieben wurde, hatte sie einen Mann kennengelernt. In seiner viel zu dünnen, blauen Steppjacke und dem resignierten Blick hatte er beinahe schutzbedürftig ausgesehen. Das dunkle Haar war unter einer Wollmütze versteckt gewesen und seine Blicke waren genervt und müde zwischen seiner schönen, blonden Begleiterin und dem Bekannten hinter dem Tresen hin und her. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick gewesen, aber Tabea hatte zum ersten Mal ein Gefühl von „Aha, du gehörst jetzt zu meinem Leben“ empfunden. Ein paar Wochen später hatte sie erfahren, dass sich Sebastian von seiner Freundin getrennt hatte und Tabea hatte ihre Chance ergriffen. Seine zurückhaltende und irgendwie spießige Art hatte sie angezogen. Das hatte ihr Frieden und Bodenständigkeit vermittelt. Umstände, die sie in den vergangenen Jahren weder gelebt noch gesucht hätte. Tabea und Sebastian waren so unterschiedlich gewesen, dass sie sich wie Puzzleteile ergänzt hatten. Während sie stürmisch und laut war, war er besonnen und leise. In Streitsituationen war sie der Angriff und er der Rückzug. Sie stand gerne im Mittelpunkt, er war gerne Zuschauer. Dreimal hatte Tabea ihren Studiengang gewechselt, und es war kein Ende in Sicht gewesen, während Sebastian nach seinem abgeschlossenen Studium eine Laufbahn bei der Stadt angestrebt hatte. Vom ersten Moment an hatten sie als Pärchen so eingespielt gewirkt, dass man den Eindruck hatte, sie wären schon seit Ewigkeiten zusammen gewesen. Es hatte sich nach Ankommen angefühlt. Dass sie nach zwei Monaten zusammengezogen waren, hatte genauso gut zu ihnen gepasst wie die ihre Hochzeit ein Jahr später.
Spätestens mit Luisas Geburt endete ihre feurige Zeit. Von der gefühlsbestimmten, ungefilterten, jungen Frau, die Tabea vor 17 Jahren noch gewesen war, war nicht mehr geblieben als die Vorliebe für schwarze T-Shirts. Das dunkle Augen-Make-up hatte sie abgelegt, genauso wie überstürztes Handeln und Eskalation. Ihre Beziehung war nicht leidenschaftlich, so wirklich war sie das nie gewesen, aber sie war beständig und das beruhigte sie, auch wenn sie manchmal von einem anderen Leben träumte. Philipp Dittberner sang 2015 „Wolke 4“, und sie empfand das Lied seitdem, als wäre es die Hymne ihrer Beziehung. Es gab keine Luftsprünge, keine Aufregung, aber dafür gab es auch keine Dramen, keine Tiefschläge. Sie lebten im emotionalen Mittelmaß, und sie war damit maximal zufrieden.
Auf den Fotos, die sie nun in den Händen hielt und mit ihrer Freundin beäugte, war die komplette Transformation zu erkennen. Tabeas Haare waren mal länger, mal kürzer, bis sie ihre schlussendliche Länge bis zu den Schultern erreicht hatten. Ungefähr zur Einschulung der Tochter hatte sie damit aufgehört, ihre Haare zu färben, was man an dem Ansatz sah. Das glückliche i-Dötzchen, die pinke Schultüte haltend, in der Mitte zwischen den stolzen Eltern, im Hintergrund die Grundschule. In einem Versuch, den Farbübergang zu kaschieren, hatte Tabea ihre langen Haare aufgedreht, aber man sah es trotzdem. Inzwischen war die Farbe komplett herausgewachsen, und das dunkle Braun ihrer welligen Haare wurde immer mehr durch graue Strähnen durchbrochen. Eigentlich verrückt, wie viele Gedanken man sich über sein Aussehen machte, um dann nach Jahren doch immer festzustellen „Damals sah ich besser aus als heute“ dachte sie bei dem Anblick. Ihr Gewicht hielt sie seit Jahren. Schon vor der Schwangerschaft war sie mehr dick als schlank gewesen. Das Ganze hatte am Ende der Schwangerschaft seinen Höhepunkt erreicht. Als es beinahe unmöglich gewesen war, passende Kleidung zu finden, hatte Tabea beschlossen, dass das aufhören musste. Bis zum ersten Geburtstag ihrer Tochter hatte sie ihr Gewicht halbiert und nie wieder zugenommen. Oft dachte sie, dass sie zu ihrem Vorteil auch kein zweites Kind mehr bekommen hatte.
Nach guten zwei Stunden hatten die beiden Frauen ausreichend Fotos für die Collage zusammengefunden. Ein paar Bilder, die Tabea nur digital hatte, würde sie noch ausdrucken lassen und mit in den Rahmen packen. Bis zum Hochzeitstag waren es noch vier Wochen, also war noch genügend Zeit zur Vorbereitung. Obwohl der Weg von der Terrasse zum Parkplatz durch den Garten kürzer gewesen wäre, verabschiedeten sich die Freundinnen an der Wohnungstür, weil Nadine bei ihrer Ankunft dort an der Garderobe ihre Handtasche und die Schuhe abgestellt hatte. „Es war mir wie immer ein Fest!“ Tabea umarmte ihre Freundin herzlich und strahlte. „Na und mir erst, meine Liebe!“, erwiderte Nadine und drückte Tabea zum Abschied einen Kuss auf die Wange. Nachdem Tabea die dunkle Holztür der geräumigen Dreizimmerwohnung hinter sich geschlossen hatte, atmete sie tief durch. Es roch nach Vanille und Kokos – dem Bodyspray ihrer Tochter. Die 16-Jährige hüllte sich regelmäßig in eine Wolke aus Vanille und gab einem so das Gefühl, in einer Douglasfiliale zu leben. Die Wohnung war wie üblich aufgeräumt, nur in der Spüle lagen zwei weiße Plastikbrettchen und zwei Messer, die vermutlich vom Frühstück übrig geblieben waren. Die Küchenschränke waren aus rötlichem Kirschholz und im oberen Drittel des Fliesenspiegels erstreckte sich eine Bordüre, auf der blaue Kannen, Tassen und allerlei andere Küchenutensilien abgebildet waren. Ein Überbleibsel der Vorbesitzer der Wohnung. Auch sonst hatten sie, als sie die Wohnung gekauft hatten, nicht viel verändert. Die mediterranen Bodenfliesen trafen nicht ihren Geschmack und die braunen Türen und Zargen hätte sie lieber weiß gestrichen, genauso wie die dunkelbraunen Fensterrahmen, aber Sebastian mochte es klassisch. Die Einrichtung der Wohnung mutete insgesamt ein paar Jahrzehnte aus der Zeit gefallen an. Die kleine Küche war durch eine dicke Glasbausteinwand vom Essbereich, der nahtlos in das Wohnzimmer überging, getrennt. Damit vorbeigehende Fußgänger nicht in die Küche sehen konnten, war das Fenster mit einem faltbaren Plissee ausgestattet worden. Die verschiedenen Küchenkräuter in den kleinen, schwarzen Blumentöpfen waren nur deshalb nie vertrocknet, weil Sebastian sie immer wieder mit neuem Wasser versorgte. Tabea hatte für Pflanzen keinen Sinn und zum Kochen benutzte sie ohnehin eher getrocknete Kräuter aus einer Dose. Im Gegensatz zu den warmen Tönen der Küche wirkte der Essbereich eher kühl. Die Platte des Esstisches war aus schwarzem Glas, dessen Mitte von vier silbernen Vierecken geschmückt wurde. Auf einem der schwarzen Lederstühle hing eine blaue Nike-Kapuzenjacke ihrer Tochter, die fast bis zu den geschwungenen, durchgehenden Metallbeinen reichte. Es war fast 18 Uhr und das bedeutete, dass sich Tabeas „Me-Time“ langsam dem Ende neigte. Im Laufe der Jahre hatte es sich eingespielt, dass die Familie sich um 18:30 Uhr zum Essen traf. Wo auch immer jeder von ihnen am Tag über war, trudelten sie gegen halb sieben unabhängig voneinander nach Hause. Heute war Tabea an der Reihe, für die Familie zu kochen.
Mann und Tochter kamen zeitgleich nach Hause und während die 16-Jährige sich in ihr Zimmer zurückzog, machte es sich Sebastian auf der Couch bequem und versank in seinem Handy. Noch immer sah Tabea ihn gerne an. Seine stämmigen, behaarten Beine lugten aus der kurzen Jogginghose heraus und waren locker übereinandergelegt. Das Kopfhaar war mit dem Alter weniger geworden, aber nicht völlig verschwunden. „Wie war es heute auf der Arbeit?“, fragte sie ihn über das Lärmen der Dunstabzugshaube hinweg. Er blickte auf, legte das Handy zur Seite und setzte sich hin. Das blaue Poloshirt, das er trug, spannte sich dabei ein wenig. Seine Augen blitzten kurz auf, als er auf die Auseinandersetzung auf der Arbeit angesprochen wurde. „Du glaubst nicht, was die heute schon wieder gemacht hat!“, antwortete er bei dem Gedanken an die Arbeit erneut aufgebracht und ließ sich ein wenig über seine Kollegin aus. Sie konnten sich nach all den Jahren immer noch wunderbar unterhalten. Sebastians Allgemeinbildung hatte ihr schon immer imponiert, aber seine mitunter spießige Einstellung provozierte sie auf eine spielerische Art. Sie ergänzten sich hervorragend. Ganz gleich, ob sie sich über die Arbeit, das Weltgeschehen, die Familie oder das Kind unterhielten. Sie fanden auch nach all den Jahren immer ein Thema. Auch wenn sie nicht immer einer Meinung waren, bildeten sie doch ein tolles Team – als Eltern und als Wegbegleiter. Er war nicht nur ihr Mann; er war ihr bester Freund.
Sebastian hatte sich mittlerweile über die Kollegin in Rage geredet und Tabea setzte sich kurz neben ihn auf die Couch, nahm seine Hände und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Erstaunt unterbrach er seinen Redeschwall. „Einfach so“, sagte sie und beantwortete damit die noch unausgesprochene Frage, „Das Essen ist fertig.“
Zum Abendessen traf sich die Familie am Tisch. Luisa hatte die cremefarbenen Platzdeckchen aus der Schublade in der Küche geholt. Sebastian hatte sich um Wassergläser, Gabeln und Löffel für alle gekümmert. Während sie die Nudeln und die Bolognese-Soße auf die tiefen Teller verteilte und das Radio im Hintergrund lief, vibrierte ihr Handy. Schnell nahm sie das Smartphone in die Hand, um zu sehen, wer ihr geschrieben hatte, bevor sie wie immer das Handy für das gemeinsame Essen zur Seite legen würde. Die digitale Anzeige des Radios war in diesem Moment auf 18:34 Uhr umgesprungen. Früher, in ihren Anfängen, hatten sie einen großen Freundes-und Bekanntenkreis gehabt. Sie waren viel unterwegs gewesen. Das war zu einer Zeit, als Handys noch fast ausschließlich zum Telefonieren genutzt wurden und die Bildqualität schrecklich verpixelt war. Aus diesem alten Leben war ihnen nicht mehr geblieben als ein Bild, das heute an der Wand der Essecke hin. Ihr Blick ruhte auf dem eingerahmten Poster, das eine in Blau gehaltene Straße mit einigen Laternen zeigte. Pünktlich zu ihrer Schwangerschaft und damit dem gemeinsamen Rückzug aus dem Nachtleben der Stadt hatte der Inhaber der Bar, in der sie Sebastian zum ersten Mal geküsst hatte, Konkurs angemeldet und die Inneneinrichtung versteigert. Sie hatten das Bild ergattert und es als Zeichen ihres tollen Anfangs in ihr gutbürgerliches Zuhause gehängt.
„Wer hat geschrieben?“, wollte ihre Tochter wissen. Tabea wusste nicht, was sie von der Nachricht, die sie in ihrem Messenger fand, halten sollte. Eine Einladung zum Klassentreffen. Zwanzig Jahre waren seit ihrem Abitur vergangen, und bis auf zwei Freundinnen hatte sie kaum etwas Gutes aus der Schulzeit in Erinnerung behalten. Sie sah das junge Mädchen, das schon am Tisch Platz genommen hatte, an. Ihre Tochter war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Es schien fast so, als wären allein ihre Gene weitergegeben worden. Sie war unendlich froh, dass ihre Tochter eine schönere Jugend, als sie gehabt hatte, erlebte. Luisa war groß gewachsen und trug ihre dunklen Haare lang. Die Pubertät hatte ihre Noten nicht negativ beeinträchtigt, obwohl ihre Tochter – im Gegensatz zu Tabea im vergleichbaren Alter – eine sehr aktive Gruppe von Freunden hatte. In diesem Sommer verbrachte sie die Tage fast ausschließlich im Freibad und die Wochenenden in Partykellern und Kleingärten der Freundinnen. Das Kind war so ausgeglichen und fröhlich. Nur die Auswahl der Kleidung führte stellenweise zu Diskussionen zwischen beiden Eltern und Kind, aber auch dieser Umstand schien gemessen an ihrer eigenen Erfahrung noch als nicht erwähnenswert.
Nachdem der Tisch abgeräumt und gewischt und die Teller und das Besteck in der Spülmaschine verräumt waren, verabschiedete sich Tabea von ihrer Familie. Kurz überlegte sie, ob sie nicht doch lieber mit dem Auto fahren sollte, aber der Biergarten, in dem sie mit ihrer Freundin verabredet war, lag in einer dicht besiedelten Gegend im Ortskern und die Parkplätze waren entsprechend rar. Das Fortbewegungsmittel der Wahl war also ihr Damenrad.
Eva wartete bereits vor dem Eingang des Biergartens, und die beiden Frauen suchten sich einen Weg vorbei an den voll besetzten Tischen und Sitzbänken und steuerten einen kleinen, runden Mosaiktisch mit zwei freien Stühlen am Rand des Außenbereichs an. „Erzähl mir von dem neusten Drama!“ Tabea strahlte über das ganze Gesicht. Es war so schön, Eva zu sehen. Ihre Freundin war einer dieser Menschen, bei denen immer irgendetwas los war. Während sie glücklich in ruhigem Fahrwasser unterwegs war, überschlugen sich bei Eva oft mehrere Ereignisse zeitgleich. Der Vater ihres Sohns trug dazu genauso bei, wie ungerechte Vorgesetzte und wechselnde Dates. Wahrscheinlich frauentypisch hatten die Dates keine Klarnamen, sondern bekamen immer relativ zügig einen Spitznamen verpasst. Andernfalls wäre Tabea auch durcheinandergekommen. Nach zwei guten Verabredungen hatte sich Eva in der letzten Woche zum dritten Mal mit dem Koch getroffen und erzählte nun in epischer Breite davon, wie er unangenehme Annäherungsversuche gemacht hatte, während er sich abfällig über Evas Wohnung geäußert und die Katze beleidigt hatte. Es würde also kein viertes Treffen geben. „Glaubst du das? Was bildet der sich eigentlich ein? Ist zum ersten Mal bei mir zu Hause und moppert dann an meiner Einrichtung rum!“ Tabea legte den Kopf schräg und verzog das Gesicht. „Ehrlicherweise: Selbst, wenn er schon öfter in deiner Wohnung gewesen wäre, wäre es unverschämt.“ Sie setzte das große Glas Weinschorle an ihre Lippen und nahm einen Schluck. Immer wieder wunderte sie sich, auf welche Männertypen ihre Freundin auf ihrer Suche nach einem geeigneten Partner traf und freute sich ein ums andere Mal, dass sie aus dem ganzen Dating-Game raus war. Es war Jahre her, dass sie sich hatte Gedanken darüber machen müssen, was sie bei einem Treffen anziehen sollte, wer sich wann beim anderen melden sollte oder was man zusammen unternehmen konnte, um aufregende Ausflüge zu machen. Den Geschichten über die Irrungen und Wirrungen der Partnersuche (denn um Männersuche ging es nicht. Es sollte ein Mann gefunden werden, der aufrichtiges Interesse an einer echten Beziehung hatte) zu folgen war fantastisch und trotzdem war es das beste aller Gefühle danach, in ihren sicheren Hafen zurückzukehren und mit all diesen Dingen nichts zu tun zu haben. Während der penetrant Kaugummi kauende Koch also ununterbrochen die Möbel und die Existenz der Katze monierte, musste sich Eva parallel mit ihrem Ex-Freund rumschlagen, weil er die Höhe des Kindesunterhalts variabel je nach verbrachter Zeit mit dem gemeinsamen Sohn gestaltete. Trotz der immer anderen Katastrophen war ihre Freundin eine rheinische Frohnatur und Tabea lachte so viel wie schon lange nicht mehr. Es war keine Unterhaltung, in der Lösungen gefunden werden sollten. Es war einfach ein wunderschöner, fröhlicher Abend, an dem sich die beiden auf dem Laufenden hielten, auch wenn Tabea wie üblich nicht viel zu berichten hatte. Ihr Spektrum beschränkte sich auf die Schullaufbahn ihres Mädchens und kleine Kämpfe, die sie auf der Arbeit ausfechten musste, weil ihr Team unterbesetzt war, ihre Mitarbeiter überfordert waren und die Geschäftsführung keine neuen Stellen freigab. Zwischen ihr und ihrer Freundin herrschte genau die richtige Kombination aus Nähe und Abstand. Das machte den Austausch immer frei und entspannt.
In dem Moment, als Tabea ein paar Stunden später wieder die Wohnungstür hinter sich schloss, hörte sie gerade noch, wie Sebastian ein Telefonat beendete. Die Stelle als Pressesprecher nahm ihn wirklich wahnsinnig in Anspruch. Zur Begrüßung stand er auf und kam ihr entgegen, um ihr einen Kuss zu geben und erkundigte sich, ob sie einen schönen Abend gehabt hätte. „Du kennst ja Eva. Dramen über Dramen. Damit haben wir nichts zu tun“ lachte sie. Die beiden setzten sich auf die schwarze Eck-Ledercouch, er auf seiner und sie auf ihrer Seite, und sprachen noch kurz darüber, was heute passiert war. Das allerdings mit Einschränkungen. Tabea erzählte nicht, was sie mit Nadine am Nachmittag gemacht hatte, um die Überraschung zum Hochzeitstag nicht zu verderben, und Sebastian ersparte seiner Frau, die das dankend annahm, Ausführungen über sein Fotoshooting. Sosehr sie ihn auch liebte, das Thema langweilte sie nicht nur schrecklich, sie konnte es auch nicht wirklich ernst nehmen. Ihr war klar, dass ihn das verletzen würde, deshalb war es umso angenehmer für beide, wenn sie das Thema Fotografie einfach komplett ausklammerten. Darüber konnte er mit seinen Foto-Freunden sprechen. „Wo ist denn die Jubiläumsfeier?“, wollte Sebastian schließlich wissen. Eine wirkliche Antwort musste Tabea ihm schuldig bleiben. „Das steht noch nicht fest. Die Organisatoren fragen wohl im Moment verschiedene Lokalitäten an und geben dann weitere Infos in der Gruppe bekannt, sobald auch klar ist, wie viele Personen ungefähr teilnehmen werden“.
Im Hintergrund lief der Fernseher und zeigte eine True-Crime-Dokumentation. Tabea lehnte sich zurück. Bis zu der Ehemaligenfeier waren es noch ein paar Monate. Sie musste nicht jetzt entscheiden, ob sie teilnehmen würde oder nicht. Eins der roten Zierkissen, die wie üblich auf der Couch lagen, stützte ihren Nacken, damit sie in der möglichst bequemsten Position die Geschehnisse auf dem Bildschirm verfolgen konnte. Sebastian widmete sich derweil wieder seinem Handy und las Nachrichten oder schrieb an einer Pressemitteilung, die morgen früh rausmusste. Seine braunen Augen fixierten konzentriert und aufmerksam den Bildschirm in seiner Hand. Oft arbeitete er noch in den späten Abendstunden an Schreiben, die er in der Hektik des Büroalltags nicht fertiggestellt hatte.
Als die Doku ohne den Fund eines Täters und mit offenem Ende zum Schluss kam, war Sebastian bereits eingeschlafen. Kurz überlegte Tabea, ihn mit einer Decke zuzudecken, aber es waren noch immer 25 Grad und laut Wetter-App sollten die Temperaturen auch in dieser Nacht nicht viel weiter sinken. Also ließ sie ihren Mann einfach liegen. Er schlief oft auf der Couch ein und mittlerweile hatten die beiden sich darauf verständigt, dass sie ihn nicht wecken sollte, wenn sie sich auf den Weg ins Bett machte. Als sie mit ihrem weiten, wie ein T-Shirt geschnittenen Nachthemd, auf dem ein großer Vogel mit wackelnden Flügeln abgebildet war, im Badezimmer Zähne putzend vor dem Spiegel stand, fragte sie sich, wann sie derart alt geworden war. Die Haare waren durchzogen von grauen und weißen Strähnen, die Augen umringt von kleinen Falten. Sie sah ihrem Vater im Alter immer ähnlicher. Auf dem Weg ins Schlafzimmer sah sie nochmals nach ihrem Mann, obwohl sie dafür aus dem hinteren Flur, der den Rest der Wohnung vom Schlafbereich trennte, hinaustreten musste. Sebastian atmete tief und gleichmäßig. Sogar im Schlaf hatte er einen ernsten Gesichtsausdruck.
