Drei Romane - Pola - E-Book

Drei Romane E-Book

Pola

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Beschreibung

Die "Drei Romane" von Pola Polanski stellen jeweils künstlerisch begabte Frauen in den Mittelpunkt, die ihre Kreativität als Schriftstellerinnen und Malerinnen – oft um die passenden Worte, Farben oder künstlerischen Mittel ringend - ausdrücken. Ihnen ist ihre seelische Fragilität gemein, sie haben Phasen psychischer Erkrankung und Therapien durchlebt, müssen teils Medikamente nehmen, um ihre Stimmungsschwankungen auszugleichen. Dennoch wehrt Mia in "Das Wolfsbaby" sich gegen den Stempel einer Diagnose. Das Auf und Ab ihres Seelenlebens versteht sie als wesentlichen Teil ihres Selbst und auch als Quelle ihrer Inspiration. Während Toni in "Mein Alter Ego" und Angelika in "Die schwarzen Engel" Fehlgeburten und eine Abtreibung verarbeiten müssen, woran ihre Beziehungen zu einem Mann scheiterten, gebiert Mia in "Das Wolfsbaby" ein Kind mit dem Werwolf- Syndrom, was ihren Partner in den Alkoholismus treibt und ihre Liebe auf eine Zerreißprobe stellt. Annika begegnet auf einer Nil-Kreuzfahrt ihrem Alter Ego Toni, die sich auf einem Feldzug der Rache befindet, und fühlt sich genauso von ihr angezogen und umgekehrt wie Angelika in "Die schwarzen Engel" von Simone, bei der sie als Untermieterin einzieht, bevor sie in einen Wahn stürzt. Diese Ambivalenz in der gefühlsmäßigen und sexuellen Orientierung zwischen einem weiblichen und einem männlichen Pol gilt für beide Frauen-Paare. Alle Drei Romane sind durchzogen von intensiven plastischen Träumen, Mia besucht in ihren geistigen Visionen außerdem einen fantastischen Planeten. Reisetagebücher in "Mein Alter Ego" und "Das Wolfsbaby", die in die Kultur des Alten Ägypten und die griechische Mythologie führen, Musik und Literatur, auf die Bezug genommen wird, verdichten die unverschnörkelt formulierten Texte mit den knappen Dialogen zu einem vielfältigen Ganzen.

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Seitenzahl: 359

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Pola Polanski, Mein Alter Ego, Die schwarzen Engel, Das Wolfsbaby

© 2021 der vorliegenden Ausgabe: Verlagshaus underDog

www.underdog-verlag.de

© 2021 Annette Haug

Pola Polanski

Mein Alter Ego

Die schwarzen Engel

Das Wolfsbaby

Coverillustration: © Annette Haug

Umschlaggestaltung: © Daniel Brabec, www.contactdesign.de

Lektorat: Dr. Lotte Husung, www.buchstaeblich-lektorat.de

Satz und Layout: © Daniel Brabec, www.contactdesign.de

Druck: CPI, www.cpibooks.com

Inhaltsverzeichnis

Mein Alter Ego

Die schwarzen Engel

Das Wolfsbaby

Mein Alter Ego

Teil 1

1. Tag, Abflug ab Frankfurt und Einschiffung in Luxor

Meine Gedanken rasen, aber wie können sie rennen, wenn der Rasen draußen vor meinem Fenster still, festgewachsen steht? Zwischen den jungfräulichen Gräsern steht etwas Unkraut. Ich denke über das Wort „Unkraut“ nach. Das ist also kein Kraut, aber was ist ein Kraut? Sauerkraut? Rotkraut? Unkraut, also kein Kraut, das man essen kann? Deswegen zu nichts nutze? Die Insekten hatten sich gefreut, als der Rasen noch nicht neu gesät war. Die Nachbarn haben die Nase gerümpft über meinen Unkraut-Rasen, mein Insektenhotel.

Ich weiß, ich sollte nicht zu viel reflektieren, meiner Kopfhaltung tut es nicht gut, aber ich sehe schon, das Gespinst rollt an und droht, mich zu verschlingen.

Mein Partner Paul und ich stiegen um fünf Uhr morgens in den Aufzug im Hilton am Frankfurter Flughafen. Ein Traumrest trieb noch sein Unwesen in meinen Gedankenspiralen. Paul und ich waren im Bett gelegen, aber zwischen uns in der Bettritze schlief eine fremde Frau, die mir den Rücken zukehrte. Wahrscheinlich roch ich nach Rauch, denn wir hatten entgegen unseren Plänen doch noch ein Raucherzimmer gebucht. Im Hilton gab es nämlich keine Raucherlounge, man musste einen langen Weg gehen, um nach draußen zu gelangen. Ich hatte in dem kleinen Hotelzimmer mit Paul etwas gestritten, weil man in dem Hotel kein Fenster öffnen konnte. Dabei war er ja so nett gewesen, wegen mir das Raucherzimmer zu buchen.

Die beiden Herren, mit denen wir am nächsten Morgen im Aufzug fuhren, waren, wie ich sofort bemerkte, schwul, denn beide trugen den gleichen Schal, aber jeweils in anderen Farben, dazu rosafarbene Hemden. Die Glatzen der beiden glänzten von der morgendlichen Creme. Obendrein rochen sie penetrant nach Rasierwasser. Einer der Herren fragte uns, wohin wir flögen. Mein Partner sagte „Ägypten“ und ich gleich darauf „Luxor“. Der Herr lächelte unverbindlich und meinte darauf:

„We Americans wouldn‘t go to Egypt.“

Wir waren unten angelangt und die zwei Amerikaner bogen in eine andere Richtung ab. Wir stoppten kurz an der Kaffeetheke. Seitdem Paul keinen Alkohol mehr trank, konnte er Massen von Zeug essen. Ich wunderte mich, warum er nicht dick wie ein Kloß wurde. Er aß drei süße Stückchen, während ich nur Kaffee trank. Ich dachte, das geht nicht, der Darm ist voll. Wer konnte schon morgens um fünf Uhr aufs Klo? Und dann noch etwas essen? Aber innerlich lachte ich über mich, denn seit jeher war es so auf Reisen, bei denen man so früh aufstehen musste. Aufs Klo gehen ging nicht. Als ob man einen Pfropf im Hintern hätte. Und der ging erst entweder abends in Sicherheit in irgendeinem Hotelzimmer oder am nächsten Morgen nach einem Kaffee auf. Die Sorge, nicht aufs Klo zu können, stammte aus meiner Familie. Mein Vater aß morgens löffelweise Weizenkleie zusammen mit lauwarmem Wasser, während meine Mutter abends Backpflaumen in sich hineinmampfte.

Der Gartenschlauch windet sich wie eine Schlange auf der Terrasse, eine Schlange, die sich nur erhebt, wenn ich den Wasserhahn öffne. Dann spritzt sie ihr Wassergift nach allen Seiten und ich bin schon nass, bevor ich mit dem Gießen des Rasens, der ja stillsteht, beginne. Mittlerweile finde ich es sehr meditativ abends, mit dreckigen Turnschuhen und Leggins bekleidet, den langsam rasenden Rasen zu gießen. Die ganze Nachbarschaft sieht mir zu, wie ich den Rasen gieße. Den Rasen, der nicht wegläuft, da er ja festgewachsen ist. Der Gärtner hat gesagt, „Da dürfen Sie ruhig reintreten“, also trete ich mit meinen ausgelatschten Turnschuhen auf die armen Rasenkeime. Die können sich ja nicht wehren. Bis jetzt haben sie noch nicht demonstriert. Das wäre doch was, wenn plötzlich Tausende Grashalme vor meinem Fenster stünden mit Plakaten, auf denen zu lesen ist: „Rasen betreten verboten!“ So wie in Corona-Zeiten alle Spielplätze abgesperrt waren mit Schildern „Betreten verboten“.

Später im Flugzeug hatte ich seltsame Nachbarn. Die Frau direkt neben mir trug das Gewand der Ägypter, eine Galabija, in einer Farbe, die ich zum Kotzen fand. Beige … so wie die Rheuma-Unterhosen von alten Leuten. Nach dem Start zog sie sich ein Tuch über den Kopf. In derselben Farbe! Ihren „Mann“ neben sich behandelte sie wie einen Bediensteten. Ob die in einer Sekte waren? Das Mittagessen hatten sie sich vorbestellt, Gemüse-Curry, sie tranken keinen Alkohol, stattdessen aßen sie Unmengen von Gummibärchen und lasen in Astrologiebüchern und Romanen über den Orient. Paul schlief fast die ganze Zeit. Man musste ihn nur irgendwo hinsetzen und er schlief ein, während ich wie immer, Bing!, wach war, obwohl ich mir einen Weißwein genehmigt hatte.

Nach den unendlichen Passkontrollen kam unser Gepäck an und kurz darauf saßen wir in einem komfortablen Bus. Die Busse wurden im Laufe der Reise immer kleiner und unbequemer, diametral zu den Tempeln, die von innen her gebaut immer größer wurden. Wir fuhren an einem Flussarm des Nils entlang. Sofort war man in eine andere Welt versetzt. Ein Europäer wünscht sich bestimmt nicht, so zu leben. Die Ägypter lassen sich noch von Eselskarren ziehen. Und wenn sie Autos haben, dann sind sie uralt.

Auf meiner Terrasse steht ein Tisch, den mir ehemals ein Freund gebaut hat. Auf dem Gestell des berühmten Bauhaus-Architekten Eiermann ruht eine Holz-Tischplatte, die ehemals eine Tür war. Die Tür hat zwei Löcher in der Tiefe. In einem der zwei Löcher haben sich jetzt Bienen eingenistet. Jedes Mal, wenn ich die Tischdecke über die zwei Löcher ausbreite, suchen die Bienen ihr Loch. Wenn Paul und ich grillen, sitzt er immer vor dem Loch, das durch die Tischdecke verdeckt ist. Die Bienen fliegen an und finden enttäuscht ihr Loch nicht. Und Paul sitzt da und scheucht die Bienen weg, die ja traurig darüber sind, dass sie jetzt nicht ihre Königin umhegen können. Mein Kopf wird ganz rot vor Hitze, während ich schreibe, denn gleich begegne ich Toni zum ersten Mal. Ich weiß noch gar nicht, wie ich dieses Treffen beschreiben soll. Es bereitet mir Bauchschmerzen.

Ich sehe aus dem Fenster auf meinen langsam festwachsenden Rasen, der nicht rast, und schreibe. Ich schreibe rasend, immer zu schnell, wie eine Rasende, die jetzt in ihren Garten mit Gedankenrasen auf ihren Rasen schaut.

Ich setze mich auf meinen knallroten Sessel, öffne die Terrassentür, zünde mir eine der ägyptischen Zigaretten an und schaue auf die Packung. Die Ägypter haben nicht ganz so schlimme Ekelbilder auf ihren Packungen. Es gibt nur zwei Bilder: eine Ägypterin, die zwei Gesichtshälften hat. Die eine Gesichtshälfte ist jung, die andere ist vergilbt und faltig. Auf einer anderen Packung finde ich eine Zigarette und darunter eine tote Kakerlake, die auf dem Rücken liegt. Als ob Kakerlaken sterben würden! Die einzigen Lebewesen, die einen Atomkrieg überleben, werden Keith Richards und Kakerlaken sein. Als ich das schreibe, grinse ich in mich hinein. Ich mache die Zigarette aus. Sie ist zu stark. Wahrscheinlich enthält sie keine Smoothing-Stoffe wie eine europäische Zigarette. Es ist Nacht. Der rasende Rasen und damit mein Schreiben ist weggerast. Ich lasse die Rollläden herunter. Für heute genug geschrieben.

Als wir am Hafen von Luxor ausstiegen, stach die Sonne in unser Hirn und ein Haufen Ägypter umringte uns.

„Ein Euro“ für ein Tuch.

„Ein Euro“ für eine kleine Skulptur.

„Ein Euro“ für eine Zeichnung von Tutanchamun.

„You change ten Euro?“

Wir waren schon in Ägypten gewesen und kannten das. Also kein Problem. Augen zu und durch. Nicht zur Seite schauen, nicht beachten. Aber da bemerkte ich zum ersten Mal auf der Reise Toni! Sie hatte sich in dem ganzen Chaos eine Zigarette angezündet. Ich fand sie gleich sympathisch. Ich steckte mir auch eine an.

Sie sagte: „Also, wenn ich so überfallen werde, gebe ich zuerst einmal gar nichts.“

Ich meinte: „An die Überfälle musst du dich gewöhnen. Das ist hier so.“ Die Zigaretten waren schon aus und wir wurden weiter auf das Schiff zu unseren Zimmern gehetzt.

Paul und ich hatten das geniale Los gezogen. Man fühlte sich wie in der Kolonialzeit in unserer Minisuite mit den zwei Zimmern. Es gab einen minikleinen begehbaren Schrank und einen ebenso kleinen Raucherbalkon. Der Boden und die Vorhänge waren bordeauxrot. Die Wände zierten ägyptische Ornamente. Das Bad hatte eine Dusche und eine Wanne. Sogar einen Teekocher hatten wir auf dem Zimmer. Der Urlaub war für mich gerettet. Es gab allen Komfort, den ich auch daheim hatte. Ich war sofort glücklich. Es gab allerdings kein zufriedenstellendes WLAN und der schwere Stecker meines Macintosh hielt in der wackligen Steckdose nicht. Wie hätte ich denn die Batterie aufladen sollen und wie sollte ich, ohne bei google nachschlagen zu können, schreiben? Den Computer packte ich nach drei Tagen wieder ein. Der Sprechgesang des Muezzins drang in unsere Suite und ich dachte kurz an Toni. Sie hatte so zerbrechlich klein inmitten der ganzen Ägypter gewirkt. Aber da war es schon Zeit, essen zu gehen.

Der Reiseleiter hatte uns eingeschärft: „Der Platz, den Sie jetzt einnehmen, wird der Ihrer ganzen Reise sein.“ Die ganze Reisegruppe saß schon, als wir den Raum betraten. Paul steuerte auf die zwei letzten Plätze zu, und ich saß dann am Rand der ganzen Gruppe, hatte aber den Blick auf den Nil. Toni saß mir schräg gegenüber. Alle hatten sich schon etwas vom Buffet genommen. Wir bestellten uns etwas zu trinken und Paul lief los. Ich wusste nicht, was ich zu Toni sagen sollte, auch die anderen waren mir fremd. Also startete ich die Konversation mit: „Die Woche wird super! Das Wetter ist toll. Wir haben eine Mega-Suite!“ Da horchten plötzlich alle auf.

„Eine Suite?“, fragte die Frau, die mir schräg gegenübersaß.

„Ja, wir haben zwei kleine Zimmer und einen Balkon.“

„Wir haben nur ein Zimmer und keinen Balkon, wie kommt ihr zu der Ehre?“

„Die Frau im Reisebüro hat irgendwas gebucht. Ich war auch total überrascht.“

Paul war gerade vom Buffet zurückgekommen. Er tuschelte mir ins Ohr: „Das darfst du niemandem sagen, das mit der Suite.“

Ich schaute wieder Toni an. Ihre Zähne waren so klein, dass ich zuerst dachte, sie hätte noch ihre Milchzähne im Gebiss. Halblanges lockiges, blondes Haar umrahmte ihr schmales Gesicht, aus dem die blauen Augen zu leuchten schienen, aber vielleicht waren es auch nur Tränen, die in ihren Augen hingen. Sie war klein, aber sportlich. Im Gegensatz dazu stachen ihre schmalen Handgelenke hervor, als ob sie gleich abbrechen könnten.

Die Frau neben ihr wirkte verhärmt und zäh und war sehr faltig im Gesicht. Ich rätselte, ob sie vielleicht ihr Leben lang geraucht oder zu viel in der Sonne gelegen hatte. Sie trug eine Brille und hatte eine schwere Erkältung. Ihr Haar war zu einer peppigen grauen Kurzhaarfrisur geschnitten. Wenn sie einen ansah, war der Blick durchdringend, so als wollte sie in das Innere eines Menschen hineinsehen. Sie hieß Gisela, wie kurz darauf herauskam, als sie sich vorstellte. Sie sei Topmanagerin bei einer Beratungsagentur. Ihr Mann, der ihr gegenübersaß, hieß Reiner und war beim Finanzamt tätig. Seine Ohren standen weit vom Kopf ab, und vorher, als er zum Buffet ging, hatte ich bemerkt, dass seine Hose hinten herunterhing, während seine Füße in Socken und Sandalen steckten. Seine Augen waren wässrig blau. Von der Erscheinung her wirkte er wie ein typischer Schlaks. Er haute einen Witz nach dem anderen in seinem Kölner Dialekt heraus. Jedes Mal musste Toni über seine Witze lachen. Dabei tauschten Toni und Reiner Blicke. Reiner und Gisela waren seit dreißig Jahren ein Paar. Wie diese Beziehung so lang funktioniert hatte, fragte ich mich in diesem Augenblick. Sie war so ernst, mit herabgezogenen Mundwinkeln, er so offen und lustig.

Noch ein Paar saß mit am Tisch. Er war Pfarrer und sie Psychologin. Beide trugen eine Brille, obwohl sie noch jünger als wir anderen am Tisch waren. Der Pfarrer hieß Jakob und seine Frau Linda. Sie hatten zusammen drei Kinder. Das Ehepaar strahlte in seiner Zugehörigkeit zueinander bodenfeste Sicherheit aus. So waren auch ihre Körper, groß und stämmig wie Eichen, die Haare von beiden dunkelbraun.

Damit war mein Hirn als Schriftstellerin schon überfordert. Was für ein Setting! Mein Blick ging zu Toni. Sie hatte Tränen in den Augen.

„Was ist los?“

„Nichts, nur die ganzen Paare! Mein Richard ist doch erst vor ein paar Monaten von mir gegangen.“

„Wie, einfach so gestorben?“

„Schlaganfall, nach einem halben Jahr war er tot.“

„Oje, wie furchtbar. Wollen wir noch an Deck gehen, eine Zigarette rauchen?“

„Ja, sehr gerne.“

Ich sagte zu Paul, dass ich bald zurückkommen werde, und verzog mich mit Toni an Deck. Ich bestellte mir noch ein Glas Rotwein und hoffte, damit das Rumoren meines Magens eindämmen zu können. Toni trank ein Bier. Wir zündeten uns die Zigaretten an und sie begann zu reden:

„Ich war mit meinem Richard achtzehn lange Jahre zusammen und wir wollten im Rentenalter doch noch reisen. Jetzt ist er tot und ich sitze alleine da.“ Ihr Kopf hing nach unten, sie blickte auf ihre Füße. „Als er das lange halbe Jahr im Krankenhaus war, hat mir niemand geholfen, dabei musste man ihn doch dauernd betreuen. Alle Freunde haben sich verpisst und ich bin ständig von Calw nach Stuttgart ins Katharinenhospital gefahren.“

„Du bist aus Calw?“

„Ja, und da arbeite ich auch. Ich bin Kulturmanagerin für die Stadt Calw.“

„Aber Calw ist doch so ein schwarzes Loch ohne Sonne.“

„Kann sein, Hesse hat ja auch dort gelebt. Warst du schon im Hesse-Museum?“ Toni drückte ihre Zigarette aus, nahm den letzten Schluck Bier und bestellte sich noch einen Wein.

„Ja, irgendwann mal.“

„Hesse ist wie mein Mann auch an einem Schlaganfall gestorben.“ „Wirst du da nicht depressiv in diesem Calwer dunklen Loch?“

Der Ober brachte den Wein.

„Doch, deshalb wollte ich ja raus. Deswegen jetzt diese Reise. Irgendwann während Richards Krankenhausaufenthalt bin ich auch noch über eine rote Ampel gefahren. Ich hab das aber ganz gut gemanagt und habe den Führerscheinentzug in der Kur abgesessen.“

„Ah, Kur hast du auch gemacht?“

„Ja, ich kann das Ganze nicht verarbeiten.“ Sie weinte jetzt richtig.

„Aber die Tränen, die sind gut, manche können gar nichts rauslassen.“ „Ja, ich weiß, ich bin in einer Trauergruppe.“ Darauf zündete sie sich noch eine Zigarette an und trank einen großen Schluck von dem Wein. „Aber ich finde das voll mutig, dass du jetzt so alleine nach Ägypten reist.“

„Ich habe von Richard noch so eine Art Plan, wo wir überall hinreisen wollten. Er interessierte sich sehr für alte Geschichte. Aber auch für die zwei Weltkriege, was ich nicht so toll finde. Die Bücher über die Kriege werde ich vernichten, den Rest behalte ich.“

„Mein Partner ist auch so ein Fan von alter Geschichte.“

„Ich glaube, mein Richard war so ähnlich wie dein Partner. Ich konnte ihn immer alles fragen und er hatte eine Antwort. Er war Programmierer. Jetzt gibt mir niemand mehr Antworten.“

„Meiner war in der Wirtschaft tätig und studiert jetzt im Alter noch Klassische Archäologie und Alte römische Geschichte.“

„Wow, er studiert noch Alte Geschichte! Nach Ägypten wollte der Richard allerdings nicht. Ihn hat nur die klassische Antike interessiert. Deshalb dachte ich, ich reise nach Ägypten. Dann kommen mir nicht zu viele Erinnerungen hoch. Auch nach seinem Tod war es schrecklich. Seine beiden Kinder aus der ersten Ehe dachten, es gäbe etwas zu holen. Dabei haben sie mich null unterstützt, während er todkrank war. Es gab aber nichts zu holen, wir hatten alles fürs Reisen ausgegeben.“ „Bist du denn im Alter versorgt?“

„Ja, ich habe die Witwenrente. Aber das kann ihn auch nicht zurückbringen. Hast du schon mal Selbstmordgedanken gehabt? Seit seinem Tod quält mich das ständig.“

„Aber das ist doch kein Grund, sich umzubringen.“

„Doch, aber ich weiß nicht, wie. Die einzige Möglichkeit für mich wären Schlaftabletten. Aber die Tabletten, die man in den Apotheken bekommt, sind nicht mehr so, dass das man nach einer Überdosis tot wäre. Aber einen anderen Tod kann ich mir nicht vorstellen. Ich will einschlafen.“ Dabei schaute sie mich mit flehenden Augen an.

Ich nahm sie in den Arm und dachte, das ist ein schönes Gefühl, sie trösten zu können.

Plötzlich stand ich mit wackeligen Beinen auf und sagte: „Entschuldigung, Toni, ich muss mal.“

Ich ging aufs Zimmer und entleerte mich für Stunden. Ich dachte, ich könnte die ganze Nacht nicht schlafen.

Gegen Mitternacht stand ich noch mal auf und ging an Deck. Toni und Reiner standen hinten an der Reling und steckten vertraulich die Köpfe zusammen. Wahrscheinlich erzählte sie Reiner die gleiche Geschichte über Richard, die sie mir vorhin anvertraut hatte. Ich verzog mich an das andere Ende des Decks, rauchte noch eine und ging wieder nach unten in unsere Kabine. Auf dem Weg dorthin kam mir Gisela entgegen. Was würde sie dazu sagen, dass ihr Mann mitten in der Nacht mit Toni so vertraut an Deck stand? Ich hielt kurz inne, als sie an mir vorbeiging, aber wir mussten ja um fünf Uhr morgens wieder aufstehen. Mein Darm beruhigte sich später. Morgens vor Sonnenaufgang klingelte das Telefon. Der Wake-up-Call.

Ich glaube nicht an eine Meditation, die die Gedanken abschalten lässt, wenn man meditativ seinen Gartenschlauch auf den wachsenden Rasen hält. Mir kommen dann eher zu viele Gedanken, Gedanken der Unruhe, was man noch weiter denken könnte, wohin man seine Worte lenken könnte. In das ungewisse Universum der Etymologie beispielsweise, dorthin, wo so viele Worte wohnen, dass es einem schwindelig werden könnte.

2. Tag, Besichtigung der Memnonkolosse, Tal der Könige und Tempel der Hatschepsut, danach Habu-Tempel

Ich tastete schlaftrunken nach dem Telefonhörer, als es um fünf Uhr morgens klingelte. Der Hörer fiel mir aus der Hand. Ich setzte mich im Bett auf und suchte nach dem Hörer. „Hello, this is your wake-up-call.“ Die Stimme am anderen Ende hatte aufgelegt. Ich torkelte ins Bad. Was für ein Morgen! Kein gemütliches Rekeln im Bett! Als ich im Bad fertig war, setzte ich im Teekocher Wasser aus der Plastikflasche auf. Das Leitungswasser durften wir Touristen nicht trinken. Das hatte uns der Reiseleiter eingeschärft. Als es kochte, übergoss ich den Nescafé und den Kaffeeweißer mit dem Wasser. Tür auf und erste Morgenzigarette auf dem Minibalkon. Es war noch fast dunkel, aber ich sah, wie eine Katze an der Kaimauer nach Fressbarem suchte. Der Sprechgesang des Muezzins ertönte. Der Kaffee schmeckte so, als ob ich die dreifache Menge an Kaffeepulver genommen hätte, so stark war er. Ich hörte, wie drinnen die Badtür ging. Paul war aufgestanden. Mein Darm war von gestern noch leer, also kein Klogang. Ich rauchte noch eine, ging wieder zurück in die Suite und packte ein paar Sachen für den Reisetag, denn wir hatten nur eine Stunde Zeit für Bad, Ankleiden, Frühstück und Abmarsch. Paul kam aus dem Bad und ich fragte:

„Bist du fertig?“

„Ja, gleich.“ Er zog sich gerade die Schuhe an.

Kurz darauf gingen wir auf der mit weinrotem Samtteppich bezogenen Treppe mit dem goldenen Geländer hinunter in den Essraum. Hier wurden alle Mahlzeiten serviert, und das regelmäßig. Jeden Tag gab es Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Die ägyptischen Ober trugen weinrote Westen und weiße Hemden. Ich setzte mich wieder auf denselben Platz am Rand gegenüber von Toni, mit einem „Guten Morgen“. Sie hatte schon etwas auf ihrem Teller. Ägyptisches Brot und Käse. Paul steuerte sofort auf das Buffet zu und kam mit seinem Joghurt mit Früchten zurück. Als er sich gesetzt hatte, stand ich auf und holte mir nur ein hartes Ei, ein Toastbrot und Käse. Irgendwie musste ich meinen verletzten Darm zustopfen. Toni war nicht geschminkt und sah dadurch sehr blass und fad aus.

Ich fragte sie: „Und, hast du geschlafen?“

„Ja, aber nicht lange, ich bin um vier Uhr aufgestanden, um mich im Bad fertig zu machen.“

„Hä, eine Stunde vorher?“

„Die ganzen Cremes auf meiner Haut und das Waschen der Haare, das dauert ewig.“

„Und jetzt bist du nicht mal geschminkt?“

„Dazu hatte ich keine Zeit mehr.“

Ich verstand es nicht und wollte es auch nicht wissen, schließlich war sie zehn Jahre älter als ich. Würde ich dann diese ganze Prozedur auch auf mich nehmen? Schönheitscremes und der ganze Mist? Ich beantwortete die Frage mit einem Nein. So würde ich nicht altern wollen. Ich würde in Würde altern.

Gisela schälte gerade eine Orange. Mehr hatte sie nicht auf dem Teller. Sie sah nicht gut aus. Ihre Falten hatten sich noch tiefer ins Gesicht eingegraben und sie nieste die ganze Zeit vor sich hin. Sie sagte zu Toni, die sich gerade noch ein Brot mit Wurst geholt hatte:

„Wenn du so weiterfrisst, wirst du noch fett.“

Ich fragte mich, warum sie das gesagt hatte. Toni war nicht fett. Sie war eher zerbrechlich. Hatte sie das gesagt, weil sie gestern Nacht Toni und Reiner an Deck zusammen gesehen hatte? Ich sagte nichts dazu. Vielmehr versuchte ich, meiner eigenen Gefühle Herr zu werden. Da war so ein Gefühl von Empathie gegenüber Toni. Sie tat mir leid, wie damals meine Tante, die ich immer als Kind begleiten musste, denn sie konnte wegen ihrer Kinderlähmung nur an einer Schiene gehen und humpelte. Ich durfte ihr als Kind nie davonrennen, da sie so langsam war. Es war Mitleid, das ich Toni gegenüber empfand, aber es war überhaupt nicht negativ, es war eher eine Art Zuneigung, vielleicht war ich sogar verliebt in sie. Oder verwechselte ich Mitleid mit Liebe? Ich hatte mich schon öfters in Frauen verliebt, aber es war nie eine Beziehung daraus entstanden, denn ich hatte mich immer in Hetero-Frauen verliebt. Diese Verliebtheiten mussten auch etwas mit meiner Mutter zu tun haben, nicht nur mit meiner Tante, denn meine Mutter hatte mich immer niedergemacht, weil sie in ihrem eigenen Leben immer zu kurz gekommen war. Sie war die Zweitgeborene von drei Kindern. Meine Tante stand immer im Mittelpunkt wegen ihrer Krankheit, und dann später wahrscheinlich der jüngere Bruder meiner Mutter, das Nesthäkchen. Sie war immer dazwischen gewesen. Gehässige Bemerkungen kamen ihr wie Öl über die Lippen. Wenn ich beruflich erfolgreich war und ein gutes Buch geschrieben hatte, meinte meine Mutter, nachdem sie es gelesen hatte, das hätte sie auch zustande gebracht. Diese Worte von ihr! Sie hatte in ihrem Leben gar nichts auf die Reihe gekriegt, das Einzige war, dass sie kochen konnte, aber da war sie mit ihren Rezepten in der Nachkriegszeit stehen geblieben. Nie war sie berufstätig gewesen. Als mein Bruder und ich aus dem Haus waren, sagte sie: „Ich setze mich doch nicht an die Kasse in einem Supermarkt!“ Dafür war sie sich zu fein. Als ich klein war, unterhielt sie sich lautstark über meinen Kopf hinweg mit irgendwelchen Nachbarinnen und erzählte ihnen, dass ich zu schüchtern sei und kein Wort herausbrächte. Später, als ich schon ausgezogen war, sagte sie mir ständig am Telefon, dass ich eine Piepsstimme hätte. Dabei kam das alles nur durch ihre blaffende Art. Mundtot hatte sie mich gemacht mit ihren Gehässigkeiten. Obendrauf, wenn bei ihr die Gäule total durchgingen, versohlte sie mich mit dem Latsch. Wenn sie mit dem Ding ankam, flüchtete ich mit Herzklopfen unters Bett, so weit, dass sie mich nicht erreichen konnte. Durch all diese Gemeinheiten mir gegenüber hatte ich nie eine richtige Mutter gehabt. Später hatte ich mir immer gewünscht, so eine Art Freundin-Mutter zu finden. Es passierte aber nichts. Ich war immer noch auf der Suche nach einer neuen Mutter.

Paul kam mit seinem zweiten Gang an. Spiegelei, Brot und Wurst. Ich hatte fertig gegessen. Eine halbe Toastbrotscheibe lag noch auf meinem Teller. Alle waren schon nach oben zu den Kabinen gegangen. Eigentlich hätte ich jetzt aufstehen können, aber ich blieb sitzen wegen Paul. Ich sah auf die Uhr. Die Zeit wurde knapp. Um sechs Uhr war Abfahrt.

Ich schaue vom Bildschirm auf. Meine Augen tropfen Benzin. Paul sagt, ich solle mir mehr Licht machen. Dabei küsst er mich sacht aufs Haar. Draußen ist es Nacht und der Mond hat sich als Sichel in den Himmel gemeißelt. Warum heißt es Sichel? Sollte man den Mond mit einer Sichel umsicheln? Umbringen? Wenn jemals jemand den weißen Mond umsicheln kann, dann wird das nur ein Schriftsteller können, der mit seinem schwarzen Buchstabenmeißel die Leere der Seiten graviert. Die Waschmaschine piept misophonisch an mein Ohr.

Im Morgengrauen war die Gruppe abfahrbereit. Über einen winzigen, wackeligen Steg, der Reiseführer vorneweg, gelangten wir ans Ufer und wurden wieder von ägyptischen Händlern überfallen. Schnell zwängten wir uns in den kleinen Bus. Paul und ich saßen direkt hinter dem Fahrer, dahinter Linda und Jakob und noch weiter hinten Gisela, Reiner und Toni. Wir fuhren an einem Kanal entlang. Der Reiseführer erzählte von der Wurmkrankheit der Ägypter, der Bilharziose. Nur in den Kanälen würden sich die Ägypter diese Krankheit zuziehen. Am Nil nicht, da er fließt. Die Würmer im Wasser würden sich in die Haut bohren. Man bekäme einen Hautausschlag und letztendlich könnte Blasenkrebs daraus entstehen. Mittlerweile gebe es Tabletten gegen die Krankheit.

Jakob hinter uns meldete sich, dass ihm schlecht sei. Ich glaube, wir waren alle mies drauf an diesem Morgen wegen des frühen Aufstehens.

Der Bus fuhr in die Morgenröte. Und dann kamen wir an der ersten Stätte an. Die Memnonkolosse. Zwei riesige Statuen, ungefähr vierzehn Meter hoch aus dem Jahr 1379 vor Christus, rammten sich in den Morgenhimmel. Als wir ausstiegen, war es eiskalt. Wir konnten unseren Atem als Rauchwolken sehen. Ich fror in meiner silberfarbenen Sommerjacke. Um uns waren keine Touristen. Wir waren die Ersten. Die Ägypter waren zurückhaltend. Es gab nur ein paar Stände. Und die Kolosse, König Amenophis III. und seine Gattin Teje, sahen großartig in der Morgenröte aus. Sie glänzten terrakottafarben im Licht, dahinter die ganzen Ballonfahrer, die in den Himmel aufstiegen, um das Tal der Könige von oben zu sehen.

Linda fotografierte Jakob. Jakob fotografierte Linda. Ich packte Paul und sagte, er solle mich vor König Amenophis III. fotografieren. Ich, die winzige Autorin, der Gott Toth, der mit dem Ibis- oder Paviankopf mit dem Griffel in der Hand. Ich in meiner silberfarbenen Sommerjacke im ägyptischen Winter. Paul hatte alles, war erfolgreich, hatte Geld, und ich hatte nur diese Worte, die wie Lebertrankleister aus mir herauskrochen, um sich wieder in meinem Gehirnlabyrinth festzusetzen. Toni lief zwischen den Statuen wie ein kleines verlorenes Hündchen hin und her, aber sie tat etwas, sie fotografierte. Man musste sich um sie keine Sorgen machen. Trotzdem ging ich auf sie zu und fragte, ob ich sie vor den Kolossen fotografieren solle. Sie bejahte. Gott sei Dank hatte sie nicht so eine schrille geifernde Stimme wie meine Mutter. Ihre Stimme war angenehm tief, eine Altstimme. Ich zückte den Fotoapparat. Sie sah so winzig aus vor diesen zwei riesigen Statuen! Ich hatte ein Ziehen im Magen. Wieder das Mitleid? Als ich ihr den Fotoapparat zurückgab, berührten sich unsere Hände und ich dachte, es elektrisiert. Aber vielleicht war es nur meine Einbildung. Wünschte ich mir überhaupt, dass sich Toni in mich verliebte?

Als wir wieder in den Bus einstiegen, sagte Paul: „Hinter den Memnonkolossen, da war eine riesige Tempelanlage. Das wurde alles geräubert. Die Steine wurden als Steinbruch für neue Tempelanlagen benützt.“ Wir fuhren weiter zum Tal der Könige, während wir uns alle die Hände rieben, so kalt war es.

In meinem Garten huschen kleine Feldmäuschen. Sie haben sich in das Igelhotel eingenistet. Die Igel kommen nicht mehr. Damals vor zwei Jahren, als ich ihnen das Igelhotel gekauft hatte, hatten sie es verschmäht. Auf der Verpackung des Hotels stand, es könne auch sein, dass sich andere Tiere dort einnisten. Jetzt sind es die Mäuschen. Mäuse haben für mich eine besondere Bedeutung. Als Kind hatte ich eine weiße Stofftier-Maus von Steiff. Sie war ganz abgerubbelt, so sehr habe ich sie geliebt. Ich verlor sie bei einem Spaziergang. Dieses Drama! Meine Eltern kauften mir genau die gleiche Maus noch einmal, aber das war nicht meine abgerubbelte Maus. Die war künstlich neu. Ich ließ sie in der Ecke vergammeln. Ein paar Jahre später fing ich auf der Terrasse meiner Eltern eine echte weiße Maus. Sie hatte rote Augen. Meine Mutter holte das kleine Terrarium, in dem wir früher Kaulquappen zu Fröschen gezüchtet hatten, aus dem Keller. Dort bekam die kleine weiße Maus abends ihren Platz. Am nächsten Morgen war sie weg. Manchmal nenne ich Paul Maus, obwohl er über einen Meter neunzig groß ist.

Tal der Könige

Als Erstes mussten wir dort durch den Basar. Wieder einmal wurden wir von den Händlern bedrängt. Ich fragte mich, wer diesen Schrott kaufen sollte? Damit konnte man in Europa nichts anfangen. Ägyptische Kleider. Kleine Götterstatuen, die billige Repliken waren. Tücher mit grässlichen Mustern. Paul und ich gingen so schnell es ging hindurch und gelangten zur Eingangshalle, wo ich bei einem Pseudoscanner meinen Rucksack röntgen lassen musste. Schließlich standen wir vor dem riesigen Modell unter einer Glashaube. Es war ein Abbild des Tals der Könige. Man konnte die vielen unterirdischen Gänge sehen, die die Gräber der großen Pharaonen ausmachten. Das ganze Tal war unter der Erde durchlöchert. Weiter ging es mit einer kleinen Bahn zum Tal der Könige. Ein Kollege hatte mir erzählt, dass dort auf den Bergen, als er im Jahr 1999, zwei Jahre nach dem Terroranschlag, im Tal der Könige war, rund um das Tal militärische Wachposten mit Schnellfeuerwaffen zum Schutz der Touristen gestanden hätten. Heute sah man keine Militärpolizei mehr. Wir besuchten drei Gräber. Sie funktionierten alle nach dem gleichen Modell. Man lief vom Eingang aus steil hinunter, an mit Hieroglyphen geschmückten Wänden vorbei. Die Decke wurde, je weiter man hinunterkam, immer höher, bis man ganz unten beim Allerheiligsten, dem Grab, ankam. Dort waren auch die Decken bemalt.

Die Hieroglyphen sind friedlich, stumm. Eine fremde Sprache, die ich nicht verstehe. Sie beruhigt mich mit ihren Symbolen, die für mich genauso wie mathematische Codes undurchdringlich sind. Ich liebe tote Sprachen, die nur noch eingemeißelt in Wände ohne Laut sprechen. Ich liebe die Stille, sie kann einen nicht verletzen.

Als wir im ersten Grab ganz unten waren, sah Toni in das Allerheiligste hinein. Im Moment waren noch keine Touristen da. Toni war alleine unten am Ende des Tunnels. Gisela hatte sich hinter sie gestellt. Da hörte ich, dass Gisela mit spöttischer Miene, die Mundwinkel herabgezogen, zu Toni sagte: „Hoffentlich stürzt jetzt das Grab nicht ein, dann wären wir lebendig begraben.“

Toni konnte daraufhin nur schwer die Tränen zurückhalten. Während wir in dem Grab nach oben in Richtung Tageslicht stiegen, sagte ich zu ihr:

„Lass dich von der nicht kleinkriegen! Die hat doch einen Dünkel.“ Daraufhin wich Toni nicht mehr von meiner Seite, als wir die restlichen Gräber besuchten. Wie ein Schatten lief sie mir hinterher. Und ich genoss es!

Alle Gräber in dem Tal sind damals ausgeraubt worden. Nur ein Grab ist verschont geblieben. Das von dem kleinsten aller Pharaonen, das Grab von Tutanchamun. Die Schätze des Grabes, darunter auch die goldene Maske, befinden sich heute im Ägyptischen Museum in Kairo. Während der Reiseleiter nach der Besichtigung über die Todeszeremonie der Ägypter berichtete, sah ich, dass sich Toni in die Morgensonne gestellt hatte und von einem Fuß auf den anderen trat. Ich ging zu ihr und fragte sie, ob sie auch aufs Klo müsse. Wir verdrückten uns zu einem heruntergekommen Wagen, der sich Klo nannte. Wir gaben dem Ägypter, der uns ein paar Blatt Klopapier reichte, einen Euro und betraten den Vorraum der Toiletten. Es gab nicht einmal Seife im Spender. Nur ein verbrauchtes einsames Stück Seife lag auf dem verdreckten Waschbecken. Die Klos selber sahen nicht besser aus. Wie froh war ich, als ich wieder draußen war. Als wir zurück bei der Gruppe waren, erzählte der Reiseleiter gerade über die Reise der Toten.

„Die Verstorbenen kamen vor das Totengericht des Osiris. Osiris war der Gott der Unterwelt. Die Toten machten sich auf den Weg in die Unterwelt, Duat genannt. Der Eingang zur Unterwelt lag im Westen, deshalb liegen auch alle Gräber im Westen vom Nil. Dort kam der Tote an ein riesiges Tor, wo Himmel, Erde und Unterwelt aufeinandertrafen. Außerdem war da ein riesengroßes Gewässer. Es rauschte um die Pforten des Tores. Weitere Pforten folgten. Dort wanden sich riesige Schlangen und spitze Dolche warteten. Außerdem lauerten böse Dämonen dort. Der Verstorbene musste die Zaubersprüche kennen. Am Schluss kam das Totengericht. Erst wenn er dort bestand, konnte er ins ewige Leben eingehen.“ Toni hatte angespannt dem Reiseführer gelauscht. Als er seinen Vortrag beendet hatte, sagte sie zu mir: „Vielleicht sollte ich mir eine Pistole kaufen. Das wäre auch ein schneller Tod.“

„Toni, lass diese Gedanken, das ist doch Quatsch!“

Es ging weiter zum Totentempel der Hatschepsut. Als wir dort angelangten, musste Toni schon wieder aufs Klo. Ich ging ihr hinterher, um sie zu bewachen. Schließlich war sie selbstmordgefährdet. Als sie nach dem Warten in der Schlange dran war, um in einer der Kabinen zu verschwinden, ging sie gar nicht hinein, sondern stellte sich vor den Spiegel und richtete ihr Haar. Die ist aber eitel, dachte ich. Die ganze Reisegruppe hatte wieder fünfzehn Minuten auf sie warten müssen, denn die Schlangen auf den Klos bei den Sehenswürdigkeiten waren lang.

Wenn man in weiter Entfernung vor dem in Kalkstein erbauten Tempel stand, wirkte er winzig in den ihn umgebenden Felsen. Er fügte sich wie ein Kunstwerk in die Berge ein, denn der Tempel und die Felsen hatten die gleiche Farbe. Der Reiseleiter erklärte, dass Hatschepsut nur deswegen Pharaonin bleiben konnte, weil sie sich als Göttin ausgab. Ich sagte zu Toni:

„Überleg dir, da wird 1479 Jahre vor Christus eine Frau Pharaonin. Bis wir eine deutsche Bundeskanzlerin hatten, dauerte dies 2005 Jahre nach Christus. Hatschepsut muss ein Phänomen gewesen sein. Dass die alten Ägypter eine Frau als Königin akzeptiert haben! Unfassbar!“ „Ja, aber sie hat sich ja zuerst als Mann und dann als Göttin ausgegeben.“

Wir gingen die ganzen Treppen hoch. Es war ein erhebendes Gefühl, als ob man schweben würde. Paul fotografierte mich zusammen mit einem Ägypter in seiner Tracht vor einer der gut erhaltenen Statuen der Hatschepsut, die in Richtung Tempel Karnak blickte - die Statue und ich mit gekreuzten Armen.

Später klärte der Reiseführer über den Terroranschlag auf.

„Am 17. November 1997 fand das Massaker von Luxor statt. Es waren Islamisten, die mit automatischen Waffen und Messern 62 Personen töteten. Vor allem die Körper der Frauen wurden verstümmelt. Später wurden die Leichen der Attentäter gefunden. Sie hatten wahrscheinlich gemeinschaftlich Selbstmord begangen.“

Toni murmelte in sich hinein, sodass nur ich es hören konnte: „Ja, Selbstmord, das ist der einzige Ausweg.“ Diesmal tat ich so, als ob ich nichts gehört hätte, denn ich wollte kein Öl ins Feuer gießen.

Der Reiseleiter fügte hinzu:

„Es war das Ziel, den erfolgreichen Tourismus von Ägypten zu treffen. Am nächsten Tag war die Hälfte aller Touristen abgereist. Das war aber nicht die Religion des Islam, die das Attentat verübt hat. Jede Weltreligion ist friedlich. Allein die Menschen machen die Religion.“ In den Mundwinkeln des Reiseführers hatte sich Speichel gesammelt. Er trank einen Schluck aus seiner kleinen Wasserflasche.

Ich sagte zu Toni:

„Erstaunlich, erst vier Jahre später war der Anschlag auf das World Trade Center.“

Die Fahrt ging weiter zum Habu-Tempel. Am Eingang des Tempels lagen auf hinuntergehenden Treppen zwei schwarze Hunde in der Sonne. Sie rührten sich kaum, als wir an ihnen vorbeiliefen. Der Reiseführer sagte: „Manchmal finden sich die Hunde zu Rudeln zusammen, um Fressen zu erbetteln. Die Ägypter mögen die frei laufenden Hunde nicht.“

Der Habu-Tempel war riesengroß und gut erhalten. Als wir direkt vor dem Eingang standen, sagte der Reiseleiter, dass es heute den Kalender mit 365 Tagen gebe. Er fragte in die Runde: „Und wer hat den Kalender erfunden? Die alten Ägypter!“ Darauf machte er ein Handzeichen und wir gingen in den Tempel hinein, vorbei an der Göttin Sachmet, einer Statue mit einem Löwenkopf. Der Tempel wurde nach hinten zu immer dunkler und enger im Gegensatz zu den Gräbern im Tal der Könige, die nach hinten hin immer höher und weiter werden. Als wir beim Allerheiligsten angelangt waren, sagte Toni, sie müsse schon wieder aufs Klo. „Mein Richard hat immer gesagt, wenn ich alte Steine sehe, müsste ich aufs Klo.“ Ich fragte mich, ob das eine faule Ausrede war. Sie verdrückte mal wieder eine Träne und schaute Paul an, der ein paar Meter weiter weg von uns mit dem Reiseführer über eine Hieroglyphe fachsimpelte.

Draußen vor dem Tempel stand ein kleiner Kiosk, wo man Postkarten kaufen konnte. Toni suchte in den ganzen von der Sonne verblichenen blaustichigen Karten nach neueren, besser erhaltenen Karten, wurde aber nicht fündig. Wir gingen weiter in Richtung Bus, und wieder umringten uns Händler. Einer von ihnen hatte eine kleine Statue mit einem Katzenkopf aus milchig weißgrüner Jade in der Hand. Ich kaufte sie ihm für fünf Euro ab, ohne zu handeln. Wir wurden daraufhin ihn und die anderen Händler nicht mehr los. Als wir schon im Bus saßen, riefen sie durch die geöffnete Tür herein, irgendwelche Gegenstände hochhaltend: „Ein Euro, zwei Euro! Fünf Euro für drei!“ Reiner sagte zu mir: „Du bist schuld, die kriegen wir nicht mehr los!“ Dabei lachte er aber.

Auf dem Rückweg zum Kreuzfahrtschiff machten wir nicht den Umweg über eine Nilbrücke, sondern wir konnten eine kleine Fahrt in einem bunten Boot über den Nil genießen. Eine steile Treppe führte zum Boot. Oben standen ägyptische Kinder, die die Touristen an der Hand zum Boot geleiteten. Dafür wollten sie Geld. Ich fragte mich, warum die Kinder nicht in der Schule waren.

Meine Worte verorten sich so lange, bis sie in den Abflussrohren der Kanalisation verrotten.

Nach der Mördertour hatte ich versucht zu schlafen, aber der Einzige, der schlief, war Paul. Sein gesegneter Schlaf! Also ging ich hoch an Deck. Ich suchte nach Toni. Sie lag in einem Liegestuhl und schlief. Ich bemerkte, dass ihr Dekolleté schon ganz rot war und sich kleine eitrige Bläschen gebildet hatten. Ich stellte mich so vor sie hin, dass sie in meinem Schatten lag, und rief:

„Toni, du musst aus der Sonne!“

Sie wachte auf.

„Komm, lass uns einen Kaffee trinken gehen.“

„Der Kaffe hier schmeckt schrecklich.“

„Trotzdem, steh auf, du bist schon rot wie ein Krebs.“

Sie stand auf und wir setzten uns in den Schatten. Der Ober kam nach der Bestellung mit den Kaffees.

Toni rührte in ihrer Tasse und sagte:

„Ich verstehe das nicht, dass Gisela so ekelhaft zu mir ist.“

„Ich habe dich und Reiner gestern um Mitternacht an Deck gesehen.

Das sah sehr vertraut aus. Was habt ihr gesprochen?“

Toni wurde rot im Gesicht. Dort hatte sie noch keinen Sonnenbrand. „Ich wollte euch nicht stören. Ihr standet ja am Heck. Ich habe am Bug noch eine Zigarette geraucht. Dann ging ich wieder hinunter in die Kabine. Dort kam mir Gisela entgegen. Sie muss euch gesehen haben. Die sind seit dreißig Jahren ein Paar. Da kannst du jetzt nicht reingrätschen. Was glaubst du, wie du reagiert hättest, wenn eine Frau versucht hätte, dir deinen Richard wegzunehmen.“

Tonis Augen weiteten sich.

„Gisela war noch an Deck?“

„Du darfst dich mit Reiner nicht mehr treffen. Außer, du willst die Bösartigkeiten von Gisela aushalten. Glaubst du, dieses Verhalten von ihr kommt von ungefähr? Das hat einen Grund!“

„Es ist so, ich kenne Reiner von früher, ich habe doch damals meine Weiterbildung zur Kauffrau gemacht, und Reiner hat eines der Seminare geleitet.“

„Ach so, und war da was?“

„Nee, da war nichts. Ich will ja gar nichts von Reiner, das mit Richard ist doch noch viel zu nah. Aber Reiner ist so lustig. Er bringt mich auf andere Gedanken.“

„Ich warne dich hiermit. Treib es nicht auf die Spitze!“

„Ich? Nein! Ich gehe doch in die Trauergruppe und breche ständig in Tränen aus. Wie sollte ich jetzt an einen anderen Mann denken? Das Schlimmste war das, was die Psychologin mir in der Kur gesagt hat: ‚Es wird nichts mehr, wie es einmal war.‘ Und da hat sie recht. Was soll bloß werden? Ich sehe nur einen Tunnel, aber am Ende kein Licht.“

Mir tat sie wieder leid wegen dieser Gemeinheit. Dass die Leute kein Taktgefühl hatten! Ich sah sie an, als ob ich sehr vertraut mit ihr wäre. „Blöde Kuh, was soll der Scheiß? Ein, zwei Jahre Trauer und dann wirst du wieder jemand Neues finden. Glaub mir. Wie wär‘s diesmal mit einer Frau?“

„Eine Frau? Hm … Weiß nicht.“

Ich taxierte sie. Schließlich wollte ich herausfinden, ob ich eine klitzekleine Chance bei ihr hätte.

Sie fuhr aber fort und überging das Frauenthema:

„So einfach ist es nicht. Entweder sind die Männer in den Jahren in Beziehungen, oder sie sind krank, oder sie sehen scheiße aus, oder sonst was. Ich will nicht mal ins Internet auf so eine Datingplattform. Ich glaube, da würde es mich nur gruseln. Ich will meinen Richard wieder zurück.“

„Wir sehen uns nachher beim Abendessen, ich muss jetzt mal nach Paul sehen.“

An dem Abend war Silvester. Als ich mich an meinen Platz setzte, sah ich, dass Toni jetzt einen unübersehbaren Hautausschlag hatte. Gisela beugte sich gerade zu ihr hinüber und fragte:

„Hast du etwa die Wurmkrankheit der Ägypter?“

Toni antwortete nicht. Stattdessen stierte sie in ihren leeren Teller. Eine Minute später stand sie auf und holte sich etwas vom Buffet. An diesem Abend gab es Truthahn. Ich holte mir viele Salate, da ich die Gewürze Koriander und Minze liebe. Toni mochte die Gewürze nicht und sie holte sich eher pure Leckereien. Die Salate an Bord konnte man anscheinend problemlos essen, denn sie wurden mit Chlorwasser abgespült und die Salatwäscher trugen Handschuhe.

Kurze Zeit später gab Reiner einen Witz zum Besten:

„Was ist der gefährlichste Ort auf der Welt?“

Alle spitzten die Ohren. Toni vermied es, Reiner anzusehen.

„Das Bett!“

„Nee, das Bett?“, fragte Toni, immer noch ohne aufzublicken.

„Da sterben die meisten Leute.“

Toni brach in Lachen aus und sah Reiner begeistert ins Gesicht. Gisela saß stoisch am Tisch und verzog keine Miene. Paul lächelte ein wenig. Linda und Jakob hatten den Witz nicht mitbekommen, da sie am Buffet waren.

Plötzlich öffnete sich die Tür zur Küche und die gesamte Küchenmannschaft fiel mit lautem Singen in den Speisesaal ein. Der Vorderste der Truppe trug eine Torte. Jemand hatte an diesem Abend Geburtstag. Toni stand das Wasser in den Augen und sie sagte, so ähnlich sei es vorletztes Jahr an Richards Geburtstag gewesen, als sie in Thailand waren. Gisela beugte sich zu Toni hinüber und sagte lautstark mit ihrer krächzenden, erkälteten Stimme:

„Deine Heulerei nervt. Du bist wie eine Zecke, du saugst die Energie deiner Mitmenschen ab.“

Ich proste mit einem Glas Rotwein meinen schwarzen Worten zu, die ich soeben auf das weiße Blatt gehämmert habe. Schwarz-weiß-rot … Meine Farben, meine Sinne … Meine Seele ist ein Gespenst, das nachts ruhelos in den Geistern nach dem sucht, was sie verdursten lässt. Ich denke, ich könnte irgendwann Mondkühe bauen, wenn ich aus dem Fenster schaue.

In der Kabine erzählte ich Paul von der Dreiecksbeziehung zwischen Toni, Gisela und Reiner. Meine Verliebtheit erwähnte ich nicht. Schließlich hatte Paul mir auch nie gestanden, dass er früher öfters mal fremdgegangen war. Ich hatte es nur immer gerochen wie ein Jagdhund, der die Spur des Wilds aufnimmt.

Er sagte nur: „Halt dich da raus!“

Ich entgegnete: „Aber das ist doch eine geile Story!“

„Hey, Süße, das ist unser Urlaub! Musst du immer ans Schreiben denken? Ich bitte dich, schalte ab und genieße den Urlaub. Von Toni würde ich mich ab sofort zurückziehen. Das ist ihre Sache.“