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Eine Frau sucht einen Namen für ihren Tumor. Eine andere holt sich die Pappfigur eines Popsängers ins Haus, als der geliebte Sohn auszieht. Eine Kinderhasserin bietet sich ihren Freunden als Leihmutter an. Aus Angst, seiner Exfreundin zu begegnen, traut sich ein Mann kaum noch vor die Tür, und eine Verlassene kann die Trennung buchstäblich nicht verdauen. Die Protagonisten von Michela Murgias Geschichten erleben alle auf ihre Weise einen radikalen Umbruch: Sie verlieren sämtliche Gewissheiten – und finden die unterschiedlichsten Antworten auf das, was ihnen geschieht. Sie treffen ungewöhnliche Entscheidungen, kämpfen ums Überleben, erfinden sich neue Rituale oder wählen die kontrollierbare Katastrophe, um der unkontrollierbaren zu entgehen. Ausgehend von ihrer eigenen Erfahrung erzählt Michela Murgia in zwölf miteinander verflochtenen Geschichten von Krankheit und Tod, von Trauer und neuer Liebe, von der Kunst des Abschiednehmens und der des Weiterlebens. Ein Mut machendes Buch über Krisen und Neuanfänge, wahrhaftig und hell.
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Seitenzahl: 178
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Wie gehen Menschen mit einer grundstürzenden existentiellen Veränderung um? Das letzte Buch der großen italienischen Schriftstellerin Michela Murgia erzählt davon: unverblümt und trostreich, kompromisslos und voll ermutigender Lebensklugheit.
»Michela Murgia verfügte über das großartige Talent, Dinge wirklich verändern zu können.« Roberto Saviano
Michela Murgia
Drei Schalen
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
Für Raphael, Francesco, Alessandro und Riccardo
»Sie haben eine Zellneubildung an der Niere.«
Der lockere Tonfall des Arztes verführte sie kurz zu dem Gedanken, dies sei eine erfreuliche Nachricht. Über der weißen Maske sah sie das Gesicht des freundlichen Herrn um die Sechzig nur zur Hälfte, und während der ersten Minuten der Sprechstunde hatte sie geglaubt, es sei die richtige Hälfte. Jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher. Hinter der Plexiglasscheibe, die den Schreibtisch als zusätzlichen Schutz vor dem allgegenwärtigen Virus zweiteilte, entzogen sich ihr die Augen des Arztes so sehr, dass sie nicht einmal ihre Farbe erkennen konnte. Wie zum Trotz setzte sie eine möglichst undurchdringliche Miene auf. Durch die großen Fenster des Krankenhauses in Monteverde fiel das Licht der Mittagssonne, wie es in dieser elektrisierenden Helligkeit nur in Rom vorkommt. Sie war der festen Überzeugung, dass dieses Licht aus der heimlichen Glut des einzig wahren Imperiums aufstieg, die unter den Trümmern dreier Zivilisationen, zu schwach, sie zu ersticken, weiterglomm. In diesem Licht lächelten sie einander zaghaft an, und der Arzt fuhr, womöglich im Glauben, verstanden worden zu sein, fort.
»Der Fachbegriff dafür lautet Neoplasie, was nichts anderes bedeutet als ›Neubildung von Körperzellen‹.«
Sofort blitzte die Silbengruppe vor ihrem inneren Auge auf, und ihr Lächeln gefror. Sie konnte das Wort zwar nicht aus dem Lateinischen herleiten, doch was eine Neoplasie war, wusste sie selbst auf Koreanisch. Nervös zog sie ihren eleganten, Falten werfenden Damenmantel um sich zurecht, als müsse sie sich wappnen. Die Kleiderwahl für diesen Termin war sie planmäßig angegangen, nur erstklassige Designer, dabei schlicht, nicht wie für ein Date, sondern eher, um eine vornehme Dame mit generationenaltem Reichtum zu beeindrucken oder um bei einer wichtigen Vertragsverhandlung nicht zu interessiert zu wirken, oder um sich Respekt zu verschaffen. Ihr Kleiderschrank war eigens dafür gemacht, eine Rüstkammer mit verschiedenen gut geschnittenen Waffen namhafter Hersteller, eine für jeden der Kriege, in denen sie sich keine Niederlage erlauben durfte. Was auch immer der Mann im weißen Kittel zu sagen hatte, er sollte sich von vornherein im Klaren sein, dass sie nicht irgendwer war und diese Neoplasie auch für ihn keine Routine darstellte, da sie nicht zufällig genau ihren Körper betraf.
Der Onkologe schien allerdings wenig beeindruckt. Er machte keinerlei Anstalten, die vor ihm liegende Krankenakte aufzuschlagen. Stattdessen griff er nach einem Notizblock mit dem Logo eines großen Pharmakonzerns in der Ecke, riss einen Zettel ab und drehte ihn um. Auf die Rückseite zeichnete er mit einem Kugelschreiber ein wirres Knäuel, von dem Schlangenlinien abgingen, die ein paar Zentimeter weit in dieselbe Richtung strebten. Ohne von dem Zettel aufzuschauen, sprach er langsam weiter, jedem Wort entsprach ein Strich in seiner Skizze. Sie hatte den Eindruck, dass er diese Zeichnung nicht zum ersten Mal verwendete, und ihr Ehrgeiz, eine besondere Patientin zu sein, verflog. Wie viele Körper waren diese Schlangenlinien schon gewesen? Wie viele Existenzen dieses Knäuel?
»Wie alles, was lebt, braucht auch Ihre Zellneubildung Ressourcen, und die hat sie sich bisher im linken Lungenflügel geholt. Wir nennen das Metastasen, aber Sie müssen sich das wie die Ölquellen im Irak vorstellen.«
»Wir nennen das«, hatte er gesagt. Wer »wir«, fragte sie sich und malte sich eine ständige Versammlung von Weisen aus, die irgendwo im prächtigen Schloss der Onkologie zusammenkamen und eine Nomenklatur der Katastrophen erstellten, die sich in den Körpern der Menschen auf der ganzen Welt zutrugen. Der Arzt ließ die letzte gewellte Linie auf einer Höhe mit den anderen enden und versiegelte sie alle mit einem Sternchen. Diese Geste tat ihr fast körperlich weh, doch sie ließ sich nichts anmerken. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie das Gefühl, dass sie ihm Mut machen müsse, nicht umgekehrt. Ein nervöses Auflachen schien ihr die passende Ermunterung, damit er seine geopolitischen Erläuterungen fortsetzte. Die Hand des Onkologen hinter der Plexiglasscheibe war blass, aber ruhig, und am Handgelenk lugte unter dem strahlend weißen Kittel ein blaues Bündchen Qualitätsbaumwolle hervor. Bei der vorangegangenen Untersuchung hatte sie seine Finger warm auf ihrer Haut gespürt, so wie sie jetzt wohl den Stift berührten, mit dem er einen Rahmen um die grobe Skizze ihrer erkrankten Organe zeichnete.
»Das erste Medikament nehmen Sie täglich, je eine Tablette morgens und abends, damit bringen wir die Quellen zum Versiegen: Ohne Ressourcen schwindet die Kraft … wenn Sie verstehen.«
Der Arzt blickte von dem Zettel auf und sah ihr geradewegs in die Augen. Sie verstand.
»Das zweite Medikament verabreichen wir intravenös alle drei Wochen, es dient dazu, Ihr Immunsystem wieder anzukurbeln, damit es auf die Zellneubildung reagiert und eine weitere Ausbreitung verhindert.«
»Ist das eine Chemo?«
»Sie werden keinen Haarausfall bekommen, wenn es das ist, was Ihnen Sorge macht.«
Nein, das war es nicht. Die Silbe und ihr Klang – AM – pulsierten weiter durch ihr Hirn wie die Neon-Leuchtschrift einer Dönerbude.
»Es ist eine Immuntherapie auf der Grundlage von Biopharmazeutika. Wie gesagt, wendet sie sich nicht direkt gegen die Neoplasie. Sie soll vielmehr die natürliche Reaktion Ihres Organismus stimulieren. Wenn die Niere uns keinen Ärger macht, müssen wir ihr auch keinen machen.«
Wer wir?, dachte sie wieder, im Kopf nun das Bild von ihnen beiden, wie sie sich ein und dieselbe Neoplasie teilten, hier in diesem Behandlungszimmer, während die Linien aus dem Knäuel vom Notizzettel mit ihren Tentakeln unter der Türschwelle hindurchkrochen, aus den Putzrissen in den Wänden drangen und nach ihnen griffen, um sich die Ressourcen aus ihnen herauszusaugen. Bei dieser Vorstellung musste sie unwillkürlich lächeln, was offenbar eher nach einem zähnefletschenden Tier aussah, denn der Arzt lächelte nicht zurück. Sie stellte die naheliegendste Frage, die dümmste.
»Was habe ich falsch gemacht?«
Sie war Vegetarierin. Sie rauchte nicht, ganz selten mal einen Joint mit Freunden. Sie trank nur erlesene Sachen, sodass Signor Bernabei sie immer freudestrahlend von der Türschwelle seiner Weinhandlung grüßte, auch wenn sie nicht eintrat. Sie hatte zahlreiche schlechte Angewohnheiten, die aber alle nicht die Physis betrafen und allein durch Verzicht zu beheben gewesen wären. Die Schuld musste woanders liegen, wenn nicht in den Taten, dann in den Gedanken, Worten und Unterlassungen. Der Arzt schwieg einen Moment lang, offenbar irritiert von der Frage nach einem Urteil. Als er den Stift weglegte, verwechselte sie die Geste mit Resignation.
»Wir Menschen sind äußerst komplexe Wesen, Signora … ich glaube nicht, dass man die Sache mit einem Fehler Ihrerseits erklären kann. Hochentwickelte Organismen sind sehr anfällig für Fehlleistungen. Manchmal gerät das System durcheinander, mit dem Willen hat das nichts zu tun.«
Sie schloss die Augen. Er sollte nicht an ihrer Miene ablesen, wie gern sie die Schuld sich selbst oder etwas anderem oder irgendjemandem gegeben hätte, ungebührlichem Verhalten, Junkfood, einer langanhaltenden schlechten Angewohnheit, einem tiefsitzenden Trauma, den Abgasen in der Stadt, einer nahen Industrieanlage, dem Fluch eines Feindes, alles war erträglicher als die Annahme eines statistisch erwartbaren Vorfalls. Irgendwie schien der Arzt das zu spüren.
»Sie haben mir erzählt, dass Sie Romane schreiben, eine wunderbare Arbeit, aber auch sehr schwierig. Keine andere Spezies ist dazu in der Lage, nur der Mensch. Können Sie noch andere Sprachen außer Italienisch?«
»Englisch, Französisch, ein bisschen Spanisch … Und ich lerne gerade Koreanisch.«
»Wäre es Ihnen lieber, nichts von all dem zu können und dafür niemals krank zu werden? Einzeller beispielsweise entwickeln keine Neoplasien, aber sie sprechen auch keine Sprachen. Amöben schreiben keine Bücher.«
Sie musterten sich eine Weile, die beiden endlos vorkam, und dieses Mal war sie sich sicher, dass der Onkologe das Bild speziell für sie gefunden hatte, im Unterschied zum vorangegangenen Vergleich mit dem Risiko-Spiel und der habgierigen Kolonisierung irakischer Ölquellen. Bis vor zwei Minuten hatte sie noch tausend Fragen gehabt. Zum Beispiel, wie lange der Krieg dauern würde, der ihr bevorstand. Ob sie eine Chance hatte, ihn zu gewinnen. Wieviel Zeit ihr zum Kämpfen blieb. Sie wollte die Eckdaten des Gefechts, einen Schlachtplan. Doch die Unzulänglichkeit des Kriegsvokabulars, mit dem normalerweise vom Umgang mit tödlichen Krankheiten gesprochen wurde, ließ sie verstummen. Schuld daran war ganz offensichtlich der Arzt. Die Worte, die der Mann gewählt hatte, veränderten das metaphorische Umfeld und zwangen sie, sich auf ein ihr unvertrautes Ziel zuzubewegen: den Nichtangriffspakt. Das, was doch eigentlich ihr Feind sein sollte, der vernichtet werden musste, wurde ihr hier als Komplize ihrer eigenen Komplexität vorgestellt, als ein verirrter Teil ihres hochentwickelten Körpers, als ein Kurzschluss in einem sonst funktionierenden System, letztendlich als ein guter Freund auf Abwegen. Sie war es nicht gewohnt, mit Worten zu unterliegen. Der Kampf gegen die Krankheit, wie auch immer sie ihn sich vorgestellt hätte, klang plötzlich wie ein Versuch der Selbstverstümmelung. Und um einen Krieg gegen sich selbst zu führen, fehlte es ihr an Lust und an Kraft.
»So habe ich es tatsächlich noch nie gesehen. Wenn das Leben einer Amöbe die Alternative ist, dann bin ich an einem Tausch nicht interessiert. Sagen Sie mir lieber, was ich tun muss, um den Fehler im System zu beheben.« Sie zögerte kurz und setzte dann hinzu: »Wenn das geht.«
Bei dem Wechsel des Sprachregisters leuchteten die Augen des Arztes auf, und sein Körper schien sich zu entspannen. Er setzte sich auf. Wahrscheinlich dachte er, den schwierigsten Teil der Unterhaltung hinter sich gebracht zu haben.
»Ich stelle Ihnen ein Rezept aus, und Sie holen sich die Medikamente in der Apotheke ab, aber vorher unterschreiben Sie mir noch diese Erklärung, dass Sie der Behandlung zustimmen und sich über die Risiken und Nebenwirkungen im Klaren sind.«
»Bin ich mir das?«
»Hier auf dem Blatt sind alle aufgelistet, ich rate Ihnen allerdings, sie nicht zu lesen: Das geht los mit Niesen, endet mit dem Tod, und dazwischen liegen noch tausend weitere Leiden, genau wie auf den Beipackzetteln von Aspirin. Da bekäme jeder Panik. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch nur eine dieser Nebenwirkungen eintritt, ist so gering, dass es keinen Sinn ergibt, sich schon präventiv zu ängstigen. Vertrauen Sie mir, wenn etwas passiert, werden wir es frühzeitig merken und gegenwirken.«
»Das hatte ich ohnehin nicht vor. Ich vertraue Ihnen.«
Das war nur die halbe Wahrheit. Sie hatte bereits nach dem Blatt auf dem Tisch gespäht, auf dem ganz oben kurz und knapp die Diagnose stand, die noch vor zehn Jahren einen baldigen Tod bedeutet hätte. Nierenkarzinom im vierten Stadium.
AM. Ein Blitz.
AM. Noch ein Blitz.
AM. Noch einer.
Während sie den Zettel unterschrieb und er das Rezept ausstellte, blitzte die Silbe immer wieder in ihrem Hirn auf, und ihr wurde plötzlich bewusst, dass der Arzt die Krankheit nicht beim Namen genannt hatte.
»Draußen wartet meine Schwester, Dottore, und ich habe noch mehr Angehörige. Wenn die mich fragen, was ich habe, wie soll ich es dann nennen? Das, was da auf dem Blatt steht, bringe ich nicht über die Lippen.«
Sie sahen sich fest an. Der Arzt seufzte, ließ die Schultern sinken und lehnte sich im Sessel zurück. Durch die Plexiglasscheibe betrachtet, fehlte seinem Körper jegliche Tiefe, er sah aus wie ein Foto im Wechselrahmen. Als er weitersprach, verschwand der Eindruck der Zweidimensionalität.
»Wie möchten Sie es denn nennen?«
Dem Tumor einen Namen geben, was für eine merkwürdige Aufforderung. Alle Bezeichnungen, die sie je gehört hatte, schwirrten ihr durch den Kopf. Unheilbare Krankheit. Bösartiger Tumor. Malignom. Das Monster. Das Ding. Nichts davon sagte ihr zu, dann fiel ihr spontan ein:
»Auf Koreanisch sagt man am. Meinen Sie, das könnte ich nehmen?«
Sie hatte so überstürzt geantwortet, dass sie ihre Frage noch im Aussprechen bereute. Es erschien ihr kindisch, dass sie ein Wort benötigte, das noch von niemandem, den sie kannte, benutzt worden war. Dass der Ausdruck vom anderen Ende der Welt kam, schuf eine Distanz zwischen ihr und der Diagnose, ohne die sie es im Moment nicht hätte aushalten können. Sie hatte erwartet, dass der Arzt sie auslachen würde, doch er schien den Vorschlag in Erwägung zu ziehen und nachzudenken. Dann nickte er ernst und reichte ihr die Verordnung durch die Öffnung im Plexiglas.
»Sie müssen entschuldigen, ich verstehe kein Koreanisch, aber auf Englisch ist am ja die erste Person Singular des Verbes ›sein‹, daher kommt mir der Begriff ziemlich passend vor«, er lächelte. »Sie können dann immer antworten I am, wie um zu sagen ›Ich habe etwas, das ich bin‹, und das träfe es ziemlich genau.«
Es folgte ein tiefes Schweigen, und in ihren hin und her wandernden Blicken lag eine Mischung aus Rührung und Verlegenheit. Weil sie die durchsichtige Trennwand nicht mehr ertrug, sprang sie ungelenk auf, doch der Vorteil, von oben auf ihn herabzuschauen, währte nur, bis auch er sich erhob.
»Dann vielen Dank. Ich werde die Tabletten nehmen, wie Sie gesagt haben, zwei am Tag.«
»Morgens und abends. Lassen Sie keine aus und werfen Sie sie nicht weg, eine Schachtel davon kostet unser Gesundheitssystem fast siebentausend Euro. Ich sage das nur, weil es wirklich Menschen gibt, die das tun. Sie geben vor, sie zu nehmen, und werfen sie in den Müll, manche Leute sind schon seltsam.«
Ich bin auch seltsam, Dottore, dachte sie stumm. Dass man sie der Verschwendung verdächtigte, während sie dabei war, alles zu verlieren, kam ihr surreal vor. Als sie sich die Hand gaben, lächelte sie ihn vergeblich durch die Maske an und dachte, dass auch er ihr Gesicht nur halb sah. Sollten sie sich außerhalb des Krankenhauses ohne Maske begegnen, würden sie sich wahrscheinlich gar nicht wiedererkennen. Sie stellte sich die Szene im Supermarkt vor.
»Irre ich mich oder sind Sie …?«
Yes, Dottore. I am.
Drei Dinge lassen sich nicht verbergen: das Niesen, die Schönheit und die Armut. Nach drei Wochen anhaltender Übelkeit hatte ich einsehen müssen, dass auch das Erbrechen von indiskreter Natur ist. Obwohl nie jemand sah, wie ich mich übergab, hatte ich in den ersten zwanzig Tagen fast sechs Kilo abgenommen, was selbst Bekannten, die mich nur selten trafen, langsam auffiel. Allerdings sagten sie dann Sachen wie »Steht dir gut, ein paar Kilo weniger«, und da ich noch nie im Leben eine Diät gemacht hatte, wusste ich nicht, wie ich darauf antworten sollte, ohne beleidigt zu wirken. Insgeheim waren sie offenbar immer der Ansicht gewesen, ich sei zu dick.
Dabei hatte das Erbrechen gar nichts mit meinem Gewicht zu tun. Los ging es eines Abends kurz nach 23 Uhr, als ich diese Textnachricht bekam. »Gute Nacht …« Sie kam von dem Scheißkerl. Eine Woche zuvor war er ausgezogen. Was bedeutete die plötzliche Meldung? Was die drei pubertären Auslassungspünktchen? Bereute er es etwa? Überfiel ihn nach Sonnenuntergang die Sehnsucht nach mir? Wollte er andeuten, dass er alleine schlief? Hätte ich ihm geantwortet, da bin ich mir sicher, wäre die nächste Frage gewesen: »Wie geht’s?«, eine echte Drecksnummer, die nur ein Narziss mit Fürsorglichkeit verwechseln konnte. Wie soll es mir schon gehen, Arschloch? Warum schreiben einem Leute, die dich verlassen haben, weil sie nichts mehr mit dir zu tun haben wollen, kurze Zeit später Sachen, die sie zumindest dazu verpflichten, sich die Antwort anzuhören?
Ganz versunken in diese Fragen, an die ich wahrscheinlich eine weitere schlaflose Nacht verlieren würde, bemerkte ich zunächst gar nicht, dass ich mich übergeben musste. Das war einfach, denn es begann als vages Gefühl, als diffuses Unwohlsein, wurde dann konkreter, körperlicher, bis sich alles in mir zusammenkrümmte. Ich schaffte es gerade noch ins Bad, um eine größere Katastrophe zu verhindern, die so groß auch wieder nicht gewesen wäre: Mein Magen war ohnehin leer.
Seit er mich verlassen hatte, war meine Kehle wie zugeschnürt, und zum Frühstück aß ich nur ein Paar Kekse. Es lag nicht an Appetitlosigkeit oder daran, dass mich der Geruch der Speisen angewidert hätte. Vielmehr krampfte sich mir schon beim bloßen Gedanken an Essen der Magen zusammen. Zu Beginn wirkte sich das in erster Linie auf mein Sozialleben aus. Normalerweise pflege ich meine Beziehungen beim Essen. Freunde, Arbeitstreffen, sonstige Verabredungen, alles spielt sich am gedeckten Tisch ab. Komm doch vorbei, dann bequatschen wir das bei einem Teller Spaghetti Vongole. Kleiner Imbiss heute Abend, schnell und unkompliziert, nur um sich zu sehen. Auf einen Aperitif in dem neuen Laden? Komm, Zeit für einen Kaffee muss sein. Eine Horde unstillbar hungriger Menschen, die nichts entscheiden können, ohne dabei zu kauen, egal, ob es um das Färben oder Nichtfärben der grauen Haare geht oder um den Namen des erwarteten nächsten Kindes. Völlig unmöglich, sich mehr als zweimal vor dieser Art des Socializings zu drücken. Dann kommen die Fragen, ob es dir gut geht. Warum sollte es mir schlecht gehen? Mir geht’s blendend. Ich möchte nur essen, ohne selbst gefressen zu werden, wie alle höheren Raubtiere.
In den drei Monaten stillen Boykotts hatte ich am Ende sechzehn Kilo abgenommen, ohne dass meine Bekannten aufhörten, mir Komplimente zu machen. Natürlich fragte ich mich anfangs, was der physiologische Grund für das Erbrechen sein könnte, fand ihn aber nicht. Absolut alles zog ich in Betracht. Magengeschwür, Speiseröhrenentzündung, Reflux, Krebs, ich ließ sogar eine Magenspiegelung machen, ausgerechnet ich, die grundsätzlich keine Schwänze lutschte, um niemanden in meiner Kehle zu haben. Nichts kam dabei heraus, was diese endlose Spuckerei irgendwie hätte erklären können. Die wenigen Menschen, denen ich mich anvertraut hatte, glaubten, ich würde mir den Finger in den Hals stecken. Aber wie schlecht kannten sie mich, um so etwas zu denken? Nein, die Magenkrämpfe kamen von ganz allein, so bereitwillig, als kehrten sie nach Hause zurück. Ich brauchte mir nicht den Finger in den Hals zu stecken, denn ich erbrach mich aus dem Kopf heraus, nicht aus dem Magen. Ein intelligentes Erbrechen.
Nachdem ich also alle möglichen pathologischen Ursachen ausgeschlossen hatte, schien es mir nur logisch, die Sache mit dem Arsch in Verbindung zu bringen. Es lag weniger daran, dass er gegangen war – wer geht nicht früher oder später? –, sondern vielmehr an der völlig durchschnittlichen Art und Weise, mit der er mich verlassen hatte, was mich mehr verletzte als der Fakt selbst. Wir hatten den Plot irgendeines Groschenromans nachgespielt, alles so vorhersehbar, weshalb ich mich mehr über mich selbst ärgerte, die ihm diese Vorlage geliefert hatte, als über ihn, der sie so banal ausgeführt hatte. Irgendwie war die Vorstellung belebend, dass der Schmerz, den der Scheißkerl mir zugefügt hatte, nun so heftig wieder ausgespuckt wurde wie ein Giftstoff. Das erinnerte mich an bestimmte Exorzismus-Szenen, von denen ich gelesen hatte, wenn der Teufel sich den Austreibungsversuchen des Priesters widersetzte, den Leib des Besessenen auf alle viere zwang und ihn Dinge aus dem aufgerissenen Mund speien ließ, die sich auf dem Boden materialisierten, ohne körperlich seine Kehle durchquert zu haben.
Außerdem war mein Brechreiz immer irgendwie mit ihm verknüpft, wie am Abend der Textnachricht, obwohl meist schon viel weniger reichte. Ich musste nur kurz die eiserne Disziplin lockern, mit der ich meine Gedanken beherrschte. Ein bestimmter Duft. Der Satz aus einem Film, der eine süße und daher bittere Erinnerung weckte. Einmal hatte ich mich sogar in nächster Nähe des Pizzaimbisses in der Via Panisperna übergeben müssen, wo wir samstags die seiner Ansicht nach weltbeste Pizza Bianca gegessen hatten. Ich hatte wieder mal nichts im Magen, war dafür umso aufmerksamer für alles, was mich an diesem Augusttag auf dem glühenden Asphalt umgab: zusammengeknüllte Kassenbons, ein mit dem Teer zwischen Straße und Bürgersteig verschmolzenes Kaugummi, die Pizza Bianca und sogar seine halbgeschlossenen Augen, als er sich unter der Glyzinie in der Sonne den besonderen Geschmack des öligen Brotteigs auf der Zunge zergehen ließ. Auf diese Bilder erbrach ich mich mindestens zehn Minuten lang, dann ging es mir besser. Eine Weile hatte mich der Gedanke getröstet, dass ich, sobald ich über die Beziehung hinweg wäre, mit dem Spucken aufhören würde.
Doch es kam anders. Nach zwei Monaten überfiel mich das Erbrechen unabhängig von äußeren Anlässen. Auch meine eigene Einstellung dazu hatte sich verändert. Ich gewöhnte mich langsam daran. Nicht nur, dass ich mich nicht mehr davor fürchtete, zu meinem eigenen Erstaunen schien ich geradezu darauf zu warten. Verging eine Mahlzeit ohne Übelkeit, fragte ich mich warum. Im Laufe der Wochen stellte ich fest, dass sich ihre Dynamik änderte. Einmal, nachdem ich den ganzen Tag nichts gegessen hatte, geschah es abends außergewöhnlich langsam. Der Brechkrampf setzte sich aus klar erkennbaren Segmenten zusammen, die sich aneinanderreihten wie die Ringe eines Regenwurms. Innerlich zählte ich mit und stellte mir vor, wie ich im gelben Schein der Badleuchte beobachtet wurde: Eine Frau kniet über der Kloschüssel und wartet auf den Schwindel, der dem ersten Schwall vorausgeht. Und was ich nie jemandem hätte erzählen können: Es war eine bewegende Erfahrung.
Sobald ich seitdem die schwarze Energie aus dem Magen aufsteigen spürte, erfasste mich eine Euphorie wie vor einem ersten Date und löste frenetische Vorbereitungen bei mir aus. Ich rannte ins Bad, entledigte mich der Unterhose, setzte mich mit dem Kopf über der Kloschüssel auf das Bidet und wartete. Es war eine Frage von Zehntelsekunden, in denen sich der Zwang zum Erbrechen in eine innere Muskelkontraktion verwandelte, die sich wie ein Spieß vom Solarplexus ins Zentrum meiner Stirn bohrte. Die Mischung aus Schmerz, Anspannung und Gewalt, mit der der erste Schwall herauskam, gipfelte in einem viersekündigen Blitz, vier perfekte Zuckungen, während derer alle Sinne erstarben und mein Körper alle Kontrolle abgab. Nie hatte ich etwas erlebt, das der Ohnmacht näher kam. Alles, was dann folgte, Auswurf inklusive, war diesen Orgasmus wert. Ich erbrach mich gerne.