Drei Tage bis Vollmond - Hagen Haas - E-Book

Drei Tage bis Vollmond E-Book

Hagen Haas

4,9

Beschreibung

Als der Kölner Student Emil eine mysteriöse schwarze Pyramide findet, ahnt er nicht, dass sein Schicksal damit unvermittelt eine dramatische Wendungnimmt. Zuerst klingelt ein bildhübscher Sukkubus namens Demmi an seiner Tür. Als Emil in die bergseeblauen Augen des Dämons blickt, ist es sofort um ihn geschehen und obwohl Demmi nicht gerade freundlich zu ihm ist, ein Loch in seine Küchentür schießt und ihm die Pyramide klaut, ist Emil nicht mehr davon abzubringen, dass er und Demmi füreinander bestimmt sind. Doch dann macht auch noch ein Unhold im Auftrag des Dämonenfürsten Asmodin Jagd auf Emil, Demmi und die Pyramide. Glücklicherweise ist der gewaltige Kampfdämon zwar eine muskelbepackte Mordmaschine, doch leider nicht sehr helle … Ein Roman voller Liebe und Tod, Helden und Schurken, Dämonen und Geheimagenten, Schwert- und Pistolenduellen, über- und unterirdischen Verfolgungsjagden – und außerdem einigen ultrageheimen Geheimtipps für Köln-Touristen!

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Autor: Hagen Haas

Lektorat: Oliver Hoffmann

Korrektorat: Frederic Rukes

Umschlaggestaltung und Satz: Oliver Graute

© Feder & Schwert 2017

E-Book-Ausgabe 2017

ISBN 978-3-86762-288-2

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-86762-287-5

Drei Tage bis Vollmond ist ein Produkt der Feder & Schwert GmbH 2017. Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die in diesem Buch beschriebenen Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Charakteren und lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Die Erwähnung von oder Bezugnahme auf Firmen oder Produkte auf den folgenden Seiten stellt keine Verletzung des Copyrights dar.

www.feder-und-schwert.com

Widmung

Für meine Eltern,

dafür, dass sie einen Menschen aus mir gemacht haben.

Dramatis Personae

Protagonisten:

Emil Vormann: Jurastudent und Romantiker

Malte Sommer: Jurastudent und Comiczeichner

Andreas „Wächter“ Burgwächter: Gelegenheitsarbeiter und Schwertmeister

Constantin Richter: Medizinstudent und Skeptiker

Mai Li: Pegasus-Agentin

Tatonka: Pegasus-Agent

Arthur Chomsky: Ehemaliger Pegasus-Agent

Antagonisten:

Asmodin: Dunkelherr

Der Unhold: Kampfdämon

Der Schattenmann: Ehemaliger Revolverheld, jetzt Nachtschatten

Céleste deVille: „Sektenbeauftragte“

Polizisten:

Katrin Schröder: Berittene Polizistin

Kommissar Jäger: Kriminalkommissar

Meier von der Spurenermittlung: Spurenermittler und späterer Organist im Kirchenchor

Statisten:

Pfarrer Krause: Kölner Gemeindepfarrer, Kontaktmann von Pegasus

Jupp: Taxifahrer, Kölsches Original

Alfred von der Eisenbahn: ICE-Führer, Yeti-Fan

Viktor Schaffmann: BWL-Student, Langweiler

Mutter Schaffmann: Hausfrau, begeisterte Operngängerin

Der Advokat: Advocatus Diaboli, Untergebener des Großjustiziars

Die Hexe Gertawina: Schwarze Hexe, Feenjägerin

Solisten:

Demmi: Blondes „Mädchen“ mit wunderschönen, bergseeblauen Augen

Das Schicksal: Unergründliche, unerklärliche, unbegreifliche, aber dennoch humorvolle Macht jenseits von Raum und Zeit

Prolog

Tief unten in den Eingeweiden der Erde, an einem namenlos schrecklichen Ort, den noch niemals das Licht der Liebe erhellt hatte, stand ein schlankes blondes Mädchen von knapp zwanzig Jahren hinter einem Mauervorsprung und spähte hinüber zu einem steinernen Torbogen. Gewaltig zeichnete sich darin die Silhouette des Wächterdämons ab. Er würde sie nicht vorbei lassen. Aber sie musste vorbei, hinauf an die Oberfläche! Einen Kampf konnte sie nicht riskieren. Das Monstrum würde sie in Stücke reißen, ihre Eingeweide fressen und ihr Blut an die Wände der Kaverne schmieren. Wenn sie vorbei wollte – musste sie zaubern!

Die Angst schnürte ihr die Kehle zu, als sie die Hände hob und zitternd magische Muster in die Luft wob. Ein bläuliches Funkeln umspielte ihre Finger, wurde heller … und verlosch. Mühsam unterdrückte sie die aufsteigende Panik und zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Wenn sie nicht hinaufkam, war sowieso alles vorbei. Sie hatte also nichts zu verlieren. Noch einmal hob sie die Hände, formte die Muster und ließ den Zauber los. Er schwebte durch den Äther, umspielte unsichtbar die gewaltige Kontur des Wächterdämons und drang in seinen Geist ein. Das Mädchen hielt den Atem an und zählte: eins, zwei, drei, vier ... Nichts geschah. Er hatte nicht gewirkt! Der verfluchte Zauber hatte nicht gewirkt! Sie konnte es einfach nicht! Was jetzt? Um ein Wunder beten? Beten – sie? Fast hätte sich ein trockener Lacher ihrer Kehle entrungen. Doch er blieb ihr im Halse stecken, denn plötzlich hörte sie einen dumpf wiederhallenden Schritt, dann noch einen ... Der Wächterdämon hatte sich in Bewegung gesetzt und kam auf sie zu! Starr vor Angst presste sie sich an die Felswand. Während sie noch versuchte, sich eine wie auch immer geartete Ausrede zurecht zu legen, bogen die Schritte plötzlich ab, entfernten sich und dann hörte sie ein leises Plätschern. Und einen tiefen, wohligen Seufzer.

Es war eine Ironie des Schicksals, dass gerade die Unholde – jene schrecklichen muskelbepackten Monstren mit ihren gewaltigen Klauen und Reißzähnen – einige menschliche Eigenschaften besaßen, die anderen Dämonen vollkommen fremd waren. Sie mussten fressen, schlafen und – pinkeln.

Doch dies war nicht der Zeitpunkt, um über solche Absonderlichkeiten zu philosophieren. Das Mädchen warf einen kurzen Blick um die Ecke und erkannte, dass der Wächterdämon ein ganzes Stück entfernt mit dem Rücken zu ihr an einer Tunnelwand stand und noch beschäftigt war. Mit einigen schnellen Sätzen überquerte sie unbemerkt den Gang und huschte durch den Torbogen. Dahinter öffnete sich die Katakombe in einen gewaltigen Treppenschacht. In unendlichen Spiralen wanden sich die Stufen hinauf und immer höher hinauf, bis in die Welt der Menschen. Noch einmal blickte sie sich sichernd um, dann sprang sie los. Immer gleich drei Stufen auf einmal nehmend hetzte sie dem Licht der untergehenden Sonne entgegen, das von weit oben seinen matten Schimmer herabsandte …

1.

Ein fast normaler Abend

Es war einer der letzten Tage des Altweibersommers gewesen, mit Wärme und Sonnenschein. Die Meteorologen sagten für die nächsten Tage den Herbsteinbruch voraus, und das bedeutete in Köln normalerweise Regen, Regen und nochmals Regen. In Anbetracht dieser Tatsache hatten Emil und seine Freunde Malte, Constantin und Wächter sich dazu verabredet, am Abend noch einmal eins ihrer traditionellen „Pfeilertreffen“ auf der Südbrücke abzuhalten. Das etwa hundert Jahre alte Bauwerk spannte sich in einer stählernen Bogenkonstruktion über den grau dahinfließenden Rhein. Seinen Abschluss zu beiden Ufern des Stroms bildeten neoromanisch gestaltete Türme aus rotem Gestein, die hoch über die Gleisebene hinausragten und der Brücke eine düsterromantische Aura verliehen. Der perfekte Ort für die vier Freunde zum Chillen. Die Organisation des Treffens war Routine gewesen. Wächter, der eigentlich Andreas Burgwächter hieß und noch bei seinen Eltern wohnte, wollte seinem Vater wie üblich einige Bierflaschen stehlen. Malte war für die Musik zuständig – das hieß Ghettoblaster und Soundtracks. Emil hatte wie so oft seine Vorlesungen geschwänzt und war stattdessen mit Constantin, der behauptete, an diesem Tag keine Vorlesungen zu haben, nach Holland gefahren. Bis Maastricht waren es nur hundert Kilometer, und dort gab es jede Menge „Coffeeshops“, in denen aber niemand Kaffee kaufte ...

Um halb acht, als die Sonne hinter dem westlichen Horizont versank und den Himmel rot und violett färbte, saßen Emil, Constantin und Malte gemütlich auf ihrem Pfeiler inmitten des Rheins. Sie hatten sich Rucksäcke und Jacken in den Rücken gelegt, und aus den Boxen erklang Conan. Nur der notorisch unpünktliche Wächter – und damit das Bier – fehlten noch.

Während Emil mit einer braunen Haarsträhne, die sich aus seinem Zopf gelöst hatte, spielte und verträumt in den Sonnenuntergang schaute, hörte er mit einem Ohr Maltes Ausführungen zu. Der große Blondschopf studierte mit Emil zusammen Jura, aber seine Liebe gehörte eigentlich den Comics und gerade stellte er begeistert sein neustes Projekt vor: „Will Wilder oder der Schatten von Hongkong“. Er war ein begabter Zeichner, aber viel zu faul, um etwas daraus zu machen. Deswegen redete er lieber über seine Comics statt sie fertig zu zeichnen. Während Malte erzählte und erzählte und Emil den Sonnenuntergang genoss und hin und wieder pflichtbewusst nickte und „hm“ machte, gab Constantin sich nicht mal die Mühe, den Anschein zu erwecken, er höre Malte zu. Er hatte nämlich Wichtigeres zu tun: Mit großem Geschick drehte er eine Tüte von beeindruckender Größe. Fünfblättler waren seine Spezialität. Als er die Arbeit beendet hatte und seine Schöpfung prüfend gegen den dunkler werdenden Himmel hielt, bemerkte Constantin aus dem Augenwinkel einen Schatten auf dem Gehsteig über ihnen. Mit einer schnellen Bewegung griff er an seinen Gürtel und riss eine imaginäre Pistole daraus hervor. Auch Emil und Malte fuhren herum. Doch es war zu spät. Von oben ertönte ein schallgedämpftes: „Duff! Duff! Duff!“

Der große, hagere Wächter – wie immer ganz in Schwarz – grinste vom Brückengeländer auf sie herab und pustete dann den Rauch von seinen ebenfalls imaginären Wummen: „Tja Leute, das war’s dann wohl. Euer Rauschkraut gehört mir.“

„Weil du uns mit deinem Finger erschossen hast?“, fragte Emil unbeeindruckt, während Constantin seine nicht vorhandene Pistole verärgert in den Gürtel zurückschob und Malte zum Gehsteig hinauf brummte: „Du bist zu spät.“

Wächters Gesicht verfinsterte sich, und er knurrte unwirsch: „Verfluchte Drecksscheiße! Wir haben um sechs noch eine Lieferung Teppiche reinbekommen. Am Freitagabend! Ich war bis vor zwanzig Minuten im Lager!“

Damit schwang er sich über das Brückengeländer und kletterte auf den Pfeiler hinunter.

„Wann suchst du dir endlich mal einen ordentlichen Job?“, fragte Emil kopfschüttelnd.

„Wenn du deinen ersten Schein bestehst!“, konterte Wächter.

Emil verzog beleidigt das Gesicht: „He! Den Grundlagenschein hab’ ich schon.“

„Mein Vater sagt immer, Jura sei keine echte Wissenschaft“, mischte sich Constantin ungefragt ein. Er selbst studierte Medizin, vor allem, weil sein Vater Arzt war – und wegen der hübschen Kommilitoninnen.

Während Emil und Malte Constantins Kommentar würdevoll ignorierten, nahm Wächter seinen Rucksack ab, um sich dann gemächlich niederzulassen und nach dem soeben vollendeten Fünfblättler zu greifen.

Damit war das Pfeilertreffen, das letzte dieses Sommers, endlich komplett, und es versprach, ein lustiger, vor allem aber ein völlig normaler Freitagabend zu werden …

***

Gegen zwölf waren Wächters Biervorräte erschöpft, der ein oder andere Rauschkrautstängel gepafft und die allgemeine Stimmung ausgelassen. Die silberne Scheibe des Nachtgestirns stand hoch und hell am Himmel, denn es waren nur noch drei Tage bis zum nächsten Vollmond.

Constantin ereiferte sich gerade über Maltes letzte These: „Fette Computereffekte machen noch keinen guten Film! Ich bleibe dabei: Die alten Teile waren besser!“

„Du kannst das nicht vergleichen. Die alte Trilogie ist abgeschlossen, das hier ist etwas völlig Neues“, sprang Wächter Malte bei.

„Genau, wir schreiben das Jahr 1999! Wir stehen auf der Schwelle zu einem neuen Millennium und müssen den vierten … äh ... ersten Teil in diesem Kontext berücksichtigen“, ergänzte Emil pathetisch und begeistert über seine eigene kühne Aussage.

Constantin sah sich von seinen Freunden eingekreist. Gerade setzte er zu einem verbalen Rundumschlag an, als er plötzlich stockte und genervt nach oben blickte: „Es regnet.“

Die anderen drei wandten ihre Blicke ebenfalls zum Himmel hinauf. Schwere Wolken, die im Widerschein der Stadtbeleuchtung fahl schimmerten, hatten sich vor den fast vollen Mond geschoben und verhießen nichts Gutes.

„Ach, das sind nur ein paar Tropfen“, erklärte Wächter dennoch überzeugt, als am Horizont ein vielfingriger Blitz den Himmel erhellte, gefolgt von dunkel heranrollendem Donner.

Malte gab ein leises „Oh, oh!“ von sich und packte bemerkenswert schnell seine Sachen. Er hasste Ungemütlichkeiten aller Art wie die Pest.

Doch Wächter gab sich nicht so einfach geschlagen: „Das zieht vorbei!“

Als habe er nur auf diesen Kommentar gewartet, um ihn dann beweiskräftig zu widerlegen, öffnete der Himmel just in diesem Augenblick seine Schleusen. Dicke, schwere Tropfen fielen erst vereinzelt, dann aber schneller und schneller aus der Finsternis herab. Panikartig rafften die Freunde ihre Habseligkeiten zusammen und machten sich an den Aufbruch.

Emil erreichte die Gleisebene zuerst. Während die anderen ihm nachgeklettert kamen, rollte ein schwerer Güterzug über die Schienentrasse heran. Die ganze Stahlkonstruktion erbebte unter seinem Gewicht und sein rhythmisches Rattern dröhnte laut zu den inzwischen fast vollständig durchnässten Jungs herüber. Malte, der soeben als letzter auf dem Fußweg der Brücke angekommen war, schlug sich plötzlich gegen die Stirn und brüllte gegen Sturm und Eisenbahn an: „Sch...ße! Mei... Ru...sa...!“

Emil wandte sich zu ihm um: „W...s?“

In diesem Augenblick übertönte ein ohrenbetäubender Donnerschlag, der sie alle zusammenfahren ließ, den Zug. Gleißende Helligkeit riss die Brücke aus den Schatten hervor, während sie noch stärker erbebte.

Malte hielt sich verstört am Geländer fest: „E...n Erdb...ben!“

„Ne...n! De… Blit... ...at eing...schlag...!“, brüllte Constantin und deutete in Richtung rechtes Rheinufer. Die anderen folgten mit den Blicken seinem ausgestreckten Arm. Dort war ein Stück aus einem der gewaltigen Brückenpfeiler herausgesprengt worden. Dampf stieg auf, und die letzten elektrischen Ladungen krochen über das verkohlte Gestein.

Die vier starrten offenen Mundes auf das Schauspiel und hatten den Regen, der in wahren Sturzbächen vom Himmel fiel, völlig vergessen. Während das Ende des Zuges hinter ihnen in die Nacht rollte, fand Emil als erster seine Sprache wieder: „Hin!“

Dann rannte er auch schon los. Constantin und Wächter wechselten einen kurzen Blick und stürmten ihm hinterher, um bloß nichts zu verpassen. Malte war die Sache nicht geheuer. Auch er setzte sich zwar in Bewegung, versuchte aber, während des Laufens für eine etwas besonnenere Strategie zu werben.

„Was ist, wenn ein Stromkabel getroffen wurde? Oder die Brückenkonstruktion was abbekommen hat?“, rief er von hinten. Aber die anderen waren viel zu sehr auf den immer noch dampfenden Brückenpfeiler fixiert, um ihm zuzuhören. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen oder sich später wieder mal als Feigling beschimpfen zu lassen. Er hasste solche Entscheidungen!

Als die vier den Pfeilerturm erreicht hatten, stellten sie fest, dass der Stein an dieser Stelle nicht massiv gewesen war. Der Blitzeinschlag hatte einen versteckten Hohlraum im Gemäuer freigesprengt, recht klein und schmal – und über und über mit fremdartigen Symbolen beschmiert, die in der Dunkelheit fluoreszierten. Die Freunde wechselten zögernde Blicke. Nach einigen Augenblicken entfuhr Wächter ein halblautes: „Cool.“

Emil setzte derweil vorsichtig seinen Fuß auf den Mauerbruch und beugte sich vor, um einen Blick auf den Boden des Hohlraums werfen zu können. Constantin drängte sich augenblicklich neben ihn. Er wollte sich auf keinen Fall eventuellen Entdeckerruhm entgehen lassen. Die beiden mussten sich ein ganzes Stück auf dem glitschigen Sims vortasten, um Einblick in das Innere des Schachtes zu erlangen. Dessen Boden lag, wie sich herausstellte, kaum einen Meter unter ihnen. Dort stand in der Mitte eines matt leuchtenden Pentagramms eine Pyramide – handgroß nur, aber dennoch auf eine beunruhigende Weise faszinierend anzusehen. Sie war vollkommen glatt und sah aus, wie von poliertem Glas oder Gestein. Obwohl sie schwarz wie die Nacht war, schien von ihr ein bläuliches Glimmen auszugehen, das die fremdartigen Schriftzeichen und Symbole um sie herum überstrahlte, und leicht pulsierte. Der Rest des Schachtes war durch die Explosion über und über mit feinem Steinstaub bedeckt. Die Pyramide aber war so sauber, als habe jemand sie soeben mit einem feuchten Tuch abgewischt.

Constantin und Emil betrachteten gebannt ihre Entdeckung. Sie wurden erst aus der Verzauberung gerissen, als Wächter sich von hinten zu Wort meldete: „Was ist da unten? Lasst mich auch mal sehen!“

Langsam krochen die beiden rückwärts vom Mauerbruch. Als sie wieder die Stahlplatten des Gehwegs unter den Füßen hatten, sahen sie einander verunsichert an.

„Glaubst du, das Ding ist irgendwie … magisch?“, fragte Emil ehrfurchtsvoll.

In Constantins Augen glomm kurz Zustimmung auf. Doch dann gewann sein stets zweiflerischer Verstand wieder die Oberhand. Er stieß ein kurzes Lachen aus: „Ach, Quatsch!“

Nachdem Wächter und schließlich auch Malte das Innere des Hohlraums inspiziert hatten, folgte eine kurze Erörterung der Sachlage. „Natürlich ist das Ding nicht magisch! Es gibt keine Magie, also ist das hier auch keine“, erklärte Wächter überzeugt und Constantin nickte heftig zu dieser stringenten Argumentation.

Malte war nicht überzeugt: „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich …“

„Oh, bitte!“, unterbrach ihn Constantin, „komm mir jetzt nicht mit Shakespeare!“

Wächter fügte hinzu: „Du und dein Esokram!“

Malte schaute beleidigt drein: „Erdstrahlen gibt’s!“

Bisher hatte Emil geschwiegen. Jetzt meldete er sich nachdenklich zu Wort: „Haltet mich für bekloppt. Ihr wisst, dass ich eigentlich nicht an so was glaube. Aber irgendwie hab’ ich da so ein Gefühl …“

„Er hat da so ein Gefühl“, kommentierte Constantin spöttisch und erntete ein Grinsen von Wächter. Doch Emil fuhr unbeirrt fort: „Dass diese Pyramide – wie sag ich das jetzt – nicht nur magisch ist, sondern auch für mich bestimmt.“

„Nein, das ist nicht dein Schatz, Gollum“, bemerkte Constantin trocken.

„Das ist maximal unsachlich!“, wehrte sich Emil, „Erstens ist das kein Ring, zweitens mag ich keinen Fisch und drittens …“

Er stockte und dachte angestrengt nach.

„Ist es scheiße ungemütlich hier“, vervollständige Wächter. „Also, Vorschlag: Ob die Pyramide magisch ist oder nicht lassen wir mal dahingestellt sein. Wir haben sie zusammen gefunden, also gehört sie natürlich uns allen. Die einzige Frage ist, wer sie erst mal mit nach Hause nimmt, und das sollte Emil sein.“

„Warum?“, fragte Constantin sofort.

„Weil wir beide nicht glauben, dass sie magisch ist. Wenn wir recht haben, ist ganz egal, wer sie nimmt. Wenn aber Emil Recht hat – nicht dass ich das für sehr wahrscheinlich halte, aber man kann ja nie wissen – dann sollte er sie besser nehmen. Gegenvorschläge?“

Malte, der nicht nur voll und ganz mit dieser Argumentation einverstanden war, sondern auch endlich nach Hause wollte, erklärte: „Ich schließe mich meinem Vorredner an.“

Emil grinste: „Ich auch.“

Constantin zuckte resignierend die Schultern: „Na gut. Aber gehören tut sie uns allen!“

„Einverstanden.“

„Jepp!“

„So soll es sein!“

Damit war das Pfeilertreffen, das letzte dieses Sommers, beendet.

***

Aus den sphärischen Höhen einer Dimension jenseits von Raum und Zeit blickte das Schicksal hinab auf die Schöpfung. Natürlich blickte es nicht einfach „hinab“, wie wir Menschen es uns vorstellen würden. Es durchdrang vielmehr das Universum bis in seinen letzten Winkel und überschaute dabei das unergründliche, unerklärliche und unbegreifliche Gespinst von Fäden, welche die Welt von jeher mit ihrem dichtgewebten Netz im Innersten zusammenhalten und dies auch dann noch tun werden, wenn wir Menschen schon lange wieder gegangen sind. Es folgte den Bahnen der Sterne und den Strahlen des Lichts. Es schaute zurück zum Anbeginn des Seins und weit, weit in die Zukunft hinein, bis zum Ende der Zeit.

Soeben war die besondere Aufmerksamkeit des Schicksals allerdings auf den kleinen Planeten Erde gefallen – und dort auf ein kleines Land in der Mitte eines kleinen Kontinents. Sie verweilte auf einer alten Stadt an den Ufern eines grau dahinfließenden Stroms und ein Lächeln hätte die Mundwinkel des Schicksals umspielt, wenn es so etwas wie Mundwinkel besessen hätte. Denn es hatte gerade die Fäden einer Geschichte wieder aufgenommen, welche vor vielen tausend Jahren in einem sonnendurchfluteten, sandbedeckten Land weit im Süden ihren Anfang genommen hatte. Es war eigentlich keine „große“ Geschichte. Keine Reiche würden entstehen oder vergehen. Keine Völker würden in Wanderschaft geraten oder eine neue Heimat finden. Keine Religion würde geboren werden und kein Glaube im Strudel der Zeiten in Vergessenheit geraten. Aber dennoch hatte das Schicksal aus einem Grund, der sogar ihm selbst verborgen war, Gefallen an gerade dieser Geschichte gefunden. Und es hatte beschlossen, sie nun zu Ende zu erzählen …

2.

Überraschung!

Malte war vollkommen durchnässt, als er zu Hause ankam. Warum hatte man auch unbedingt noch den Blitzeinschlag begutachten müssen? Zugegeben, die Entdeckung der Pyramide war eine spannende Sache gewesen. Aber die anschließende Radfahrt durch den Regen hatte Maltes Laune ganz schön ruiniert. Nachdem er seine nassen Kleider gegen einen bequemen weißen Jogginganzug ausgetauscht hatte, wollte er, um seine Stimmung wieder aufzubessern, noch ein bisschen Comics lesen. Er hatte sich tagsüber in seinem Stammladen einige Sonderbände Spiderman gekauft. Die waren zusammen mit dem Ghettoblaster in seinem Rucksack und der – lag noch auf dem Brückenpfeiler! So ein Mist! Er hatte ihn in der ganzen Aufregung dort vergessen!

Unschlüssig stand Malte in der Diele. Sollte er bei dem Dreckswetter noch einmal mit dem Fahrrad zurück zur Brücke strampeln, eine halbe Stunde durch die Nacht? Im Zweifelsfall waren die Comics und der Ghettoblaster inzwischen sowieso total durchnässt und damit unbrauchbar. In dem Moment klingelte es an der Wohnungstür. Malte schaute auf die Uhr: viertel nach eins. Wer konnte das noch sein?

Als er die Tür öffnete, sah er zwei Fremde. Weiter hinten stand ein großer, indianisch aussehender Typ im schwarzen Ledertrenchcoat, davor eine hübsche, kleine Asiatin in dunkelblauer Marinejacke. Sie hielt ihm seinen Rucksack entgegen: „Den hast du wohl auf der Brücke vergessen.“

„Ja ... äh, danke!“, strahlte Malte. Was für ein Glück, dass er seinen Namen samt Anschrift auf dem eigens dafür vorgesehenen Schildchen auf der Deckellasche verewigt hatte!

„Schon gut“, erwiderte sie und trat an ihm vorbei in die Diele. Der Indianer folgte ihr wortlos und schloss ungefragt die Wohnungstür. Malte war zu überrascht, um zu protestieren.

„Wo ist die Pyramide?“, fragte sie unvermittelt.

Spätestens jetzt wurde Malte die Sache mulmig.

„Also ... was für eine Pyramide?“, brachte er wenig überzeugend heraus.

Der indianische Hüne packte ihn am Kragen und hob ihn mühelos mit einer Hand in die Höhe. Die Stärke dieses Mannes musste ungeheuerlich sein, denn Malte war eins neunzig groß und kräftig gebaut.

„Du hast doch gehört, was sie gesagt hat!“, kläffte der Kerl drohend.

„Aber – ich habe sie doch gar nicht!“

Oh nein! Jetzt hatte er sich verplappert! Auf dem Gesicht der Asiatin erschien ein amüsiertes Lächeln, als sie höflich fragte: „Wer hat sie denn?“

Was sollte Malte nur tun? Er konnte doch unmöglich Emil ans Messer liefern! Aber wer wusste schon, was die beiden mit ihm anstellen würden, wenn er nicht redete? In seinem Gehirn begann es fieberhaft zu arbeiten. Er hatte doch so eine Szene bestimmt schon mal bei einem Rollenspiel-Abend oder im Film erlebt.

„Ich bin geduldiger als er“, erklärte ihm die Kleine mit einem freundlichen Fingerzeig auf den Riesen, der ihn immer noch in der Luft hielt.

Malte hasste solche Entscheidungen!

Just in diesem Augenblick klingelte das Telefon. Alle drei fuhren herum. Dabei ließ der Indianer sein Opfer zu Boden fallen. Dann sprang der Anrufbeantworter an: „Hasta la Vista, Fremder. Mad Malte ist nicht im Lande, aber wenn du trotzdem was zu sagen hast, sprich jetzt, oder schweige für immer!“

Piep!

„Hi Malte, Emil hier. Bist du noch nicht zu Hause? Na ja, also, ich hab’ mir die Pyramide mal etwas genauer angesehen. Da sind ganz feine Hieroglyphen drauf ... Scheiße schwer zu entschlüsseln, aber ich würde sagen, irgendwas Ägyptisches. Soviel zum Stand der Ermittlungen. Wir sehen uns morgen!“

Klick. Piep!

„Wo wohnt dieser Emil?“, schnauzte der Indianer und beugte sich bedrohlich zu Malte herunter.

„Lass mal. Das finden wir auch so raus“, beschwichtigte ihn die Asiatin und griff nach dem Filofax, das neben dem Telefon auf der Dielenkommode lag. Sie blätterte einige Augenblicke darin und lächelte dann zufrieden: „Emil Vormann, Neuenahrer Straße 5, 50968 Köln, nicht wahr?“

„Äh ... also ... ja“, bestätigte Malte resigniert. Ihm war irgendwie klar, dass lügen jetzt auch keinen Sinn mehr hatte.

„Mach dir keine Vorwürfe. Du kannst froh sein, wenn wirdeinen Freund vor ihnen finden“, bemerkte die Asiatin ruhig.

„Wir sind nämlich die Guten“, ergänzte der Riese.

***

Emil war gerade mit Zähneputzen beschäftigt, als es klingelte. Er schaute auf die Uhr: halb zwei. Wer konnte das noch sein? Die Zahnbürste im Mund ging er zur Wohnungstür. Als er sie öffnete, fiel er in zwei tiefe, blaue Bergseen. Erst nach Sekunden begriff er, dass es sich dabei um die schönsten Augen handelte, die er je gesehen hatte. Sie strahlten ihn aus einem überirdisch anmutigen Gesicht an, das eingerahmt war von glattem platinblondem Haar. Ein enger roter Rollkragenpulli, auf dem sich in schwarzen Lettern „Devil“ über einen vollen Busen spannte, eine auf Taille geschnittene Lederjacke und Bluejeans komplettierten das Outfit des Mädchens, das dort im Hausflur vor ihm stand.

Sie war einfach umwerfend, atemberaubend, überwältigend – und hatte sich zweifellos in der Tür geirrt.

Dennoch schenkte sie ihm jetzt ein strahlendes Lächeln. Erst als er es erwiderte, erinnerte Emil sich wieder daran, dass er ja noch die Zahnbürste im Mund hatte. Hastig nahm er sie heraus und wischte sich mit seinem T-Shirt über die Lippen.

Mit heller, klarer Stimme fragte sie: „Emil?“

„Äh … ja?“, antwortete er völlig verdutzt.

Ihr Lächeln wurde noch strahlender. Sie flötete: „Bist du allein zu Hause?“

„Äh ... ja!“, strahlte Emil zurück.

In diesem Moment fiel das Lächeln einer Maske gleich aus ihrem Gesicht und wich eisiger, emotionsloser Kälte. Sie stieß ihm mit der Hand so heftig vor die Brust, dass er nach hinten in den Flur fiel und dort benommen auf dem Boden sitzen blieb. Dann machte sie einen schnellen Schritt nach vorne, schloss die Wohnungstür hinter sich und zischte: „Wo ist die Pyramide?“

„Pyramide?“

Emil war sonst weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen, aber das ging ihm alles eine Nummer zu schnell. Er kam mit dem Denken einfach nicht mehr hinterher. Sie griff derweil in ihre Jacke und holte daraus eine große Automatikpistole hervor, die sie drohend auf ihn richtete: „Ich weiß, dass du sie hast!“

Jetzt begriff er: Die Pyramide, die sie vorhin gefunden hatten! Das musste ein schlechter Film sein. Oder seine Kumpels wollten ihn verarschen und Constantin hatte eine seiner Mediziner-Torten dazu überredet, mitzumachen. Toller Witz!

Ihr hatte sein Zögern wohl zu lange gedauert, also schoss sie. Hinter ihm zerbarst mit einem lauten Knall die Scheibe der Küchentür in tausend Stücke. Die Pistole war echt!

Während Emil noch versuchte zu begreifen, dass die Frau seiner Träume plötzlich in seiner Diele stand und damit drohte, ihn zu erschießen, warf sie einen schnellen Blick durch die offene Schlafzimmertür. Dort stand die Pyramide im Schein der Schreibtischlampe mitten auf Emils Arbeitsplatz, über dem ein großes „I hate Jura“-Plakat an die Wand gepinnt war. Um sie herum lagen ein ganzer Stapel aufgeschlagener Wörterbücher und eine Tolkien’sche Runenkunde. Die Kleine atmete erleichtert durch und wandte sich ohne Zögern dem Schreibtisch zu. Hinter ihr verschwand in einer anmutigen Bewegung ihre Schwanzquaste durch die Schlafzimmertür.

Schwanzquaste.

Sie hatte einen … Schwanz.

Wie ein … Teufel.

Unvermittelt kam Emil der „Devil“-Schriftzug auf ihrem Pulli zu Bewusstsein. Aber das war doch nicht möglich! Dann stand sie wieder im Flur, die Pistole immer noch in der rechten, die Pyramide in der linken Hand. Zwischen ihren Beinen peitschte eindeutig ein langer Schwanz mit buschiger Quaste nervös hin und her. Jetzt fielen Emil auch die Hörner auf ihrer Stirn auf – kleine Hörner zwar, aber dennoch zweifelsfrei Hörner. Sie blickte ihn einen Augenblick lang mit tiefem Ernst an und sagte dann: „Du vergisst besser alles, was du heute Nacht gesehen hast.“

Dann war sie durch die Wohnungstür verschwunden, die hinter ihr wieder ins Schloss fiel. Emil saß, die Zahnbürste in der Hand, auf dem Fußboden seiner Diele vor seiner zerschossenen Küchentür und zweifelte ernsthaft an seinem Verstand. Er saß immer noch da, als es zum zweiten Mal klingelte.

***

Malte fiel der verstörte Gesichtsausdruck seines Freundes nicht auf, als dieser die Tür öffnete. Das lag vor allem daran, dass er selbst immer noch viel zu verstört war, um sich mit den Problemen anderer herumzuschlagen.

„Hi, ich habe ihnen nichts verraten, aber du hast gerade, als sie da waren, angerufen und sie haben deine Adresse in meinem Filofax gefunden“, ratterte Malte los.

„Äh ... was?“, fragte Emil verdattert, aber dennoch fest entschlossen, sich von dieser neuen Herausforderung nicht wieder das Heft aus der Hand nehmen zu lassen. Dass Malte nicht alleine war, hatte er erst bemerkt, als dieser von „ihnen“ gesprochen und dabei einen unsicheren Blick über die Schulter geworfen hatte. Die kleine Asiatin und der große, indianisch aussehende Typ im schwarzen Ledertrenchcoat, die hinter seinem Freund im Hausflur standen, machten keinen wirklich vertrauenserweckenden Eindruck.

Sie schob Malte jetzt beiseite und fragte unvermittelt: „Wo ist die Pyramide?“

„Pyramide?“, echote Emil, während sich ihm ein eindringliches Déjà-vu ins Bewusstsein drängte.

Der Indianer trat ungeduldig vor, hob ihn ohne besondere Anstrengung mit einer Hand in die Höhe und knurrte: „Du hast doch gehört, was sie gesagt hat!“

Hilfesuchend schaute Emil zu Malte, der seinen Blick achselzuckend erwiderte: „Mach dir nichts draus, das hat er bei mir auch schon gemacht. Aber sie behaupten wenigstens, sie seien die good guys.“

***

Wenig später waren alle vier in Emils Wohnküche versammelt. Der Indianer – genau genommen ein Lakota-Sioux, der es nicht leiden konnte, „Indianer“ genannt zu werden – hatte sich mit verschränkten Armen vor den Resten der Tür aufgebaut. Unterdessen begutachtete die Asiatin – genau genommen eine Han-Chinesin, der es herzlich egal war, wie Langnasen sie nannten – die Teedosen im Regal. Nachdem sie zufrieden festgestellt hatte, dass sich darunter auch ein Oolong von annehmbarer Qualität befand, machte sie sich daran, Wasser aufzusetzen.

„Also nochmal: Wer hat dir die Pyramide abgenommen?“, fragte sie in ihre Arbeit vertieft.

„Das habe ich doch schon gesagt“, seufzte Emil, der zusammen mit Malte eingeschüchtert auf dem zebragestreiften Küchensofa saß.

„Ach ja, das Mädchen! Wie sah sie aus?“

„Also – sie hatte blaue Augen.“

Die Kleine drehte sich genervt um: „Könntest du mit einem etwas spezifischeren Merkmal anfangen?“

„Sie hatte wunderschöne blaue Augen.“

Jetzt war es an ihr zu seufzen. Männer!

„Und blondes Haar – glattes blondes Haar. So eine Art Pagenschnitt. Und eine tolle Figur. Und ein hammermäßiges Lächeln.“ Emil überlegte kurz. „Wenigstens, als sie noch gelächelt hat.“

„Du willst uns also erzählen, dass ein kleines blondes Mädchen dich überfallen hat“, stellte der Sioux skeptisch fest.

„Sie hatte eine Pistole! Damit hat sie die Küchentür zerschossen!“

„Warum hat sie dich nicht erschossen?“, fragte die Asiatin, während sie erfreut feststellte, dass Emil sogar ein Tee-Thermometer besaß.

„Das weiß ich doch nicht!“, jammerte der Angesprochene.

„Bisher klingt deine Geschichte nicht besonders plausibel“, grollte der dunkle Hüne von der Tür herüber.

Seine Begleiterin war nachsichtiger und fragte geduldig: „War das wirklich alles, was du gesehen hast?“

„Na ja, also da war noch was – glaube ich“, erwiderte Emil vorsichtig.

„Schieß los.“

„Also – sie hatte einen Schwanz. Und Hörner.“

Der Sioux richtete sich scharf einatmend auf, und die Asiatin warf ihrem Partner einen angespannten Blick zu. Dann sagte sie ernst: „Das macht deine Geschichte bedeutend glaubhafter.“

Malte hatte sich Emil nach dessen Eröffnung mit zweifelnder Miene zugewandt. Jetzt blickte er irritiert in die Runde: „Glaubhafter?“

„Warum lebt er noch?“, wandte sich der Sioux an seine Begleiterin, ohne auf Maltes Frage einzugehen. Die hielt in ihrer Arbeit inne und starrte nachdenklich in die Teekanne hinein, die sie soeben im Küchenschrank gefunden hatte. Dann sagte sie sinnend: „Vielleicht deswegen. Ein normaler Mensch hätte das nicht sehen können. Entweder hat er die Gabe, oder es besteht irgendeine Beziehung zwischen ihnen.“

„Aber ich habe sie vorher noch nie gesehen. Daran hätte ich mich erinnert! Echt!“, meldete sich Emil kleinlaut vom Sofa.

„Das muss nichts bedeuten. Aber es wäre die einzig plausible Erklärung, warum ein Dämon dich leben lassen sollte.“

„Ein Dämon?“, fragten Emil und Malte wie aus einem Mund.

Die Asiatin stellte die Teekanne auf der Arbeitsplatte ab, wandte sich zu den beiden um und nickte bedächtig: „Es sieht so aus, als müssten wir jetzt erst mal was erklären.“

3.

Von Schwänzen und Hörnern

Der Morgen hing düster und schwer über der Stadt. Das Unwetter der vorigen Nacht hatte sich verzogen, aber ein tief hängender Wolkenteppich war sein Vermächtnis. Er kündete vom endgültigen Ende der warmen Jahreszeit. Am östlichen Himmel kroch langsam die fahle Helligkeit des Tages herauf und vereinigte sich mit den unzähligen von Menschenhand geschaffenen Lichtern zu einer milchigen Dämmerung.

Hoch oben aber, in den Erkern und Giebeln des Doms, zwischen gotischen Säulen, Bögen und Wasserspeiern, war die Macht der Schatten noch nicht gebrochen. Dunkel und unnahbar stand die Kathedrale, die doch eigentlich ein Bauwerk des Lichts sein sollte, auf ihrem Platz über dem Rhein. Nur wenige Menschen waren zu dieser frühen Stunde schon auf der Domplatte und dem Bahnhofsvorplatz unterwegs. Und diese Wenigen wandten sich nach einem kurzen Blick in die unheimlichen steinernen Höhen unbehaglich ab – Dingen zu, die ihnen näher und vertrauter waren. Welch guten Grund ihr Unbehagen hatte, konnten sie nicht ahnen. Denn keiner von ihnen sah, dass sich hoch oben im Schatten eines ausladenden Vorsprungs tatsächlich etwas Großes, Dunkles bewegte – etwas, das den Tiefen der Hölle entstiegen war, um nun hier oben sein Unwesen zu treiben unter all diesen ahnungslosen Schafen. Vor allem aber war es gekommen, um seinem Herrn dessen rechtmäßiges Eigentum wieder zu beschaffen und sie für ihren Verrat zu bestrafen.

Während die rotglühenden Augen des Unholds über die Stadt hinweg schweiften, blähten sich seine dunklen Nüstern, denn er nahm die Witterung seines Opfers auf. Durch all die tausend Gerüche der Menschen, durch Smog und Kot und den Schweiß der Millionen Stadtbewohner, durch Küchengerüche, Abfall und all die Chemie, mit der sich das Erdenvolk langsam selbst vergiftete, roch er schwach aber unverkennbar den Schwefelduft, der sie immer noch umgab. Langsam wandte er seinen Blick nach Süden. Irgendwo dort unten würde er sie finden und töten. Er legte den Kopf in den Nacken und stieß ein tiefes, böses Geheul aus. Die Jagd hatte begonnen!

Die Passanten, die den unmenschlichen Schrei vom Dom hallen hörten, erschauerten und das Grauen griff nach ihren Seelen. Dann aber bemühten sie sich, schnell eine Erklärung für das Geräusch zu finden und es zu vergessen, denn sie wollten nichts zu tun haben mit Dingen wie diesen. Nur ein alter Stadtstreicher, der in einem der Steinsarkophage hinter dem Römisch-Germanischen Museum in seine schmutzigen Decken eingewickelt dalag, schrak aus dem Schlaf hoch und lauschte.

Dann murmelte er in seinen verfilzten Bart hinein: „Das Zeichen! Endlich! Ich muss meine Vorkehrungen treffen.“

Einige junge Geschäftsleute, die erst jetzt auf dem Heimweg von der Diskothek waren, hörten im Vorübergehen seine Worte und lachten über das irre Gebrabbel des betrunkenen Penners.

***

Während Malte und Emil bereits von Agenten und Dämonen heimgesucht wurden und sich am Dom unheilvoll und unbemerkt eine dunkle Bedrohung zusammenbraute, war Wächters Welt noch völlig in Ordnung. Als er nach Hause gekommen war, war er noch kein bisschen müde gewesen. Also hatte er sich noch einen Videofilm aus seiner reichhaltigen Sammlung angesehen. Danach war ihm aufgefallen, dass er eigentlich besser den von seinen Eltern aus der Videothek ausgeliehenen Film gesehen hätte, der morgen sicher wieder zurückgegeben würde. Nach einigem Überlegen war er zu dem Schluss gekommen, dass er das ja auch jetzt noch tun könne. Um seiner inzwischen doch aufkeimenden Müdigkeit zu begegnen, hatte er sich vorher aber noch eine Kanne Kaffee gemacht. Das hatte zur Folge, dass er nach dem zweiten Film wieder putzmunter war. Weiter vor der Glotze zu hängen hatte er indes keine Lust. Ob er ein wenig trainieren gehen sollte? Er warf einen Blick zum Wohnzimmerfenster, vor dem es bereits dämmerte ...

***

Jaaaa …! Er war auf dem richtigen Weg. Ganz deutlich konnte er jetzt ihre Fährte ausmachen. Vor wenigen Stunden musste sie genau an dieser Stelle im Park vorbeigekommen sein. Ein böses Grinsen breitete sich auf seinen Zügen aus und ließ sie noch raubtierhafter erscheinen, als sie es ohnehin schon waren. Plötzlich richteten sich seine spitzen Ohren auf. Da war ein neues Geräusch, das hier nicht hingehörte und ihm das schwarze Blut in den Adern erstarren ließ: Hufgetrappel.

Pferde! Verflucht, da waren auch die Ritter meist nicht weit. Wie jeder Dämon hatte auch dieser einen ziemlichen Respekt vor Rittern, wegen ihrer scharfen Schwerter. Erst nach einigen Augenblicken fiel ihm ein, dass diese unangenehmen Gesellen ja schon vor ein paar hundert Jahren ausgestorben waren und erneut breitete sich das Grinsen auf seinen Zügen aus. Wer auch immer hier des Weges kam, dieser Dummkopf hatte sich den falschen Morgen für einen Ausritt ausgesucht!

Eigentlich waren die beiden Reiter, die wenig später zwischen den Parkbäumen auftauchten, alles andere als dumm. Die jungen Polizistinnen hatten sich sofort nach ihrer Grundausbildung zur Reiterstaffel gemeldet. Jetzt verbrachten sie einen Großteil ihrer Arbeitszeit in städtischen Parks, auf dem Rücken schöner, großer Dienstpferde thronend, von staunenden Kinderaugen bewundert. Nein, dass die beiden sich dumm angestellt hatten, konnte man wirklich nicht behaupten. Und dass sie ausgerechnet an diesem Morgen hier entlang kamen, lag schlicht und ergreifend am Dienstplan. Das nützte ihnen freilich wenig.

Die Beamtinnen waren gerade in ein Gespräch über Männer und diverse mit diesen einhergehende Probleme vertieft, als ihre Pferde plötzlich nervös wurden und sich weigerten weiterzugehen. Während sie die Zügel fester packten, sahen die Wachtmeisterinnen sich verwundert um. Der Größeren der beiden, einer dunkelhaarigen Schönheit, die selbst die Uniform nicht zu entstellen vermochte, fiel die Veränderung zuerst auf.

„Die Vögel haben aufgehört zu singen“, stellte sie beklommen fest.

Die Kleinere sah sie beunruhigt an: „Nicht, dass ein Löwe aus dem Zirkus am Südstadion entlaufen ist.“

Die rechte Hand der Größeren wanderte unwillkürlich zu ihrer Dienstpistole: „Auf jeden Fall stimmt hier irgendetwas nich...“

In diesem Moment brach ein gewaltiger Schatten aus den Gebüschen seitlich des Weges hervor und kam über die beiden. Panisches Pferdegewieher und das nicht minder panische Kreischen der jungen Frauen hallten durch den fast menschenleeren Park.

***

Hauptwachtmeisterin Katrin Schröder hatte wohl für Sekunden ihr Bewusstsein verloren. Als sie die Augen wieder aufschlug, bot sich ihr eine Szene dar, die einem düsteren Albtraum entsprungen sein musste. Ihr eigenes Pferd hatte sie offensichtlich abgeworfen und jagte jetzt in wilder Flucht den Parkweg hinunter. Das Tier ihrer kleineren Kollegin war gestürzt und mühte sich vergebens, wieder auf die Beine zu kommen, von denen wohl wenigstens eins gebrochen war. Halb darunter lag ein wimmerndes grün-braunes Bündel und darüber ... darüber baute sich ein gewaltiges Monstrum auf, das sehr entfernte Ähnlichkeit mit einem Gorilla hatte, aber dennoch – das begriff Katrin instinktiv – etwas vollkommen anderes war!

Während sie fieberhaft begann, am Halfter ihrer Waffe herumzufingern, setzte der Unhold erneut sein böses Grinsen auf. Wunderbar! Das hatte ja prima geklappt! Da lagen seine Opfer wehrlos vor ihm, bereit, ihrem Schicksal entgegenzutreten. Dass eins der Pferde entwischt war, interessierte ihn weniger. Schließlich stand ihm der Sinn nicht nach rheinischem Sauerbraten, sondern nach weitaus feinerer Kost. Ob er die beiden jetzt schon töten sollte, oder vorher noch ein wenig mit ihnen spielen?

Der laute Schuss aus Katrins Dienstpistole riss ihn aus seinen Gedanken. Sieh einer an, sein Frühstück hatte die Hoffnung tatsächlich noch nicht aufgegeben! Betont langsam kam er um das hilflos strampelnde Pferd herum auf das wehrhafte Menschlein zugepirscht. Katrin starrte ihn entsetzt an. Ihr Schuss hatte den Gegner sauber in die Brust getroffen, ohne auch nur den geringsten Effekt zu erzielen. Eigentlich begriff sie sofort, dass dieses Etwas durch Kugeln nicht zu verletzen war. Dennoch zog sie jetzt in Ermangelung eines erfolgversprechenden Alternativkonzepts noch mal und noch mal den Abzug ihrer Waffe durch, während das Monstrum sich ihr unaufhaltsam näherte. Selbst als ihr Magazin schon leer war, drückte sie weiter ab, unfähig ihren nutzlosen Reflex abzustellen.

Als der Dämon sie erreicht hatte, neigte er sich langsam zu ihr herunter. „Vergebens, mein Täubchen“, raunte er sanft, „Gegen uns ist all euer Aufbegehren vergebens. Jetzt ist es Zeit für dich zu sterben.“ Damit streckte er seine gewaltige Klaue nach ihr aus ...

„Nimm das, du mieser Vergewaltiger!“

Mit diesen Worten hieb Wächter dem Unhold die flache Seite seines Schwertes über den Schädel. Im nächsten Moment musste er allerdings erschreckt feststellen, dass er gar keinen Vergewaltiger vor sich hatte – jedenfalls keinen normalen. Denn der Getroffene fiel nicht etwa betäubt zu Boden, obwohl der Schlag ziemlich fest gewesen war. Er stöhnte nicht einmal auf. Stattdessen entrang sich ein tiefes, raubtierhaftes Knurren seiner Kehle und er wandte sich langsam um, sich zu seiner vollen Größe von etwa zwei Meter fünfzig aufrichtend.

Wächter erbleichte. Vor ihm stand ein gedrungener, schwarzbehaarter Dämon mit großen, spitzen Hörnern und Hauern, die einem Säbelzahntiger zu Ehre gereicht hätten. Aus bösen, dunkel glühenden Augen fixierte er zornig den Angreifer. Dann holte er mit seiner gewaltigen Klaue aus, um dem Störenfried den Kopf abzureißen.

Wächter sah den Schlag gerade noch rechtzeitig kommen. Instinktiv sprang er zurück und riss seine Klinge zur Parade hoch. Zum Glück hatte er heute Morgen – einer spontanen Eingebung folgend – nicht sein stumpfes, schartiges Schaukampfschwert, sondern den rasiermesserscharf geschliffenen englischen Anderthalbhänder mitgenommen. Der Unhold jaulte schmerzerfüllt auf, als seine Rechte durch die Wucht des eigenen Schlages sauber abgetrennt im Gras landete.

Das durfte nicht wahr sein! Das Schwert in der Hand des Menschen hatte er gar nicht bemerkt! Was suchte denn hier ein Mensch mit einem Schwert? Heutzutage benutzte diese Brut doch so lächerliche Waffen wie Automatikpistolen, Sturmgewehre und Granaten!

Während der Unhold ungläubig auf seinen Armstumpf starrte und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, schaute Wächter ebenso ungläubig auf seine Klinge. Er hatte das Monster tatsächlich verletzt! Aber was jetzt? Dieses schreckliche Etwas angreifen? Ja! Jetzt durfte er nicht seinen Vorteil verspielen und den Gegner zu Atem kommen lassen!

Die beiden Kontrahenten fanden etwa zur gleichen Zeit die Fassung wieder. Während Wächters Klinge in einem singenden Schlag die Luft zerteilte, sprang der Unhold mit einem großen Satz zurück.

Der Mensch konnte mit seiner Waffe umgehen – und er selbst war schwer verletzt. Dunkles Blut troff aus seinem Armstumpf und verdampfte zischend im nassen Gras. Er musste sich zurückziehen. Diesen Kampf hatte er verloren. Mit großen Sprüngen floh das Ungetüm zum Waldrand und verschwand im dichten Unterholz.

Wächter sah der Kreatur mit offenem Mund nach. Ein Dämon. Entweder war er gerade verrückt geworden, oder das da eben war ein echter, leibhaftiger Dämon gewesen! Er blickte sich hilfesuchend um, in der Hoffnung, ein Indiz für eine der beiden Möglichkeiten zu finden. Von der Klaue des Unholds war nur ein qualmender Haufen Asche im versengten Gras übriggeblieben – zu wenig für eine eindeutige Klärung seines momentanen Verhältnisses zur Realität.

Dann fielen ihm wieder die Opfer des vermeintlichen Vergewaltigers ein. Verstört blickte er zu Katrin hinüber. Erst jetzt bemerkte er, dass da eine Polizistin lag – und eine verdammt hübsche obendrein!

„Äh ... sag mal ... hast du ... das da ... auch gesehen ...?“, brachte er stockend hervor.

Da Katrin allerdings noch viel verstörter war als er selbst, antwortete sie nicht sofort. Stattdessen starrte sie ihn nur ungläubig an. Erst als ihre Kollegin erneut wimmerte, entschied sich ihr Verstand dafür, wieder die Kontrolle zu übernehmen.

„Ja. Ja, danke auch“, stammelte sie und kam mühsam auf die Beine.

Nachdem sie gemeinsam die zweite Polizistin unter dem Pferd hervorgezogen und festgestellt hatten, dass sie bis auf ein paar Prellungen und einen akuten Nervenzusammenbruch wohl keine weiteren Schäden davongetragen hatte, griff Katrin zu ihrem Funkgerät. Während sie verzweifelt versuchte, der Zentrale ihre Situation klarzumachen, begann Wächter nachzudenken: Also gut, gleich wimmelte es hier hundertprozentig von Bullen. Und die würden Fragen stellen – und mit seinen Antworten bestimmt nicht zufrieden sein. Wenn er nicht sofort in der Klapse landen würde, käme die Sprache doch mit Sicherheit auf sein Schwert. So lange Klingen, scharf geschliffene obendrein, waren seines Wissens nach verboten. Also würde man sie ihm erst einmal abnehmen. Wenn hier aber wirklich ein Dämon sein Unwesen trieb – ein Dämon, mit dem er sich soeben angelegt hatte – dann war es besser, das Schwert zu behalten.

„Tja, ich muss jetzt weiter.“

Mit dieser beiläufigen Bemerkung wandte er sich zum Gehen, in der Hoffnung, die Ordnungshüterin sei von der Lage zu überfordert, um ihn aufzuhalten. Katrin war zwar ziemlich überfordert, aber gerade deswegen dachte sie nicht daran, auch noch ihren einzigen Zeugen zu verlieren. Also bellte sie in bestem Polizeiton „Halt! Stehenbleiben!“ hinter Wächter her.

„Sorry, ich habe noch was vor!“, warf er über die Schulter zurück und fiel in Trab.

„So geht das aber nicht ... Stehenbleiben, sage ich!“, rief sie ihm in nicht mehr ganz so perfektem Polizeiton nach.

„He, ich habe dir das Leben gerettet, da wirst du mich doch nicht erschießen!“, gab Wächter siegessicher zurück, während sich ihr Abstand vergrößerte.

Katrin fluchte innerlich. Natürlich hatte er recht: Sie konnte ihn nicht erschießen. Aber vielleicht würde ihn ein Warnschuss genügend erschrecken, um die Flucht aufzugeben.

Also schrie sie so überzeugend wie möglich „Letzte Warnung!“, riss dabei ihre Pistole in die Luft und drückte ab. Klick.

Bis Katrin das Magazin gewechselt hatte, war Wächter schon zwischen den Bäumen verschwunden. Dafür bog jetzt aber der erste Streifenwagen mit Blaulicht in den Park ein und kam quer über die Wiese auf sie zugerast. Na prima, was sollte sie denen denn jetzt erzählen?

***

„Also, darf ich das alles nochmal zusammenfassen?“, fragte Malte, nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette, verschluckte sich und musste furchtbar husten. Emil klopfte ihm beruhigend auf den Rücken. Eigentlich war Malte Nichtraucher. Aber die Eröffnungen der letzten Stunden hatten nach irgendeiner Form der nervlichen Beruhigung verlangt und Mai Li – das war der Name der kleinen Chinesin, wie sie inzwischen erfahren hatten – war mit dem Tee ziemlich geizig gewesen. Sie hatte es sich inzwischen zusammen mit dem Sioux, der Tatonka hieß, in den Korbsesseln auf der anderen Seite des Küchentischs bequem gemacht und lächelte nun Malte geduldig an, während dieser sich von seinem Hustenanfall erholte.

Als er endlich wieder Luft bekam, fuhr er fort: „Ihr beiden gehört zu einer Geheimorganisation namens Pegasus und bekämpft die Umtriebe dunkler, dämonischer Mächte. Die Pyramide ist ein magisches Artefakt und könnte, wenn es in die falschen – nämlich dämonische – Hände gelangt, großes Unheil heraufbeschwören, und last but not least war das Mädchen, das Emil die Pyramide geklaut hat, in Wirklichkeit ein gefährliches Monster, und es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt.“

Während Emil Malte einen bösen Blick zuwarf, nippte Mai Li an ihrer Tasse und nickte dann bedächtig: „So ungefähr. Allerdings scheinst du der Sache nicht den nötigen Ernst entgegenzubringen.“

„Entschuldigung!“, platzte Malte heraus, „aber ich habe im Gegensatz zu Emil – der übrigens ziemlich bekifft ist – noch keinen Dämon gesehen!“

Jetzt erntete Malte einen wirklich bösen Blick von seinem Freund, der inzwischen wieder stocknüchtern war.

Mai Li erhob sich aus ihrem Korbsessel: „Dann hoff mal, dass das noch eine Weile so bleibt. Steht auf. Wir müssen los.“

„Wir?“, fragte Emil beißend, „Also, ich bin ein unbescholtener Bürger und habe euch und diesem“, er zögerte einen Augenblick, „… Monster … eine echt beschissene Nacht zu verdanken! Ich gehe jetzt ins Bett und hoffe, dass morgen, beziehungsweise heute, wenn ich aufwache, meine Küchentür wieder ganz ist.“

Die Chinesin schüttelte mitleidig den Kopf: „Keins von beiden. Du musst mitkommen, um das Zielsubjekt zu identifizieren, und dein Leben wird nie wieder so sein, wie es vor dieser Nacht war. Glaub mir: Dabei wird die kaputte Küchentür eins der kleineren Probleme bleiben.“

Sie schaute zu Malte hinüber: „Für dich gilt übrigens dasselbe. Wer einmal Kontakt mit den Dunklen hatte, ist den Rest seines Lebens nicht mehr sicher vor ihnen.“

Der Ernst in ihrer Stimme erschreckte Malte gehörig. „Aber ich hatte doch gar keinen Kontakt mit ihnen“, stammelte er unsicher.

„Genug, als dass dein sicherster Aufenthaltsort im Moment an unserer Seite ist“, stellte Tatonka in einem Ton fest, der keine Widerrede zuließ. „Lass uns gehen, Mai Li. Es wird schon hell.“

Da den beiden Freunden nichts anderes übrig blieb, folgten sie den Dämonenjägern zu deren großen, schwarzen Geländewagen, der vor Emils Haustür stand. Über dem Park auf der anderen Straßenseite hing weißer Morgendunst und ein einsamer Spaziergänger, der seinen Hund Gassi führte, beäugte im Vorbeigehen misstrauisch die sonderbare Gesellschaft. Emil hatte sich beim Verlassen der Wohnung seinen dunkelblauen Bundeswehr-Marinemantel aus dem Army-Shop übergeworfen. Der arme Malte trug immer noch den weißen Jogginganzug, den er in den letzten Minuten seines normalen Lebens angezogen hatte. Um ein bisschen Smalltalk zu betreiben, fragte er nun Tatonka: „Bist du echt ein Indianer?“

„Ich bin ein Sioux!“, bellte der Angesprochene zurück.

Malte erkundigte sich vorsichtig: „Sind Sioux keine Indianer?“

Tatonka blickte ihn derart eisig an, dass er seine Frage sofort bereute.

„War Kolumbus in Indien?“

Malte schüttelte schnell den Kopf.

„Antwort genug?“

Malte nickte schnell und war froh, als sie endlich das Auto erreicht hatten.

Auf den versteckten Knopfdruck des Funköffners hin klackten die Sicherheitsverrieglungen der Wagentüren hoch, und die vier stiegen ein. Mai Li setzte sich hinter das Steuer, und Emil durfte neben ihr Platz nehmen. Malte musste sich mit dem Indianer die Rückbank teilen, wobei er sich fest vornahm, auf weiteren Smalltalk tunlichst zu verzichten.

Emil beäugte unterdessen neugierig das opulente Armaturenbrett und fragte: „Wohin fahren wir eigentlich? Habt ihr so was wie einen Hexenkompass im Auto, mit dem wir sie aufspüren können?“

„Wir fahren zum Dom, und mit einem Hexenkompass kann man einen Dunklen nur dann orten, wenn man einen Tropfen seines Blutes hat“, erklärte Mai Li gelassen und startete den Wagen.

***

Wächter hatte inzwischen den Park hinter sich gelassen und war auf Umwegen bei Malte angekommen. Da der aber just in diesem Moment gerade mit Emil und zwei Agenten der Pegasus-Organisation in einem großen, schwarzen Geländewagen saß, öffnete logischerweise niemand.

„Verfluchte Drecksscheiße! Das darf doch nicht wahr sein!“, fluchte Wächter, während er weiterklingelte.

Nach zwei Minuten Sturmklingeln gab er auf. Gut, also zu Constantin – oder zu Emil. Welcher von beiden würde ihm wohl eher Glauben schenken? Nach einigen Augenblicken hatte Wächter sich entschieden und joggte los.

4.

Oh l’amour!

Ein scharfer Wind fegte über die Domplatte und trieb Papier und leere Dosen vor sich her. Über dem Platz erhob sich die gigantische gotische Kathedrale aus rußgeschwärztem Gestein. Zwar hatte man sie zum Ruhme des Herrn – und natürlich der kölnischen Bürgerschaft – errichtet, Emil aber erschien sie jetzt eher wie eine Herausforderung an die himmlischen Mächte. Riesigen Hörnern gleich strebten ihre beiden Haupttürme höher und höher empor und ihre Spitzen schienen die bleigraue Wolkendecke zu berühren.

Während er den Mantel enger um sich schlang, schloss Emil zum Rest der Gruppe auf, der schon einige Meter weitergegangen war. Er war tief in Gedanken versunken. Eigentlich war er eher tief in Gefühlen versunken. Um ganz genau zu sein, bemühte er sich, seine Gefühle irgendwie mit seinen Gedanken in Übereinstimmung zu bringen. Denn während erstere seit einigen Stunden um nichts anderes als wunderschöne, bergseeblaue Augen kreisten, versuchten letztere einigermaßen erfolglos, ihnen klarzumachen, wem diese Augen gehörten.

Mehr, um sich selbst abzulenken, als aus echtem Interesse fragte er schließlich: „Was tun wir hier eigentlich?“

Der Sioux stieß nur ein Schnauben aus, die Chinesin ließ sich zu einer kurzen Erklärung herab: „Wir suchen den Dämon.“

„Das habe ich mir schon gedacht! Aber warum gerade hier?“, bohrte Emil weiter.

Mai Li warf ihm einen ungnädigen Seitenblick zu: „Können wir das später klären?“

„Aber wir haben doch im Moment gerade Zeit, während wir um den Dom latschen.“

Sie warf Emil einen weiteren ungnädigen Seitenblick zu: „Wir latschen nicht, wir suchen, und eigentlich wollte ich mich darauf konzentrieren.“

„Kriege ich wenigstens einen Tipp?“

„Also gut. Gewisse Orte ziehen Dämonen eben an.“

„Aber warum gerade der Dom?“

„Darunter befinden sich, wenn wir unseren Quellen Glauben schenken dürfen, geheime Katakomben. Dort gibt es einen unheiligen Ritualplatz. Da könnte der Dämon versuchen, das Artefakt zu aktivieren. Allerdings erst in drei Tagen – beziehungsweise Nächten.“

„Wieso?“

„Weil dann Vollmond ist.“

„Und wie kommt dieses Ritualding unter den Dom?“

„Hatten wir nicht von einem Tipp gesprochen?“

Malte, der das Ganze mit angehört hatte, schaltete sich ein: „Wenn wir schon nicht gefragt werden, ob wir bei eurer Dämonenjagd mitmachen wollen, könntet ihr uns wenigstens ein paar Hintergrundinformationen geben.“

Mai Li stieß einen geräuschvollen Seufzer aus. Offensichtlich würden die beiden erst Ruhe geben, wenn sie ihnen genug zum Nachdenken gegeben hatte. Also erzählte sie in knappen Worten die Geschichte des Dombaumeisters Gerhard. Allerdings erzählte sie keine der Versionen, die üblicherweise in Kölner Sagenbüchern zu finden sind. Sie berichtete von den wahren Begebenheiten, wie sie im Archiv von Pegasus festgehalten waren. Sie erzählte, wie Gerhard einen Pakt mit einem mächtigen Dämonenfürsten geschlossen hatte, damit seine Kathedrale die größte und prächtigste der ganzen Christenheit würde, wie der Dämon von Gerhard verlangt hatte, dafür den geheimen Ritualraum unter dem Chor anzulegen und wie eine versteckte zweite Baustelle unter der Dombaustelle angelegt worden war, auf der arme Seelen hatten schuften müssen, die Gerhard von Daheim hatte verschleppen lassen. Dann erzählte sie noch, wie der Dämon schließlich den Dombaumeister hintergangen hatte – denn Dämonen hintergingen Menschen immer, wenn sie einen Pakt mit ihnen schlossen, wie die kleine Chinesin warnend hinzufügte. So war der Dom nicht zu Lebzeiten Gerhards vollendet worden, obwohl dieser geglaubt hatte, den Dämon hierauf eingeschworen zu haben – denn Dämonen waren an den Wortlaut ihrer Schwüre gebunden, wie Mai Li weiter ausführte. Im fraglichen Vertrag hatte allerdings nur gestanden: „Fertigstellung, solange des Unterzeichners Blut noch durch die Adern pulsiert“. Der Dämon hatte sich ob dieser Formulierung frei gefühlt, unter „des Unterzeichners Blut“ nicht den Dombaumeister persönlich, sondern seine Blutlinie zu verstehen und so war erst kurz vor dem Tod des letzten direkten Nachkommens Gerhards im Jahre 1880 die Kathedrale wirklich fertiggestellt worden.

Als Mai Li mit ihrer Geschichte zu Ende war, hatte die Gruppe den Dom einmal umrundet. Der Dämon jedoch war nirgends zu sehen gewesen. Die kleine Chinesin ließ ihren Blick noch einmal zu den Doppelspitzen hinauf wandern und stieß dann einen müden Seufzer aus: „Also gut, sehen wir uns zum Abschluss noch mal in der U-Bahnstation um. Wenn wir dort auch nichts finden, dann …“ – sie überlegte einen Moment – „müssen wir uns wohl was anderes überlegen.“

Tatonka warf ihr einen verdrießlichen Blick zu: „Wäre auch zu schön gewesen.“

Also nahmen die vier ihren Weg hinab in den Untergrund. Emil hatte sich schon die ganze Zeit über gefragt, was wohl passieren würde, wenn sie die kleine Dämonin tatsächlich fänden. Als sie jetzt die ersten Stufen des Abgangs betraten, fragte er Tatonka: „Sag mal, was habt ihr eigentlich mit ihr vor?“

„Mit wem?“

„Na, mit dem Dämon.“

Der Sioux warf grinsend seinen Mantelaufschlag zurück. Ins Futter war eine Scheide eingearbeitet, in der ein großes Schwert steckte.

„Kopf ab!“, vervollständigte er völlig unnötiger Weise seine Erklärung.

Emils Augen weiteten sich erschreckt. Aus irgendeinem Grund hatte er den Gedanken, dass Dämonenjäger einen Dämon natürlich töteten, wenn sie ihn erwischten, bisher erfolgreich verdrängt. Das mochte daran liegen, dass es seinem Verstand noch immer nicht gelungen war, seine Gefühle davon zu überzeugen, dass das wunderbare Wesen von vorhin tatsächlich ein bösartiges Monstrum war. Warum sollte sie also jemand töten wollen?

Tatonka bemerkte Emils Gesichtsausdruck. Er dachte allerdings, dass dieser etwas mit seiner Waffe zu tun habe. Also erklärte er: „Es ist so, dass alle dunklen Kreaturen sehr empfindlich auf scharfgeschliffene Klingen reagieren. Projektilwaffen oder Explosionen lassen sie dagegen in der Regel recht kalt. Deswegen ist ein Schwert die beste Wahl, wenn man es mit einem Dämon oder etwas Ähnlichem zu tun hat.“

Mai Li ergänzte: „Was die Projektilwaffen angeht, gibt es Ausnahmen. Durch eine sehr aufwendige Behandlung kann man Pistolen- oder Gewehrkugeln so präparieren, dass sie übernatürlichen Wesen Schaden zufügen können. Ich besitze solche Munition für meine Waffe.“

Damit schlug auch sie ihre Jacke zurück, und Emil sah, dass sie ein Schulterhalfter trug, in dem eine große Pistole steckte.

„Aber dennoch sind Schwerter die sicherste Möglichkeit, sich einen Dämon vom Hals zu schaffen – auch sicherer als Freikugeln“, schloss Tatonka fachmännisch.

Derweil waren sie auf der Zwischenebene angelangt. Mai Li gab den anderen ein Zeichen, zu warten. Dann ging sie alleine die Treppe zum linken Bahnsteig hinunter, wobei sie sehr überzeugend einen völlig müden und übernächtigten Eindruck erweckte.

Nach etwa einer Minute kam sie die Treppe wieder hinauf geschlurft, allerdings nur soweit, bis man sie vom Bahnsteig aus nicht mehr sehen konnte. Dann begann sie, zu laufen.

„Auf der anderen Seite steht ein Mädchen, auf das deine Beschreibung passt!“, frohlockte sie bei den anderen angelangt. „Ich konnte allerdings keine Überprüfung ihrer Aura vornehmen. Zu auffällig. Also wirst du mit hinunter kommen“ – dabei deutete sie auf Emil –, „um sie zu identifizieren, und wenn sie’s ist – zack!“

Emil erbleichte. Er sollte das Todesurteil sprechen?

„Ich komme auch mit!“, stellte Malte unterdessen bestimmt fest. Er wollte sich nach all dem Herumgerenne auf keinen Fall den Showdown entgehen lassen.

„Na gut. Jetzt aber los!“, drängte Mai Li und schob Emil in Richtung der Treppe.

„Codewort Schwarz, wenn sie’s ist, Weiß, wenn sie’s nicht ist.“

Der arme Emil durchlitt auf dem Weg hinab zum Bahnsteig Höllenqualen. Was sollte er denn nur machen, wenn sie dort unten tatsächlich auf diese kleine, blauäugige, unglaublich süße ... Dämonin … stießen. Schon als er ihre Stiefelspitzen unter der Oberkante des Treppenschachtes ausmachte, wusste er, dass sie es war. Seine Schritte verlangsamten sich unmerklich, um den Augenblick des Unausweichlichen noch ein wenig länger hinauszuzögern. Aber Tatonka gab ihm von hinten einen leichten Stoß, so dass er die nächsten Stufen wieder schneller nehmen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Kurz bevor sie die Tunnelebene erreichten, fuhr ein Zug in die Station ein. Die anderen beschleunigten ihre Schritte weiter, wobei Tatonka Emil einfach vor sich herschob.

Da stand sie ganz alleine auf dem Bahnsteig und starrte gedankenverloren vor sich hin. Ihr Schwanz strich langsam auf dem Boden hin und her – was allerdings nur Emil sah. Da sie keine Anstalten machte, in die Linie 3, die inzwischen gehalten hatte, einzusteigen, verlangsamten die vier ihr Tempo wieder. Sie waren jetzt noch etwa acht Meter von ihr entfernt. Mai Li flüsterte Emil ein drängendes „Und?“ zu.