Dreißig Jahre Gegenwart - Siegfried Lindhorst - E-Book

Dreißig Jahre Gegenwart E-Book

Siegfried Lindhorst

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Beschreibung

Christian Landau wusste, dass jedes Wort, das er jetzt sprechen würde, ein falsches wäre. In einer solchen Situation konnte es keine hilfreichen Worte geben. Er konnte nur da sein. Die Eltern nicht alleine lassen. Jetzt, da alles für sie zusammengebrochen war, die schlimme Nachricht vom Tod ihrer Sandra wie eine Flutwelle über sie hereinbrach. Alles, was an schönen Erinnerungen an das gemeinsame Leben mit dem Kind dagewesen war, alles was an Plänen und Träumen für die Zukunft Hoffnung, Zuversicht, Freude und Stolz ausgemacht hatte, alles war weg. Zerstört von der Gegenwart. Einer Gegenwart, die sich bei Susanne und Thomas gerade in diesem Moment einbrannte. Für immer. Das 1. Kommissariat der Kripo Klosterhausen ist zuständig für den Mord an dem Kind Sandra Töllner. Über eine unendlich lange Zeit versuchen die Ermittler, Sandras Mörder zu finden. Und dann sieht es nach Sandras Tod auch noch danach aus, als morde der Unbekannte weiter.

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Seitenzahl: 217

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Für Susanne und Thomas Töllner begann 1987 ein nie endender Albtraum. Die neunjährige Tochter Sandra kam von der Schule nicht mehr nach Hause. Sie kam nie wieder nach Hause. Ihre Leiche wurde am Tag darauf einige Kilometer entfernt gefunden. Sandra war ermordet worden. Für die verwaisten Eltern ist in den vielen Jahren danach die Zeit stehen geblieben. Die Zeit heilte nichts.

Die Erinnerung an den schlimmsten Tag in ihrem Leben verblasste nie, war immer gegenwärtig.

Über den Autor:

Siegfried Lindhorst, Jahrgang 1953, bearbeitete als Kriminalbeamter in einer Mordkommission im Westen des Landes SH mehr als drei Jahrzehnte Tötungsdelikte. Der Kontakt zu den Angehörigen der Opfer war ihm immer sehr wichtig, denn er war unter anderem für ihn und seinem Team Ansporn und Verpflichtung, zunächst ungeklärte Mordfälle niemals aus den Augen zu verlieren.

Die Handlung und die Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Ebenso die fiktiven Orte Klosterhausen, Bansdorf und Flethstedt.

Inhaltsverzeichnis

3. August 1987

Dienstag, 4. August 1987

Mittwoch, 5. August 1987

Sonnabend, 8. August 1987

Dienstag, 11. August 1987

Montag, 31. August 1987

September bis Dezember 1987

Donnerstag, 24. Dezember 1987

Montag, 18. Januar 1988

Freitag, 22. Januar 1988

Dienstag, 1. März 1988

Mittwoch, 3.August 1988

Freitag, den 2.12.1988

Montag 31. August 1994

Donnerstag, 1. September 1994

Montag, 19. September 1994

Sonnabend, 20. Mai 2000

Montag, 22. Mai 2000

Donnerstag, 1. Juni 2000

Montag, 7. März 2007

Freitag, 15. Juni 2007

Dienstag, 4. Juli 2017

Donnerstag, 3. August 2017

Mittwoch, 9. August 2017

Freitag, 11. August 2017

Sonnabend, 7. Oktober 2017

3. August 1987

Der Hof war anders als die zwölf weiteren in Bansdorf. Hier im Grenzbereich zwischen Marsch und Geest im Westen des Landes dominierte die Milchwirtschaft bei den Landwirten, ein Mann wie Thomas Töllner erschien hier eher die Ausnahme.

Töllner war Jahre zuvor dazu übergegangen, seinen Hof als sogenannter Bio-Bauer zu bewirtschaften. Er galt als Sonderling in dem knapp sechshundert Einwohner zählendem Dorf. In den siebziger Jahren war ihm immer klarer geworden, dass es wie bisher in der herkömmlichen Landwirtschaft nicht weitergehen konnte. Töllners Frau Susanne sah es genauso. Als sie als einzige Tochter den Hof ihrer Eltern am anderen Ende Bansdorfs erbte, weil beide Eltern bei einem tragischen Verkehrsunfall auf der A7 ums Leben gekommen waren, da stand fest, dass die Töllners ihre Ideen von alternativer Landwirtschaft tatsächlich umsetzen konnten. Susannes Hof war fast vollständig bis auf drei Hektar im Bansdorfer Moor verkauft worden. Das Ehepaar baute den Töllner-Hof aus. Mit den finanziellen Möglichkeiten aus der Erbschaft gelang es problemlos, dem Hof ein zweites wirtschaftliches Standbein zu verschaffen. Fünf geräumige Blockhäuser im hinteren Teil des Hofgrundstücks sorgten dafür, dass in der Großstadt gestresste Menschen hier mit ihren Familien Ferien auf dem Bauernhof verlebten.

In diesem Sommer 1987 war das Wetter bisher zwar nicht optimal gewesen. Dennoch, die Ferienhäuser waren bis zum Tag zuvor vollständig ausgebucht. Jetzt standen sie leer, um erst in einer Woche Gästen aus Bayern und Baden-Württemberg als Herberge zu dienen. Es waren Stammgäste, die seit Jahren den Töllner-Hof als Feriendomizil besuchten.

„Ach, wie langweilig“, hatte die neunjährige Sandra Töllner morgens beim gemeinsamen Frühstück erklärt. „Es war so schön mit den ‚Hamburgern‘. Schade, dass sie gestern weg mussten. Bei den ‚Hamburgern‘ handelte es sich um die Familie Seeger aus Barmbek, die schon seit fünf Jahren regelmäßig ihre Ferien auf dem Töllner-Hof verbrachte. Sandra war von Anfang an mit der gleichaltrigen Anja Seeger eng befreundet. Die einzige Tochter der Eheleute Seeger war genauso pferdebegeistert wie Sandra, und so war es kein Wunder, dass die beiden Mädchen fast die gesamten Ferien mit Lilly, dem schwarz-weißen Pony, verbrachten.

„Die ,Hamburger‘ kommen doch schon in den nächsten Ferien wieder“, waren die tröstenden Worte von Susanne gewesen, wobei sie ihrer Tochter liebevoll mit der Hand über das lange, blonde Haar streichelte. „Das ist aber noch so lange hin“, jammerte Sandra. Ihre blauen Augen wirkten irgendwie verzweifelt.

„So, Sandra, genug gejammert. Und nun ab zur Schule.“

Thomas Töllner, der dreißig Jahre alte Biobauer mit dem kantigen Gesicht und kurzen blonden Haaren hatte bereits seinen dunkelgrünen Arbeitsoverall an. Er beendete das harmonische Frühstück mit einem Machtwort, denn es wurde Zeit für seine Tochter.

Sandra besuchte die dritte Klasse der Grundschule in Bansdorf. Ihre Eltern hatten dem Kind schon früh beigebracht, den gut einen Kilometer langen Mühlenweg bis zur Dorfstraße und dann die restlichen dreihundert Meter zur Schule mit dem Fahrrad zurückzulegen. Nur im ersten Schuljahr hatte Susanne die Kleine mit dem Auto zur Schule gebracht und auch wieder abgeholt. Der Töllner-Hof lag als einziger weit hinten im Mühlenweg, bis auf die alte Mühle des Müllers Kornfeld mit zugehörigem Wohnhaus in Nähe der Dorfstraße und dem kleinen Tante-Emma-Laden direkt an der Dorfstraße gab es keine weiteren Häuser. Meterhohe Knicks säumten den einsamen Weg.

Als Sandra in der zweiten Klasse war, da hatte ihr Vater beschlossen, dass die Tochter den Weg ruhig alleine mit dem Fahrrad zurücklegen könne. Susanne hatte nach längerem Zögern zugestimmt, sich aber ausbedungen, die Tochter bei schlechtem Wetter und in der dunklen Jahreszeit weiterhin zur Schule zu bringen.

Susanne wurde langsam unruhig. Es war dreizehn Uhr vorbei. Am ersten Schultag nach den Sommerferien waren nur vier Unterrichtsstunden vorgesehen, wusste sie. Sandra hätte daher schon kurz nach zwölf Uhr, passend zum Mittagessen, zu Hause ankommen müssen. Und es gab Apfelpfannkuchen, die Lieblingsspeise des Kindes. Nein, da konnte etwas nicht stimmen, befand Susanne.

„Mach dir keine Gedanken“, wiegelte Thomas ab, „die Kleine hat bestimmt mit Jana Sommer einiges zu besprechen. Die beiden haben sich die gesamten Ferien nicht gesehen. Jana war doch bei ihrer Oma auf Fehmarn. Du wirst sehen, die beiden haben sich verspielt.“

Diese beruhigende Überlegung wirkte bei Susanne nur zwanzig Minuten. „Nein“, sagte sie entschlossen, „ich fahr‘ mal kurz ins Dorf und schau nach.“

Mit einem Seufzer nickte Thomas und sah seiner zwei Jahre jüngeren Frau aus dem Küchenfenster hinterher, wie sie eilig, mit Jeans und rotem Sweat-Shirt bekleidet, in ihren grünen VW-Polo stieg und vom Hof brauste.

Wenige Augenblicke später wunderte er sich, dass der Polo mit fast gleicher Geschwindigkeit wieder in die Hofeinfahrt einbog. „Na, bitte“, dachte er, „viel Wirbel um nichts.“

Dann befiel ihn ein nie gekanntes unheilvolles Gefühl, als er Susanne mit verzweifeltem Gesicht aussteigen und ins Haus rennen sah.

*

Udo Lorenz blickte aus seinem Bürofenster auf den Parkplatz des Klosterhausener Polizeidienstgebäudes und sinnierte, wie lange er schon als Kommissariatsleiter in diesem Büro arbeitete. Die Nachmittagssonne sorgte für ein, wie er fand, unangenehmes Raumklima. Der etwas füllige Mann mit dem vollen, dunkelblonden Haar schwitzte und nahm sich vor, heute etwas früher den Feierabend einzuläuten. Irgendwie war der 55Jährige Hauptkommissar an diesem Montag nicht so richtig in Gang gekommen. Auch der Kaffee, den er sich nach seinem Mittagessen im Restaurant „Zum Abt“ wie immer genehmigte, hatte ihn nicht mobil gemacht.

Zehn Jahre waren es nun, die er mit Ablauf dieses Monats als Chef der Klosterhausener Mordkommission eingesetzt war. Er hatte in Klosterhausen und zuvor bei der Kripo in Neumünster alles erlebt, wie er manchmal sagte:

Komplizierte Todesermittlungen, die zunächst klar ein Verbrechen als möglich erscheinen ließen, sich dann aber als tragische Unglücksfälle entpuppten.

Raubmorde, bei denen Opfer für Kleingeld sterben mussten.

Morde an ehemals geliebten Menschen, die sich einem anderen zugewandt und damit für den eifersüchtigen Täter das Recht auf ein weiteres Leben verwirkt hatten.

Morde an Menschen, damit sie ihr Wissen über einen Täter nicht der Polizei preisgeben konnten.

Sogenannte Totschlagstaten von Menschen, die zuvor vom Opfer ausgelacht, verspottet oder sonst schwer gereizt worden waren und denen man nie zugetraut hätte, eine solche Tat zu begehen.

Tötungen, die der Täter gar nicht realisiert hatte, weil er sie im Rausch des Alkohols oder Drogen begangen hatte.

Tötungen, die als Folge einer psychischen Erkrankung des Täters begangen worden waren.

Aber nicht nur Mordfälle füllten das Erlebnistagebuch von Udo Lorenz. Auch herausragende Verbrechen wie Geiselnahmen oder Entführungen waren in den vergangenen Jahren geschehen.

Nichts könnte ihn noch irgendwie aus der Fassung bringen. Und es hatte sich bei dem erfahrenen Kriminalisten eine Routine eingespielt, die ihn sicher machte, jeder noch so großen Herausforderung begegnen zu können.

Manfred Buck, sein langjähriger Sachbearbeiter im 1. K hatte sich von Lorenz einiges abgeguckt. Der zwei Jahre jüngere Buck machte seinem Chef keinen Ärger, war für die Arbeit immer einsatzbereit und sonst auch für eine gute Arbeitsatmosphäre da.

Vor Jahren war dann Christian Landau ins Kommissariat gekommen. Damals der Jüngste im 1. K Landau war äußerst wissbegierig, übernahm wie selbstverständlich auch Tätigkeiten, die insbesondere die beiden Alten im Team nicht mehr so gerne wahrnehmen wollten.

Bei den Alten handelte es sich um die Endfünfziger Hermann Andresen und Harry Wetzlar, der als Vertreter des Kommissariatsleiters eingesetzt war. Beide waren vom Einbruchskommissariat in die Mordkommission gewechselt und freuten sich schon seit geraumer Zeit über ihre in wenigen Monaten anstehende Pensionierung, was sie mit dem Abschneiden eines Zentimetermaßes regelmäßig an jedem Monatsanfang zeremonienhaft dokumentierten.

Landau war gern mit Lorenz zusammen auf Ermittlung, konnte er doch von ihm am meisten mitnehmen. Aber auch die dynamische Ermittlungsarbeit des erfahrenen Manfred Buck imponierte Landau. Mit der Zeit musste er jedoch feststellen, dass die Dynamik dieses Kollegen fast nur mündlicher Natur war, schriftliche Arbeiten überließ Buck lieber dem jüngeren Landau.

Bis auf die Büroangestellte Claudia Kaufmann, die gerade eine Akte zur Staatsanwaltschaft brachte, befanden sich sämtliche Mitarbeiter an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen im 1. Kommissariat, als gegen 14.00 Uhr bei Udo Lorenz von der Einsatzleitstelle die Meldung einging, dass in Bansdorf ein neunjähriges Mädchen vermisst wurde. Wegen der offenstehenden Türen der miteinander verbundenen Büros konnten sie Lorenz knarzige, laute Stimme hören.

Während die beiden ältesten Kollegen ruhig an ihren Schreibtischen in den hinten gelegenen Büros sitzen blieben, eilten Landau und Buck in Lorenz‘ Büro, um die Informationen aus erster Hand mitzukriegen.

„Kann es denn nicht sein, dass die Kleine sich nach der Schule verspielt hat?“ fragte Lorenz mit einer Tendenz, die zumindest Christian Landau signalisierte, dass sein Chef noch nicht hundertprozentig davon überzeugt war, einen heiklen Vermisstenfall zur Bearbeitung übernehmen zu müssen.

Hauptkommissar Lorenz hatte seinen Telefonapparat auf Mithören geschaltet. So konnte die alarmierende Antwort des Einsatzleiters gleich richtig eingeordnet werden. „Die Mutter hat das Fahrrad ihrer Tochter hundert Meter von der Hofeinfahrt entfernt neben der Straße gefunden. Der Schultornister lag geöffnet neben dem Rad, der Inhalt verstreut drum herum.“

Udo Lorenz räusperte sich. „Ach, am besten wir schauen es uns einmal vor Ort selbst an. Schicken Sie bitte die verfügbaren Streifenwagen in die Gegend, damit nach dem Mädchen gefahndet wird.“

Dann wandte sich Lorenz an seine Mitarbeiter Buck und Landau. „Ihr fahrt ebenfalls nach Bansdorf. Nehmt auch unsere Oldies Hermann und Harry mit. Ich werde die weiteren Maßnahmen, falls erforderlich, gemeinsam mit der Leitstelle koordinieren und auch dort sein.“

Es dauerte keine dreißig Minuten, da erreichten die beiden dunkelblauen VW-Passat-Dienstwagen den Mühlenweg in Bansdorf. Christian Landau war überrascht, dass er den Spurensicherungsbeamten Hans Gerlach kurz vor dem Töllner-Hof bereits arbeiten sah. Gerlach fotografierte gerade ein rotes Mädchenfahrrad und einen geöffneten, gelben Tornister, dessen Inhalt zerstreut daneben auf dem unbefestigten Weg lag. Landau, der den einen Passat lenkte und wie fast immer Manfred Buck als Beifahrer beförderte, stoppte den Dienstwagen so abrupt, dass der nachfolgende Wagen des 1. K mit den beiden Oldies beinahe aufgefahren wäre. Durch die geöffnete Seitenscheibe sprach Landau den Spurenexperten an. „ Wie kommst du denn so schnell hier her, Hans? “

„Lorenz hat mich von der Leitstelle aus herbeordert. Ich war als Tatortdienst in der Nähe.“

Landau blickte auf das Fahrrad am Wegesrand. „Ist das von dem vermissten Mädchen?“

Gerlach nickte beiläufig und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Die wollte er wie immer hochkonzentriert erledigen, und er mochte dabei nicht gestört werden. Eher abweisend sagte er. „Ernst Dieter Schütt, der zuständige Polizist aus Bansdorf hat mich eingewiesen. Er ist bei den Töllners auf dem Hof. Er kann euch alles berichten.“

Wenige Augenblicke später betraten Buck und Landau das Wohnhaus der Töllners, wo sich Polizeiobermeister Schütt in der Küche mit den Eltern der verschwundenen Sandra unterhielt. Manfred Buck hatte die beiden Oldies gebeten, sich gründlich in der näheren Umgebung des Hauses umzusehen.

Susanne und Thomas Töllner saßen nebeneinander am langen Flügel der hölzernen Eckbank in dem hellen, großen, modern ausgestattetem Küchenraum, Ernst-Dieter Schütt am kurzen Ende.

Buck und Landau blieben zunächst in der Küchentür stehen und beobachteten die Szene in der Küche. Susanne rieb sich gerade die verweinten Augen und haderte mit sich selbst. „Warum habe ich Sandra bloß heute am ersten Schultag nach den Ferien nicht zur Schule gebracht und auch wieder abgeholt? Warum habe ich das nicht gemacht?“

Dorfpolizist Schütt ging auf das Klagen der Mutter ein. Der blonde Polizieiobermeister mit der stattlichen Figur kannte sie aus seiner Schulzeit, war mit ihr in derselben Klasse gewesen. Als Jugendlicher hatte Schütt auch mal ein Auge auf die hübsche Susanne geworfen, aber da war sie schon mit Thomas Töllner zusammen gewesen. „Suse,“ sagte er zur ihr und nannte sie so wie früher in der Schule, „das ist doch ganz normal, dass dein Kind allein zur Schule fährt.

Das tun die anderen Kinder doch auch.“ Schütt hatte sich vorgenommen, beruhigend und tröstend auf die Eltern einzuwirken und die beiden Kriminalbeamten bemerkten, dass Schütt offensichtlich die richtigen Worte gefunden hatte. Daher war es für das weitere Gespräch unpassend, als Manfred Buck sich mit den Worten ‚Mordkommission Klosterhausen, Buck – Manfred Buck‘ vorstellte. Sowohl die Gesichter von Susanne und Thomas Töllner als auch das des Dorfpolizisten verfinsterten sich. Panisch hörte sich die Frage der Mutter an: „Mordkomm…Mordkommission? Wieso das denn? Wieso Mord? Was ist mit Sandra geschehen?“

Der sonst so redefreudige Buck hatte diese Reaktion nicht erwartet, schaute betreten auf den Küchenfußboden, fand aber keine Worte, um auf die Mutter einzugehen.

Es war der besonnene Polizeibeamte Schütt, der sich bemühte, die Eltern zu beruhigen, indem er mit beiden Händen eine abmildernde Geste machte. Christian Landau trat zwei Schritte vor an den Küchentisch und erklärte ganz behutsam, dass alle verfügbaren Polizeibeamte im Einsatz seien, um Sandra so schnell wie möglich zu finden. Und um die aufgewühlten Eltern weiter zu besänftigen sagte er:

„Unsere Spurensicherer sind schon im Einsatz, gleich kommt die Hundestaffel mit ganz speziell ausgebildeten Suchhunden. Wir haben auch einen Hubschrauber beim Bundesgrenzschutz angefordert und ganz viele Polizisten, die das Gebiet hier systematisch durchsuchen. Wir wollen alle, dass Sandra ganz schnell wieder nach Hause kommt.“ Während Landau dies sagte, nickte Ernst-Dieter Schütt immer wieder zur Bestätigung.

„Frau Töllner, wir müssen uns jetzt in ihrem Haus umsehen“, sagte Landau der verzweifelt dreinblickenden Mutter und stellte fest, dass sie überhaupt nicht reagierte. Dafür aber der Vater. „Was wollen sie im Haus? Hier ist sie nicht. Sie war zur Schule und ist nicht wieder gekommen.“ Töllner erhob sich von seinem Platz am Küchentisch und zeigte mit dem ausgestreckten Arm zum Küchenfenster, das zur Hofeinfahrt wies. „Und da draußen liegt Sandras Fahrrad. Hier im Haus ist sie nicht.“

„Das nehme ich auch nicht an“, beschwichtigte Landau, „aber wir werden uns hier alles ansehen müssen, alles. Wir müssen auch Unmögliches in Betracht ziehen, um völlig sicher sagen zu können, dass sie nicht doch unbemerkt ins Haus gegangen ist.“ Christian Landau erinnerte sich an einen Vermisstenfall vor nicht allzu langer Zeit in Klosterhausen. Ein vierjähriger Junge war abends gegen sechs von seinen Eltern vermisst worden. Er hatte angeblich noch kurz vorher draußen vor dem Haus auf dem Rasen gespielt. Eine riesige Suchaktion wurde gestartet. Über Stunden suchten Polizei, Feuerwehr und auch Nachbarn die engere und weitere Umgebung ab. Lautsprecherwagen waren im Einsatz. Alles vergeblich. Christian Landau war als Bereitschaftsbeamter der Kripo Klosterhausen zuerst am Geschehensort gewesen und hatte sich auf die Auskunft der Eltern verlassen, dass sie gründlich im Haus nach ihrem Sohn gesucht hätten. Gegen 23.00 Uhr war die Suche wegen der Dunkelheit unterbrochen worden und Landau wollte dies den Eltern im Haus erklären. Es war wohl seine Anspannung und eine innere Unruhe, die ihn dazu veranlasste, einmal selbst durch das gesamte Haus zu gehen und nach dem Kleinen zu suchen. Und richtig. Der Vermisste saß im hintersten Winkel in einem großen Pappkarton versteckt unter der Kellertreppe. Die anfänglichen Rufe seiner Eltern hatte er nicht beantwortet und deswegen wahrscheinlich dann aus Furcht vor Bestrafung sich auch weiterhin mucksmäuschenstill verhalten. Dieser Fall war für Landau ein Paradebeispiel für die Notwendigkeit einer konsequenten Durchsuchung der Wohnung und des Hauses von vermissten Personen. Ihm sollte es nicht so ergehen, wie es vor Jahren seinem Chef ergangen war, als er in ähnlicher Situation bei der Suche nach einem vermissten Kind zwar die Wohnung und das Haus durchsuchen ließ, aber es nicht für erforderlich erachtete eine im Hauswirtschaftsraum befindliche Kühltruhe zu öffnen. Und genau dort war das Kind am nächsten Tag von der Mutter gefunden worden. Erfroren. Die dienstrechtlichen Folgen dieser unterlassenen Kontrolle der Kühltruhe waren für Udo Lorenz nicht unerheblich gewesen. Lorenz sagte aber auch, dass die Vorwürfe, die er sich deshalb immer wieder machte, jahrelang und noch jetzt an ihm nagten.

Thomas Töllner blickte aufgeregt durch das Küchenfenster auf den Hof. Draußen tat sich etwas. Das alte Magirus-Deutz Löschfahrzeug der Freiwilligen Feuerwehr Bansdorf kam mit Blaulicht auf den Hof gefahren. Am Steuer saß Wehrführer Eggert Jepsen persönlich. Er lenkte das Einsatzfahrzeug direkt neben den Passat der Kripo und stieg mit Schwung aus der Fahrerkabine. Sieben weitere Feuerwehrmänner verließen die Sitzplätze in dem Löschwagen ebenfalls und stellten sich in Reihe vor ihrem Chef auf. Kurz darauf erreichten die Oldies vom 1. K den Hof.

„Was wollen denn meine Kameraden von der Feuerwehr hier?“, fragte Thomas Töllner überrascht. Er stand auf, um die Küche zu verlassen.

Christian Landau begleitete ihn nach draußen und erfuhr von seinem Kollegen Harry Wetzlar, dass Udo Lorenz die Feuerwehren aus Bansdorf und dem in der Nähe gelegenen Ort Flethstedt alarmiert habe. Es sollte möglichst umgehend mit der Absuche der Umgebung, insbesondere des in Verlängerung des Mühlenweges gelegenen Bansdorfer Moores begonnen werden.

Die Kräfte der Polizei aus der näheren und weiteren Umgebung würden für diese Maßnahme nicht ausreichen, und die Einsatzhundertschaft aus Eutin war nach Auskunft von Lorenz gerade mal wie in diesem Jahr schon häufiger in einem Einsatz an der Hamburger Hafenstraße.

Christian Landau setzte sich über Funk kurz mit seinem Kommissariatsleiter in Verbindung und erhielt kurze und präzise Weisungen.

Nach und nach trafen weitere Kameraden der Freiwilligen Wehren aus Bansdorf und Flethstedt ein. Von der Polizei war PHK Konrad Merker vom Polizeirevier Klosterhausen als Leiter der Suchmaßnahmen erschienen. All das hatte Udo Lorenz nach der ersten Lagebeurteilung von der Einsatzleitstelle aus angeschoben. So waren innerhalb kürzester Zeit insgesamt zwanzig Feuerwehrmänner und ebenso viele Polizeibeamte auf dem Töllner-Hof erschienen, um systematisch die Gegend nach der vermissten Sandra abzusuchen.

Christian Landau bat seinen Kollegen Buck, die Suche an der Seite des Leiters der Suchmaßnahmen zu begleiten. Landau selbst verblieb im Haus bei den Eltern der Vermissten. Er hatte von seinem Chef den Auftrag erhalten, sich um das Ehepaar Töllner zu kümmern. Damit war Landau urplötzlich zum vorläufigen Angehörigenbetreuer geworden. Eigentlich eine Aufgabe der Spezialdienststelle im Landeskriminalamt, die aber wegen einer laufenden Geiselnahme in Plön zurzeit nicht zur Verfügung stand.

„Du machst das schon, du kennst das ja noch vom Janowski-Fall“, hatte Udo Lorenz am Telefon gesagt und auf einen Angehörigenbetreuer-Einsatz Landaus Jahre zuvor in Klosterhausen angespielt. Manuela Janowski, Tochter von Rolf Janowski, Inhaber der gleichnamigen Kaufhäuser in Klosterhausen und Neumünster, war in Frankreich von zwei Deutschen entführt worden. Die Täter hatten in einem Telefonat dem Vater zunächst nur gemeldet, dass sie Manuela in ihrer Gewalt hätten. Rolf Janowski schaltete umgehend die Polizei ein, und schon eine Stunde nach dem Täteranruf saß Christian Landau als Angehörigenbetreuer im Wohnzimmer der Villa von Manuelas Eltern in der Klosterallee 30. Landau hatte den Auftrag, Rolf Janowski und seiner Ehefrau Renate nicht von der Seite zu weichen, insbesondere sie bei einem weiteren Täteranruf so zu unterstützen, dass möglichst viele Erkenntnisse und taktische Einsatzmöglichkeiten für die Polizei herauskamen. Hauptsächlich war es aber so, dass Landau die sehr besorgten und nahezu verzweifelten Eltern stabilisieren sollte. Ein toller Auftrag, hatte sich Landau damals gedacht. Da schickt dich dein Chef ohne jegliche Vorbereitung in eine solche Situation, die schwieriger nicht hätte sein können. Verzweifelte Eltern, unbekannte Täter, nicht bekannte Forderungen. Wer konnte schon sagen, wie sich der Fall entwickeln würde. Es war wirklich nervtötend, was sich in den frühen Abendstunden und über Nacht im Hause Janowski im Beisein Landaus abspielte. Renate Janowski als verzweifelnde Mutter rannte unruhig stundenlang von Zimmer zu Zimmer in der großen Villa. Ihr Mann Rolf saß stumm in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch, rührte sich kaum und beobachtete das grüne Tastentelefon vor sich. Ab und zu zuckte er zusammen, als seine Frau ihm wiederholt in der Nacht Vorhaltungen machte, warum er denn Manuelas Reise nach Paris überhaupt erlaubt habe. Jetzt könne er sehen, was er angerichtet habe.

Dann wieder über Stunden gespenstische Ruhe im Haus Janowski. Die ganze Nacht über. Auch Christian Landau hatte sich mehrfach dabei entdeckt, wie der das Telefon auf Janowskis Schreibtisch anstarrte. Die Technik für die Überwachung dieses Telefonapparates hatte Landau bei seinem Erscheinen sofort angeschlossen, und zwar ein ganz gewöhnliches Uher-Tonbandgerät, welches von ihm am Telefonanschluss so installiert war, dass es unverzüglich die Aufnahme startete, wenn der Apparat angewählt worden war.

Aber es hatte sich nichts getan in der Nacht – bis gegen 06.00 Uhr am nächsten Morgen. Danach überschlugen sich die Ereignisse. Die Täter meldeten sich mit einer Geldforderung. Die Übergabe sollte noch am Abend in Paris sein. Direkt am Eiffelturm. Der Vater sollte das Geld persönlich überbringen.

Hektische Aktivitäten folgten, damit Janowski tatsächlich auch die geforderte Summe zahlen konnte.

Und - Udo Lorenz hatte entschieden, dass Landau den Vater des gekidnappten Mädchens nach Paris begleiten sollte. Aber so weit kam es dann nicht mehr.

Manuela Janowski war es gelungen, sich in einem Moment der Unaufmerksamkeit ihrer Entführer selbst zu befreien und die Polizei zu alarmieren. Die beiden Täter konnten gefasst werden. Ihre sehr hohen Freiheitsstrafen mussten sie in einem französischen Gefängnis absitzen.

„Du machst das schon.“ Christian Landau war zwar über das Vertrauen seines Chefs erfreut. Aber gleichzeitig sah er auch die große Verantwortung, die nun im Töllner-Fall auf seinen Schultern lastete. Für Landau war so ein gewaltiger Fall wie dieser hier in Bansdorf eine wahnsinnige Herausforderung. Und er befand sich darin an vorderster Front bei den Eltern. Erlebte ihre Hoffnung, die Tochter bald wiederzusehen, sah die unerträgliche Anspannung wegen der Ungewissheit, bemerkte die Verzweiflung beim Wechseln dieser Zustände und fand, dass er selbst kaum etwas tun konnte. Worte wären leere Hülsen gewesen angesichts der Schmerzen, die die Eltern ertragen mussten. Und dennoch sah Christian Landau ein, dass es wichtig war, dort zu sein. Den Eltern beizustehen in ihrer Not, einfach nur da zu sein, damit Susanne und Thomas Töllner jemanden hatten, der ihnen zuhörte. Und das tat Landau. Er hörte zu. Beim Weinen der Mutter um ihr Kind. Bei den wütenden Ausbrüchen des Vaters, was er dem Täter antun würde, wenn seiner Sandra auch nur ein Haar gekrümmt werden würde. Er hörte die Selbstanklage von Susanne, es versäumt zu haben, Sandra von der Schule abzuholen.

Landau vernahm von Thomas Töllner, wie dieser auf Hans-Peter Gniffel schimpfte. „Der hat doch bestimmt was mit Sandra angestellt, dieser Nichtsnutz. Lungert ständig im Dorf vor Meyers Gasthof herum und glotzt nach den Mädchen.“ Landau erfuhr, dass Gniffel als sogenannter „Dorftrottel“ galt und seine Unterkunft bei Landwirt Ludwig Küter, der den Zwanzigjährigen als billige und willige Arbeitskraft auf seinem großen Hof in Bansdorf beschäftigte, hatte. Allerdings sollten Gniffels Fähigkeiten eher beschränkt sein. So soll es seinem Arbeitgeber Ludwig Küter trotz großer Bemühungen und noch mehr Geduld nicht gelungen sein, seinem Helfer das Treckerfahren beizubringen. Wenn HaPe, so wurde er von allen im Dorf genannt, unterwegs war, dann mit seinem uralten Fahrrad.

Landau merkte sich die Angaben von Thomas Töllner genau, um sie noch am Nachmittag an seinen Chef weiter zu leiten. Die Spur ‚HaPe‘ würde mit Sicherheit unverzüglich angegangen werden, wusste Landau.

Im Gespräch mit dem Ehepaar Töllner hörte Landau noch vieles über das Innenleben in Bansdorf. Es waren Dinge, die ein Dorf einem Fremden gegenüber nie preisgeben würde. Aber in dieser Situation war es anders. Etwas Ungeheuerliches hatte sich sehr wahrscheinlich hier in diesem friedlichen Ort ereignet. Das wirkte. Und nicht nur Christian Landau erlangte an diesem Tag Kenntnisse über die Menschen von Bansdorf und Umgebung.

Auch seine Kollegen, mittlerweile zwölf an der Zahl und unter Leitung von Hauptkommissar Udo Lorenz zu einer Ermittlungsgruppe zusammengestellt, konnten hinter die Kulissen des Ortes schauen.

*

Die Durchsuchungsaktionen auf dem Töllner-Hof und in dessen näheren Umfeld brachten nichts. Keine Spuren, keine Hinweise auf das Schicksal der Schülerin.

Manfred Buck meldete die Ergebnisse in zeitlichen Abständen an die Einsatzleitstelle, wo bei Udo Lorenz in einem Nebenraum, dem sogenannten Lageraum, sämtliche Informationen zusammenflossen.

Den gesamten Nachmittag über folgte eine Meldung auf die andere über den Durchsuchungseinsatz, aber auch über die Ergebnisse der Befragungen von sämtlichen aufgebotenen Ermittlungsbeamten.

Damit diese vielen Informationen nicht durcheinander gerieten oder gar verloren gingen, war es die Aufgabe von Claudia Kaufmann, der Schreib- und Bürokraft im 1. Kommissariat, alles zu protokollieren. Udo Lorenz teilte ihr die Fakten in kurzen Sätzen mit, und es erwies sich von Vorteil, dass Claudia, seit gut fünf Jahren im K und 26 Jahre alt, gleich zu Anfang ihrer Tätigkeit einen Kurs in Kurzschrift an der Volkshochschule genommen hatte. So konnte sie die Info-Flut ohne große Anstrengung bewältigen und zum einen Berichte für die Ermittlungsakte schreiben, zum anderen sogenannte Spurenakten anlegen, in denen sich die Ermittlungshinweise befanden.

Kommissariatsleiter Lorenz war höchst zufrieden, dass die Ergebnisse der von ihm in Auftrag gegebenen Ermittlungen in dieser Form festgehalten wurden. Damit waren sie auch nach längerer Zeit zu rekapitulieren, mitunter auch noch nach vielen Jahren. Aber zunächst einmal wollte Lorenz und alle, die mit dem Vermisstenfall Sandra zu tun hatten, alles daran setzen, so schnell wie möglich Licht ins Dunkle zu bringen.

Doch schon am Abend des 3. August 1987 war klar, dass sich das Schicksal von Sandra nicht so schnell aufklären lassen würde.