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Hauptkommissar Christian Landau arbeitet mit seinem Team an einem Fall, der beinahe gar nicht als solcher erkannt worden wäre. Doch Dr. Hellrich ist ein gründlicher Hausarzt, der genau weiß, wie eine ärztliche Leichenschau gemacht wird. Er kann bei der toten Johanna Glasig keinen natürlichen Tod bescheinigen. Scheinbar wahrheitsgemäße Zeugenaussagen erweisen sich bei näherer Betrachtung nicht als solche. Und plötzlich hat die Mordkommission nicht nur einen Verdächtigen.
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Seitenzahl: 183
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Am Klosterpark Nummer vier in Klosterhausen wohnt Familie Glasig. Das Leben ist geregelt, könnte man glauben. Doch der Tag nach dem achtzigsten Geburtstag von Johanna Glasig ändert alles. Die alte Dame ist tot. Der herbeigerufene Hausarzt Dr. Hellrich ist sehr gründlich bei der Leichenschau. Einen natürlichen Tod kann er nicht bescheinigen…
Siegfried Lindhorst, Jahrgang 1953, war bis zu seiner Pensionierung 2014 vierzig Jahre Polizist, davon mehr als drei Jahrzehnte in einer Mordkommission im Westen des Landes Schleswig-Holstein. Er hat die Dimensionen der Gewaltverbrechen kennengelernt und in einigen Veröffentlichungen thematisiert.
Schauplatz der Ereignisse ist der fiktive schleswig-holsteinische Ort Klosterhausen, irgendwo zwischen Neumünster und Elmshorn. Die Handlung und die Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Der Autor erklärt dazu, dass alles auch tatsächlich geschehen sein könnte.
Der Autor
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Die beiden Fensterflügel waren weit geöffnet, und die altmodischen, erkennbar stark vergilbten Gardinen wehten sachte, bewegt durch den leichten Frühlingswind an diesem Morgen. Auch die Sonne hatte sich schon einen Weg durch die anfangs geschlossene Wolkendecke gebahnt. Jetzt um acht Uhr zeigte sie bereits eine beachtliche Kraft. Ein bilderbuchartiger Frühlingstag musste es einfach werden. Das Beet vor dem geöffneten Schlafzimmerfenster zeigte sich in voller Blütenpracht, die Farben der Frühlingsblüher erschienen bedingt durch die Sonne noch kräftiger, voller, schöner. Die Vögel im gleich daneben liegenden Klosterpark zwitscherten so bunt durcheinander, dass man meinen konnte, ein Wettstreit sei unter diesen Tieren ausgebrochen.
Die Luft war noch frisch, und sie trug den Duft des Frühlings in sich. Das machte gute Laune, sorgte für eine optimistische Stimmung bei den Menschen in der Kleinstadt Klosterhausen.
Nicht so bei Elke Glasig. Die fünfzig Jahre alte Hausfrau stand vor dem Bett ihrer Schwiegermutter Johanna Glasig, die seit dem Tod ihres Mannes Theodor Glasig das halbe Erdgeschoß des gut bürgerlich anmutenden Backsteinbaus am Klosterpark bewohnte.
An diesem schönen Frühlingsmorgen war Johanna Glasig nicht zum Frühstück in der großen Wohnküche erschienen, die von ihr gemeinsam mit dem im Haus wohnenden Sohn Thomas und dessen Ehefrau Elke genutzt wurde. Elke Glasig hatte sich zunächst nichts dabei gedacht und das ungewöhnliche Fernbleiben der Schwiegermutter mit den Anstrengungen von deren achtzigsten Geburtstag am Vortag erklärt.
Üblich war es, dass Johanna und Elke zusammen das tägliche Frühstück pünktlich um halb acht einnahmen.
Thomas, der äußerst erfolgreiche Immobilienmakler war meistens um diese Uhrzeit schon mit seinem BMW-Touring unterwegs zu einem seiner fünf Büros, die er in Klosterhausen, Lübeck, Kiel, Flensburg und Westerland unterhielt.
Thomas, zwei Jahre älter als seine Ehefrau, war ein häuslicher und familiärer Mensch. Als sein Vater, der Gründer der Firma Immobilien Glasig, vor fünf Jahren starb, war es keine Frage für ihn, dass seine Mutter in das geräumige Haus Klosterpark Nummer vier einzog.
Elke Glasig war mit ihrem Mann gleicher Meinung gewesen. Obwohl es immer mal wieder kleinere Zwistigkeiten mit Johanna auszustehen gab, lebte sie doch ohne Widerspruch mit ihrer Schwiegermutter unter einem Dach.
Die Tage ähnelten sich. Morgens das gemeinsame Frühstück in der großen Wohnküche, danach lebte jeder getrennt für sich in seinem Wohnbereich, was für Johanna meistens den Aufenthalt in ihrem ebenfalls dem Klosterpark zugewandten Wohnzimmer und für Elke die häusliche Arbeit im gesamten übrigen Hause und viermal in der Woche morgens den Besuch des großen Sport- und Freizeitcenters Klosterhausen bedeutete. Darauf bestand Elke Glasig, und an diesem Morgen wäre um zehn Uhr der Saunabesuch gewesen, wenn sich dieser Tag nicht ganz anders entwickelt hätte.
Johanna lag zugedeckt in ihrem Seniorenbett und reagierte nicht auf die Rufe ihrer Schwiegertochter: „Johanna, das Frühstück ist fertig. Du musst aufstehen, Johanna.“
Elke trat näher von der rechten Seite an das Bett heran, schlug die Bettdecke ein wenig zur Seite. Sie berührte die auf dem Rücken liegende alte Frau an der rechten Schulter und schüttelte sie, doch Johanna rührte sich nicht. Elke beugte sich zu der Frau herunter. Sie horchte. Erschrocken stellte sie fest, dass ihre Schwiegermutter nicht mehr atmete.
„Johanna“, rief die Schwiegertochter, und ihre Stimme klang panisch. Sie schüttelte die leblose Frau stärker, als wolle sie sie ins Leben zurück schütteln. Doch Johanna rührte sich nicht. Ihr Kopf kippte zur Seite und Elke sah die Augen. Die Lider waren nicht ganz geschlossen, die Augen dahinter waren stumpf. Der Blick war gebrochen, wie man so sagt. Elke wandte sich ab und verharrte einen Augenblick an dem Fenster zum Klosterpark. Sie ließ beide Flügel ganz geöffnet und verließ eilig das Schlafzimmer.
*
Der knallrote Fünfer-BMW-Touring war gerade auf den Parkplatz des Autohofes in Jagel gefahren. Thomas Glasig hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, auf seinen mindestens einmal pro Woche erforderlichen Fahrten zur Flensburger Filiale hier einen Cappuccino zu trinken. Als er ausstieg, signalisierte sein Handy mit der auffälligen Originalmusik „You’ll never walk alone“ von Gerry and the Pacemakers einen eingehenden Anruf. Ein Blick auf das Display zeigte ihm, dass seine Frau die Anruferin war. Er nahm das Gespräch an, und ohne weitere Begrüßung sagte er: „Na, mein Schatz, habt ihr beide gut gefrühstückt?“
„Da ist was mit Johanna“, entgegnete Elke mit erregter Stimme und ihr Mann wusste sofort, dass etwas Ernstes geschehen war.
„Wie? Was ist mit meiner Mutter?“ Auch seine Stimme hatte sich verändert. Thomas Glasig setzte sich wieder in seinen BMW.
„Sie ist nicht zum Frühstück gekommen, da bin ich zu ihr ins Zimmer. Sie atmet nicht mehr, Thomas.“
„Das kann nicht sein“, erwidert Thomas ungläubig, „gestern an ihrem Geburtstag war doch noch alles in Ordnung. Hast du schon den Arzt gerufen, Elke?“
„Nee. Ja. Arzt? Nee, hab ich noch nicht angerufen. Soll ich? Johanna guckt so merkwürdig.“ Elke redete wirr.
„Mensch, ruf‘ Dr. Hellrich an! Der soll sofort kommen!“
Thomas brüllte diese Sätze förmlich ins Handy. Er hörte nur noch das zögerliche „ja, mach’ ich“ seiner Frau. Dann war das Gespräch beendet.
*
Der Arzt war schnell zur Stelle. Dr. Hellrich betrieb seine Praxis für Allgemeinmedizin ganz in der Nähe in der Klosterallee. Als Elke ihn um zehn nach acht anrief, saßen zwar schon die ersten Patienten im Wartezimmer, aber der Praxisbetrieb hatte noch nicht begonnen. Er eilte zu Fuß die knapp einhundert Meter durch den Mönchsgang von der Klosterallee in die parallel dazu verlaufende Straße ‚Am Klosterpark‘.
Elke Glasig stand an der Haustür, als der Sechzigjährige nur wenige Augenblicke nach dem Anruf leicht schnaufend mit seiner Arzttasche in der Hand erschien. „Kommen Sie, Dr. Hellrich“, hauchte Elke Glasig. Dann zeigte sie mit der linken Hand in den Wohntrakt, den ihre Schwiegermutter in diesem großen Haus bewohnte.
„Danke“, sagte der Arzt, „ich kenne mich hier ja aus.“
Dr. Hans-Hubert Hellrich war der Hausarzt der Familie Glasig. Seit Jahrzehnten schon. Er war es auch, der den unheilbar an Darmkrebs erkrankten Theodor Glasig bis zu dessen Tod begleitet hatte. Täglich hatte er ihn zuletzt in dessen Haus zwei Straßen weiter aufgesucht, um ihm das schmerzlindernde Morphium zu spritzen, weil der Patient es ohne dieses Mittel einfach nicht mehr ausgehalten hatte.
Nachdem Johanna Glasig zu ihrem Sohn gezogen war, machte er dort gelegentlich Hausbesuche.
Im Schlafzimmer seiner Patientin blieb er gut zwei Meter vom Bett entfernt stehen und sah sich sorgfältig um. Elke Glasig war ihm gefolgt. „Was ist denn mit meiner Schwiegermutter?“, fragte sie.
„Oh“, antwortete der Mediziner und ging auf das Seniorenbett zu, „ich befürchte, dass ich hier nichts mehr tun kann.“ Dann fühlte er mit der linken Hand Johanna Glasigs Halsschlagader. Sein Gesichtsausdruck wurde ernster und seine folgenden Bewegungen wirkten wie vorgeschrieben. Er zog sich jetzt Einmalhandschuhe über und schob mit der linken Hand die Augenlider hoch. Danach fasste er an das Kinn und stellte fest, dass es kaum noch beweglich war.
„Ja, Frau Glasig, wie ich schon sagte, ich kann hier nichts mehr tun. Ihre Schwiegermutter ist eingeschlafen. Sie lebt nicht mehr.“
„Johanna tot? Wa..warum? Wie…wieso?“ Elke Glasig stotterte. Sie konnte keinen Satz zustande bringen.
Der Arzt drehte sich zu ihr und legte ihr seine rechte Hand, die noch immer in einem Handschuh steckte, auf die Schulter. „Frau Glasig, Ihre Schwiegermutter ist achtzig Jahre alt geworden. Da ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Mensch nicht mehr kann.“
„Ja, aber Johanna war doch noch so mobil. Erst gestern hatte sie ihren achtzigsten Geburtstag. Alles war schön. Und heute ist sie tot?“ „Das ist nicht ungewöhnlich.“ Der Tonfall von Dr. Hellrich war geprägt von starkem Einfühlungsvermögen für diese schwere Situation. Zweifellos hatte der Arzt schon häufig mit Angehörigen am Bett eines Toten gestanden. Er fand die richtigen Worte, die einem Angehörigen das Unfassbare näher brachten.
Aber Dr. Hellrich war auch ein äußerst gründlicher Arzt, der genau wusste, was jetzt noch zu tun war.
„Frau Glasig, würden Sie mich jetzt mal mit Ihrer Schwiegermutter alleine lassen? Ich muss sie noch einmal untersuchen.“
Elke Glasig verstand nicht. Fragend blickte sie den Arzt an.
„Ach, lassen Sie mich erklären, Frau Glasig. Als Arzt, der den Tod feststellen soll, muss ich klar entscheiden, ob Ihre Schwiegermutter eines natürlichen Todes gestorben ist oder nicht. Sicher wird es hier so sein, aber ich darf das nicht einfach so bescheinigen, wenn ich es nicht selbst genau untersucht habe.“
„Aber Johanna ist doch tot. Sie ist heute Morgen einfach nicht mehr aufgewacht. Was wollen Sie denn jetzt noch untersuchen? Sie ist gestern nach ihrer Geburtstagsfeier wie immer um zehn Uhr ins Bett gegangen und dann in der Nacht gestorben. Das ist doch ein natürlicher Tod, Herr Doktor, oder?“
„Sicher, Frau Glasig, es wird auch so gewesen sein. Und es wünscht sich wohl jeder von uns, dass man so friedlich einschläft. Aber verstehen Sie bitte, dass ich mir Ihre Schwiegermutter noch einmal genau ansehen muss. Lassen Sie mich jetzt bitte meine Arbeit tun.“ Mit diesen Worten schob er die sportlich, schlanke Frau aus dem Raum und schloss die Schlafzimmertür hinter sich. Er wollte die Untersuchung nicht im Beisein der Angehörigen machen.
Dann begann er mit der genauen Untersuchung der Toten. Er entkleidete die Leiche völlig und sah sich sorgfältig die Vorderseite des auf dem Rücken liegenden Körpers an.
Dr. Hellrich hatte sich im Laufe der Jahre einen ganz festen Ablauf dieser Leichenschau angeeignet, der nach seiner Meinung keinen Körperbereich ausließ, um eine möglichst genaue Todesursachenfeststellung zu treffen.
Angefangen von beiden Armen zum Kopf, den er mit beiden Händen sorgsam abtastete, um dort gegebenenfalls Verletzungen zu entdecken, betrachtete er danach genau die Mund- und Nasenhöhle, wobei das Öffnen der Mundhöhle ihm wegen der einsetzenden Leichenstarre einige Schwierigkeiten bereitete. Anschließend sah er den Hals an. Brust und Bauch wurden genau so sorgfältig in Augenschein genommen wie der Genitalbereich und die Beine. Zum Schluss drehte Dr. Hellrich die tote Frau auf die Seite, um die Rückseite anzusehen.
Auch hier entdeckte er keine Auffälligkeiten.
„Natürlicher Tod“, sagte er leise zu sich selbst und wollte gerade die Schlafzimmertür wieder öffnen, als ihm noch ein wichtiger Punkt einfiel. Die Augen. Er untersuchte die Augen der Verstorbenen, in dem der die Lider mit einer Pinzette nach oben und nach unten schob. Als er die kleinen punktförmigen Unterblutungen im Bindegewebe beider Augen entdeckte, wurde sein Gesicht noch ernster.
Die tägliche Frühbesprechung im 1. Kommissariat der Kriminalpolizei Klosterhausen hatte pünktlich begonnen. Um acht Uhr waren alle Mitarbeiter wie üblich erschienen, und Christian Landau, der fünfundfünfzig Jahre alte Chef des 1. Kommissariats, hatte es vorher geschafft, die Kaffeemaschine mit einer seiner Meinung nach ausreichenden Portion gemahlenen Kaffees und entsprechender Wassermenge in Gang zu setzen. Vielleicht lag es an seinem guten Vorsatz zum Wochenbeginn, dass er als erster an diesem Tag im Büro und somit für die Kaffeezubereitung zuständig war. Wäre einer seiner Kollegen, Gerrit Nielsen oder Lukas Grote, an diesem Tag mit Kaffeekochen dran gewesen, dann hätte Landau wieder für eine entsprechende Verdünnung sorgen müssen, denn von der Kunst des Kaffeekochens verstanden die beiden anderen nach Meinung des Chefs nicht viel. Das Ergebnis war in jedem Fall ein rücksichtslos starkes und eklig bitter schmeckendes Gebräu, das Landau auch schon in Einzelfällen dazu verleitet hatte, gänzlich auf diesen zweifelhaften Genuss zu verzichten und stattdessen Tee zu trinken.
Die beiden Kolleginnen im Kommissariat waren diesbezüglich viel rücksichtsvoller, was die Stärke des Besprechungskaffees anging. Die dreißigjährige Oberkommissarin Martina Bell machte sich ohnehin nichts aus Kaffee, und die fünfundvierzig Jahre alte Angestellte Claudia Kaufmann trank ihn nur als Milchkaffee.
So war denn auch die lästerhafte Bemerkung von Lukas Grote, dass der Kaffee an diesem Montagmorgen mal wieder vor Schwäche nicht aus der Kanne käme, ein dezenter Hinweis darauf, dass er seinerseits mit der Mixtur des Chefs nicht einverstanden war.
Landau konterte auch mit einem bereits mehrfach vorgebrachten Argument. „Lukas, ich weiß, dass du scharf auf meinen Posten bist. Und wenn du es schaffen solltest, mich mit deinem Giftkaffee zu töten, dann musst du immer noch etwas beachten: Es ist in der Landespolizei Schleswig-Holstein eigentlich nicht üblich, dass ein stellvertretender Kommissariatsleiter unmittelbar der Nachfolger seines Chef wird. Wenn so etwas mal passiert, dann ist es die absolute Ausnahme. Aber darauf solltest du nicht bauen.“
Lukas Grote, ein erfahrener Hauptkommissar Mitte vierzig, war nun schon seit sechs Jahren der zweite Mann im 1. Kommissariat.
Seine Einstellung zum Thema Karriere war eher mit der identisch, wie Christian Landau es sich vorstellte, nämlich dass ein Mitarbeiter in der Mordkommission für einen sehr langen Zeitraum seinen Dienst dort tat. Gerade diese Sparte der kriminalpolizeilichen Arbeit war besonders von Erfahrungen geprägt. Sicher, das Wissen um die speziellen Themen bei der Mordermittlung konnte sich jeder einigermaßen begabte Polizist aneignen. Aber wie, unter welchen Umständen, wann und wo entschieden werden musste, um die Ermittlung erfolgreich zu gestalten, dafür konnte das Fundament nur in Erfahrungswissen und eigenem Erleben gelegt werden.
Lukas Grote ging in seinem Beruf auf. Er wollte nichts anderes bei der Polizei machen und hatte in den beiden vergangenen Jahren sogar darauf verzichtet, sich für Leitungsposten in anderen Kommissariaten zu bewerben. Seine Chancen, den Zuschlag für zumindest einen der beiden zuletzt ausgeschriebenen Leiterstellen zu erhalten, waren aufgrund seiner außerordentlich guten Beurteilung riesig gewesen. Aber Grote wollte lieber Mordermittler bleiben.
Genauso erging es den beiden Dreißigjährigen.
Oberkommissar Gerrit Nielsen war fast genauso lange, nämlich fünf Jahre, im Kommissariat wie Martina Bell. Beide hatten sich mögliche Angebote für andere Dienstposten nur kurz vor Augen geführt und sich entschieden, im Kommissariat für die Bearbeitung von Tötungsdelikten zu bleiben.
Christian Landau, selbst seit mehr als dreißig Jahren in diesem speziellen Metier, wusste, dass er die beiden Jüngsten seines Teams einmal ziehen lassen müsste. Irgendwann wollte auch ein noch so zufriedener Oberkommissar einmal Hauptkommissar werden. Aber das konnte nur über eine Bewerbung auf eine andere, besser dotierte Stelle erfolgen.
Neben Christian Landau war Claudia Kaufmann am längsten in dem Kommissariat. Über zwanzig Jahre lang hatte sie jetzt schon in der Mordkommission gearbeitet und die vielen Veränderungen ihres Arbeitsplatzes insbesondere hinsichtlich ganz spezieller EDV-Anwendungen begeistert in sich aufgesogen.
Ihre Fähigkeiten in diesem Feld kamen allen zu Gute, denn bis auf Lukas Grote interessierte sich kaum jemand über Gebühr für die EDV. Claudia Kaufmann hatte sich von Grote eine Menge abgeguckt.
Christian Landau las die Lagemeldungen vom Wochenende und bemerkte, dass die Mordkommission in Flensburg sich ein ganz übles Verbrechen eingehandelt hatte. Am Samstagabend war ein unbekannter jüngerer Mann mit einem Samureischwert an der Hafenspitze aufgetaucht und hatte wahllos auf dort feiernde Jugendliche eingestochen und eingeschlagen. Bei diesem irrsinnigen Angriff war ein Sechszehnjähriger so schwer verletzt worden, dass er noch auf dem Weg ins Krankenhaus an einem Herzstich starb. Drei weitere Jungen waren ebenfalls durch das Schwert des offensichtlich ausgerasteten Mannes an Armen und Beinen verletzt worden. Trotz schneller Alarmierung der in unmittelbarer Tatortnähe stationierten Polizei konnte der Angreifer flüchten.
„Oha“, kommentierte Gerrit Nielsen das Verbrechen, „die Flensburger Kollegen sind nicht zu beneiden. Den Verrückten muss man erstmal finden.“
„Und davon gibt es schon so viele. Da hat sich wirklich einiges verändert bei der Ausführung der Taten“, sagte Lukas Grote und hob mahnend seinen rechten Zeigefinger.
„Stimmt“, ergänzte Christian Landau. „Wenn wir bis vor gut zehn Jahren eine richtig gefährliche Hauerei unter Jugendlichen zu bearbeiten hatten, dann waren die Verletzungen zwar manchmal auch ganz schön heftig, weil eben auch Messer oder ähnlich schlimme Werkzeuge benutzt wurden. Aber wenn einer dann am Boden lag, dann ließ der Täter in der Regel von dem Opfer ab.“
„Und heute fängt er erst mit dem Schlimmsten an. Er tritt immer wieder zu oder sticht und sticht solange, bis sich der arme Schlucker gar nicht mehr rührt.“ Auch Claudia Kaufmann konnte aus ihrer Sicht zur Diskussion beitragen.
„Und der Anlass ist in den meisten Fällen so nichtig“, meinte Martina Bell. „Erinnert ihr noch die Messerstecherei im letzten Sommer am Rande des Klosterfestes? Das war doch wahnsinnig!“
„Ja, Wahnsinn“, bestätigte Gerrit Nielsen, „nur wegen einer Zigarette ging der Streit los. Und am Ende lagen drei schwer verletzte Jungs aus Bansdorf auf der Intensivstation. Am schlimmsten hatte es doch den Enkel vom Bürgermeister Mahn erwischt. Herzstich. Zweimal mussten die Ärzte ihn reanimieren, weil das Herz einfach stehen blieb. Mann, hat der ein Glück gehabt.“
„So viel Glück hast du nicht zweimal im Leben“, befand Christian Landau und trank den letzten Schluck Kaffee aus seinem Becher.
Das Telefon in seinem Büro nebenan klingelte. Landau ging an den Apparat, und seine Mitarbeiter hörten an dem kurzen und sachlichen Worten ihres Chefs, dass ein neuer Fall gemeldet wurde.
„Ja sicher, Herr Dr. Hellrich, wir sind in aller Kürze dort. Bis gleich.“
Es war nicht weit von der Polizei bis zum Klosterpark Nummer vier. Nur wenige Minuten nach dem Anruf von Dr. Hellrich fuhren drei zivile Polizeifahrzeuge zügig vor.
Landau hatte die anstehende Arbeit bereits im Büro aufgeteilt. Er wollte sich zusammen mit Martina Bell um die Familienangehörigen kümmern, während Lukas Grote gemeinsam mit Gerrit Nielsen die Tatortarbeit leisten sollte.
Tatortarbeit hieß in diesem Zusammenhang zum einen die genaue Beschreibung des Auffindeortes der toten Johanna Glasig.
Für die erforderliche Spurensuche und –sicherung zum anderen waren Hans Gerlach und seine Kollegin Clarissa Scheunemann von der Kriminaltechnik alarmiert worden. Die Kriminaltechniker der Kriminalpolizei Klosterhausen rückten bei nahezu jeder Alarmierung mit aus.
Hans Gerlach, der kurz vor seiner Pensionierung stand, war gerne mit der ‚Roten‘, wie er die rothaarige Clarissa Scheunemann nannte, unterwegs. Nicht nur, weil die ‚Rote‘ gut fünfundzwanzig Jahre jünger und äußerst hübsch anzusehen war, nein, Clarissa war eben eine ‚Gute‘, wie er häufig anerkennend über sie redete.
Dr. Hellrich hatte an der Hauseingangstür auf das Eintreffen der Polizei gewartet. „Kommen sie rein, forderte er die Ermittler auf, als sie ihre Wagen verlassen hatten. Wir können im Flur reden.“
Landau folgte ihm als erster. Beim Betreten des gepflegten, großen Hauses sah er durch eine geöffnete Tür eine Frau in der Küche. Elke Glasig. Sie hatte sich von den hereinkommenden Menschen abgewandt und hantierte mit Geschirr an der Küchenspüle.
Dr. Hellrich bemerkte Landaus Blick in die Küche. Mit leisen Worten erklärte er die Situation. „Das ist Elke Glasig, die Schwiegertochter der Verstorbenen. Sie hat mich vorhin angerufen, weil Johanna Glasig heute Morgen nicht zum gemeinsamen Frühstück erschienen war.“
„Und was haben Sie an der Toten entdeckt?“ Landau wollte es noch einmal direkt von dem Hausarzt der Familie hören und entfernte sich von der Küchentür.
„Beinahe gar nichts, aber dann habe ich noch die punktförmigen Unterblutungen, so genannte Petechien, in der Augenbindehaut entdeckt. Ein nahezu untrügliches Zeichen eines Erstickungstodes.“
„Und sonst? Irgendwelche Auffälligkeiten, die auf ein Gewaltverbrechen hindeuten?“
„Nein, da ist mir nichts aufgefallen. Keine Kampfspuren, keine Spuren oder Verletzungen, die auf eine Straftat schließen lassen. Die wertvolle Armbanduhr liegt neben der Toten auf dem Nachttisch. Allerdings fand ich es merkwürdig, dass das Fenster zum Park weit geöffnet war.“ Der hagere, fast asketisch wirkende Arzt mit der auffälligen Nickelbrille und dem eleganten grauen Anzug antwortete dem Hauptkommissar nüchtern und sachlich.
Fast unauffällig hatte der Mann beim Erzählen die Tür zur Küche geschlossen. Christian Landau sah das und quittierte es mit einem wohlwollenden Nicken. Elke Glasig sollte zu diesem Zeitpunkt noch nicht über die Feststellungen des Arztes informiert sein. Schließlich musste auch in Betracht gezogen werden, dass die Frau etwas mit dem Tod ihrer Schwiegermutter zu tun hatte.
Während sich Landau mit Dr. Hellrich unterhielt, hatte sich Martina Bell schweigend dazu gestellt.
Gerrit Nielsen und Lukas Grote waren mit dem Spurensicherungsteam Gerlach/Scheunemann, bekleidet jeweils mit weißen Spurensicherungsanzügen, Einweghandschuhen, Schuhüberziehern und Mundschutzen, in das Zimmer gegangen, in dem die Tote in ihrem Bett lag. Ohne große Worte oder Anweisung nahm jeder in dem Raum seine Arbeit auf.
Christian Landau wusste, dass die Arbeit am Leichenauffindeort professionell gemacht werden würde, daher konzentrierte er sich ganz auf das Gespräch mit Dr. Hellrich. Er musste ohnehin auf ein Okay von Hans Gerlach warten, um selbst einen Blick auf die Tote werfen zu können. Gerlach war da sehr eigen. Er duldete Fremde an seinen Tatorten unter keinen Umständen, und fremd war in seiner Auslegung auch der Leiter der Ermittlungen, wenn er nicht mit der Spurensicherung oder deren Beschreibung zu tun hatte.
„Herr Dr. Hellrich, ich hätte da auch eine Frage“, mischte sich Martina Bell selbstbewusst in das Gespräch auf dem Flur ein und Landau bemerkte, dass er versäumt hatte, seine Kollegin vorzustellen. Er holte dies schnell nach und bedeutete Martina mit einem auffordernden Blick, ihre Frage zu stellen.
„Wie lange ist Johanna Glasig schon tot?“
„So wie es aussieht, ist sie in der zweiten Nachthälfte gestorben, eher zum Morgen hin. Die Leichenstarre ist noch nicht ausgeprägt, und die Leichenflecken am Körper sind leicht wegzudrücken. Ich tippe auf einen Zeitpunkt in den frühen Morgenstunden.“
Christian Landau wusste, dass dieser Zeitpunkt sicherlich genauer im Rahmen der noch durchzuführenden Obduktion des Leichnams festgestellt werden würde. Die Spurensicherungsbeamten mussten dafür mussten vor Ort die Körpertemperatur des Leichnams und die Raumtemperatur messen. Ein Rechtsmediziner könnte dann mit diesen Fakten eine genauere Berechnung durchführen.
Martina Bell fragte weiter.
„Wer gehört alles zur Familie Glasig? Oder besser, wer geht in diesem Haus ein und aus?“
„Ich weiß nicht, ob ich die Frage vollständig beantworten kann. Aber zur Familie gehören neben Elke und Thomas Glasig noch zwei Söhne, Alexander und Gerald. Beide Söhne sind aber schon ausgezogen. Alexander, der Ältere, studiert Medizin in Hamburg. Was Gerald macht, weiß ich nicht genau.“