Mörderwahrheit - Siegfried Lindhorst - E-Book

Mörderwahrheit E-Book

Siegfried Lindhorst

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Beschreibung

Christian Landau und sein Team der Mordkommission Klosterhausen kommen nicht dazu, sich zwischen zwei neuen Mordfällen eine Pause zu gönnen. Während der eine Fall ganz ohne Probleme aufzuklären ist, zeigt sich im zweiten, dass nicht immer alles so ist, wie es anfangs scheint. Oder doch? Im Laufe seiner langen Dienstzeit, die nun allmählich zu Ende geht, hat Landau häufiger erfahren müssen, dass die Wahrheit mehrere Gesichter haben kann.

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Seitenzahl: 208

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ellen Wöllner ist tot. Die Lehrerin liegt im Keller ihres Hauses. Sie ist erschossen worden. Alles sieht so aus, dass ihr Ehemann auch ihr Mörder ist. Als nach und nach Beweise auf einen fremden Täter hindeuten, wird es für Hauptkommissar Landau und sein Team kompliziert.

Über den Autor:

Siegfried Lindhorst, Jahrgang 1953, war fast sein gesamtes Berufsleben als Kriminalbeamter in einer Mordkommission im Westen des Landes tätig. Er weiß, dass jeder Fall sich von anderen unterscheidet. Tatmotive können ähnlich sein, Tatwaffen ebenfalls. Auch werden bestimmte Örtlichkeiten immer wieder zu Tatorten. Aber das, was ein schweres Verbrechen bei Opfern und deren Angehörige auslöst, ist in jedem Fall einzigartig.

Die Handlung und die Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Ebenso die fiktiven Orte Klosterhausen, Bansdorf und Flethstedt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1.

Die Situation erschien wie so oft.

Christian Landau kannte sie aus mehr als drei Jahrzehnten, die er mittlerweile in der Mordkommission Klosterhausen war. Der Mann, der dem Chef der Mordermittler an diesem frühen Nachmittag eines verregneten Julitages gegenüber saß, vermittelte einen umgänglichen Eindruck. Sauber gekleidet mit weißen Jeans und kariertem Baumwollhemd. Das dunkelblonde, etwas längere Haar des jungen Mannes gekämmt. Das Gesicht mit der leicht spitzen Nase wirkte frisch, die blauen Augen hellwach. Kaum jemand wäre auf die Idee gekommen, dass der dreißig Jahre alte Ben Sommer erst wenige Minuten zuvor in einem Appartement der Pension an der Marktschänke festgenommen worden war. Wegen Mordes!

Christian Landau hatte ihn mit seinem jungen Kollegen Kai Gellert ganz schnell aufstöbern können.

Erst am Vormittag kurz nach 08.00 Uhr war die Meldung von einem Leichenfund in der Marktstraße 3 per Notruf bei der Regionalleitstelle Elmshorn eingegangen und von den zunächst zum Einsatzort entsandten Streifenbeamten bestätigt worden. Dann war das 1. Kommissariat zum Einsatz gekommen. In seiner Souterrain-Wohnung hatte der sechzigjährige Wohnungsinhaber Rainer Sasse neben der Wohnungstür im Flur gelegen. Eine blutige Verletzung auf dem Kopf und ein um den Hals fest zugezogener Ledergürtel waren unmissverständliche Zeichen dafür gewesen, dass hier offensichtlich ein Verbrechen geschehen war. Das leere Herrenportemonnaie neben dem toten Rainer Sasse war ein Hinweis auf ein Motiv für die Tat.

Routiniert hatte Landau das anstehende Arbeitspensum aufgeteilt: Martina Bell, Oberkommissarin, seit Jahren als sehr engagierte und fähige Sachbearbeiterin im Team, war zusammen mit Landaus Vertreter, Hauptkommissar Lukas Grote, für die Tatortarbeit vorgesehen. Dass machten sie gemeinsam mit den Kriminaltechnikern Hans Gerlach, Urgestein der Spurensicherung, und der Kommissarin Clarissa Scheunemann. Das bedeutete, dieses Team aus Ermittlern und Experten der Spurensicherung nahm den Tatort auf, konservierte gewissermaßen die Spuren der Tat, sicherte sie und machte sie zudem für spätere Zwecke rekonstruierbar. Eine sehr aufwändige und pingelig durchzuführende Arbeit, die das Team für mehrere Stunden in der Tatwohnung festhielt. Erst im Anschluss an diese Arbeit sollte der Leichnam des Rainer Sasse in die Pathologie des Krankenhauses Klosterhausen gebracht werden, wo eine Obduktion von Rechtsmediziner Dr. Arndt erfolgen sollte.

Christian Landau war mit wenigen Telefonaten vom Tatort aus seinen Unterrichtungsverpflichtungen gegenüber seinem Chef Kriminaldirektor Reinhard Lott und dem zuständigen Staatsanwalt Dr. Armin Jahn nachgekommen. Lott, der sich mit Landau sehr gut verstand, liebte die kurze, knappe Information. Daher war das Gespräch mit dem Kriminaldirektor von nur kurzer Dauer gewesen. Das kannte Landau auch noch anders, als ehemalige Vorgesetzte sich in vermeintlicher Fachkenntnis in die komplizierte Ermittlungsarbeit einmischten und dadurch allerhand Unheil anrichten konnten. Doch diese Zeiten waren, Lott sei Dank, endlich vorbei. Dr. Jahn, der Kapitaldezernent der Staatsanwaltschaft war aus ähnlichem Holz geschnitzt wie Reinhard Lott. Also auch hier genügte die kurze und knappe Mitteilung.

Der Nachbar Frank Schmude hatte die Tat entdeckt und sofort die 110 gewählt. Schmude bewohnte die Souterrain-Wohnung gegenüber und war früh morgens aufmerksam geworden, weil bei Sasse die Wohnungstür offenstand. Der gleichaltrige Nachbar war abends sehr früh ins Bett gegangen und hatte von einem möglichen Tatgeschehen nichts mitbekommen. Für Christian Landau kam Schmude als möglicher Tatverdächtiger nicht infrage, obwohl, frei nach dem Spruch „Unter der Lampe ist es immer am dunkelsten“ eine Prüfung der unmittelbaren Umgebung so gut wie immer die ersten Ermittlungsschritte waren. Doch Schmude schied von vornherein aus. Die körperliche Beeinträchtigung des spindeldürren und sichtbar gebrechlichen Seniors war eindeutig. Bei einem Verkehrsunfall hatte Schmude vor Jahren seinen rechten Arm verloren.

Doch der Tatentdeckungszeuge hatte einen Hinweis geben können, einen sehr wichtigen. Schmude wusste, dass sein Nachbar sich seit einigen Wochen mit einem jungen Mann abgab, der in der Pension neben der Markschänke gegenüber wohnte.

So war es gekommen, dass schon einer der ersten Ermittlungsschritte direkt zum Tatverdächtigen führte. So simpel, so einfach, dass Christian Landau es fasst gar nicht fassen konnte. Gemeinsam mit Kai Gellert war er schnurstracks über die Marktstraße zur Pension gegangen und hatte von der Wirtin bereitwillig Auskunft über den derzeit einzigen Pensionsgast erhalten.

„ Ach, das ist ein ganz netter junger Mann. Sommer heißt er, Ben Sommer. Sauber und ordentlich, so wünscht man sich seine Gäste. Er ist jetzt auch noch in seinem Zimmer“, sagte die Pensionswirtin und sah auf das Schlüsselbrett, wo die Zimmerschlüssel bis auf den für Appartement Nr. 2 hingen.

Landau und Gellert waren dann direkt an Sommers Appartementtür gegangen und als Landau gerade anklopfen wollte, da hatte Ben Sommer die Tür schon geöffnet. „Sie suchen mich, nicht wahr? Ja, ich war das da im Haus gegenüber“, waren die Worte des nunmehr Verdächtigen gewesen.

Seine Festnahme hatte keinerlei Schwierigkeiten bereitet. Nach seinem überraschenden Tateingeständnis hatte er beide Hände gehoben, so dass Kai Gellert ihm die Arme auf den Rücken drehen und Handfesseln anlegen konnte.

Die Pensionswirtin hatte sehr verstört und erschrocken geblickt, als die beiden Kriminalbeamten mit dem gerade noch von ihr hochgelobten Pensionsgast an ihr vorbei zum Ausgang gegangen waren.

Und nun saß Ben Sommer im Vernehmungsraum, diesem karg eingerichteten Raum mit den schmucklosen weißen Wänden. An dem einfachen Holztisch saßen sich der Verdächtige und Christian Landau gegenüber. An der Stirnseite hatte Kai Gellert Platz genommen und erwartete nun, dass sein Chef mit der Vernehmung beginnen würde. Dem blonden Gellert war klar, dass er wieder die Zuschauerrolle haben würde. Er war gespannt, wie Christian Landau mit dem geständigen Mordverdächtigen umgehen würde.

Zuvor hatte Claudia Kaufmann, seit Jahrzehnten als Angestellte im Kommissariat tätig, in ihren PC, der rechts neben Landau an der Wand auf einem PC-Tisch stand, die Personalien des Beschuldigten eingegeben.

Landau zögerte einen Augenblick, dann erhob er sich von seinem Platz und sagte zu Kai Gellert: „Lass uns den Platz tauschen. Ich finde, du könntest die Vernehmung führen.“

Ungläubig sah Kai auf seinen K-Leiter. Claudia schob überrascht ihre Brillenbügel über ihr braunes Haar. Das hatte es ewig nicht gegeben. Klar, wenn Landau im Urlaub war und eine Vernehmung eines Mordverdächtigen stand an, dann war es meistens Lukas Grote, der die Vernehmung führte. Claudia überlegte, ob es vielleicht daran lag, dass der Endfünfziger Landau in wenigen Monaten pensioniert werden würde und daher die Vernehmung an Gellert abtrat.

Kai war anzusehen, dass er nicht damit gerechnet hatte, den Verdächtigen vernehmen zu dürfen.

Bei vielen Vernehmungen in den beiden Jahren seiner Zugehörigkeit zum 1. K hatte er neben Landau gesessen und genau aufgepasst, wie der Chef seine Fragen stellte, welche Fragen es waren, wie die Atmosphäre im Vernehmungsraum sich entwickelt und wie auch die Emotionen der Vernommenen von Landau gesteuert werden konnten. Gellert war aufgefallen, dass Landau die Beschuldigten in jedem Fall ordentlich behandelte. Höflich, nicht anbiedernd, verbindlich, nicht autoritär oder gar entwürdigend, verlässlich, ohne falsche Versprechungen und - nur in Ausnahmefällen mal etwas lauter. So wollte Gellert es auch machen, so würde Landau es von ihm auch verlangen. Er war aufgeregt, weil er nichts falsch machen wollte. Wer ihn näher kannte, sah es an seinen roten Ohren. Christian Landau setzte sich nun an die Stirnseite des Tisches und nickte seinem über dreißig Jahre jüngeren Kollegen zuversichtlich zu. Der räusperte sich noch einmal, als er seinerseits den ehemaligen Platz seines Chefs einnahm. Gellert wusste natürlich, dass die rechtliche Belehrung des Beschuldigten eine Grundvoraussetzung für das rechtssichere Strafverfahren war. Zwar hatte Landau den Mordverdächtigen noch in der Pension auf seine Rechte hingewiesen. Dies galt es jetzt noch einmal für das Vernehmungsprotokoll aufzunehmen. Und Gellert begann die Vernehmung damit, dass er Ben Sommer wörtlich den Belehrungstext aus der Strafprozessordnung vorlas.

„Haben Sie das verstanden, Herr Sommer?“, fragte er.

„Ja, habe ich verstanden.“ Ben Sommer nickte.

„Wollen Sie hier eine Aussage machen?“

„Ja, hab‘ doch schon gesagt, dass ich das war. Und einen Rechtsanwalt will ich nicht. Ich weiß, dass ich für das einstehen muss, was ich gemacht habe. Dazu brauche ich keinen Anwalt.“

„Dann erzählen Sie mal, was passiert ist.“

Kai Gellert hatte sich vorgenommen, den Beschuldigten möglichst nicht zu unterbrechen. Ben Sommer sollte seine Geschichte erzählen. All das, was sich aus seiner Sicht ereignet hatte und warum es geschehen war. Wie er es von Christian Landau gelernt hatte, sollte der Beschuldigte zunächst seinen Bericht liefern. Nichts sollte hineingefragt werden. So würde genau das im Protokoll aufgenommen werden, was Sommer gesagt und gemeint hatte.

Sommers Bericht war kurz. Und er hatte es in sich. Gellert hatte eine solche Offenheit noch nie gehört. Auch Christian Landau war überrascht, dass ein Verdächtiger sich selbst so stark belastete. Die Worte Sommers kamen klar und deutlich aus seinem Mund. Claudia Kaufmann hatte keine Mühe, die Aussage zu protokollieren. Mit wenigen Zeilen entstand folgendes Dokument. Es würde für das weitere Leben von Ben Sommer entscheidend sein:

„Ich habe Rainer letzte Woche in der Marktschänke kennengelernt. Weil er abends nicht allein fernsehen wollte, hat er mich zu sich eingeladen. So auch gestern. Wir haben einen alten Polizeiruf 110 angesehen. Da ging es um einen kleinen Ganoven, der mehr durch Zufall an eine ordentliche Summe gekommen war, als er in der Bahn einem schlafenden Gast die Brieftasche gezottelt hatte. Nach dem Film sagte Rainer, dass er vorgestern am ZOB auch Glück gehabt hatte. Neben dem Wartehäuschen will er einen Umschlag mit 600 Euro gefunden haben. Das Geld hat er mitgenommen und für sich behalten. Ich habe gesagt, dass er spinnt und ich ihm das nicht glaube. Da hat er mir das Geld gezeigt. Er hatte es in seinem Portemonnaie. Ich meinte, dass er darauf aber einen ausgeben müsste. Das wollte er auch und ging raus auf den Hausflur. Dort hat er eine kleine Abstellkammer. Er wollte von dort zwei Flaschen Bier holen.

Als Rainer draußen war, da kam mir plötzlich der Gedanke, dass ich ihm das Geld abnehmen könnte. Er würde es mir aber bestimmt nicht freiwillig geben. Darum habe ich entschieden, ihn umzubringen, um an das Geld zu kommen. Ich sah hinter seiner Wohnungstür einen dicken Knüppel liegen. Den nahm ich in die Hand und stellte mich damit so hinter die Tür, dass er mich beim Betreten seiner Wohnung nicht gleich sehen konnte. Dann kam er auch schon. Er hat gar nicht bemerkt, dass ich hinter der Tür stand. Ich schlug ihm mit voller Kraft den Knüppel auf den Kopf. Er stolperte und stürzte nach vorn auf den Boden. Sein Kopf war sofort voller Blut, aber Rainer zappelte noch und röchelte.

An einem Haken neben der Tür hing ein Ledergürtel. Den nahm ich, legte ihn um seinen Hals und zog die Schlaufe ganz kräftig zu. So lange, bis Rainer sich nicht mehr rührte und ich sicher war, dass er nicht mehr lebte. Dann zog ich sein Portemonnaie aus seiner Hose und nahm das Geld.

Ich machte das Licht aus, verließ seine Wohnung und ging rüber in meine Pension. Ich habe mich gewaschen und bin anschließend ins Bett gegangen. Heute wollte ich dann nach Hamburg und mir einen schönen Tag machen.“

Kai Gellert blickte intensiv auf den Tatverdächtigen. Erst nach einigen Augenblicken fragte er:

„Ist das wirklich so abgelaufen?“

„Ja, genauso war es. Ganz genauso“, bestätigte Sommer seine Angaben. Und zwar so, als habe er soeben von einem schönen Ausflug am Vortag berichtet. Keine Erschütterung. Kein Bedauern. Kein Mitleid. Keine Beschönigung.

„Haben Sie gestern Alkohol getrunken?“

„Nein, Rainer und ich haben beim Fernsehen Apfelschorle gehabt. Ich trinke so gut wie nie Alkohol. Zum Biertrinken sind wir ja nicht mehr gekommen.“

„Nehmen Sie Drogen oder haben Sie Tabletten eingenommen?“

„Nein. Ich nehme so etwas nicht.“

„Herr Sommer, ist Ihnen klar, was Ihre Aussage hier bedeutet? Wissen Sie das?“

„Das weiß ich genau. Es bedeutet, dass ich ein Mörder bin. Ein Raubmörder. Ja, das bin ich nun.“

„Kennen Sie die Folgen?“

„Ja, klar. Ich werde sicher als Raubmörder verurteilt und komme lebenslang ins Gefängnis.“

Nach zwei Stunden beendete Kai Gellert die Vernehmung. Zum Ablauf der Tat hatte er noch ganz konkrete Nachfragen gestellt. Die Antworten Sommers deckten sich mit den objektiven Feststellungen in der Wohnung von Rainer Sasse. Das war wichtig, um den Wahrheitsgehalt von Sommers Angaben zu belegen. So beschrieb Sommer ganz genau, wo er den Knüppel nach der Tat versteckt hatte und dass der Gürtel zugezogen am Hals von Rainer Sasse verblieben war.

Vorhalte zu Widersprüchen, oftmals ein Kernstück von Vernehmungen, musste Kai Gellert dem Mordverdächtigen nicht machen. Er klopfte aber nochmals mehrfach dessen Beweggründe für das Verbrechen an Rainer Sasse ab und bekam immer wieder die in sich schlüssige aber doch brutal offen und rücksichtslos klingende Antwort: „Ich habe Rainer ermordet, weil ich sein Geld haben wollte. Das hätte er mir doch freiwillig nicht gegeben. Deshalb habe ich ihn totgemacht.“

Die Schilderung des Lebenslaufes von Sommer erbrachten keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass irgendetwas den Mann aus der Bahn geworfen hätte. Aufgewachsen als Einzelkind in seinem Elternhaus in Lüneburg, Schulbesuch ohne Probleme mit einem guten Realschulabschluss, nach vorübergehendem Besuch eines Wirtschaftsgymnasiums Zeitsoldat bei der Bundeswehr, letzter Dienstgrad nach regelmäßigen Beförderungen Stabsunteroffizier im Rotenburger Versorgungsbataillon, nach verlängerter Dienstzeit Entlassung vor drei Monaten mit dem Ziel, eine Ausbildung zum Kaufmann für technische Büroausstattung bei einer Firma in Klosterhausen zu beginnen. Keine erwähnenswerten Krankheiten. Keine Suchtprobleme. Ledig. Kein Wohneigentum. Nach eigener Einschätzung finanziell sehr leichtsinnig und daher trotz angemessener Besoldung bei der Bundeswehr und entsprechender Abfindung bei der Bank immer Kreditnehmer. Zuletzt wegen der Finanzierung eines BMW-Cabrio, das nach einem selbstverschuldeten Verkehrsunfall nur noch Schrottwert hatte. Bisher weder polizeilich noch disziplinar bei der Bundeswehr in Erscheinung getreten.

*

„So einen hatte ich noch nie“, erklärte Christian Landau im

1. Kommissariat bei der Feierabendbesprechung. Zuvor waren noch einmal alle Einzelheiten des Falles diskutiert worden. Die Kriminaltechniker konnten den Tatablauf aufgrund der vorgefunden Spurenlage nachzeichnen und präsentierten neben dem Ledergürtel das zweite Tatwerkzeug, einen armlangen, dicken Holzknüppel mit Blutanhaftungen. Kommissarin Clarissa Scheunemann hatte ihn im Wohnzimmer unter dem Fernsehsessel gefunden. Martina Bell berichtete von der bereits erfolgten Obduktion und dem eindeutigen Ergebnis, dass Rainer Sasse durch Schlageinwirkung auf den Kopf mit einem Gegenstand, der sehr wahrscheinlich der Holzknüppel gewesen sein dürfte, einen Bruch des Schädeldachs erlitten habe und dadurch weitestgehend handlungs- und abwehrunfähig geworden sei. Danach sei er mit dem noch am Hals festgestellten Ledergürtel erdrosselt worden.

„Dann stimmt alles, was Sommer uns erzählt hat“, folgerte Kai Gellert, während er dabei seinen rechten Zeigefinger dozierend in die Höhe hob. Gellert war mächtig stolz, dass er die Vernehmung des Mordverdächtigen führen durfte. Landau hatte ihm nach Vernehmungsende unter vier Augen mitgeteilt, dass er seine Sache ganz ordentlich gemacht habe. Aus dem Mund Landaus, der seinen Mitarbeitern gegenüber eher mit Lob geizte, war diese Beurteilung schon eine Auszeichnung. Das seltene Loben hatte Landau von seinem ersten Chef übernommen. Allerdings war der noch sehr viel sparsamer damit gewesen, hatte dem jungen Landau gegenüber mehrfach erklärt, dass es Lob genug sei, wenn er nicht schimpfe. Und auch bei Gelegenheiten, die Landau damals selbst für sich als eine ausgezeichnete Leistung einstufte, hatte der Alte ihm lediglich gesagt, aus ihm, Landau, könne mal ein guter Kriminalbeamter werden. Nein, Lob war auch nicht das Ding von Christian Landau. Ihm lag es viel mehr, gemeinsam in seinem Team Entscheidungen zu treffen und sich bei positivem Ausgang auch gemeinsam darüber zu freuen. Im Gegenzug gab es von ihm bei einer negativen Leistung auch selten Kritik gegen ein einzelnes Teammitglied.

Der Kommissariatsleiter runzelte seine Stirn und strich sich mit der rechten Hand über seinen fülligen Bauch, was Kai Gellert irritierte. Offensichtlich war Landau nicht zufrieden mit dem Gesamtergebnis. Es war Lukas Grote, der zunächst schweigend nickte und dann resümierte. „Aber nur weil uns das Verhalten und die Aussage von Ben Sommer ungewöhnlich vorkommt, muss sie doch nicht falsch sein. Dann ist es eben so. Er bekommt sein Lebenslang für den astreinen Raubmord - und Punkt.“

„Ich habe vorhin noch kurz Staatsanwalt Dr. Jahn informiert. Der war so überrascht wie wir“, entgegnete Landau. „Dr. Jahn will beantragen, dass Ben Sommer psychiatrisch untersucht wird.“

„Warum das denn? Sommer hat doch keine Meise. Der ist voll schuldfähig“, warf Kai Gellert ein.

„Der Begutachtung spricht nichts entgegen“, befand Lukas Grote. „Vielleicht ist da was mit dem Kerl, was er selbst nicht weiß. Immerhin geht’s hier um ein Lebenslänglich. Da sollte man eigentlich bei jedem Mordverdächtigen mal nachgucken.“

„Das ist ja mittlerweile auch so“, erklärte Landau. „Wäre nicht gut, wenn die Frage der Schuldfähigkeit erst beim Prozess im Landgericht aufgeworfen wird.“

„Und was kommt bei der Untersuchung dann raus?“, ereiferte sich Kai emotionsvoll und sein Gesicht errötete, „da ist er mal als Kind gegen eine Tür gelaufen und kann daher zwanzig Jahre später für sein Verbrechen nicht mehr voll zur Verantwortung gezogen werden.“

Martina Bell hatte der Diskussion bisher nur zugehört. Sie schüttelte den Kopf und ihr halblanges, dunkles Haar flog hin und her. Sie schaltete sich nun ein. „So ein Gutachter schaut in Bereiche des Menschen, die uns verborgen bleiben. Der hat das studiert und über lange Jahre seine Kenntnisse erworben und Erfahrungen gemacht. Das läuft nicht so, wie du das eben gesagt hast, Kai. Außerdem betrachtet der Gutachter auch die Frage, ob und wie von dem Täter weiterhin eine Gefahr ausgeht. Und das ist bestimmt keine leichte Arbeit.“

„Naja, kommt drauf an“, bemerkte Claudia Kaufmann und dachte bei diesen Worten an einen lange zurückliegenden Fall. „Wenn der Gutachter die Fakten nicht sieht oder nicht sehen will, dann kann das übel ausgehen. Ich denke da an unseren Jan Martensen, der damals hier in Klosterhausen auf dem Jahrmarkt seine Freundin umgebracht und angezündet hat.“

Christian Landau wusste genau, welchen Fall Claudia Kaufmann meinte. Sie war damals schon dabei im 1. K. Wenn Landau an die Geschichte des Feuerteufels aus Evenfleth dachte, dann kam in ihm immer noch die blanke Wut hoch. Der damalige Gutachter hatte dem geständigen Jan Martensen im Prozess bescheinigt, dass er während der Tatausführung in einer einmaligen nicht vorhersehbaren extremen Konfliktsituation und daher zum Tatzeitpunkt schuldunfähig gewesen sei. Landau selbst hatte als Sachbearbeiter des Mordfalles im Gerichtssaal darauf hingewiesen, dass die angebliche Konfliktsituation vom Täter nur vorgeschoben worden und dass er eine Bombe in Menschengestalt sei. Jan Martensen war freigesprochen worden. Schuldunfähig. In der Zukunft nicht gefährlich.

Wenige Monate später hatte Jan Martensen in Bremen ein Mädchen umgebracht und angezündet…

„Die Zeit ist heute eine andere“, ging Landau auf die Bemerkung von Claudia Kaufmann ein. „Der Gutachter von damals ist nicht mehr da, und bei Dr. Feininger, dem Chefarzt unserer Psychiatrie hier in Klosterhausen, da bin ich mir sicher, dass bei Sommer nichts im Verborgenen bleibt.“ Landau blieb nun einige Augenblicke stumm, sah in die Runde und wiederholte: „Aber so einen wie Ben Sommer hatte ich noch nie.“

2.

Das Morddezernat in einer Großstadt besteht aus mehreren Mordkommissionen, die abwechselnd Bereitschaftsdienst versehen. Das 1. Kommissariat in Klosterhausen kennt eine solche Diensteinteilung nicht. Für sogenannte Mordbereitschaften ist die Kriminalpolizei hier personell nicht in der Lage. Das 1. Kommissariat übernimmt die Mordfälle, die sich im Zuständigkeitsbereich ereignen. In diesem Bereich leben mehrere hunderttausend Menschen – da kommt es schon dann und wann zu Aufsehen erregenden Fällen wie den Mord an Rainer Sasse. Vom Arbeitsaufwand her eher ein kleiner Fall, der vom 1. Kommissariat ohne personelle Unterstützung aus anderen Dienststellen bearbeitet wird. Christian Landau beobachtete während seiner langen Dienstzeit ein sich häufig wiederholendes Phänomen. Angelehnt an das Sprichwort „Ein Unglück kommt selten allein“, musste das 1. Kommissariat immer mal wieder zwei oder gar drei Tötungsdelikte übernehmen, die zeitlich und auch örtlich ganz nah beieinander lagen, ansonsten aber sich ganz unabhängig voneinander ereignet hatten. Landau hatte zwar nicht damit gerechnet, aber es verwunderte ihn auch nicht sehr, als er noch am Abend nach der Festnahme von Ben Sommer einen weiteren Fall übernehmen musste.

Sommer war noch am späten Nachmittag dem Haftrichter beim Amtsgericht Klosterhausen vorgeführt worden. Er hatte auch in Gegenwart seines hinzugezogenen Pflichtverteidigers, Rechtsanwalt Dr. Theobald Marxen aus Klosterhausen, seine Aussage wiederholt, und Amtsrichter Bolten hatte gar keine andere Wahl, als dem Antrag von Staatsanwalt Dr. Jahn auf Erlass eines Haftbefehls wegen Raubmordes zu entsprechen. Sommer war im Anschluss sofort in die kleine Justizvollzugsanstalt gebracht worden, wo er sehr wahrscheinlich bis Beginn seines Strafprozesses verbleiben würde.

Ein sogenanntes Mordbier, vor vielen Jahren im 1. K nach erfolgreicher Verbrecherjagd fast ein rituelles Ereignis mit wesentlich mehr als einem Bier pro Nase, hatte es glücklicherweise auch nach dem Termin am Amtsgericht nicht mehr gegeben. Im 1. Kommissariat war man zu der Ansicht gelangt, dass die Aufklärung eines Verbrechens, bei der ein Mensch zu Tode gekommen war, nicht der Anlass zum Genuss alkoholischer Getränke sei.

Um dennoch irgendwie mit dem Fall zum Abschluss zu kommen, hatte man sich auf ein zu einem späteren Zeitpunkt zu genießendes ‚Mordfrühstück‘, bei dem auch alle die die Mordkommission unterstützenden Kollegen und auch der zuständige Staatsanwalt eingeladen wurden, geeinigt.

Doch manchmal überschlugen sich die Ereignisse, wie auch an diesem Abend. Christian Landau war gegen Mitternacht zu Hause angekommen und erzählte seiner Frau Kerstin gerade, dass ihn die anstrengende Arbeit mehr und mehr zusetze. „Früher habe ich die Nacht durcharbeiten können und den Tag darauf auch noch. Das machte mir nichts aus. Und heute bin ich schon nach einem langen Tag richtig kaputt. Die Arbeit mache ich nach wie vor immer noch sehr gerne, aber ich merke sie schon deutlich.“

Kerstin Landau blickte fast mitleidvoll als sie sagte: „Du machst das ja auch schon einige Jahrzehnte, aber bald ist ja Schluss mit der Quälerei und du gehst in Pension.“

Weiter war das Gespräch nicht gediehen. Landau konnte seine Gedanken an die Zeit nach seiner Pensionierung nicht mehr formulieren, weil sein Handy ihn mit der Melodie des Stones-Titels „Paint it black“ alarmierte. Um diese Uhrzeit konnte es nur die Regionalleitstelle sein, wusste Landau. Und richtig, Mirco Röschendorf, der Chef der Leitstelle war es, der eine Mitteilung machte, die Landau zunächst einmal zusammensinken ließ, weil ihm schlagartig bewusst wurde, dass an Schlaf in dieser Nacht nicht mehr zu denken war. Ein neuer Fall in Klosterhausen! Wenige Minuten zuvor hatte ein Mann namens Timo Wöllner über Notruf gemeldet, dass er seine Ehefrau tot im Keller seines Hauses aufgefunden habe. Die unverzüglich eingesetzten Beamten der Nachtstreife ‚Kloster 1/1‘ hatten die Angaben des Anrufers in dessen Haus in der Mönchstwiete 12 bestätigt gefunden und Streifenführer Jochen Sand hatte mitgeteilt, dass die Frau offensichtlich erschossen worden war.

Den Gedanken an die bevorstehende schlaflose Nacht beschäftigten Landau nicht mehr lange. Für solche Situationen hatte er seit Jahren immer eine Dose Schoka-Kola dabei. Diese spezielle Schokolade nahm er wirklich nur in Ausnahmefällen, wenn die Müdigkeit auch durch den stärksten Kaffee nicht verdrängt werden konnte. Aber soweit war es jetzt nicht. Die Meldung puschte zunächst die Müdigkeit weg und Landau dachte jetzt nur daran, wie er den Fall nun mitten in der Nacht angehen könnte. Bei dieser Überlegung kam ihm seine über die vielen Jahre erprobte Einsatzerfahrung zugute. Er telefonierte nämlich zuerst mit dem Beamten Jochen Sand, der mit seinem Streifenkollegen Erich Ruhländer vor Ort war.

„Moin Jochen, Einsatzleiter Röschendorf hat mir zwar schon grob berichtet, aber sag‘ mir doch noch mal kurz, wie es dort aussieht“, bat er Streifenführer Sand, nachdem er ihn gefragt hatte, ob er ungestört reden könne. Der erfahrene Polizeioberkommissar gab kurz und konzentriert einen Bericht mit den wesentlichen Fakten.

„Bei dem Haus Mönchstwiete 12 handelt es sich um ein altes Haus, in dem der Anrufer Timo Wöllner allein mit seiner Frau Ellen lebt, äh, lebte. Wir haben Herrn Wöllner hier angetroffen. Sonst ist keine weitere Person anwesend. Herr Wöllner sagt, er sei heute Abend unterwegs gewesen und erst um halb zwölf nach Hause gekommen. Ellen, seine Ehefrau, sei weder im Wohn- noch in ihrem Schlafzimmer gewesen. Also habe er sie im Haus gesucht und im Keller tot aufgefunden. Er vermutet einen Raubüberfall. Denn seine sehr wertvolle Goldmünzsammlung ist nicht mehr im Sicherheitsfach des Wohnzimmerschranks.“

„Was macht Herr Wöllner für einen Eindruck?“, wollte Landau noch wissen. Jochen Sand senkte seine Stimme und fuhr leise fort: „Der ist sehr ruhig, auffällig gefasst, wenn du mich fragst. Alkohol spielt hier keine Rolle. Aber irgendwie verhält der sich merkwürdig, der Typ.“

„Wie meinst du das?“

„Naja, beide Ehepartner sind vierzig Jahre alt, kinderlos und über zehn Jahre verheiratet. Wenn da die Frau ermordet wird, dann reagiert der Mann doch irgendwie emotional. Aber nichts, der Wöllner erzählt ganz nüchtern und trocken. Keine Trauer, keine Aufregung.“

Landau nahm diesen Hinweis zwar auf, wusste jedoch, dass das von Sand geschilderte Verhalten des Ehemannes nicht unbedingt etwas zu bedeuten hatte. Für Angehörige von Mordopfern gibt es kein typisches Verhaltensmuster.