Dreizehn Leichen - Dieter Preuße - E-Book

Dreizehn Leichen E-Book

Dieter Preuße

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Beschreibung

Die Pension lag im Dämmerlicht. Frau Anders war mit dem letzten Bus nach Halberstadt zu ihrem Bruder gefahren. Die Rollläden hatte sie herabgelassen, heizte sich doch das Haus in der Nachmittagssonne immer so stark auf. Ein leises Geräusch, ähnlich wie es eine Dose beim Öffnen dieser modernen Verschlüsse von sich gibt, durchbrach die Stille. Er hatte mit aller Vorsicht das Sicherheitsschloss der Terrassentür geöffnet. Bekleidet mit einem schwarzen, dünnen Einweganzug betrat er das große Zimmer. Sein Blick hatte nichts übrig für die vielen kleinen Porzellanfiguren auf dem Sideboard, auch nicht für all die anderen Gegenstände im Raum. Gezielt strebte er zur Rezeption und durchsuchte die Unterlagen in den Regalen an der Wand. Seine Taschenlampe blitzte bisweilen kurz auf. Zimmer 04, Schmidt, Sabine, wohnhaft in Bernburg, Kessler Straße 7. Er hatte gefunden, wonach er suchte. Über einen kurzen Flur erreichte er das gesuchte Zimmer und öffnete es mit dem Zweitschlüssel, den er in einer der Schubladen am Tresen gefunden hatte. Die wenigen Dinge, die Sabine noch in den Schränken aufbewahrte, verschwanden schnell in einer Plastiktüte. Viel mehr Zeit brauchte er für die Beseitigung aller hinterbliebenen Fingerabdrücke und sonstigen DAN-Spuren der jungen Frau. "Nichts in diesem Haus darf auf sie hinweisen", hatte sein Meister ihm gesagt. Kurz vor dreiundzwanzig Uhr verließ er das Haus, so wie er es betreten hatte. Selbst die Tür zum Garten verschloss er, um keine Spuren für einen Einbruch zu hinterlassen. In diesem Haus gab es keinerlei Spuren von Sabine mehr. Er hatte wie immer gewissenhaft gearbeitet. Das noch ausstehende Problem mit der alten Dame würde er als Nächstes angehen. Sein Meister wird sehr zufrieden mit ihm sein. Den Overall entledigte er sich erst ein paar Kilometer weiter. Dort verstreute er auch die Asche der verbrannten Sachen aus dem Zimmer.

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Seitenzahl: 308

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sie trafen sich jeden dritten Freitag im Monat und das schon seit vielen Jahren, immer zur gleichen Zeit am selben Ort. Ihr gemeinsames Hobby brachte sie hier zusammen, waren sie doch alle besessen, auf der Suche nach geheimnisvollen Plänen, Gebäuden oder Orten. Oft dauerten ihre Treffen bis in die frühen Morgenstunden um ihre Erfahrungen auszutauschen und sich gemeinsam neue Luftaufnahmen anzuschauen. Jeder konnte seine aktuellsten Projekte präsentieren und oft musste der eine oder andere zurückstecken, weil die Zeit knapp wurde. Eine kleine Gruppe unterschiedlichster Charaktere. Sabine, eine Studentin der Archäologie im vierten Semester, stand vorn an der Leinwand, auf der ein Video von einer Ausgrabungsstätte lief. Im Raum herrschte absolute Stille. Keiner unterbrach ihren Vortrag und niemand wagte eine Zwischenfrage zu stellen, so spannend waren ihre Ausführungen. Auf der Leinwand sah man deutlich die alten Kellerräume. Überall lagen verrottete Knochen, menschliche Knochen aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Ihr Vater, einer der bekanntesten Archäologen des Landes, hatte die Aufnahmen mit seiner acht Millimeter Kamera in den Ardennen unweit des Ortes Gouvy gemacht. Ein Bauer hatte damals bei Arbeiten auf seinem Feld einen Schädel gefunden und die darauffolgenden Probegrabungen, brachten dann die Fundamente einer alten Klosteranlage ans Tageslicht. Später vergaben die belgischen Behörden die Leitung der Ausgrabungen an ihren Vater. Der weitaus interessantere Vortrag an diesem Abend galt alten, leerstehenden Anwesen aus der Hitlerzeit. Meist Häuser, Villen und Jagdhütten verstorbener Nazigrößen. Hannes, der Freund von Sabine, recherchierte schon seit Monaten mit Erfolg an diesem Thema. Einige der Objekte standen schon jahrzehntelang leer und waren dem Verfall preisgegeben. Auf Nachfrage bei den Behörden hieß es immer wieder „Besitzverhältnisse ungeklärt“. Oft verschwanden die jüdischen Eigentümer während der Naziherrschaft in den Konzentrationslagern. Ihre Häuser wurden von einflussreiche Nazigrößen konfisziert. Als Deutschland von der Schreckensherrschaft befreit wurde, flüchteten viele der „Hausbesitzer“ nach Südamerika. Um die hinterlassenen Immobilien kümmerte sich nach dem Krieg niemand. Neben Sabine und Hannes gehörten noch vier weitere Personen zu der Gruppe. Alles Leute, die besessen von ihrem Hobby waren. Die meiste Freizeit verbrachten sie im Internet oder wälzten in den Büchereien alte Schriften und Pläne. Immer auf der Suche nach „Lost Places“, wie sie es nannten. Herbert Grunert, ein Kriminalhauptkommissar a.D., war mit seinen zweiundsiebzig Jahren der Älteste unter ihnen. Ihn faszinierte daran das Ungewisse, das Geheimnisvolle, die Geschichten um solche Objekte. Ähnlich wie damals, als er sich für einen Beruf entscheiden musste. Mit der Wahl, die er damals getroffen hatte, hatte seine Mutter lange Zeit zu kämpfen. Einzig sein Vater gab ihm das Gefühl, das Richtige zu tun. Dann gab es da noch das Ehepaar aus Berlin, das aber nur sporadisch zu den Treffen erschienen. Beide noch berufstätig, fanden sie nicht immer die Zeit dafür, nach Bernburg zu kommen. Ganz anders, Christiane, die Witwe aus der Nähe von Leipzig. Ihre Arbeit als freie Architektin ermöglichte ihr ein sorgenfreies Leben. Schon früh hatte sie Ihren Mann bei einem Motorradunfall verloren und war bis heute keine neue Beziehung eingegangen. Ihre ganze Freizeit widmete sie ihrem abenteuerlichen Hobby. Sie mochte die lebhafte Geselligkeit der kleinen Gemeinschaft. Im Laufe der Zeit entwickelten sich sogar lockere Freundschaften. Nachdem sich die Truppe kurz nach Mitternacht verabschiedet hatte, fuhren Sabine und Hannes mit dem Auto in die Kessler Straße, wo sich ihre Wohnung befand. Sie teilten sich die zweieinhalb Zimmer, genau wie die Miete und alles andere im Haushalt. Es war nicht die feste Bindung, wie sie oft nur die Liebe hervorbringt, sondern mehr das Nützliche einer lockeren Partnerschaft. Nach einer kurzen Phase des Schweigens unterbrach Sabine die Stille. „Was denkst du, planen wir, dem Tipp von der Christiane nachzugehen?“ „Eher nicht, ich kann mir nicht vorstellen, dass dort noch kein Mensch gesucht haben soll“, antwortete Hannes. „Heute, wo du mit einer Drohne mehrere Quadratkilometer in wenigen Minuten absuchen kannst, soll da noch niemand fündig geworden sein?“ Zumindest ist mir bis jetzt nichts zu Ohren gekommen. Ich bin todmüde, lass uns morgen noch mal darüber reden“. Später, nachdem Hannes erste Geräusche eines Tiefschlafes von sich gegeben hatte, nahm Sabine sich fest vor, es an diesem Ort zu versuchen. Sollte ihr Freund nicht mitgehen, wollte sie es eben allein versuchen. Sie kuschelte sich in ihr Bett und schlief kurze Zeit später ein.

In einem der Zimmer des Hotels in Bernburg brannte noch Licht. Christiane saß auf ihrem Bett und starrte immer wieder auf die Luftaufnahmen in ihrem Laptop. Eine imposante Anlage, die mitten im Wald am Rande des Harzes stand. Von solchen Objekten gab es in Deutschland noch einige. Mitte der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts war die Grundsteinlegung, und ab zweiundvierzig erfolgte die Erstbenutzung. Eine Ausbildungsstätte für die Erziehung und Formung junger Nazikader. Ihre Recherchen über diesen Ort hatten nicht viel gebracht. Behaftet mit dem Makel des menschenfeindlichen Naziregimes, hielten sich viele ihrer Hobbyfreunde fern davon. Unzählige Male war die „Nazischmiede“, wie sie es nannte, untersucht worden. Damals, gleich nach der Befreiung von den Amerikanern, dann von den Russen und später von der Stasi. Selbst der Einsatz eines Bodenradars nach der Wende brachte keine Ergebnisse. Auch die von der NASA zur Verfügung gestellten Aufnahmen aus dem Weltall zeigten keinerlei Auffälligkeiten. Also geriet das abgelegene Gelände in Vergessenheit, und die Natur eroberte sich im Laufe der Jahre große Teile davon zurück. Der Vandalismus von jugendlichen Draufgängern gab der Anlage einen neuen Anstrich. Aber ihr ausgeprägter Instinkt, der Christiane seit dem Tod ihres Mannes begleitete, sagte ihr etwas anderes. Beim Blick auf die Bilder der Anlage liefen ihr immer wieder kalte Schauer über den Rücken. Während des Studiums der Architektur hatte der alte Professor Braun damals versucht, ihre Sinne für das Erkennen besonderer Merkmale in der Struktur eines Grundrisses zu schärfen. Unzählige Luftaufnahmen, alte Baupläne, ja selbst Radarbilder, hatten sie gemeinsam ausgewertet. Bei der Abschlussfeier vor fünfzehn Jahren bestätigte er Christiane dann ihre ausgeprägten, besonderen Fähigkeiten. Damals belächelte sie ihren Mentor über seine Aussagen. Seit dem Unfall, bei dem ihr Mann ums Leben kam, hatte sich ihre Wahrnehmung jedoch stark verändert. Die erste Sitzung zur Trauerbewältigung, zu der ihr eine alte Freundin geraten hatte, führte sie zu dem erfahrenen Psychologen Prof. Harsch. Er brauchte nicht lange, um die besondere Gabe der jungen Frau zu erkennen. Sie sah Dinge, die andere Menschen nicht imstande waren, zu sehen. Sie hatte Einblicke in eine andere Dimension. Es dauerte ein halbes Jahr, bis Christiane so weit gestärkt war, um ihr neues Leben anzugehen. Damals schwor sie sich, keine neue Beziehung einzugehen und ihr Leben so zu gestalten, wie es ihr guttat. Sie wollte nie wieder in diesen Schlund der Hoffnungslosigkeit fallen. Für all ihre architektonischen Projekte, die sie in den vielen Jahren verwirklichte, bekam sie Auszeichnungen und Preise. In ihrer kleinen Stube hing eine ganze Wand voller Würdigungen ihrer außergewöhnlichen Arbeiten. Eingerahmt in immer die gleichen Bilderrahmen. Sie liebte diese schnörkellose Schlichtheit. Und nun saß sie hier auf ihrem Hotelbett und schaute auf dieses mysteriöse Projekt. Solche großen Anlagen allein zu erforschen, birgt ein gewisses Risiko. Sie wusste von Gleichgesinnten, die schwere Verletzungen erlitten, ja sogar zu Tode gekommen waren. Dass sie den beiden davon erzählt hatte, bereute sie jetzt schon zutiefst. Eigentlich war es nicht ihre Art, sich anderen gegenüber so schnell zu öffnen, aber zu Sabine bestand von Anfang an eine innere Verbundenheit. Nun war es passiert und vielleicht war ja der Tipp, den sie ihnen gegeben hatte, nicht allzu interessant. Sie hoffte, dass die beiden es sich noch einmal überlegen würden. Als sie endlich einschlief, schickte die Sonne bereits ihre ersten Strahlen durch das große Fenster in ihrem Hotelzimmer.

Vierzig Kilometer weiter stand Herbert ein Stück neben seinem Wagen und wartete auf den Abschleppdienst. Nachdem er die Zusammenkunft verlassen hatte, stieg er in sein Auto und fuhr rüber nach Quedlinburg. Am Abend davor hatte er in der Altstadt ein Zimmer reserviert und freute sich schon auf sein Bett. Kurz hinter Ballenstedt passierte es dann. Aus einem kleinen Waldstück auf der rechten Seite der Straße wechselte eine Rotte Wildschweine über die Fahrbahn. Herbert versuchte zu bremsen, konnte den Aufprall aber nicht mehr verhindern. Die vordere Schürze seines alten BMWs lag zertrümmert auf der anderen Straßenseite. Von dem Keiler, der plötzlich vor ihm auf der Straße stand, fehlte jede Spur. Er hatte ans Weiterfahren gedacht, es dann aber verworfen. Den Schluck Wein, den er getrunken hatte, würde niemand mehr nachweisen können. Solange er Auto fuhr, hatte er nie einen Wildunfall gehabt. Gelegentlich ein paar Schrammen, aber nichts, was seine kleine Werkstatt in Halle nicht wieder hinbekam. Damals, während seiner Dienstzeit in Halle, gab es öfter Situationen, in denen er in Sekunden entscheiden musste, einen Unfall zu riskieren, um Straftäter zu stoppen. Das hatten sie schon auf der Polizeischule gelehrt bekommen. Geduldig verharrte er an der Unfallstelle. Niemand wartete auf ihn. Seine Frau hatte ihn vor zwanzig Jahren verlassen und die Tochter mitgenommen. Sie konnte nicht mit der Angst um ihren Ehemann umgehen und so kam es damals zu der Trennung. Oben an der Ostsee hatte sie ein neues Zuhause gefunden und war auch wieder verheiratet. Silvia, seine Tochter, machte später ihre Ausbildung als Polizistin in Rostock. Heute war sie die Leiterin der Mordkommission in Wismar. Ein sich näherndes Blaulicht holte ihn aus seinen

Gedanken. Nachdem der Polizeiwachtmeister seinen alten Dienstausweis gesehen hatte, waren die Formalitäten schnell erledigt, und ein Abschleppwagen war bereits dabei, seinen treuen Weggefährten aufzuladen. In einem kurzen Anruf erklärte er dem Hotelier seine Situation und stornierte das vorbestellte Zimmer. Die zwei Beamten nahm Herbert mit nach Quedlinburg. Am Bahnhof suchte er nach einer Verbindung nach Halle und hatte Glück. Zehn Minuten später saß er im Zug und war auf dem Heimweg.

Bereits einen Tag später bekam Sabine eine E-Mail. Es war die Antwort auf Ihre Frage nach eventuell noch existierenden Bauplänen für die Gebäude auf dem Gelände oben im Harz. Noch am Abend, nach dem Treffen der Gruppe, war sie im Internet fündig geworden. Ein Link hatte sie auf die Seite einer Gruppe gebracht, die sich mit Baudenkmälern der ehemaligen DDR beschäftigten. In einem weiteren Link bekam sie einen Einblick auf Grundrisse und Baudaten ihres Objekts. Von ihrem Drucker ließ sie die Pläne ausdrucken. Die Qualität der Fotos ließ zu wünschen übrig; es hätte irgendein Bauwerk sein können. Ein wenig enttäuscht, bat sie ihre Freundin Christiane per E-Mail, Bildmaterial des vorgeschlagenen Geländes zu schicken, um es mit den ihr vorliegenden Bauplänen abzugleichen. Auf eine Antwort brauchte sie nicht lange zu warten. Christianes Hinweis, vorsichtig vorzugehen, überlas sie einfach. Hannes hatte ihr gleich am nächsten Morgen seine Ablehnung für dieses Objekt mitgeteilt. Sie hatte es akzeptiert und wollte nun die Sache selbst in die Hände nehmen. Nachdem sie die Baupläne gründlich mit den Luftaufnahmen verglichen hatte, kam sie zu der Erkenntnis, dass ihr hier tatsächlich die Baupläne von dem empfohlenen Geheimtipp vorlagen. Sie bedankte sich herzlich bei der Witwe, ohne ihr mitzuteilen, was sie vorhatte. Für die Vorbereitungen benötigte sie nur wenige Stunden. Eigentlich hatte sie ihren Rucksack immer gepackt im Keller stehen. Laut Wetterbericht sollte es zwar bewölkt sein, aber trocken bleiben. Sie mietet sich in einer privaten Pension, keine vier Kilometer von der Anlage, ein. Noch am selben Tag erkundete sie die Umgebung des Gebäudekomplexes. Ein stabiler Zaun aus Streckmetall umgab das ganze Grundstück. Die Zaunpfähle standen innen und wurden vom Draht verdeckt, sodass es fast unmöglich war, ihn zu überklettern. Auf den kurzen Auslegern zogen sich drei Reihen Stacheldraht entlang. Das Ganze hatte eine Höhe von gut drei Metern, ein Überwinden damit ohnehin aussichtslos. Nicht alle Gebäude hatten Schaden genommen. Zentral standen noch einige guterhaltene Häuser aus massivem Mauerwerk. Klar erkennbar der neoklassizistische Baustil, geradlinig und schlicht. Sie zählte oberhalb des Erdreichs zwei Stockwerke und den Dachboden. Was sie unterhalb des Kellergeschosses eventuell erwartete, konnte sie nur vermuten. Erstaunlich waren die noch intakten, großen Fenster. Die Zeichnung, die in ihrer großen Umhängetasche steckte, gab leider keinerlei Aufschluss über die Anzahl der Etagen. Hier war nur der Grundriss abgebildet. Bevor die Sonne die Baumgipfel erreichte, machte sie noch ein paar Aufnahmen mit ihrer Kamera. Oben im Wald wurde es zeitiger dunkel als unten im Dorf, welches etwa vier Kilometer entfernt, in einer Senke lag. Sie lief den eingefahrenen Forstweg hinunter, vorbei an einem alten Bauernhof und kam schließlich zu dem kleinen Badesee. Hier stand auch die urige Kneipe, welche ihr Frau Anders empfohlen hatte. Sie kehrte ein, um ihren Durst zu stillen und ihren unüberhörbaren Hunger zu lindern. Es war die einzige Möglichkeit, abends im Dorf auszugehen. In der Rauch geschwängerten Luft verfing sich das gelbliche Licht der spärlichen Deckenbeleuchtung. Sie wählte einen kleinen Tisch an einem der Fenster mit Blick hinaus in den Wald. Durch das angekippte Fenster drang der Gesang der Nachtigall zu ihr herein. Die Karte auf ihrem Tisch war recht übersichtlich. Sie nahm die große Currywurst mit Pommes und dazu ein großes Radler. Der Wirt, ein älterer weißhaariger Mann um die siebzig, sprach sie gleich mit „Du“ an. So machte man das hier auf den Dörfern. „Machst du Urlaub hier oder bist du auf der Durchreise?“. Seine Frage klang mehr nach Neugier als nach Interesse. „Ich spanne ein paar Tage von meinem stressigen Studium aus“, antwortete Sabine höflich. Er brauchte ja nicht zu wissen, was sie hier in die Einsamkeit führte. Ihre Erfahrungen bei der Auslebung ihres Hobbys hatten ihr beizeiten gezeigt, dass weniger oft mehr ist. Ihr Vater sprach immer von freundlicher Zurückhaltung, und sie war bis heute gut damit gefahren. Sie hatte nur noch ihn. Auch wenn er viel unterwegs war, hatte sie doch immer Verbindung gehalten. Ihre Mutter war der ewigen Reisen ihres Vaters leid und folgte schon vor vielen Jahren einem jungen Afrikaner in seine Heimat. Ein langes Leben war ihr nicht beschieden, sie starb an den Folgen eines Schlangenbisses. Sie konnte nicht lange um ihre Mutter trauern, gab sie ihr doch die Schuld an der Trennung von ihrem Vater. Die Vorschusslorbeeren, die ihre Vermieterin auf das Essen gegeben hatte, waren stark untertrieben. Selbst die Currywurst in Köln und Berlin hatte nicht so gut geschmeckt, wie die Wurst, die vor ihr auf dem Teller lag. Die gut gewürzten, knusprigen Pommes rundeten dieses einfache Essen perfekt ab. Langsam hatten sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnt und sie nahm ihre Umgebung unter die Lupe. Ihr genau gegenübersaß ein Mann um die fünfzig mit schneeweißem Haar. Nie hätte man ihn hier in dieser Kneipe vermutet. Sein Äußeres strahlte eine gewisse Eleganz aus und die Kleidung, die er trug, kaufte man auch nicht von der Stange. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Kaffeetasse, aus der er gelegentlich einen Schluck nahm. Ihre Blicke trafen sich und zauberten ein Lächeln auf sein Gesicht. Seine magischen Augen ließen Sabine immer wieder zu ihm hinüberschauen. Sie ging zur Toilette, um einen Blick in den Spiegel zu werfen. Als sie zurückkam, war der Tisch leer, an dem der Fremde gesessen hatte. Ihr fiel ein, dass sie ja ihren Freund noch anrufen wollte und verlangte nach der Rechnung. „Das Essen hat mir lange nicht so gut geschmeckt wie bei ihnen“, umschmeichelte sie den Wirt und gab ihm reichlich Trinkgeld. „Da ich noch ein paar Tage bleibe, werden wir uns bestimmt noch einmal sehen“. Der Wirt bedankte sich und wünschte ihr einen schönen Abend. Sie bummelte die Dorfstraße hinunter zu ihrer Unterkunft. Die Luft hier unten roch nach frischer Erde und zugleich nach Heu. Das Wetter hatte gehalten, was es versprochen hatte. Sie schloss leise die Haustür auf und suchte ihr Zimmer auf. Mehrmals versuchte sie, ihren Freund zu erreichen, vergeblich. Bestimmt hing er wieder mit seinen Freunden ab. Sie schaltete den Fernseher ein und legte sich auf ihr weiches Bett. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu dem schönen Mann mit den weißen Haaren. Etwas Geheimnisvolles ging von ihm aus. Sie verglich ihn mit ihrem Freund. Unterschiedlicher konnten Männer gar nicht sein, dachte sie. Hier Hannes in seiner doch noch recht ausgeprägten Kindlichkeit und auf der anderen Seite diese elegante männliche Erscheinung, die so viel Ruhe und Erfahrung ausstrahlte. Hannes war ihre erste große Liebe. Aber bis jetzt auch die Einzige. Sie hatte zu ihm aufgeschaut, weil er meist im Mittelpunkt gestanden hat mit seiner witzigen und vorlauten Art. Alle Mädchen ihres Semesters waren hinter ihm her, aber er hatte sich für sie entschieden. An diesem Abend hier in der Einsamkeit, an dem sie ihn gern über ihre Nachforschungen informiert hätte, kamen ihr erstmals Zweifel an seiner Liebe. Sie entschied sich, die Sache hinter sich zu bringen und nach ihrer Rückkehr ein ernstes Wort mit ihm zu reden.

Eine Woche später, an einem Samstagvormittag, besprach Herbert mit seinem Versicherungsvertreter das weitere Vorgehen nach seinem Unfall. Leider hatte er keinen früheren Termin bekommen und sich die ganze Woche mit der Straßenbahn fortbewegt. Sein treuer Gefährte, so nannte er seinen zwanzig Jahre alten BMW liebevoll, musste nach Meinung des Vertreters verschrottet werden. Eine Reparatur würde die Kosten des Zeitwertes bei Weitem überschreiten. Er überlegte schon seit Längerem, sich noch einmal einen Neuwagen oder Jahreswagen anzuschaffen. Ein letztes Fahrzeug mit allen Bequemlichkeiten, die sich ältere Männer so sehr wünschen. Zweitausend Euro versprach die Versicherung für den Haufen Schrott, und Herbert willigte ein. In der Steinstraße nahm er ein Mittagessen zu sich und fuhr danach raus ins Gewerbegebiet zu einem BMW-Händler. Einer der jungen Verkäufer begleitete ihn hinaus zu den abgestellten Fahrzeugen. Auf dem Weg zu den Limousinen winkte Herbert bereits ab und zeigte rüber zu den SUVs. Da der Kunde auch hier König war, folgte der Verkäufer Herbert rüber zu den Geländewagen. Am Ende entschied er sich für einen X5 als Jahreswagen, mit allem ausgestattet, was das Fahren für einen älteren Herrn so angenehm macht. Der Wagen sollte für den Donnerstag nächster Woche bereitstehen. Wenig später verließ Herbert das Autohaus und fuhr mit der Straßenbahn zurück ins Zentrum. Zwei Tage später am Nachmittag klingelte sein Handy und die aufgezeigte Nummer verriet ihm, dass es seine Freundin Christiane war. „Na schöne Frau, was hast du auf dem Herzen?“ Sie duzten sich seit dem ersten Treffen der Gruppe. Seine Annäherungsversuche stießen damals jedoch ins Leere. Dennoch hatten sie versprochen, füreinander da zu sein. „Können wir uns treffen?“, fragte sie. Herbert bemerkte ein leichtes Zittern in ihrer Stimme. „Ich könnte in dreißig Minuten in Halle sein; es gibt, was zu besprechen“, fuhr sie fort. „Mach es nicht so spannend, worum geht es denn?“, fragte er. „Nicht am Telefon, sag einfach wo“. „Kennst du das Kaffee am Hallmarkt?“, fragte er Christiane. Ich erwarte dich dort in einer Stunde, bis dann“. Sie hatte aufgelegt und Herbert lenkte seine Schritte in Richtung Hallmarkt.

Freitag früh checkte Sabine nochmals ihre Ausrüstung. Es war alles vorhanden. Fotoausrüstung, Taschenlampe, Ersatz-Akku, Bauplan und die Akku Flex. In ihrem Outdoor-Rucksack fand man auch ein Erste-Hilfe-Set, verschiedene Stricke und Schnüre und ein paar Powerriegel nebst einer großen Wasserflasche, ein Messer und diverses Kleinwerkzeug. Das ganze Paket hatte ein ordentliches Gewicht, das sie aber nicht störte, war sie es doch von Kindheit an gewohnt. Ihr Vater nahm sie damals oft mit auf seine Exkursionen, und sie trug schon als Kind alles, was sie zum Überleben brauchte, selbst. Gegen sechzehn Uhr brach sie auf und folgte am Ende des Dorfes dem alten Forstweg. Ihrer Vermieterin hatte sie erzählt, dass sie einen Ausflug zum Brocken machen wollte und zwei Tage unterwegs sein würde. Die alte Dame ihrerseits hatte Sabine gebeten, ihr Bescheid zu geben, wenn sie sich auf den Rückweg macht. Sie selbst wollte ihren Bruder in Halberstadt besuchen und würde auch erst übermorgen wieder zu Hause sein. Eine knappe Stunde brauchte Sabine für die Strecke. Sie genoss den Weg und die absolute Stille. Kaum angekommen, suchte sie die Stelle am Zaun auf der Rückseite des großen Hauptgebäudes auf. Bereits am Vortag hatte sie beschlossen, hier den Zaun mit der Flex zu öffnen. Durch das dichte Gestrüpp konnte man diese Stelle vom Weg aus nicht einsehen. Noch schien die Sonne auf das Gelände, aber die Schatten auf den betonierten Flächen im Hof wurden bereits länger. Das Hauptgebäude sah in seiner Bausubstanz von außen noch einwandfrei aus, hatte aber nach ihren Erfahrungen nichts zu bedeuten. In vielen Gebäuden fand man leider nur pure Zerstörung vor. Sie würde mit äußerster Vorsicht jeden Raum betreten. Kurz kam ihr der Gedanke, ihrem Freund noch eine E-Mail zu schreiben, aber im selben Moment verwarf sie es wieder. Er sollte schon sehen, dass seine Entscheidung die Falsche war. Ihre Fantasie spielte ihr in diesem Moment ein paar Streiche. Vielleicht finde ich einen Schatz oder lüfte ein Geheimnis, und in allen Fachzeitschriften erscheint mein Bild auf der Titelseite. Mit dem Verschwinden der Sonne hinter den Baumwipfeln verstimmten auch die meisten Vögel im Wald. Sie holte ihre Flex aus dem Rucksack und schnitt das Streckmetall mit einem horizontalen und zwei vertikalen Schnitten auf. Sie bog das türähnliche Stück nach vorn auf, um mit ihrem zierlichen Körper durchschlüpfen zu können. Wenn alles gut geht, bin ich in ein paar Stunden wieder in meinem Bett. Zum Glück hatte ihre Vermieterin ihr einen Schlüssel für das Haus gegeben.

Die Pension lag im Dämmerlicht. Frau Anders, war mit dem letzten Bus nach Halberstadt zu ihrem Bruder gefahren. Die Rollläden hatte sie herabgelassen, heizte sich doch das Haus in der Nachmittagssonne immer so stark auf. Ein leises Geräusch, ähnlich wie es eine Dose beim Öffnen dieser modernen Verschlüsse von sich gibt, durchbrach die Stille. Er hatte mit aller Vorsicht das Sicherheitsschloss der Terrassentür geöffnet. Bekleidet mit einem schwarzen, dünnen Einweganzug betrat er das große Zimmer. Sein Blick hatte nichts übrig für die vielen kleinen Porzellanfiguren auf dem Sideboard, auch nicht für all die anderen Gegenstände im Raum. Gezielt strebte er zur Rezeption und durchsuchte die Unterlagen in den Regalen an der Wand. Seine Taschenlampe blitzte bisweilen kurz auf. Zimmer 04, Schmidt, Sabine, wohnhaft in Bernburg, Kessler Straße 7. Er hatte gefunden, wonach er suchte. Über einen kurzen Flur erreichte er das gesuchte Zimmer und öffnete es mit dem Zweitschlüssel, den er in einer der Schubladen am Tresen gefunden hatte. Die wenigen Dinge, die Sabine noch in den Schränken aufbewahrte, verschwanden schnell in einer Plastiktüte. Viel mehr Zeit brauchte er für die Beseitigung aller hinterbliebenen Fingerabdrücke und sonstigen DAN-Spuren der jungen Frau. „Nichts in diesem Haus darf auf sie hinweisen“, hatte sein Meister ihm gesagt. Kurz vor dreiundzwanzig Uhr verließ er das Haus, so wie er es betreten hatte. Selbst die Tür zum Garten verschloss er, um keine Spuren für einen Einbruch zu hinterlassen. In diesem Haus gab es keinerlei Spuren von Sabine mehr. Er hatte wie immer gewissenhaft gearbeitet. Das noch ausstehende Problem mit der alten Dame würde er als Nächstes angehen. Sein Meister wird sehr zufrieden mit ihm sein. Den Overall entledigte er sich erst ein paar Kilometer weiter. Dort verstreute er auch die Asche der verbrannten Sachen aus dem Zimmer.

Herbert trank schon seinen zweiten Kaffee, als Christiane durch die breite Eingangstür trat. Sie schaute einmal in die Runde und erblickte seinen ausgestreckten Arm. Herbert saß an einem der kleinen Tische vor dem großen Fenster, das zur Straße zeigte. Als sie näherkam, stand er auf und gab ihr einen Wangenkuss, so wie er es immer tat. Seinem Charme waren schon viele Frauen erlegen, nur seine heimliche Liebe nicht. „Was möchtest du trinken?“, fragte er. „Ich nehme erst einmal ein stilles Wasser und später einen Cappuccino“. Der Kellner nahm die Bestellung auf und wenig später leerte sie ihr Glas in einem Zug. Herbert schaute sie lächelnd an, als wollte er eine Erklärung für ihren Durst haben. „Ich war gestern Abend Griechisch essen und der Knoblauchdipp hatte es echt in sich. Aber mein Kommen hat einen anderen Grund". Sie begann von dem Abend des letzten Treffens zu erzählen, an dem sie Sabine und Hannes den Tipp gegeben hatte, doch mal die verlassene Anlage im Harz aufzusuchen. Herbert wusste sofort, um welches Objekt es ging. „Da ist doch nichts zu holen, die ist hundertmal untersucht worden. Zu meiner aktiven Dienstzeit haben dort mehrere Stasibeamte wochenlag jeden Stein umgedreht. In der Wendezeit wurden mit hochauflösenden Kameras von Drohnen aus tausende Bilder gemacht. Alles ohne Ergebnis und die Sagen um das Bernsteinzimmer, ja Christiane, das sind eben Sagen“. „Nein, Herbert, darum geh es nicht“ unterbrach sie ihn. „Seit ich den beiden den Tipp gegeben habe, schlafe ich sehr unruhig. Meine nächtlichen Schweißausbrüche kommen nicht von ungefähr. Damals, als mein Mann verunglückte, hatte ich dieselben Symptome. Sie nahm einen Schluck von ihrem Cappuccino und tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab. „Und gestern gegen Mitternacht hatte ich so eine Art Panikattacke, wie ich sie noch nie erlebt habe“, fuhr sie fort. „Da ist etwas passiert und ich mache mir große Sorgen um die zwei“. Herbert rief nach dem Kellner und bestellte zwei Bier. Christiane lehnte dankend ab, musste sie doch noch mit dem Auto zurück nach Leipzig fahren. „Hast du schon versucht, die beiden telefonisch zu erreichen?“, fragte er. „Ja, habe ich, es geht aber nur der Anrufbeantworter an und ihre Handys scheinen ausgeschaltet zu sein oder sie haben keinen Empfang. Was, wenn sie irgendwo hineingestürzt sind oder sich anderweitig schwer verletzt haben? Ich werde noch verrückt“. „Nun beruhige dich erst einmal, meine Liebe. Ich gebe zu, die Möglichkeiten, die du aufzählst, könnten eingetreten sein. Aber genauso gut könnte es auch weniger dramatische Gründe dafür geben. Alles, was wir hier tun, ist reine Spekulation. In meiner Dienstzeit als KHK habe ich nie versucht zu spekulieren, sondern bin immer den Spuren gefolgt. Mein Vorschlag, wir geben Ihnen noch eine Frist bis morgen und dann schalten wir meine Kollegen in Halle ein“. Sie schaute ihn mit ihren dunkelbraunen Augen an und Herbert meinte, ein wenig Hoffnung in ihnen zu sehen. „Ich bin einverstanden und es beruhigt mich, ein wenig hier bei dir zu sein“. Sie trank ihr Glas aus und ging zur Toilette. Der Blick in den Spiegel zeigte ihr die tief liegenden Augen mit einem dunklen Rand darunter. „Du musst unbedingt schlafen“, sagte sie zu sich selbst. Herbert hatte die Rechnung beglichen und erwartete sie bereits am Ausgang. „Fahr vorsichtig“, ermahnte er sie, „und wenn du reden möchtest, du weißt mich zu erreichen“. „Bestimmt“, erwiderte sie und winkte ihm zu, bevor sie losfuhr. Herbert querte den Marktplatz und schlug den Weg zu seiner alten Dienststelle ein.

Sabine stand vor der massiven, großen Eingangstür. Eine Klinke suchte sie vergebens, sie sah nur einen Knauf, der fest auf dem rechten Türflügel geschraubt war. Das hieß, die Tür konnte nur mit einem Schlüssel geöffnet werden. Die Dämmerung hatte eingesetzt und ein Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass es schon kurz nach zwanzig Uhr war. Mit einer ihrer Checkkarte versuchte sie, zwischen den Türschlitz zu gelangen. Gleich der erste Versuch klappte. Sie schob die Karte langsam nach unten und die Zunge des Schlosses sprang aus dem Schließblech. Sie wunderte sich einen Moment, dass es so leicht ging. Nicht verschlossen hieß in Ihren Kreisen nichts zu holen. Trotzdem wollte sie unbedingt einen Blick ins Innere des Objekts werfen, um sich selbst davon zu überzeugen. Hinter ihr fiel die Tür lautlos ins Schloss. Ein Griff auf die Klinke, und sie öffnete sich wieder. Für sie war es nur eine routinemäßige Sicherheitskontrolle. Jetzt konnte sie ruhig Gewissens ihre Erkundung beginnen. Sie stand in einer geräumigen Vorhalle. Das letzte spärliche Tageslicht brach sich seinen Weg durch die großen Sprossenfenster im Hintergrund. Links und rechts gab es lange Flure, deren Fußböden gefliest waren. Gerade aus vor ihr führte eine breite Treppe in die oberen Stockwerke. An den Wänden gab es haufenweise Graffitis von den vielen Besuchern. Einige davon konnte man getrost als Kunst bezeichnen, aber die meisten stammten von irgendwelchen Fangruppen. Ihre kleine Taschenlampe spendete genügend Licht, um all die Dinge zu erkennen. Überall in den Zimmern fehlten die Türen. Bestimmt waren sie längst in anderen Objekten verbaut. Vor der Wende bediente man sich oft solcher Methoden, es gab ja nicht alles und schon gar nicht, wenn man es brauchte. Sie ging den linken Flur entlang und inspizierte jedes der offenen Zimmer. Überall sah man Spuren der Zerstörung, und die meisten jugendlichen Besucher hinterließen hier ihren mitgebrachten Müll. Den gefliesten Fußboden bedeckte eine dicke Schicht aus Staub. Unzählige Fußspuren verschiedener Schuhgrößen malten ein skurriles Bild darauf. Als sie am Ende des Flurs angekommen war, schaute sie auf ihren Grundriss. Irgendetwas stimmte hier nicht. In ihrer Zeichnung gab es auf jeder Seite vierzehn eingezeichnete Zimmer, gezählt hatte sie aber auf der linken Seite nur dreizehn. Wurde der Bau irgendwann nachträglich verändert oder hatte sie sich verzählt? Sie stand vor der Wand, um zu schauen, ob hier im Nachhinein eine neue Mauer eingezogen wurde. Der Putz des Mauerwerks sah überall gleich aus und auch an der Farbe konnte sie keinen Unterschied erkennen. Ein leises Brummen lenkte sie von ihren Überlegungen ab. Sie lauschte in den Flur hinein. Nichts, es musste hier aus der vor ihr liegenden Wand kommen. Sabine legte ihr Ohr daran und tatsächlich hörte sie das Geräusch im Inneren der Mauer. Ein wenig erinnerte es an das Laufen eines Lüfters im Dauerbetrieb. Sollte hier doch ein Geheimnis verborgen sein? Sie kontrollierte erneut die Anzahl der Räume. Linksseitig dreizehn Zimmer, rechtsseitig vierzehn. Was, wenn hinter dieser Wand noch ein großer Raum verborgen war? Und was verbarg er? Sie ging rüber in den rechten Flügel des Gebäudes und zählte auch hier die Zimmer ein zweites Mal. Genau beidseitig des Flures vierzehn, genau wie in der Zeichnung abgebildet. Abermals starrte sie auf den Grundriss, nein, hier stimmte ganz gewiss etwas nicht. Sie querte die Vorhalle, um hinten an der Wand noch einmal zu lauschen. Da ist es noch, dieses leise, eintönige Summen. Sie legte beide Hände auf den Putz. Jetzt verspürte sie auch die leichten Vibrationen. Ihr Forscherdrang hatte sie nun vollkommen erfasst. Sie musste unbedingt hinauf, in die anderen Etagen, um nachzuschauen, ob sie dort ähnliche Anordnungen vorfinden würde. Die Dunkelheit hatte sich in der Zwischenzeit über das ganze Gelände ausgebreitet. Ihre Uhr zeigte bereits zweiundzwanzig Uhr. Sie war jetzt schon fast zwei Stunden im Hauptgebäude. Die beiden oberen Geschosse hatten auf allen Seiten identische Aufteilungen wie das Erdgeschoss, bloß waren sie nicht so vermüllt. Auch hier fehlte auf der linken Seite das vierzehnte Zimmer, und das leise Summen hatte an Stärke zugenommen. Blieb noch der Dachboden, vielleicht findet sich die Ursache für dieses gleichmäßige Geräusch ja ganz oben. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und wusch sich kurz die Hände. Auch hier im Dachgeschoss fehlten sämtliche Türen. Einzig der Fußboden bestand hier aus alten Holzdielen. Vorsicht war bei solchen Bodenbelägen das Gebot der Stunde. Sie legte den schweren Rucksack ab, um sich besser bewegen zu können. Vorsichtig betrat sie den ersten Raum. Die Dachschrägen waren mit Holzspanplatten verkleidet und der Fußboden mit Dielen belegt. Hier hörte man es ganz deutlich, irgendwo dort vorn läuft ein elektrischer Motor. Sabine ging auf den Raum zu, indem sie, was immer auch vermutete. Ein leichter Luftzug ließ sie nach rechts schauen und im offenen Dachfenster sah sie den aufgehenden Vollmond. Lautlos flog eine Schleiereule ganz nah vor ihrem Gesicht vorbei. Sie erschrak dermaßen, dass ihre Taschenlampe zu Boden fiel. „Scheiße“ doch nicht jetzt so kurz vor dem Ziel. Sie suchte am Boden nach ihrer Lampe, die durch den Aufprall erloschen war. Kurz verlor sie das Gleichgewicht, als sie sich nach vorn beugte. Reflexartig streckte sie beide Arme aus, um sich abzufangen. Beim Berühren des Bodens gab dieser plötzlich nach und sie stürzte in die Dunkelheit.

Christiane hatte es sich gerade auf ihrer Couch bequem gemacht, als ihr Handy klingelte. Sie stellt ihr Weinglas vor sich auf den Tisch. Auf ihrem Display stand „Hannes“, und sie registrierte es mit Erleichterung. „Mensch, was ist bei euch los, keiner geht an sein Handy und niemand reagiert auf meine Nachricht“. Sie ließ ihrer Erregung freien Lauf. Hannes stotterte eine Entschuldigung in sein Handy und versuchte, Christiane zu beruhigen. „Wo brennt es denn?“, fragte er in seiner witzigen Art. Bei einer so reifen und selbstbewussten Frau wie Christiane eine war, hatte er so seine Schwierigkeiten, den richtigen Ton zu finden. „Ist deine Freundin bei dir? Kann ich sie mal sprechen, ich muss da etwas korrigieren“. „Nein, tut mir leid, aber Sabine ist seit ein paar Tagen oben im Harz. Sie versucht, sich zu verwirklichen. Ich konnte es ihr nicht ausreden, dass dieses Objekt von dir Zeitverschwendung ist“. „Was du hast sie dort allein hingehen lassen, bist du verrückt“, schrie sie durchs Telefon. „Ruf sie bitte sofort an oder schreib ihr eine Nachricht, sie soll das Ganze abbrechen und sich bei mir melden“. „Tut mir leid, ich glaube, sie hat ihr Handy abgeschaltet, ich versuche auch schon eine Weile sie zu erreichen“. „Wann wollte sie denn zurück sein?“, fragte Christiane genervt weiter, „und wo genau ist sie hingefahren?" „Auch da kann ich dir nichts Genaues sagen. Sie hat mir einen Zettel auf den Tisch gelegt und darauf standen nur drei Worte: „Das Abenteuer beginnt“. Donnerstag früh habe ich noch geschlafen, als sie die Wohnung verlassen hat, und seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört“. Christiane konnte das Gestammel nicht länger mit anhören und unterbrach das Gespräch abrupt.

Herbert wurde von seinen Kollegen wie immer herzlich empfangen. Der neue Dienststellenleiter, ein junger KHK, kannte ihn noch von den Vorlesungen auf der Polizeischule. Damals hatte er sich vorgenommen, dieselbe Laufbahn einzuschlagen wie dieser ausgebuffte Lehrer. Jens Borchardt, so hieß der Neue, kam vor zwei Jahren mit zehnjähriger Erfahrung aus Erfurt nach Halle. Ein strebsamer und insbesondere korrekter Kommissar, der immerhin eine Aufklärungsquote von knapp neunzig Prozent aufweisen konnte. Nie hatte er diesen Erfolg für sich verbucht, sondern immer das Team in den Vordergrund gestellt. Wenn er vom Team sprach, schloss er auch alle Kräfte ein, die nur Innendienst taten. Sie gingen in Borchardt sein Dienstzimmer und er verschloss die Markisen an den Innenfenstern. Aus seinem Schreibtisch holte er eine Cognacflasche und ein Glas hervor. Genüsslich nahm Herbert einen kleinen Schluck aus dem großen Schwenker. Als er sein Anliegen vorbrachte, fand er in Jens einen aufmerksamen Zuhörer. Die Geschichte war schnell erzählt, und Herbert bemerkte die Angespanntheit im Gesicht seines Gegenübers. „Du meldest dich aber sofort, sollte sich bis morgen keiner der beiden gerührt haben. Mit solchen einsam gelegenen Komplexen ist nicht zu spaßen. Ich habe da so meine Erfahrungen“ bemerkte Jens. Ich hatte in meiner Zeit in Erfurt einen ähnlichen Fall in der Nähe des Kyffhäusers. Damals war die Sache glimpflich verlaufen. Eine halbe Stunde später verließ Herbert die Dienststelle. Ein zweiter Cognac zeigte bereits seine Wirkung. Er rief seinen Autohändler an, um den Termin für die Übergabe seines neuen Wagens zu verschieben. Ausgemacht war nun der Freitag.

Bei ihrem Sturz in dieses schwarze Nichts hatte Sabine kurz ihr Bewusstsein verloren. Ein frischer Luftzug umspielte ihr Gesicht und sie kam langsam wieder zu sich. Ihr erster Gedanke, ich bin tot, bewahrheitete sich nicht. Sie kniff sich in ihren Oberarm und verspürte augenblicklich einen brennenden Schmerz. Auch die Kontrolle der anderen Gliedmaßen zeigten ihr, dass alles in Ordnung war. Ihre Hände fühlten die dicke, weiche Unterlage, auf der sie lag. Eine Art Schaumgummi oder Schaumstoff hatte den Sturz abgedämpft. Die kleine Taschenlampe und ihr Rucksack lagen oben auf dem Dachboden, leider auch ihr Handy. Sie versuchte mithilfe ihrer ausgestreckten Arme eine Wand oder irgendeinen Gegenstand im Raum zu finden. Einen Meter weiter fühlte sie eine metallische Wand und richtete sich daran auf. Vorsichtig tastete sie an dem Hindernis entlang und musste feststellen, dass es sich um einen runden Raum handeln musste. Vielleicht eine Art Silo oder Ähnliches. Sie schätzte den Durchmesser etwas größer als zwei Meter. Aus mehreren Löchern, kurz über dem Boden der Röhre, strömte kühle Luft in den Raum. Eine Art Klimaanlage, dachte sie. Das würde auch das Geräusch im Hauptgebäude erklären. Sie hatte recht, es war ein Ventilator. Im Stockdunkel spürte sie deutlich den kalten Luftzug an ihren Knöcheln. Erst jetzt kamen ihr Zweifel, ob sie jemals dieses Gefängnis verlassen könnte. Sie kannte nicht die Höhe und an den glatten Wänden konnte nicht mal eine Eidechse emporklettern. Hätte ich doch Christiane noch eine Mail geschrieben oder mich wenigstens bei ihr gemeldet. In ihrer Verzweiflung setzte sie sich neben einen dieser Luftlöcher. Schreien schien ihr keinen Sinn zu haben, war sie doch hier unten und es war erst zwei Uhr. Wie lange sie gefallen war, wusste sie auch nicht. Ein süßlicher Geruch mischte sich unter die einströmende Luft und irgendwo hörte sie noch die schweren Schritte eines Menschen, der sich entfernte, konnte aber nicht mehr reagieren, so schläfrig wurde sie. Es ähnelte stark dem Gefühl wie bei einer Narkose, dachte sie noch, und war bereits sanft eingeschlafen.