Briefe eines Mörders - Dieter Preuße - E-Book

Briefe eines Mörders E-Book

Dieter Preuße

0,0

Beschreibung

...... Eine kurze Bewegung an der Kuppe des Kieselbergs erregte Ferdinands Aufmerksamkeit. Es war die alte Füchsin, die jeden Sommer hier im Resenberg ihre Jungen aufzog. Er schaute durch sein Wehrmachtfernglas und was er sah, jagte ihm ein Schauer über den Rücken. Einen Moment lang glaubte er, einen Hinterlauf von einem Reh in ihrem Fang zu erkennen, doch als sie sich ihm weiter näherte, erkannte er einen menschlichen Unterarm und auch die Hand war im schwindenden Tageslicht deutlich zu erkennen. Die Füchsin bewegte sich geradewegs auf ihn zu, und Ferdinand nahm den Stutzen vorsichtig in den Anschlag. Ein kurzer, trockener Knall durchdrang die Stille. Nur selten verfehlte er sein Ziel und so lief er rüber zu dem gesteckten Tier. Er verharrte einen Augenblick und lauschte in die anbrechende Nacht, aber es war nichts zu hören. Die Kugel hatte die Stirn des Tieres durchschlagen und ein kleines Rinnsal warmen Blutes lief aus der Wunde........

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 280

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Briefe eines Mörders

Ein Harzkrimi

Von Edmund P.

1

Die Sonne war längst hinter den Bergkämmen des Harzes verschwunden, als die Dämmerung sich ihre Nischen auf den abgeernteten Feldern suchte. Ferdinand saß wie oft in den letzten Tagen im Turm des alten deutschen Panzers, der hier seit zwei Jahren versteckt am Waldrand stand. In die-sen Dämmerstunden wechselten die Rehe gern aus dem Kieselberg hinaus auf die offenen Flächen, um die letzten saftigen Gräser abzuäsen. Er hatte seiner Mutter versprochen, noch vor Weihnachten eines der Tiere zu erlegen, um sie mit frischem Fleisch zu versorgen. Als die Front vom Osten aus immer näher rückte, verließ die Familie des Forst-rats ihr Zuhause unterhalb des Hohenbergs. Seit-dem bewirtschafteten seine Mutter und er den klei-nen Hof. Gleich neben dem Haupthaus stand das kleine, steinerne Backhaus, in dem die Mutter ein-mal in der Woche das Brot backte. Zum Hof ge-hörten auch zwei kleinere Stallgebäude, in denen die Tiere standen, und auf den angrenzenden klei-nen Ackerflächen bestellten sie alles, was sie zum Überleben brauchten, auch das Futter für ihre Tie-re. Viel gab der karge, steinige Boden nicht her, aber beide hatten damit ihr Auskommen. Als der

2

Vater kurz nach der Rückkehr aus Russland ver-starb, musste Ferdinand als Vierzehnjähriger die Stelle des Mannes im Haus übernehmen. So kurz nach dem Kriegsende war die Not auch unter den Bauern recht groß und die meisten der Vorrats-kammern leer. Die große Verwandtschaft unten im Dorf hatte selbst zu tun, die vielen Mäuler zu stop-fen. Ferdinand steuerte das ein oder andere Stück Wild dazu bei, um ihren Speiseplan zu bereichern. Sicher, er hatte keine Erlaubnis dafür, aber was sollte man in diesen Zeiten anders tun, um an Fleisch zu gelangen? In den Wäldern des Harzes wimmelte es gleich nach Kriegsende von Wilde-rern, und der Junge hatte bereits ausreichend Er-fahrungen gesammelt, um draußen in der Natur zu überleben. Selbst die hohen Strafen, die bei seiner Ergreifung drohten, schreckten ihn nicht zurück. Besonders hart griffen die russischen Befreier durch, weil es dabei nicht nur um Wilderei ging, sondern um unerlaubten Waffenbesitz und darauf stand die Todesstraf. Gab es nur ein kleinen be-gründeten Verdacht oder gefiel den Russen seine Nase nicht, wurde der Verurteilte nach Sibirien verbannt und nur weniger sahen ihre Heimat wie-der. Kurz nach der Kapitulation waren alle Deut-

3

schen aufgerufen, sämtliche Waffen, selbst Luftge-wehre, den Ämtern zu übergeben. Den leichten Jagdstutzen hatte der Vater oben in der Dachkam-mer hinter einer Verkleidung gefunden, dazu noch reichlich Munition. Er war ein Relikt des geflohe-nen Besitzers des Forsthauses. Für den Sechzehn-jährigen hatte die Waffe gerade die richtige Größe, um sie in seinem alten Militärmantel zu verstecken. Sein kleiner, blutbeschmierter Rucksack lag griff-bereit neben ihm auf einem der Granatengurte im Panzerturm. Mit seinem Fernglas suchte er immer wieder die Waldkante am Kieselsberg ab, aber noch ließ sich kein einziges Stück Wild sehen. Ge-legentlich schaute er hinunter zu der gepflasterten Straße, die von Ermsleben nach Meisdorf führte. Vorsicht, nicht etwa Angst veranlasste ihn, die Umgebung immer im Auge zu behalten, denn die unregelmäßige Kontrollen der SMAD und der deutschen Forstbeamten sorgten immer mal wie-der für negative Überraschungen. Den Panzer hat-ten die Deutschen bei ihrem Rückzug ins nahege-legene Selketal als Sicherung hier oben eingegra-ben. Als dann die ersten Sherman4-Panzer der Amerikaner unten aus Ermsleben rollten, hatte die Besatzung von hier oben das Feuer eröffnet und

4

die Kolone der Befreier abrupt zum Stehen ge-bracht. Innerhalb von zehn Minuten standen zwei der amerikanischen Panzer in Flammen, sodass der Rest sich ins Dorf zurückziehen musste. Wenig später flogen vier P51-Mustang-Jagdflugzeuge ei-nen erfolgreichen Angriff auf den deutschen Tiger am Resenberg. Die Besatzung konnte sich unter starkem Beschuss erfolgreich ins Selketal absetzen. Seit diesem Tag stand er nun hier oben und rostet vor sich hin. Die beim Beschuss explodierten Mu-nitionskisten lagen teilweise noch in dem zuge-wachsenen Graben, und ein Teil der intakten Gra-naten überwucherte bereits die Natur. Eine kurze Bewegung an der Kuppe des Kieselsberg erregte Ferdinands Aufmerksamkeit. Es war die alte Füch-sin, die jeden Sommer hier im Resenberg ihre Jun-gen aufzog. Er schaute durch sein Wehrmachtfern-glas und was er sah, jagte ihm ein Schauer über den Rücken. Einen Moment lang glaubte er, einen Hin-terlauf von einem Reh in ihrem Fang zu erkennen, doch als sie sich ihm weiter näherte, erkannte er einen menschlichen Unterarm und auch die Hand war im schwindenden Tageslicht deutlich zu erken-nen. Die Füchsin bewegte sich geradewegs auf ihn zu, und Ferdinand nahm den Stutzen vorsichtig in

5

den Anschlag. Ein kurzer, trockener Knall durch-drang die Stille. Nur selten verfehlte er sein Ziel und so lief er rüber zu dem gesteckten Tier. Er verharrte einen Augenblick und lauschte in die an-brechende Nacht, aber es war nichts zu hören. Die Kugel hatte die Stirn des Tieres durchschlagen und ein kleines Rinnsal warmen Blutes lief aus der Wunde. Neben dem toten Tier lag der komplette Unterarm einer vermutlich jungen Frau. Der Ver-wesungsprozess hatte bereits eingesetzt, soweit er das selbst einschätzen konnte, fand er doch des Öfteren Kadaver von verendeten Tieren im Wald. "Wo hast du ihn gefunden?", fragte er die tote Füchsin und musste über seine Frage lachen. Er überlegte kurz, fand aber im Moment keine Ant-wort darauf. Er wickelte den toten Fuchs und des-sen "Beute" in die alte Regenplane und lauschte erneut in die Stille. Alles blieb ruhig, und leise, wie er es immer tat, machte er sich auf den Heimweg. Fuchs hatten sie schon öfter gegessen und auch sein Deutscher Schäferhund „Bodo“ würde sich über das frische Fleisch freuen. Als er den Hof erreichte, kam seine Mutter gerade aus dem Stall. „Wo hast du dich wieder herumgetrieben? Hier wartet die Arbeit und du verschwindest ohne ein

6

Wort im Wald“. Immer wenn sie ihn ausschimpfte, bereute sie es im selben Moment, sie wusste das sie ihren Sohn nicht davon abhalten konnte auf die Pirsch zu gehen. Ferdinand nahm den Rucksack von der Schulter und öffnete ihn. Als er den abge-trennten Arm herausnahm, fiel der Mutter die alte Blechschüssel aus der Hand und landete mit lau-tem Scheppern auf dem Boden. „Junge, was hast du getan“, schrie sie ihn an und wendete ihren Blick zur Seite. Im ersten Moment wusste Ferdi-nand gar nicht, was sie von ihm wollte. „Ich habe ihn gefunden drüben am Kieselsberg. Oder besser gesagt, die Füchsin hat ihn gefunden und mir ge-bracht“, lächelte er und zog das tote Tier aus der Regenplane. Seiner Mutter stand der Schrecken immer noch ins Gesicht geschrieben. „Du musst ihn verschwinden lassen. Hier kann er auf keinen Fall bleiben. Was, wenn ihn jemand bei uns fin-det?“ Sie gingen rüber in die Küche und Ferdinand füllte sich einen tiefen Teller mit Suppe, die auf dem Herd stand. Seiner Mutter war der Appetit vergangen, aber sie setzte sich trotzdem zu ihrem Sohn. „Ein Frauenarm?“, begann sie, wie kommst du darauf? „Schau ihn dir doch mal an. Die schlan-ken langen Finger und ein Handgelenk gerade so

7

stark wie ein Besenstiel. Der kann nur von einer Frau sein“. Er versprach ihr, am Morgen bei Ta-geslicht den Rest der Leiche zu suchen, denn allzu weit wird die Fähe ja nicht gelaufen sein. Dann ging er raus in den Stall und zog dem Fuchs das Fell ab. Die Innereien wickelte er in ein altes Tuch und legte sie zu dem Arm neben der Futterraufe. Bodo saß schon vor ihm und schaute sein Herr-chen bettelnd an. „Ja, du bekommst gleich ein Stück, mein Bester“. Die Mutter würde von dem toten Tier ohnehin nichts essen wollen, wusste sie doch, dass die Füchsin eine „Leichenschänderin“ war. Drüben im Verschlag stand die alte Stute ne-ben den vier Kühen und malte hörbar die Getrei-dekörner. Die Russen hatten das zweite Pferd, ei-nen jüngeren Wallach, wortlos mitgenommen und seitdem musste die alte Stute die ganze Arbeit al-lein erledigen. Auf der anderen Seite des Stalles wühlten die zwei schlachtreifen Schweine im fri-schen Stroh. Von dem Fleisch mussten sie aber einen großen Teil abgeben, um den Menschen in den Städten zu helfen. Im Frühjahr würde die Mut-ter wieder zwei Ferkel vom Bauern aus Wieserode bekommen, so war es verabredet. Die Arbeit auf den Feldern war schon beendet und die ärmliche

8

Ernte lag in der Scheune, und sie hatten nicht ein-mal ihren Pflichtteil an den Amtsschimmel abge-ben können. Die Mutter wollte ihre Schulden auf das nächste Jahr verschieben, in der Hoffnung auf eine bessere Ernte. Einzig die große Streuobstwie-se hinter dem Haus hatte diesen Sommer reiche Ernte gebracht. Viele Stunden hatte die Mutter gebraucht, um das Obst in die Gläser zu bekom-men, oft bis spät in der Nacht in der kleinen Waschküche am Kessel gestanden, und er hatte das Heizen übernommen. Der Vorrat an Brenn-holz für den Winter, hatte Ferdinand so weit auf-gestockt, dass er für zwei Jahre reichen würde. Bis zum heiligen Weihnachtsfest brauchte es keine acht Wochen mehr, und die Speisekammer unter dem Dach hatte auch schon bessere Zeiten gese-hen. Sein Vorhaben, einen der Böcke mit nach Hause zu bringen, war ihm bisher aber versagt ge-blieben. Das jährliche Schlachtfest würde erst im neuen Jahr sein, da ihr Fleischer in der kalten Jah-reszeit viel zu tun hatte. Wieder einmal ging das Licht im Haus aus und Ferdinand zündete die alte Öllampe an, um im Schein des spärlichen Lichtes sein Werkzeug sauberzumachen. Dann ordnete er seinen kleinen Rucksack für die nächste Pirsch und

9

verstaute den Arm der jungen Frau in der Regen-plane. Zusammen mit den Resten der Füchsin leg-te er die Sachen in den kleinen Verschlag unter der Treppe an der Eingangstür und somit unerreichbar für die Tiere der Nacht.

*

Polizeiwachtmeister Hartmann stand vor der Tür der Amtsstube in Ballenstedt und rauchte seine Pfeifchen, als ihm der Postbote einen grauen Brief-umschlag in die Hand drückte. Auf der Vorderseite stand zwar die Adresse seiner Wache, aber der Umschlag hatte keinen Absender. Aus dem anony-men Schreiben konnte er entnehmen, dass ein menschlicher Körper ohne Kopf und Gliedmaße in der Nähe der „Napola“ liegen würde. Der Text war unsauber aus einer Zeitung ausgeschnitten ge-nau wie die Adresse auf dem Umschlag. Der Ab-sender hatte sie auf das Blatt geklebt wohl um an-onym zu bleiben. Im ersten Moment dachte er an einen Scherz, besann sich dann aber eines Besseren und rief das Kommissariat in Magdeburg an. Ein Kriminalassistent Faller war am Apparat und fragte ihn ob er schon etwas unternommen hätte. Hart-mann verneinte die Frage und erhoffte sich genaue

10

Anweisungen über sein weiteres Vorgehen. Der Kriminalassistent wollte umgehend den SMAD in Kenntnis setzen und die würden sich dann bei ihm auf der Wache melden. Er empfahl dem Wacht-meister, sofort mit der Suche zu beginnen, um den Fundort abzusichern. Hartmann rief nach seinen zwei Assistenten und unterrichtete sie über den eingegangenen Brief. Die beiden jungen Burschen lauschten seinen Ausführungen äußerst diszipli-niert. Einer von ihnen, Rolf Führich, war erst vor vier Monaten aus russischer Gefangenschaft zu-rückgekehrt und wurde damals dem Wachtmeister umgehend zugeführt. Hartmann vermutete, dass er in Russland umgekrempelt wurde und nun als lini-entreu galt. Er kam aus Quedlinburg und war schon einundvierzig freiwillig zur Wehrmacht ge-gangen. Sein erster Einsatz an der russischen Front war auch sein letzter. Ein Granatsplitter hatte sei-nen Unterarm abgerissen, und seine deutschen Ka-meraden hatten ihn auf dem Schlachtfeld einfach liegen lassen. Als ihn die Russen fanden, war er bereits mehr tot als am lebendig. Weit hinter der Front wurde er wieder aufgepäppelt und propagan-distisch umerzogen. Der andere, Karl Neblung, ein Junge aus Opperode, war der zweite Assistent des

11

Wachmeisters. Hartmann kannte seinen Vater, ei-nen Kommunisten der ersten Stunde, der fünf Jah-re bei den Nazis im KZ gesessen hatte. Der Junge, selbst, gerade mal achtzehn Jahre alt, hatte der Krieg verschont. Seit der Übernahme der Provinz Sachsen durch die Russen saß sein Vater als Bür-germeister im Rathaus und hatte wohl veranlasst seinen Sohn auf der Wache unterzubringen.. Die Aufstellung der neuen Polizeiorgane in der SBZ lag ganz in der Hand der sowjetischen Militäradmi-nistration in Deutschland (SMAD). Hartmann nahm den jüngeren der Assistenten und machte sich auf den Weg zu „Napola“. Auf der Straße zum großen Ziegenberg kam ihnen Oberförster Kaul entgegen, den Hartmann schon seit der Schu-le kannte. Es brauchte nicht viel ihn zu überredete bei der Suche nach dem Torso behilflich zu sein, denn „Sechs Augen sehen mehr als vier“, versuch-te er zu scherzen. Die "Napola" stand seit dem Kriegsende leer. Nur die Russen hatten vier Wo-chen lang das Objekt gründlich untersucht und kistenweise Akten hinausgeschleppt. Oberförster Kaul hatte seine Hündin „Senta“ dabei und nahm sie vorsichtshalber an die lange Leine. Sie war eine waschechte Bluthündin, die schon manchen

12

Kampf mit den Wildschweinen in seinem Revier bestritten hatte. Im vorderen Bereich der riesigen Anlage war nichts zu finden, und auch der Hund verhielt sich unauffällig. Hartmann dachte zurück an seinen ersten Gedanken, als er den Brief gelesen hatte. Wollte ihn hier jemand auf die Schippe neh-men? Karl, der junge Assistent des Wachmeisters, machte den beiden Männern den Vorschlag, die Hündin suchen zu lassen, hatte sie doch eine Aus-bildung für die Suche auf gefallenes Wild absol-viert. Kaul schaute Hartmann an und als der sein Einverständnis gab, löste der Förster den Schnap-per am Halsband und ließ die Hündin laufen. Sie einigten sich darauf, die Napola rechts zu umgehen und folgten der stöbernden Hündin. Es brauchte nicht allzu lang, und Senta meldete sich lautstark aus dem Unterholz. Kaul rief sie zurück, und die zwei Polizisten näherten sich der vermeintlichen Fundstelle. Unter mehreren abgebrochenen Zwei-gen, an denen das Laub schon verwelkt war, fan-den sie einen menschlichen Torso, eingewickelt in einen nicht mehr ganz weißen Leinensack. Ein ers-ter flüchtiger Blick ließ nur erahnen, dass es einmal ein Mensch gewesen sein könnte. Vollkommen nackt lag der Rest des Körpers wie ein großer

13

Klumpen Fleisch vor den Männern. Ein leichter Verwesungsgeruch lag bereits in der Luft, und trotz der kühleren Temperaturen waren die Aas-fresser schon am Kadaver aktiv. Hartmann hatte Mühe, das Oben und Unten an dem Torso zu er-kennen. Sein Assistent stand in einigem Abstand und wischte sich die Reste seines Erbrochenen vom Gesicht. Hier musste die Kriminalpolizei ran, ihnen blieb nur die Aufgabe, den Fundort ordent-lich abzusichern. Von Ballenstedt her näherte sich hörbar ein Fahrzeug und hielt wenig später am Wegesrand. Ein Hauptmann und zwei Soldaten der SMAD sprangen aus dem Jeep und schauten sich gründlich die Fundstelle und den Torso an. Sie unterhielten sich in ihrer Sprache, sodass Hart-mann kein einziges Wort verstehen konnte. „Geht es wieder?“, fragte er seinen Assistenten. Bleich wie der Torso, der dort im Wald lag, nickte der junge Assistent mit dem Kopf. Der russische Hauptmann kam auf Hartmann zu und bat ihn im gebrochenen Deutsch, das Kommissariat in Mag-deburg zu bitten, einen ihrer Kriminalbeamten zu schicken. Er selbst würde mit seinen Leuten vor Ort bleiben und den Tatort sichern. Damit war der Wachtmeister raus aus der Sache und machte sich

14

zusammen mit Oberförster Kaul auf den Weg zu-rück in die Wachstube. Am Telefon teilte man ihm dann mit, dass am nächsten Morgen sich jemand auf der Wache melden würde.

*

Am Morgen hatte Ferdinand beizeiten die Tiere gefüttert und die zwei vollen Milchkannen rüber in den Burggrund geschafft. Dort stand eine der Ab-holstellen, die einmal am Tag von einem Fahrzeug aus Quenstedt angefahren wurde. In dem kleinen Ort im Mansfelder Land wurde aus der gesammel-ten Milch Käse produziert. Mit zwei leeren Kan-nen kehrte er gegen neun Uhr zurück auf den Hof. „Geh schon“, hatte Mutter ihm zu gerufen, als er kopflos auf dem Hof hin und her lief. Genau auf dieses Signal hatte er gewartet und seinen Ruck-sack übergeworfen. Bodo schaute sein Herrchen bittend an, musste aber leider am Hof verbleiben. Den direkten Weg vermied er, wusste er doch nicht, ob ihn jemand beobachtete und so folgte er dem alten Postweg, der von Ermsleben hoch nach Degners-Hausen führt, hinauf zum Resenberg. Erst als er die kleine Lindenallee betrat, fühlte er sich sicher. Seinen Stutzen hatte er im Haus gelas-

15

sen, ihn mitzuführen war am lichten Tag lebensge-fährlich. An seinem Lieblingsplatz, dem alten Pan-zer, verharrte er eine ganze Stunde und beobachte-te den Kieselsberg und die Straße ins nahe Meis-dorf. Nur ein Lastwagen war während der ganzen Zeit auf der Straße nach Meisdorf gefahren. Als die Sonne bereits ihren Zenit erreicht hatte, brach er auf und folgte dem ausgetretenen Wildwechsel, den die Füchsin gestern Abend genommen hatte. Eine dichte Schwarzdornhecke verdeckte den Blick ins Innere des kleinen Hügels. Ferdinand schaute sich noch ein letztes Mal um, bevor er durch die Öffnung im Gebüsch kroch. Aus dem moosbedeckten Boden stieg ein modriger Geruch empor und seine Augen brauchten einen Augen-blick, um sich an das Licht im dichten Bewuchs zu gewöhnen. Auf dem höchsten Punkt des Hügels hatte der Wind einige der alten Kiefern aus dem Boden gerissen und ihre Wurzeln bildeten riesige, hochkant stehende Teller. Schon bevor er die um-gestürzten Bäume erreichte, roch er den typisch süßlichen Geruch von verrottenden Fleisch. Das Geräusch brechender Äste ließ seinen Atem sto-cken, doch an den weißen Hinterteilen, die er im Unterholz sah, erkannte er die flüchtenden Rehe.

16

Für einen kurzen Moment bedauerte er es, seinen Stutzen nicht dabei zu haben. Der Wind hatte ge-dreht und blies ihm jetzt diesen penetranten Ge-ruch von verfaulendem Fleisch direkt ins Gesicht. Hinter den herausgerissenen Wurzeltellern der Kiefern sah er den blutbeschmierten Leinensack am Boden liegen. Kein normaler Kartoffelsack, wie ihn die Bauern auf den Höfen benutzen, nein es war ein Leichensack, wie die Wehrmacht sie schon tausende Mal auf den Schlachtfeldern be-nutzt hatte. Aus der Öffnung schauten zwei menschliche Füße heraus und der Sack selbst, war an einigen Stellen von den Räubern der Nacht auf-gerissen worden. Angst kroch in ihm hoch und jagte ihm einen kalten Schauer über seinen Rü-cken. Viel hatten seine jungen Augen schon in den Wirren des Krieges gesehen, doch das dort vor ihm war bis heute das Grausamste. Er musste sich auf einen der liegenden Kiefernstämme setzen, so weich waren seine Knien geworden. „Geh fort, lass sie liegen, die Natur nimmt sich, was ihr ge-hört“. In seinem Kopf wiederholten sich dieselben Worte immer und immer wieder. Lange kämpfte er mit sich, aber die Neugier der Jugend in ihm war stärker. Eines der Beine zog er aus dem Leinensack

17

und ließ es augenblicklich auf den Waldboden fal-len. Die Verwesung hatte bereits größere Löcher in die Haut gefressen und ein Heer von Maden tum-melte sich schon im Fleisch. Ihm fielen sofort die glatten Schnitte am Ende des Oberschenkels auf. Sein Fahrtenmesser, das er als Pimpf bei der Hit-lerjugend bekommen hatte, schnitt jedes Wild-fleisch wie Butter. Jedoch war diese Schnittfläche am Oberschenkel nicht damit zu vergleichen. Der Knochen war mit einem feinen Sägeblatt sauber durchgetrennt wurden. Hier oben konnte die Tat nicht stattgefunden haben, gab es doch keine grö-ßeren Blutflecken am Fundort. Es waren nur die Gliedmaßen, die der Sack verbarg. Ferdinand durchsuchte den Kieselsberg im Uhrzeigersinn, fand aber keine weiteren Teile von der Frau. Je-mand musste die Mühe auf sich genommen haben, Teile von ihr hier hinaufzuschaffen. Er schwankte mit sich, die Teile einfach liegenzulassen oder sie an einen anderen Ort abzulegen, einen Ort, an dem die Polizei oder die SMAD sie finden würden. Er entschloss sich für den letzten Gedanken, denn sollte zufällig ein Jagdhund die Leichenteile hier finden, würde sein Zuhause in den Mittelpunkt der Ermittlungen rücken und er könnte die Jagd, die er

18

so liebte, für lange Zeit vergessen. Querfeldein lief er rüber zum Friedrich-Hohenberg und näherte sich vom Wald her dem Hof. In der Küche stan-den ein paar kalte Pfannkuchen auf dem Tisch, die er sich schmecken ließ. Seine Mutter war wie jede Woche runter ins Dorf gegangen, um ihrer Ver-wandtschaft einen Besuch abzustatten. Ferdinand setzte sich draußen neben dem Hoftor auf die Gartenbank und dachte über die gefundenen Lei-chenteile nach. Fast jeden Abend hatte er oben im Panzer verbracht und war oft nach Mitternacht erst heimgekommen, aber nie hatte er jemanden am Kieselsberg gesehen oder gehört. Oder hatte der Mörder vielleicht ihn gesehen? Etwas Kaltes an seiner Hand ließ ihn aufschrecken. Bodo war auf leisen Sohlen neben der Bank erschienen und stupste ihn mit seiner Nase an. „Nein, auch heute Abend darfst du nicht mit, ich muss allein gehen“. Als ob der Hund ihn verstanden hätte, trollte er sich und lief zurück ins Haus. Ferdinand erhob sich und ging in den Stall, um die Tiere zu füttern. Als die Mutter aus dem Dorf zurück war, hatte er bereits alle Arbeiten erledigt, alles lief routiniert ab und sie ergänzten sich auch ohne viel Worte. Als er elf Jahre alt war, hatte Hitler die Russen überfallen

19

und sein Vater war dem Führer gefolgt. Die Jahre, wo er ihn gebraucht hätte, kämpfte er weit weg von zu Hause für ein „Großdeutsches Reich“. Von Anfang seiner Geburt an entwickelte sich eine fes-te Bindung zur Mutter, die nach dem Tod des Va-ters einen neuen Schub bekommen hat. Seine Mut-ter erzählte beim Abendessen von der Verwandt-schaft und auch von dem Neid der Leute unten im Dorf. „Jeder ist sich selbst der Nächste“, waren ihre letzten Worte, bevor er das Haus verließ. Die Dunkelheit zog schon ab vier Uhr langsam übers Land, und Ferdinand machte sich auf, seinen Plan umzusetzen. Oben im Hohenberg hallte der Schuss eines Gewehrs durch die Stille, vielleicht ein Wilderer oder einer der Förster aus Degners-Hausen. Keine zwei Meter weit konnte er im Inne-ren des Kieselberges sehen. Im Schein seiner klei-nen Lampe schnürte er die stinkenden Gliedmaße zu einem tragbaren Paket zusammen, legte sich die Regenplane über die Schultern, um seine Sachen vor der schleimigen Flüssigkeit zu schützen. Gut vierzig Pfund schleppte er auf seinem Rücken in Richtung Selketal. Er lief übers Feld, gleich neben der Straße entlang, und musste immer wieder eine Pause einlegen, um neue Kraft zu schöpfen. Un-

20

weit der Talmühle legte er den Sack mit den Glied-maßen auf einen der Holzstapel vor dem Sägewerk ab. Er war sich sicher, dass einer der Arbeiter die Leichenteile finden würde und machte sich zurück auf den Heimweg.

*

Hartmann suchte am Morgen beizeiten seine Wachstube auf und wartete geduldig auf den Be-amten aus Magdeburg. In den letzten Kriegstagen hatte ein Trupp SS-Leute seine Wachstube durch-sucht und dabei das Archiv verwüstet, auf der Su-che nach verräterischen Spuren eventueller Deser-teure wie sie es nannten. Seine zwei Assistenten versuchten schon seit Monaten, ein wenig Ord-nung in das Durcheinander zu bringen. Als er gera-de die Tür zu dem großen Zimmer öffnen wollte, hielt draußen ein alter Opel. Hartmann zupfte sei-ne Uniform zurecht und ging vor zur Eingangstür. Als er öffnete, stand vor ihm ein großer, hagerer Mann, der sich als Kriminalassistent Faller vorstell-te. Sein langer schwarzer Ledermantel und der dunkelgraue Hut erinnerten Hartmann sofort an die Gestapo, die auch in Ballenstedt eine Dienst-stelle unterhalten hatte. Ein Blick auf seine Blech-

21

marke reichte, um ihn als Polizist auszuweisen. Die Begrüßung fiel nüchtern aus, und der Mann kam gleich zur Sache. Draußen im Wagen des Kriminal-assistenten saß noch eine zweiter Mann, der sich als Pathologe Dr. Müller vorstellte. Auf dem Weg zum Fundort erzählte der Wachmeister den beiden Beamten die ganze Geschichte und überreichte Faller den grauen Briefumschlag. Sie hielten unweit von der Fundstelle entfernt, und der Doktor nahm seine Tasche mit medizinischen Instrumenten aus dem Kofferraum und folgte seinem Kollegen, der schon mit Hartmann vorausgegangen war. Aus dem Wald trat ihnen der russische Hauptmann entgegen und schaute sich die Dienstmarke des Kriminalbeamten an. Hartmann, nur als Begleiter, hielt sich dezent zurück und ließ die Beamten aus Magdeburg ihre Arbeit machen. Faller hatte sein Kamerastativ wenige Zentimeter vor dem Torso aufgebaut und schoss mehrere Fotos aus verschie-denen Perspektiven. Als Dr. Müller den Torso um-drehte, sah Hartmann die großen Wunden auf bei-den Seiten der Brust. Jetzt konnte selbst er den Torso einer Frau zuordnen. Der Täter hatte die weiblichen Geschlechtsorgane entfernt und sicher kannte nur er den Grund dafür. Um weitere Ver-

22

schmutzungen zu vermeiden, beschloss der Patho-loge, die Reste der Frau in ein sauberes Leinentuch zu wickeln, dann legte er den Torso in eine kleine Blechwanne und trug sie zum Auto. Weitere Un-tersuchungen wollte er in der Pathologie in Magde-burg machen und drängte seinen Kollegen zur Eile, um den Leichenteil in die Kühlung zu be-kommen. Faller ging rüber zu den Leuten des SMAD und besprach mit dem Hauptmann die weiteren Schritte. Auf jeden Fall sollte die Fund-stelle weiträumig abgesucht werden, um eventuell die fehlenden Körperteile zu finden. Sicher gab es manchmal Rangeleien zwischen den russischen Offizieren und den deutschen Beamten um die Kompetenz in solchen Fällen, aber diesmal wurde Faller sich schnell einig mit dem Hauptmann. Kur-ze Zeit später verließ Hartmann mit den beiden Beamten den Fundort an der Napola, und sie fuh-ren zurück zur Wache. Während der Fahrt erklärte Faller ihm, was er von dem Fund hielt, und der Wachtmeister lauschte seinen Ausführungen mit höchstem Interesse. Fallers Meinung nach, musste der Täter ein psychisch kranker Mensch mit einem Hang zum Sadismus sein. Hartmann schaute ihn mit großen Augen an, als erwartete er eine Erklä-

23

rung, was der Kriminalassistent nutzte, dem Wachtmeister vom "Lande" ein wenig kriminalisti-sches Grundwissen zu vermitteln. "Sadismus ist eine persönliche Eigenschaft, bei der ein Täter Lust empfindet, ein anderes Lebewesen zu verlet-zen oder gar zu töten. Sei es Mensch oder Tier, das spielt hierbei keine Rolle. Man könnte davon aus-gehen, dass es nicht sein einziges und bestimmt auch nicht sein letztes Opfer sein würde." Hart-mann dankte für die ausführliche Erklärung und stieg vor der Wache aus dem alten Opel, als der junge Assistent des Wachmeisters, Karl Nebelung ihnen aufgeregt entgegengelaufen kam und sich vor das bereits anfahrende Fahrzeug stellte. „Gera-de erreichte uns ein Anruf aus der Talmühle in Meisdorf. Auf einem Holzstapel haben Arbeiter vom Sägewerk weitere Teile einer Leiche gefun-den“. Faller stutzte kurz, vermutete aber, dass es vielleicht die fehlenden Gliedmaßen des gefunde-nen Torsos sein könnten und fragte den Wacht-meister nach dem Weg. Der bot sich an, den Kri-minalassistenten zu begleiten, fiel doch Meisdorf noch in seinen Schutzbereich. Als sie den Fundort im Selketal erreichten, musste Hartmann erst ein-mal die ganzen Schaulustigen zurückdrängen. Die

24

Beamten machten weitere Aufnahmen mit der Ka-mera und Dr. Müller leerte den blutverschmierten Leinensack, aus dem zwei komplette Arme und Beine rutschten. Auf den ersten Blick sah es aus, als waren sie chirurgisch sauber abgetrennt, was auf einen medizinisch versierten Täter hinwies. Seiner langjährigen Erfahrung und dem Verwe-sungszustand nach gehörten die Teile zu dem Tor-so im Kofferraum. Faller, der sich auf seinen Pa-thologen immer verlassen konnte, war derselben Meinung. Einzig der Kopf der jungen Frau fehlte und hierin sah der Kriminalassistent das größere Problem, konnte doch nie in der bisherigen Ge-schichte der Kriminologie, bei einer Leiche ohne Kopf, der Täter überführt werden. Damit war die Suche nach dem Täter schier aussichtslos. Hart-mann hatte zwischenzeitlich die Leute vom Säge-werk befragt, aber keine zweckdienlichen Hinweise bekommen. Dr. Müller drängelte zum Aufbruch, wollte er doch so schnell es ging zurück nach Mag-deburg, um seinen Fund auf Eis zu legen. In Op-perode stieg Hartmann an der Kreuzung aus und machte sich zu Fuß auf den Weg zur Wache.

*

25

Zwei Wochen hatte Ferdinand vermieden, seinen Lieblingsplatz aufzusuchen. Die Bilder von den Leichenteilen ließen ihn mitten in der Nacht schweißgebadet aufschrecken, ja sogar schreien, sodass die Mutter zu ihm eilte, um ihren Sohn zu beruhigen. Selbst sein Hund Bodo vermiet die Nähe seiner Schlafstube und hatte sich einen Platz im Stall bei den Schweinen gesucht. Drüben vor dem Resenberg hatte der Winter über Nacht den ersten Puderzucker gestreut und die brachliegen-den Ackerflächen weiß angestrichen. Nächste Wo-che war Heiligabend und noch immer warteten die Haken in der Speisekammer unter dem Dach auf einen Rehbock. Ein kalter Wind wehte vom Harz her über die kahlen Flächen und würde die Sonne daran, hindern, die weiße Pracht wieder aufzule-cken. Sehnsüchtig schaute er rüber zur Waldkante. „Heute Abend ist Vollmond und somit gutes Büchsenlicht. Vielleicht meine letzte Gelegenheit für dieses Jahr“. Die Mutter, die auf dem Sofa sei-ne Strümpfe stopfte, hatte aufgehorcht. „Wir ha-ben noch die Ente draußen, die würde ich zu Weihnachten für uns zubereiten“. Sie wusste, dass es schwer werden würde, ihren Sohn von seinem Vorhaben abzuhalten, als er hinausging, um die

26

Tiere zu versorgen. Der kleine Teich, in den die Quelle von weiter oben ihr Wasser entließ, über-zog schon eine dünne Schicht klaren Eises. Seine Arbeit lief ihm flott von der Hand, und als die Mutter zum Melken kam, war er mit seinen Aufga-ben bereits fertig. „Wenn du gehst, pass auf dich auf, ich habe nur noch dich“. Als sie eine Stunde später ins Haus trat, fehlten seine dicken Stiefel und der Militärmandel, den er von seinem Vater bekommen hatte. Ferdinand stand unten an der Weggabelung, keine zweihundert Meter vom Hof entfernt, und schaute rüber zu dem dünnen Schneebrett, das wie ein großer weißer Wedel vom Rehwild zu ihm rüber leuchtete. „Komm hier her-auf, heute findest du dein Glück“ schien es zu ru-fen. Er hätte den Weg übers freie Feld nehmen können, entschied sich aber letztendlich im Schat-ten des Resenbergs seinen Ansitz aufzusuchen. Der Krieg hatte ihn beizeiten aus der Schule geris-sen, alles, was er wusste und konnte, hatte ihm die Mutter beigebracht. Die ersten sechs Klassen wa-ren die einzige Zeit in seinem bisherigen Leben, die er in einer fremden Einrichtung verbracht hat-te. Als Einjähriger konnte er weder Mama noch Papa sagen, einzig das Wort „Nante“ kam ihm da-

27

mals über die Lippen. Nante war ein Synonym für Ferdinand, weswegen die ganze Verwandtschaft im Dorf ihn bei diesem Spitznamen rief. Vor sich hin sinnend hatte er den alten Panzer erreicht und krabbelte in den Geschützturm. Eine der Bomben, die die amerikanischen Flieger damals auf den Ti-ger warfen, traf den Panzer genau an der Stelle, an der die Kanone aus dem Turm ragte, und riss die-ses große Loch. Von hier hatte er den Kieselsberg genau im Auge und konnte die Umrisse der Tiere auf dem hellen Hintergrund des Himmels gut er-kennen. Er zog den alten Filzmantel enger um sei-nen dünnen Körper um sich vor der Kälte zu schützen. Ein Lichtkegel auf der Straße nach Meis-dorf weckte seine Aufmerksamkeit. Ein Lkw, viel-leicht der Müller aus dem Dorf, oder doch eine Streife vom SMAD? Nein, niemand, der hier her-auffuhr, um nach Wilddieben zu suchen. Aus dem Wald oberhalb von Meisdorf hörte er den Knall einer Büchse, und musste lächeln bei dem Gedan-ken, dass ja vielleicht noch jemand einen Braten für das heilige Fest brauchte. Das gleichmäßige Geräusch einer Fahrradpedale, die an den Rahmen schlägt, schreckte ihn auf. Er zog sich tiefer in sei-nen Turm zurück und lauschte in der Stille. Wer

28

fährt hier nachts und dann bei dieser Kälte mit dem Fahrrad durch die Gegend? Das Geräusch kam den Weg vom Hohenberg herunter und müss-te gleich an seinem Versteck vorbeifahren. Jetzt sah er die Gestalt gegen den helleren Himmel, gleichmäßig trat der Fremde in die Pedale, Klack, klack, klack,….dann plötzlich Stille. Ein Streich-holz flammte auf und Ferdinand konnte für den Bruchteil einer Sekunde in das Gesicht des Frem-den schauen. Dann wieder Dunkelheit und nur das Glimmen der Zigarette zeigte den Standort des Mannes an. Hätte er doch seinen Stutzen durchge-laden, würde er sich jetzt sicherer fühlen, aber jetzt war es zu spät, jedes kleinste Geräusch würde ihn nur verraten. Da war es wieder, dieses Klack, klack ,klack…der Fremde fuhr weiter, hinunter zur Landstraße. Eine durchaus große, kräftige Gestalt. Schnell lud Ferdinand seinen Stutzen durch und sicherte ihn. "Jetzt kannst du kommen, jetzt kann ich mich wehren". Welchen Weg der Fremde nahm, konnte Ferdinand nicht sehen, fuhr der Mann doch ohne jegliche Beleuchtung. Der Mond schob sich oben am Hohenberg über die Bäume und der brachliegende Acker vor dem Kieselsberg war jetzt gut einzusehen. Wie lange er gewartet

29

hatte, wusste Ferdinand nicht genau, aber als er rüber zur Waldkante schaute, sah er den etwa zweijährigen Bock äsend vor der Schwarzdornhe-cke stehen. Er zielte auf das Blatt des Bockes und noch bevor sein kleines Mündungsfeuer erlosch, brach das Tier im Feuer zusammen. Er sprang förmlich aus seinem Versteck und rannte rüber zu dem gestreckten Bock. Im Schein seiner kleinen Lampe sah er seinen gebrochenen Blick und mach-te mit seinem Fahrtenmesser den Herzstich, wie er es von seinem Vater gelernt hatte. Nachdem das Tier ausgeblutet war, lud er es auf seine Schultern und wählte den sicheren Rückweg durch den Resenberg. Obwohl der Frost stärker geworden war, erreichte er kurz nach Mitternacht völlig durchgeschwitzt das Forsthaus. Nachdem er die Stalltür verriegelt hatte, entzündete er eine der Öl-lampe und machte sich an die Arbeit, das Tier aus-zuweiden. Die Gedärme landeten in der Blechwan-ne und die Innereien in einer Schüssel. Bodo war-tete neben der Tür geduldig auf einen Happen von der Beute seines Herrchens und bekam etwas von den Innereien. Ferdinand nahm die Außentreppe hinauf zur Speisekammer und hängte den Bock an den Platz, den er seit dem Sommer dafür vorgese-

30

hen hatte. Jetzt erst spürte er den brennenden Schmerz in seinen Muskeln, aber unten wartete noch eine Menge Arbeit auf ihn.

*

Im Kommissariat in Magdeburg hatte Dr. Müller seine Arbeiten an den Leichenteilen längst been-det, und der pathologische Befund lag seit einigen Tagen auf dem Tisch von Faller. Vor den Feierta-gen hatte der Kriminalassistent allerdings Wichti-geres zu tun, als in einem aussichtslosen Fall zu ermitteln. Bei dem Opfer mutmaßte der Pathologe, dass es sich um eine Frau zwischen zwanzig und dreißig Jahren handelte. Ihr Allgemeinzustand wies eine leichte Unterernährung auf, was den Dr. dazu bewog, sie als eine der Flüchtlingsfrauen einzuord-nen. Die Auflistung ihrer Verletzungen offenbarte weitaus interessantere Aspekte, und Müller war überzeugt, in dem Täter einen durchaus fähigen Chirurgen zu sehen. Die sauberen Schnittführun-gen bei der Amputation der Gliedmaßen ließen keinen anderen Schluss zu. Durch die Wirren des Krieges gab es unzählige Flüchtlinge, überwiegend junge Frauen, die vor der anrückenden Russen das Weite suchten. Fähige Chirurgen oder Ärzte je-

31