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Kriminalhauptkommissar Alexander List weiß nicht, ob jemand tatsächlich in seine Privatsphäre eindringt, oder ob er Gespenster sieht. Er ignoriert die Gefahr, bis er selbst in Ermittlungen gerät.
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Seitenzahl: 404
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Kriminalhauptkommissar Alexander List weiß nicht, ob jemand tatsächlich in seine Privatsphäre eindringt, oder ob er Gespenster sieht. Er ignoriert die Gefahr, bis er selbst in Ermittlungen gerät.
Clara-Martha Mai, ehemalige Dozentin einer sächsischen Polizeischule, schreibt über Ängste, Abgründe und das Gute im Menschen.
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Kriminalhauptkommissar Alexander List hört es genau: In seiner Küche ist jemand. Geschirr klappert und Kaffeeduft weht zu ihm ins Schlafzimmer herauf. Er liegt in seinem Bett, hellwach, nicht fähig nur ein Augenlid zu heben. Eine seiner Stärken ist es analytisch zu bleiben, wenn andere in Panik verfallen.
Was tue ich zuerst, fragt er sich. Er versucht irgendetwas. Nichts funktioniert. Er kann keinen Finger rühren und nicht das Tempo seiner Atmung beeinflussen. Er weiß, das ist kein Traum. Er überlegt, was geschehen ist. Hatte ich einen Unfall? Nein. Nicht, dass ich wüsste. Woran kann ich mich erinnern?
Mühsam kommen die Geschehnisse wieder hervor. Er war gestern zum Sonnenwendfeuer im Bürgertreff von Hellerau, nahe Dresden. Fast alle seiner Nachbarn waren da. Er hat sich unterhalten. Er hat Cola getrunken, weil er nie Alkohol trinkt. Er hat eine Bratwurst gegessen. Er war allein dort. Seine Frau Caro und seine Tochter Laura sind beide verreist. Er müsste jetzt allein sein.
Wer ist in meiner Küche?
Caro? Wie gern würde ich sie rufen, doch ich kann nicht. Wenn mir jetzt eine Fliege in den halb geöffneten Mund kriechen würde, könnte ich sie nicht abwehren.
Caro! schreien seine Gedanken. Seine Frau ist weit weg. Sie ist auf einer Alm, besucht ein Seminar. Kinesiologie. Sie wird noch einige Tage dort sein. Vielleicht ist sie früher zurückgekommen, versuchen sich Alexanders Gedanken an einen Strohhalm zu klammern. Es ist nicht Caro. Sie würde zu dieser Zeit keinen Kaffee kochen, morgens trinkt sie Tee.
Auch Laura, seine Tochter, würde keinen Kaffee kochen. Sie trinkt Kakao. In ihrem Alter ist der Kaffeegeschmack scheußlich. Sie ist auf einer Sprachreise mit der Klasse. Paris. Auch sie wird erst am nächsten Wochenende nach Hause kommen.
Es hämmert in seinem Kopf: Welcher Tag ist heute? Wie lange liege ich schon hier? Ich muss jetzt hochkommen! Ich muss!
Meistens ist Kriminalkommissarin Julia Kranz schon lange vor Arbeitsbeginn an ihrem Arbeitsplatz. Wenn sie das Dienstzimmer aufschließt, hat sie einen kurzen, ehrgeizigen Sprint hinter sich. Zwei Kilometer sportliche Höchstleistung. Sie wohnt in der Dresdner Neustadt. Auf dem Arbeitsweg zu ihrer Dienststelle ins Polizeipräsidium muss sie auf einer Brücke die Elbe überqueren, vorbei an einem Gotteshaus und dann sieht sie schon ihr Ziel. Jeden Morgen konzentriert sie sich an ihrer Haustür, holt tief Luft – und dann gilt es: Sie muss sich selbst übertreffen. In jedem Fall startet sie die Stoppuhr ihres Handys. Sie legt die Regeln fest. Jeden Tag ist es etwas anderes. Manchmal zählt sie die Atemzüge, die sie braucht für ihren Weg. Manchmal spannt sie die Bauchmuskeln an, zehn Schritte fest, einen Schritt loslassen. Manchmal versucht sie die Schrittlänge zu vergrößern, um mit möglichst wenigen Schritten über die Strecke zu kommen. Heute nicht.
Als sie auf der Schwelle ihrer Haustür steht, fällt ihr ein Zettel auf. Jemand hat angezeigt, dass in Kürze junge Katzen abzugeben sind. Sie betrachtet das Foto. Ein Lächeln zieht über ihr ebenmäßiges Gesicht und der Gedanke an junge Kätzchen lässt sie für einen Augenblick den Ehrgeiz vergessen. So schlendert sie heute ohne Eile über die Elbbrücke. Sie hört eine Amsel singen und sie sieht einen Mann auf einem Fahrrad, der versucht eine Tortenschachtel zu balancieren. Die Morgensonne bescheint sie von links und so nimmt sie zum ersten Mal auf diesem Weg ihren Schatten wahr. Eigentlich schade, denkt sie, dass ich an einem so schönen Tag nicht in Sandalen und wehendem Sommerrock zur Arbeit gehen kann. Sicherheit geht vor, ermahnt sie ihren Gedanken. Schuhe, in denen man einen Sprint hinlegen kann, sind Vorschrift. Dazu passt kein flatternder Rock.
Wie jeden Morgen startet sie ihren Computer und während der zum Leben erwacht, holt sie sich einen Kaffee vom Automaten. Dabei sieht sie unausweichlich das Bild ihres Vaters, das am Kaffeeautomaten im goldenen Rahmen hängt. Der Trauerflor war irgendwann abgefallen, doch ihr Schmerz der Trauer nicht. Manche Kollegen sehen ihren stetigen und schnellen Aufstieg als Wiedergutmachung an ihrem Vater an. Er ist im Dienst gestorben. Ausgerechnet Alex ist jetzt ihr nächster Vorgesetzter und unmittelbarer Kollege. Alex, der an jenem Tag mit ihrem Vater unterwegs war, um Personenüberprüfungen durchzuführen. Die beiden Männer waren auch privat befreundet. Auf einigen Familienfotos der Familie Kranz sind auch Alex und seine Frau Caro zu sehen.
Alles war entspannt, damals, als das Unheil geschah. Nichts deutete auf eine Gefahr hin. Die beiden standen vor der Fahrertür eines Autos und wollten die Papiere des Fahrers sehen. Der nickte, lächelte und sagte, dass die Papiere im Handschuhfach auf der Beifahrerseite seien. Er öffnete dieses Fach und in derselben Sekunde knallte es. Julias Vater, Martin Kranz fühlte einen Stich im Hals. Alex hätte ihn sichern können. Er hat die Gefahr nicht erkannt. Nach dem Schuss hat Alex verzweifelt versucht, die Blutung mit seinen eigenen Händen zu stoppen. Vergeblich.
Es gab ein feierliches Begräbnis und eine Gerichtsverhandlung. Der Täter ist längst wieder auf freiem Fuß und die verbüßte Strafe darf ihm nicht zum Nachteil ausgelegt werden. Julia, ihre Mutter und ihre Schwester tragen den Schock jenes Tages noch immer in sich. Ihre Mutter Ingrid war viele Jahre depressiv. Sie sah die Welt nur noch durch die Brille ihres verstorbenen Mannes. Bei jeder Entscheidung war ihr erster Gedanke: Was würde Martin tun, was würde er dazu sagen? Seit einem Jahr versucht sie, sich aus diesem Gedankenkarussell zu befreien. Julias Schwester Tina benimmt sich wie ein Teenager. Sie findet den Weg in ihr eigenes Leben nicht. Sie will alles ausprobieren, sich nicht festlegen. Stellvertretend versucht sie, alle Familienmitglieder zu kontrollieren. Das war bis zu jenem Tag die Eigenart des Familienvaters. Er war der große Beschützer, der Planer und Lenker der Familie. Julia wollte damals Lehrerin werden, studierte auf Lehramt. Nach der Gerichtsverhandlung konnte sie das nicht mehr. Die Mutter des Mörders trat vor und zeigte dem Gericht Kinderbilder eines braven Jungen. Sie bat um Nachsicht. Sie erklärte, dass dieser gute Junge mit den großen Kulleraugen nur im Schock gehandelt hätte. Er hat es nicht so gemeint. Der Verteidiger projizierte die Bilder mit einem Beamer auf eine Leinwand. Der Mörder ihres Vaters war ein hübsches Kind. Diese Bilder haben sich in Julias Seele eingebrannt. Sie sah von nun an in jedem kleinen Schüler einen zukünftigen Verbrecher. Einen, der grinsend die Werte der Gesellschaft hintergeht. Sie war wie erstarrt. Sie ist es heute noch. Sie schaffte es zu funktionieren, doch sie schafft es kaum zu vertrauen. Außer ihrer Mutter und Alex, vielleicht.
Alex hat sich bis auf den heutigen Tag nicht verziehen, dass er die Bedrohung in jenem Augenblick nicht erkannt hat. Es gab eine Untersuchung und man hat ihm nichts vorgeworfen. Im Herzen gibt er sich die Schuld. Als vor einigen Monaten Julia in sein Zimmer versetzt wurde und sie ihm unterstellt worden war, lastete das tonnenschwer auf seiner Seele. Julia war die Beste. Sie kam aus dem Dezernat Versicherungsbetrug und sie war brillant. Doch mit ihr kam auch Alexanders Schmerz um den toten Freund und Kollegen zurück. Julia hat äußerlich große Ähnlichkeit mit ihrem Vater.
Wie jeden Morgen schaut sich Julia die Meldungen der letzten Nacht an. Einbruch in eine Gaststätte; Randale bei einer Sportveranstaltung; Schmierereien an einem neu gebauten Haus; ein vermisster Jugendlicher - nicht zum ersten Mal; Autodiebstähle; Einbruch in ein Modegeschäft. Das Übliche. Nichts davon wird sie bearbeiten. Sie ist für die Unversehrtheit von Leib und Leben verantwortlich, wie es in der Amtssprache heißt.
Sie öffnet die Datei der Fahndungen. Es ist eine lange Liste. Es sind fast nur Männer, die sich staatlicher Kontrolle entzogen haben. Die Anklagen lauten Steuerhinterziehung, Betrug, Raub, Drogenhandel… Irgendwie geht es immer nur ums Geld, denkt sie. Viele von denen sind wahrscheinlich schon längst nicht mehr in Deutschland. Ein paar Freigänger haben den Weg zurück ins Gefängnis nicht gefunden. Die meisten von denen geben ihre Flucht irgendwann von selbst auf. Sie müssen von etwas leben und das erfordert Registrierung, das Vorzeigen ihres Ausweises – und den haben Insassen der Justizvollzugseinrichtungen nicht.
Auf Alexanders Schreibtisch klingelt das Telefon. Julia steht auf, geht hinüber und nimmt ab. Noch ehe sie sich meldet, schreit jemand am anderen Ende:
„Ihr liegt wohl noch in den Federn? Schlamperei! Seit einer Ewigkeit versuche ich dich zu erreichen, Alex! Seit wann stellst du das Handy aus, wenn du Bereitschaft hast?“
Julia hat die Stimme und auch den Grund der Tirade erkannt. Es ist ein Kollege, der heute in der Einsatzzentrale sitzt. Er wird gleich abgelöst. Er muss müde sein.
„Ich bin es, Julia. Alex ist noch nicht da. Was liegt an?“
„Wieso tippe ich mir die Finger wund, wenn der nicht rangeht? Er steht im Plan!“
„Das weiß ich nicht. Was gibts?“ Julias Stimme klingt genervt.
„Eine Meldung aus der Uniklinik. Ein Mann ohne Papiere ist mit schweren Gesichtsverletzungen eingeliefert worden. Der Arzt vermutet, dass es sich um Verletzungen durch einen Schlagring handelt.“
„Gut. Ich übernehme das. Wo liegt er? Gib mir die Daten.“
Julia notiert sich, was der Kollege ihr mitteilt.
Auf Alexanders Schreibtisch liegt ein Blatt Papier:
Montag Personalgespräch!
Das ist ein wichtiger Termin. Alex wird das doch hoffentlich nicht vergessen haben? Das wäre ein fataler Fehler, wenn der Chef mit ihm über die weitere berufliche Entwicklung sprechen will und er das vergisst. Alex wird doch nicht krank sein, überlegt sie.
Dann schwingt sie sich in ihre Jacke, schaltet ihren Computer aus und fährt ins Krankenhaus, um den neuen Fall zu bearbeiten.
Das Röntgenbild zeigt massive Verletzungen der Wangenknochen, des Unterkiefers und ein gebrochenes Nasenbein. Dann schaut sie auf ein Foto, das der Arzt ihr auf dem Computer zeigt.
„Sehen Sie, hier ist ein Foto seines Gesichtes, nachdem wir die Verschmutzungen gereinigt hatten. Ich denke, das sind die Spuren eines Schlagringes.“
Julia sieht vier längliche Verletzungen in einer Reihe auf der Haut. Eindeutig ist das ein Schlagring!
Diese Waffe wird über die vier Finger der Hand gezogen. Eine unscheinbare Schlagwaffe, die die Kraft des Armes bündelt. Ein Faustschlag damit hat die Wucht, wie der Schlag mit einer Keule. Die Dinger sind verboten! Wenn so etwas zur Anklage kommt, wird versuchter Mord verhandelt. Dieser Angriff ist keine einfache Schlägerei. Hier spielt Vorsatz eine Rolle und das fällt ganz klar in Julias Bereich.
„Wie ist die Prognose? Wird er wieder gesund?“
„Wenn wir davon ausgehen, dass keine inneren Verletzungen vorliegen, wird er überleben. Aber es kann sein, dass wir noch einmal operieren müssen. Das bleibt abzuwarten.“
„Kann ich mit ihm sprechen?“
„Er ist vor ein paar Minuten erst aus dem Aufwachraum gekommen. Wir mussten eine Not-OP durchführen, um die Atemwege freizubekommen. Ich weiß nicht, ob er schon mit Ihnen reden kann.“
„Ich schaue ihn mir trotzdem an.“
Vor ihr liegt ein schlafender Mann mit einem großen Pflaster über der zerschmetterten Wange. Sein Alter ist schwer zu schätzen. Vielleicht ist er vierzig, fünfzig Jahre alt? Obwohl er liegt und zugedeckt ist bis zur Brust sieht Julia, dass er einen gedrungenen Körperbau hat und nicht ganz schlank ist. Schöne Männer sehen anders aus, denkt sie.
Sie spricht ihn an: „Können Sie mich hören? Können Sie mir Ihren Namen nennen? Wie heißen Sie?“
Der Mann reagiert nicht. Seine Augen sind geschlossen und die Atmung ist flach. Er schläft. Julias Blick fällt auf seine Hand. Zwischen Zeigefinger und Daumen sind drei kleine Pünktchen tätowiert. Julia kennt dieses Zeichen. Es ist das Zeichen dafür, dass man im Gefängnis gesessen hat und einen Ehrenkodex einhält. Nichts sehen, nichts hören und nichts sagen. Hat er doch etwas gesehen, etwas gehört und dann etwas gesagt? Julia denkt, das sieht nach einem Konflikt unter Gefangenen aus. Sie runzelt die Stirn. Auch wenn er wach wäre, würde er mir nicht sagen, was er weiß und was er gesehen hat. Diesen Hinweis hat er bereits geliefert.
Julia bittet eine Krankenschwester ihr zu helfen. Sie wird seine Fingerabdrücke nehmen und dann wird sie wissen, wer dort liegt. Wer im Gefängnis war, ist erkennungsdienstlich behandelt worden. Während Julia die Finger auf die Unterlage drückt, öffnet er kein Auge.
Julia fragt die Krankenschwester: „Wo ist er gefunden worden, wie kam er hier her?“
„In den Unterlagen steht, dass er von einer Frau am Hellerauer Marktplatz gefunden wurde. Sie betreibt dort eine Postagentur und verkauft Zeitungen und Schreibwaren. Sie hat den Krankenwagen gerufen.“
Julia notiert sich die Adresse. Ganz in der Nähe wohnt Alex.
Wieder im Polizeipräsidium veranlasst Julia, dass die Fingerabdrücke ausgewertet werden.
Alex ist noch immer nicht erschienen. Sie ruft ihn auf dem Handy an.
„Der Teilnehmer ist im Augenblick nicht erreichbar“, sagt eine Stimme.
Komisch. Warum geht er nicht ran? Als Nächstes wird sie nach Hellerau fahren, um die Zeugin zu befragen, die heute Morgen den geschlagenen Mann gefunden hat. Doch vorher wird sie bei Alex klingeln und fragen, was los ist. Ein bisschen unwohl ist ihr dabei. Man kontrolliert den Chef nicht. Julia macht sich Sorgen. Vielleicht ist er krank, braucht Hilfe? Bei solchen Gefühlen hat sie sich noch nie geirrt. Andererseits hat sie noch nie dafür Anerkennung erhalten. Im Gegenteil. Einmal hat man sie deshalb als hysterisch bezeichnet, doch das ist sie keinesfalls.
Als Julia vom Gartentor bis zu Alexanders Haustür geht, überlegt sie, wie sie ihr Erscheinen begründen soll. Sage ich, dass ich ihn abholen wollte? Frage ich, ob er verschlafen hat? Soll ich überhaupt klingeln? Er ist der Chef und wenn er nicht zur Arbeit kommt, dann ist das nicht meine Angelegenheit…
Doch als sie vor der Tür steht, braucht sie keine Erklärung mehr. Alexanders Haustür steht halb offen. Sie sieht seine Lederjacke im Flur an der Garderobe hängen. Seine Waffe, ist ihr erster Gedanke! Sie beruhigt sich gleich wieder: Alex nimmt seine Waffe nicht mit in sein Privatleben. Wenn er Feierabend hat, bleibt die im Waffenschließfach im Präsidium. Julia schaut, warum die Tür offen ist. Ein kleiner Betonbrocken liegt zwischen Rahmen und Türblatt und verhindert, dass die Tür ins Schloss fallen kann.
„Alex“, ruft sie von außen, „bist du hier?“
Sie lauscht, doch es kommt keine Antwort. Wenn seine Jacke hier hängt, dann ist er auch zu Hause. In den Taschen hat er alles verstaut, was er braucht: ein Schlüsselbund, seine Dienstmarke und den Dienstausweis, Tüten für die Sicherstellung von Beweismitteln und auch die Handschellen. Sie muss nicht mehr nach einem Grund suchen, um nach Alex zu sehen. Jetzt hat sie einen: Gefahr in Verzug.
Sie zieht ihre Waffe und ruft noch einmal: „Alex, wo bist du?“
Keine Antwort. Ein leises Geräusch vom Obergeschoss.
Sie sichert die Räume des Erdgeschosses mit einem Blick. In der Küche schaut sie hinter die Tür, ob sich dort jemand versteckt hat. Es ist niemand da. Dann schaut sie die Treppe hinauf. Auch dort ist niemand zu sehen. Jetzt hört sie deutlich, dass oben jemand ist. Da bewegt sich jemand.
Zwei Stufen auf einmal, die Waffe schussbereit, stürmt sie die Treppe hinauf. Die Schlafzimmertür ist offen und Alex liegt im Bett. Er atmet. Das sieht sie von der Tür aus. Sie kontrolliert oben die anderen Räume. Als sie sicher ist, dass außer ihr und Alex niemand im Haus ist, steckt sie ihre Waffe wieder ein. Sie weiß, dass etwas nicht stimmt. Er hätte auf ihr Rufen geantwortet, wenn er gekonnt hätte. Doch er liegt starr im Bett. Seine Augen sehen sie an. Seine Pupillen bewegen sich. Aber er antwortet nicht.
„Alex, was ist los?“
Alex hat überhaupt kein Zeitgefühl. Mit Julias Hilfe hat er es nach unten in die Küche geschafft. Die Küchenuhr zeigt zehn nach zehn und es ist hell. Vormittag, schlussfolgert er. Nach dem Wochentag zu fragen, wagt er nicht. Niemand darf davon erfahren, dass irgendetwas nicht stimmt und Julia erst recht nicht. Alles, was in diesem Haus geschieht, ist absolut privat.
Wenn Alex eine schnelle Augenbewegung macht, wird ihm schwindlig und er sieht doppelt. Sein Kopf fühlt sich an, wie in Watte gepackt. Julia dreht ihm den Rücken zu. Sie greift nach der Kaffeekanne und stutzt.
„Wann hast du Kaffee gekocht? Der ist noch warm.“
„Nicht den, den mag ich nicht. Brüh mir einfach einen auf.“
Julia füllt Wasser in den Wasserkocher und nimmt die Tasse mit dem Elefantenbild vom Regal. Es ist Lauras Tasse. Die darf normalerweise niemand anrühren. Alex bleibt still. Julia sieht, dass im Spülbecken ein Messer liegt, an dem Nuss-Nougat-Creme klebt.
Alexanders Blick hängt an seinem Schlafanzug. Er denkt: Gestern Abend muss noch alles in Ordnung gewesen sein. Sonst hätte ich mir nicht den Schlafanzug angezogen. Eine Hand tastet nach seinem Kinn. Er hat sich auch gestern, wie immer vor dem Schlafengehen, noch ordentlich rasiert. Meistens kommt die Einsatzmeldung überraschend und es bleibt keine Zeit mehr für die Rasur. Alex hasst es, wenn er wie ein Igel aussieht. Deshalb hat er sich angewöhnt die Rasur vor dem Schlafengehen zu erledigen. Gestern hat er es getan.
„Wie bist du hier reingekommen, Julia?“ Alex bringt es nur mühsam hervor.
„Die Haustür stand offen.“
„Was? Wieso?“
Julia gießt heißes Wasser in die Tasse mit dem Kaffeepulver.
„Wieso stand die Haustür offen? Sie hat einen Mechanismus, dass sie immer ins Schloss fällt.“
„Blockiert.“ Julia geht und holt den kleinen Betonbrocken, der in der Tür klemmt.
„Zeig!“
„Das lag dazwischen. Deshalb ging sie nicht zu.“
Alex betrachtet ihn und schüttelt den Kopf. Ihm wird davon wieder schwindelig. Dieses Stück Beton könnte er nirgendwo seinem Haus zuordnen. Wie ist das dorthin gekommen? In der Nähe der Haustür ist seit mehr als zehn Jahren nicht mehr betoniert worden. Alex trinkt einen Schluck Kaffee.
„Julia, was machst du hier? Weshalb bist du gekommen?“
„Zeugenbefragung. Die Inhaberin des kleinen Ladens am Markt hat einen Mann mit Schlagringverletzung gefunden. Ich will hören, ob sie etwas beobachtet hat.“
„Tot?“
„Nein, verletzt.“
„Ich ziehe mich schnell an und komme mit.“ Alex versucht aufzustehen und setzt sich gleich wieder hin. „Ich glaube, ich trinke erst meinen Kaffee.“
„Auf deinem Schreibtisch liegt ein Zettel, dass du heute ein Personalgespräch hast. Weil du nicht gekommen bist, dachte ich, dass ich mal nachschaue. Naja, und dann stand da deine Haustür offen.“
„Sch…“, flucht Alex. Das Personalgespräch ist in einer Stunde. Er muss ins Präsidium. „Danke, Julia. Es wird schon wieder. Mir gehts schon besser.
Es ist wahrscheinlich eine Migräne.“ Alex stützt sich hoch und fällt auf seinen Stuhl zurück.
„Soll ich den Chef anrufen und sagen, dass wir bei einer Zeugenbefragung sind?“
Alex nickt.
„Ich gehe jetzt und frage die Frau. Dann komme ich zurück und fahre dich zu einem Arzt. Du solltest das untersuchen lassen. Vielleicht hattest du einen Schlaganfall.“
Alex wird dienstlich: „Du gehst jetzt zu der Zeugenbefragung und ich entscheide danach, wie es weiter geht.“
Als Julia nach mehr als einer Stunde zurückkommt, sitzt Alex angezogen vor einer weiteren Tasse Kaffee.
„Wie gehts dir, Alex?“
„Gut, besser. Sag, was hat die Befragung ergeben?“
„Die Ladeninhaberin hat bei Ladenöffnung die Werbeschilder vor die Tür getragen. Auf der anderen Straßenseite ist eine kleine Grünanlage mit Bäumen.“
Alex nickt. „Ja, ich weiß.“
„Auf einer der Bänke hat etwas Merkwürdiges gelegen. Sie hat nachgesehen und einen Mann mit blutigem Gesicht auf der Bank liegend gefunden. Er hat gestöhnt. Sie ist in den Laden gelaufen und hat einen Rettungswagen gerufen. Das war schon alles, was sie ausgesagt hat.“
„Hat sie andere Personen gesehen, Fahrzeuge, Geräusche?“
„Ich habe sie eingehend befragt und sie hat nichts vom Hergang gesehen, gehört oder wahrgenommen. Die hat den Mann gefunden und die Rettung angerufen. Das wars.“
„Was war im Krankenhaus? Was waren dort die Fakten?“
„Alex, du bist nicht arbeitsfähig. Du musst zu einem Arzt.“
„Das muss ich selbst am besten wissen. Ich hatte heute Morgen eine leichte Unpässlichkeit, doch jetzt geht es wieder. Wahrscheinlich habe ich gestern Rauch vom Feuer eingeatmet.“
„Alex, du und ich wissen, was Kriminalität für Auswüchse haben kann. Wer weiß, was dir wirklich geschehen ist. Du musst dich untersuchen lassen. Was, wenn es jemand auf dich abgesehen hat? Du hast unzählige Kriminelle in den Knast gebracht. Was, wenn nun einer den Spieß umdreht und dich schachmatt setzten will?“
Alex fühlt einen Stich im Herzen. Wenn er damals so viel Fürsorge für seinen Freund und Kollegen Martin empfunden hätte, wie sie jetzt für ihn, wäre Julias Vater noch am Leben.
„Danke, Julia. Es tut gut, dass du dir Gedanken machst.“ Alex stützt sich hoch und sagt im Stehen: „Mir geht es gut. Ich habe es gestern wahrscheinlich ein wenig übertrieben. Das werden wir nicht an die große Glocke hängen. Ich habe heute mein jährliches Personalgespräch. Das ist ein überaus wichtiger Termin. Lass uns gehen.“ Alex steht ein wenig schwankend, als er das Küchenfenster schließt. „Kannst du bitte oben das Fenster schließen, Julia?“ sagt er und sie weiß, dass es ihm viel schlechter geht, als er zugibt.
Im Schlafzimmer sieht es unordentlich aus. Das Bett ist nicht gemacht, eine Zeitung liegt auf dem Boden und auf dem Nachttisch steht eine leere Wasserflasche. Alexanders Telefon liegt ausgeschaltet auf einer kleinen Kommode. Sie nimmt das Telefon und bringt es Alex, nachdem sie das Fenster geschlossen hat.
„Wo lag das Handy?“, fragt Alex.
„Auf der Kommode neben der Tür.“
„Komisch! Hast du es ausgeschaltet?“
„Nein.“
Alex tippt die Geheimzahl ein und startet das Telefon wieder. Unzählige Anrufe in Abwesenheit, Kurznachrichten und E-Mails werden gemeldet.
Als er zur Tür geht, hält er sich mit einer Hand an den Möbeln fest.
Am Fuß der großen Treppe im Foyer des Polizeipräsidiums steht die Informationstafel der Kantine mit der Ankündigung: Spaghetti Bolognese und Gurkensalat. Keiner der beiden achtet darauf. Sie haben anderes im Sinn. Alex muss zum Personalgespräch und Julia hört schon am Klingelton ihres Handys, dass die Einsatzzentrale anruft. Es ist wieder ein Notruf reingekommen, um den sie sich jetzt kümmern muss.
Am oberen Ende der Treppe geht Julia nach links in ihr Dienstzimmer. Alex schwenkt nach rechts ins Büro seines Chefs, dem Leiter der Mordkommission, Polizeirat Hans-Jürgen Germer. Alex wird gleich über seine Zufriedenheit mit seiner beruflichen Entwicklung befragt. Das ist jedes Jahr ein wiederkehrendes Ritual. Er erinnert sich noch gut an das vom letzten Jahr: „Wie geht es dir, in deiner beruflichen Stellung? Fühlst du dich ausgelastet, unterfordert, überfordert? Wo siehst du dich in fünf und wo in zehn Jahren?“ Germer versteht es meisterhaft eine zwanglose und freundliche Atmosphäre aufzubauen und manchmal vergisst man, in welcher Situation man sich befindet. Es ist eine knallharte Prüfung.
Vor Jahren fragte ihn Germer am Ende eines solchen Fragespieles kumpelhaft, als Alex schon im Gehen war: „Und wohin steuert Käpt’n Alex sein privates Schiff?“
Er hatte sich schon erhoben und die Erleichterung über das Ende dieser Unannehmlichkeit war ihm anzusehen. Was sollte er so schnell auf diese unerwartete Frage antworten? Schließlich ist es Germer, der über Aufstieg oder Untergang entscheidet und hinter Alexanders Position stehen mindestens hundert Beamte, die ihn sofort ersetzen würden.
Alex sagte damals nach der Bedenkzeit von einer Sekunde: „Zehn Kilo abnehmen und aus den Kindern ordentliche Menschen machen.“
Wenn er sich heute daran erinnert, hätte er besser einen Hustenanfall vorgetäuscht, als diese Antwort zu geben. Von den zehn Kilos, die er abnehmen wollte, trägt er noch immer neun mit sich herum und was die Kinder betrifft, so ist - zumindest bei seinem Stiefsohn - das Gegenteil eingetreten. Germer weiß das und er wird seine Schlussfolgerungen zu Alexanders Führungsqualitäten gezogen haben. Seine fünfzehnjährige Tochter Laura ist eine gute Schülerin, aber sie opponiert gegen alles, was von ihm kommt. Sie würde ihn gern aus ihrem Leben verbannen. Sie schämt sich für den Beruf ihres Vaters. Seit der zweiten Klasse hat sie keine Freunde mehr mit nach Hause gebracht. Einer ihrer Klassenkameraden hat schlecht über den Beruf des Polizisten geredet und andere haben ihm zugestimmt. Seitdem wünscht sie, dass ihr Vater Handwerker oder Busfahrer wäre. Laura ist noch der leichtere Fall, im Vergleich zu seinem Stiefsohn Jonas. Der ist schon vierundzwanzig und er macht Alex und Caro richtig Sorgen.
Germers Vorzimmertür steht offen und auch die Zimmertür zu Germer selbst.
„Komm rein, Alex!“, hört er von drinnen. Jetzt gibt es kein Zurück. Ein Zögern, ein rotes Ohr oder ein Räuspern könnten als taktisches Ausweichen gewertet werden. Wenn Alex eine Wahl hätte, dann würde er die regelmäßige Fitness-Kontrolle diesem Gespräch vorziehen. Diese Kontrollen enden immer damit, dass Alex eine Zerrung oder Prellung hat, sich völlig verausgabt und sich anschließend eine Woche elend fühlt. Ausgerechnet heute, wo er selbst nicht sagen kann, wie es ihm geht.
Er hat ein böses Gefühl im Bauch.
„Willst du ein Wasser?“, fragt Germer.
Alex nickt. An einem Glas kann man sich notfalls ein wenig festhalten.
„Alex, was gab es denn heute Morgen, dass du mich versetzt hast?“
„Schwere Körperverletzung mit einem Schlagring, ganz in meiner Nähe.“
„Mit Todesfolge?“
„Nein, das Opfer liegt in der Uniklinik.“
„Konnte Frau Kranz das nicht allein machen?“
Alex zieht die Augenbrauen hoch und weiß nicht, was er sagen soll. Natürlich hat Julia das allein gemacht.
Germer lacht: „Gib es zu, du hast gedacht, dass du so dem Personalgespräch entgehen kannst!“
„Erwischt!“
„Du siehst blass aus. Ist alles in Ordnung? Wenn du dich krank fühlst, dann werden wir das verschieben. Du musst es nur sagen.“
„Alles in Ordnung! Meinetwegen können wir.“
Eine Reihe von jährlich wiederkehrenden Fragen beantwortet Alex routiniert mit „Ja!“, „Gut!“, „Natürlich!“ und „Selbstverständlich!“ Er hört sie seit vielen Jahren und er weiß genau, was er darauf antworten muss. Doch dann trifft es ihn wie ein Blitz: „Alex, wie schätzt du deine Teamfähigkeit ein?“
„Bestens, volle Punktzahl“, antwortet Alex lächelnd.
„Wieso hinterlässt du keine Information, wenn du außer Haus gehst? Es gibt Beschwerden darüber.“
„Das kann nicht sein! Wer hat das gesagt?“
„Der Leiter der Kriminalpolizei, Polizeioberrat Dr. Wiegold.“
Wiegolds Vorgesetzter ist der Polizeipräsident persönlich.
Alex denkt, es gibt nur einen, der sich für wichtig genug hält, um überall einen Vorrang zu bekommen: Staatsanwalt Jens Volkmann. Er hat Alex im letzten Jahr einmal gefragt, ob der Herr Kriminalhauptkommissar sich absichtlich verstecken würde, wenn er eine Frage hätte. Alex hielt es für einen Scherz. Er hat gelacht und gesagt: „Jeder wie er kann!“ Jetzt bereut Alex, dass er nicht vorsichtiger war.
Volkmann hat privaten Kontakt zu Wiegold. Sie gehören dem gleichen Golfclub an. Alex fühlt sich, als hätte ihm jemand auf den Kopf geschlagen. Er will protestieren, doch ehe er die richtigen Wörter findet, legt Germer nach:
„Das ist mir auch schon aufgefallen, dass man immer vor verschlossener Tür steht, wenn man von dir was will. Wenn man telefonisch versucht, dich zu erreichen, ist entweder besetzt, oder du gehst nicht ran. Heute Morgen soll das Telefon sogar ganz ausgeschaltet gewesen sein. Das hat der Kollege aus der Einsatzzentrale gemeldet.“
Alexanders Empörung kennt keine Steigerung. Er ringt nach einer Antwort. „Ermittlungen. Ich hatte Zeugen zu befragen und Ermittlungen zu leiten. Das geht nur selten vom Schreibtisch aus.“
„Falsch!“, donnert Germer. „Die Ermittlungen leitet der Staatsanwalt. Du recherchierst nur die Fakten. Wenn du glaubst, dass du hier etwas zu leiten hast, dann erklärt das, warum du nie da bist, wenn man dich braucht.“
Alex erscheint es, als ob das ganze Zimmer in weißem Licht erstrahlt. Er hört, dass Germer wie aus weiter Ferne auf ihn einredet. Dann hört es sich an, wie Elfengesang.
„Alex! Alex!“, hört er Germer schreien.
Alex sitzt noch immer im Sessel in der Sitzgruppe, ist aber weit nach vorn gerutscht. Sein Kopf liegt – nach hinten gebeugt – auf der Polsterlehne und über ihm ist das Gesicht von Germer.
„Was?“
„Hier, trink erst mal einen Schluck.“ Germer hält ihm das Glas hin.
Alex trinkt, schnappt nach Luft und zischt: „Ich habe mir hier für euch den Arsch aufgerissen und jetzt das?“
„Deine Fäkalsprache verbitte ich mir!“
„Ich habe tausende Überstunden gemacht! Ich bin zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar gewesen. Ich bin nicht der Sklave des Staatsanwaltes! Ich bin Kriminalhauptkommissar!“ Alex trinkt in einem Zug das Glas aus.
„Was die Überstunden betrifft, die sind mit deinem Gehalt abgegolten. Das steht im Vertrag und den hast du damals mit Freuden unterschrieben. Auch die Erreichbarkeit ist Teil deines Vertrages und mit genau diesem Punkt gibt es jetzt Schwierigkeiten. Ich erwarte, dass sich das ab sofort bessert.“
Alex nickt.
„Nachdem wir den Punkt Teamfähigkeit nun geklärt haben, kommen wir zur Kritikfähigkeit. Wie schätzt du dich in diesem Punkt selbst ein?“
Julia steht wieder im Arztzimmer in der Universitätsklinik. Sie hat einen neuen Fall. Diesmal ist es die Intensivstation und der Grund ist eine Frau.
„Wir haben ihr den Magen ausgepumpt und den Inhalt untersucht. Es war nicht klar, ob sie Gift genommen hat oder etwas anderes vorlag. Deshalb sind wir systematisch vorgegangen. Die Untersuchung hat ergeben, dass sie Parathion im Magen hatte.“
Der Name sagt ihr nichts.
„Parathion ist eine chemische Verbindung, die man bis in die 70er ganz legal kaufen konnte. Es war ein Pflanzenschutzmittel mit der Handelsbezeichnung E605. Der Volksmund nannte es Schwiegermuttergift.“
„Davon habe ich gehört“, sagt Julia, „Jedoch hatten wir noch nie so einen Fall, soviel ich weiß. Wie hat sie das Gift genommen und wo kommt es her?“
„Das sind wohl eher Fragen, die ich an Sie weitergebe. Einen vorsätzlichen Suizid würde ich an Ihrer Stelle ausschließen. Wer weiß, wie dieses Zeug wirkt, hält Abstand.“
„Wie wirkt es?“
„Zuerst beginnt es mit Übelkeit, später Erbrechen. Dann kommt es zu Krämpfen und unwillkürlichen Muskelkontraktionen, begleitet von Schmerzen. Diese Phase kann lange dauern. Schließlich kommt es zu Lähmungen und je nachdem, wie die Konstitution des Betroffenen ist, setzt entweder die Atmung aus oder das Herz bleibt stehen.“
„Wie lange dauert dieser Prozess?“
„Das hängt von der Menge ab, die eingenommen wurde. Diese Frau liegt seit gestern Abend hier und kämpft um ihr Leben.“
„Wie ist die Prognose?“
Der Mann im weißen Kittel schüttelt den Kopf. „Wir können nur lindern. Gegen Parathion gibt es nichts.“
„Wer hat sie gebracht?“
„Sie hat noch selbst den Notarzt angerufen. Als der eingetroffen ist, hatten die Lähmungen gerade eingesetzt. Sie konnte uns keine Auskunft mehr geben.“
„Hat sie jemand begleitet?“
„Das weiß ich nicht. Ich war gestern Abend nicht im Dienst.“ Er drückt Julia einige Papiere in die Hand. „Hier sind die Kopien der Einlieferungsbelege. Mehr weiß ich nicht.“
„Sie denken, dass sie es nicht überlebt?“
„Wunder gibt es immer wieder.“
„Wie heißt die Frau?“
Der Mann übergibt ihr eine Handtasche. Julia findet einen Personalausweis. Martina Müller, geborene Wiesner. 16.5.1949. Die Adresse im Personalausweis ist nicht identisch mit dem Ort der Abholung.
„Hier steht noch eine Notiz vom Labor“, sagt der Arzt, „Das Parathion wurde früher üblicherweise vom Hersteller mit dunkelbrauner Farbe und einem widerlichen Geruchszusatz vergällt. Man wollte so verhindern, dass man das Gift unbemerkt jemandem verabreichen kann. Das hier verwendete Gift ist unvergällt. Das bedeutet, dass es nahezu geruch- und geschmacklos ist. Offenbar ist es kein alter Restbestand.“
„Aha. Können Sie mir auch von dieser Information eine Kopie geben?“
Er reicht ihr ein bedrucktes Blatt Papier aus dem Drucker.
Julia schaut durch die Glasscheibe der Schiebetür. Drinnen versorgt eine Krankenschwester die vergiftete Frau. Martina Müller liegt mit geschlossenen Augen und scheint nicht bei Bewusstsein zu sein. Ein durchsichtiger Schlauch mit zwei kleinen Stutzen versorgt ihre Nase mit zusätzlichem Sauerstoff.
Julia hat es gelernt, sich von ihrer Arbeit zu distanzieren. Sie kann nicht jeden Schmerz in ihr eigenes Gefühlsleben lassen. Das würde sie krank machen und ihre Arbeit beeinflussen. Doch der Anblick dieser Frau tut ihr weh.
Julia ruft die Kollegen von der Kriminaltechnik an. Sie erklärt kurz die Lage und gibt die Adresse an, wo man Frau Müller abgeholt hat. Es ist ein Apartment am Altmarkt. Dann fährt sie ins Präsidium.
Als sich Alex von Germers Sessel erheben will, versagen seine Beine. Er plumpst zurück.
Eben hat er sich anhören dürfen, dass er auf Kritik aggressiv reagiert. Germer, der für ihn immer ein Freund gewesen ist, hat seine Welt zum Einsturz gebracht. Germers letzter Satz hallt ihm noch in den Ohren: „Alex, du musst an dir arbeiten! Kollegen, die nach Gutsherrenart mit anderen umspringen, können wir hier nicht gebrauchen. Du bist ein wichtiger Teil vom Ganzen, ein Rad im Getriebe, aber eben nur ein Teil und nicht…“
Alex springt taumelnd auf, hält sich die Hand vor den Mund und rennt schwankend zur Toilette.
,Julia hat den Computer gestartet. Die Auswertung der Fingerabdrücke des Mannes mit der Schlagringverletzung ist da. Rolf Unruh, geb. 4.11.1976. Der Mann wohnt am anderen Ende der Stadt. Er war Buchhalter und hatte eine Verurteilung wegen Betruges und Unterschlagung. Vier Jahre, von denen er zwei abgesessen hat. Vorzeitige Entlassung wegen guter Führung, trotz schlechter Sozialprognose. Seine Frau hatte sich scheiden lassen, während er einsaß. Julia druckt diese Information aus, genauso wie das Passfoto und die Daten zur Person. Sie geht in die kleine Abstellkammer am Ende des Flures, holt eine fahrbare Pinnwand in ihr Zimmer und eröffnet damit den neuen Fall.
Ihre Gedanken sind bei Alex. Sie versucht zu verstehen, was sie heute Morgen in seinem Haus gesehen hat. War er gestern betrunken? Niemals, nicht Alex! Ist er krank? Hatte er unliebsamen Besuch? Bei der letzten Überlegung krallen sich die Gedanken fest. Er wollte den fertigen Kaffee nicht trinken. Es lag ein benutztes Messer mit Schokocreme in der Spüle. Das hat garantiert nicht er benutzt. Er isst so etwas nicht. Caro und Laura sind seit Tagen nicht da. Was ist in seinem Haus geschehen? Sie würde ihn gern fragen, doch sie weiß, dass er ihr nicht antworten wird.
Noch einmal geht sie, um eine weitere Pinnwand zu holen.
Sie recherchiert im Einwohnermeldeamt, wer in der Wohnung am Altmarkt polizeilich gemeldet ist, aus der Martina Müller abgeholt wurde. Es ist die Adresse ihrer Schwester. Frau Wanda Wiesner, geboren am 30.9.1951. Die vergiftete Frau Müller ist wohnhaft in Radebeul, einer Kleinstadt nahe Dresden. Julia druckt gerade die Informationen und Fotos aus, als ihr Telefon klingelt. Der Klingelton sagt ihr, dass es Polizeirat Germer ist. Sie beeilt sich, um den Anruf entgegenzunehmen.
„Kommen Sie sofort in mein Büro!“
Zehn Sekunden später klopft sie an seine Tür.
„Frau Kranz, ich muss Sie nicht daran erinnern, dass Sie uneingeschränkt der Wahrheit und der Strafverfolgung verpflichtet sind?“, fragt Germer.
„Natürlich nicht!“
„Dann will ich jetzt in allen Details wissen, was Sie zu Ihrem Teamleiter zu sagen haben. Es gibt Hinweise, dass da etwas im Hintergrund läuft.“
„Was? Davon weiß ich nichts!“
„Halten Sie mich für dumm?“
„Nein! Keinesfalls.“
Germer schaut sie an, wie früher ihr Vater, wenn er sie bei etwas Verbotenem erwischt hat.
Schließlich berichtet sie haarklein, was sie heute Morgen erlebt hat.
„Gut, das wusste ich schon“, blufft Germer. „Ich verpflichte Sie hiermit, mir jede noch so unbedeutend erscheinende Kleinigkeit zu berichten.“
„Alex ist mein nächster Kollege und Chef. Er wird das als Vertrauensmissbrauch werten.“
Germer lacht sarkastisch.
Auf dem Rückweg in ihr Dienstzimmer grübelt Julia, woher Germer wusste, was sich heute Morgen abgespielt hat. Doch die Gedanken sind verfliegen, als sie die Tür öffnet. Alex sitzt an seinem Schreibtisch, einen Becher Kaffee vor sich und er telefoniert.
„Nein, mir geht es gut. Es gibt keinen Grund zur Beurlaubung.“
Seinem Gesicht ist anzusehen, dass Wut in ihm tobt.
„Wenn das eine Anweisung ist, dann muss ich der wohl folgen. Gut, ich gehe.“
Alex legt auf und sieht Julia mit verkniffenen Augen an: „Danke, gut gemacht, Judas! Was versprichst du dir davon? Willst du meinen Posten?“
Er zieht sich seine Jacke an, fährt den Computer herunter und geht ohne Gruß.
Julia fühlt sich, als wäre sie mit kaltem Wasser übergossen worden. Sie hätte sich verteidigen müssen, hätte etwas erwidern sollen, doch sie hat kein Wort herausgebracht. Alex, denkt sie, das ist nicht wahr!
Minutenlang hat sie nur so dagesessen. Was war geschehen? Wo lag ihr Fehler? Sie fühlt sich, als wäre das ihr neuer Fall. Sie hat nur eine Hand voll Puzzlesteine, die überhaupt keinen Zusammenhang ergeben. Sie überlegt einen Augenblick, was das Wichtigste ist. Alex! Doch daran wird sie sich im Moment die Zähne ausbeißen. Abwarten, beschließt sie. Einen Moment überlegt sie, ob sie ihm hinterherläuft. Nein. Sie muss sich um die Vergiftung kümmern. Das hat die höchste Priorität. Doch sie entscheidet sich anders. Sie muss die Angelegenheit mit Alex wieder ins Lot bringen.
Sie beruhigt ihre Zerrissenheit damit, dass die Spurensicherung nach den Ursachen der Vergiftung sucht und die Leute im Krankenhaus alles tun, um Frau Müller am Leben zu halten. Sie fährt nach Hellerau. Sie wird, sollte jemand fragen, vorgeblich im Fall der Schlagringverletzung ermitteln. Sie muss Zeugen finden, die gestern Rolf Unruh gesehen haben. Irgendwo muss er ja gewesen sein. Aber in Wahrheit geht es ihr nur darum, wieder mit Alex klarzukommen. Wenn sie das nicht schafft, wird sie alles verlieren, was in ihrem Leben Bedeutung hat. Ihre Karriere.
Keiner der Kollegen würde mit ihr jemals wieder zusammenarbeiten, wenn es den Anschein hätte, dass sie über seine berufliche Leiche gegangen wäre. Noch bevor sie sich von ihrem Stuhl erhebt, klopft ihr Herz, als hätte sie einen 1000-Meter-Sprint hingelegt.
Wie ein Strahlenkranz sind die kleinen Straßen um den Hellerauer Marktplatz angeordnet. Freitags stehen im Zentrum Marktwagen mit Fleisch, Käse und Gemüse. Heute ist der Platz zur Hälfte mit parkenden Autos gefüllt. An einer Seite des Platzes, ein Stück erhöht, ist eine kleine Parkanlage mit Bäumen und Bänken. Auf einer dieser Bänke lag heute Morgen Rolf Unruh mit blutendem Gesicht. Die Kollegen der Spurensicherung sind schon wieder abgerückt. Sicher war die Spurenlage dürftig. Julia schaut sich noch einmal um. Wieso hat der Mann gerade hier gelegen? Ist er selbst auf diese Bank gekrochen? Hat ihn jemand hier abgelegt? Julia schaut nach einem Haltestellenschild einer Buslinie. Doch sie sieht keins. Die Straßenbahn fährt etwa 150 Meter entfernt in einer Parallelstraße. Aus einem öffentlichen Verkehrsmittel ist er offenbar nicht ausgestiegen. Wie ist er hierhergekommen? Sie sucht nach einem Hinweis.
Direkt am Markt stehen einige Mehrfamilienhäuser aus den Zwanzigern. Diese und der Rest des Ortes sind am Reißbrett entstanden. Eine Gartenstadt, in der Arbeit, Kultur, Kinderbetreuung und das Leben eine Einheit sind. Ein Möbelfabrikant brauchte einst zuverlässige Arbeiter. Deshalb hat er hier Lebensbedingungen für seine Arbeiter geschaffen. Wer hier arbeiten und leben konnte, wollte nie wieder weg. Julia kann es gut verstehen, dass Alex sich mit seiner Familie hier niedergelassen hat.
Er wohnt in einem Einfamilienhaus, drei Querstraßen vom Markt entfernt.
Julia parkt ihr Auto auf dem Markt und sieht sich um. Sie schaut auf die Postagentur, in der die Zeugin arbeitet. Im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses, gleich neben diesem Geschäft sind eine Apotheke und eine Arztpraxis. Wollte der Verletzte hier Hilfe suchen? Hat er es nicht mehr geschafft, sich bemerkbar zu machen? Vielleicht hat die Zeugin im Laden sich inzwischen an irgendetwas erinnert.
Julia öffnet die Tür. In der gläsernen Ladentür hängt ein Zettel: Annahmestelle für chemische Reinigung. Zwischen den Gängen der Regale stapeln sich Päckchen, die auf die Abholung durch das Postauto warten. In den Regalen gibt es alles, was man in Schule und Haushalt braucht. Nähutensilien und Wolle zum Stricken, Zeitungen und Informationsmaterial zu Hellerau. Julia ist von diesem Laden fasziniert. Sie nutzt die Gelegenheit, dass jemand gerade Briefmarken kauft, um sich umzusehen. Dass es so etwas überhaupt noch gibt, denkt sie und freut sich darüber. Vielleicht sollte ich die Polizei aufgeben und selbst so einen Laden eröffnen.
Die Frau hinter dem Postschalter fragt: „Was wünschen Sie noch, Frau Kranz?“
„Ich muss Sie noch einmal befragen. Haben Sie eine Vermutung, was hier geschehen sein könnte? Warum hat der Mann sich ausgerechnet auf diese Bank gelegt?“
Die Frau schüttelt den Kopf. „Ich habe keine Ahnung und keine Vermutung. Aber sagen Sie, wie geht es ihm?“
„Er wird überleben“, sagt Julia in ihrer knappen Art, die Dinge und Vorgänge zu beschreiben. „Können Sie mir noch einmal die Umstände beschreiben, wie Sie ihn gefunden haben?“
Die Ladeninhaberin geht mit ihr vor die Tür und berichtet in allen Einzelheiten, wie sie den Mann gefunden hat. Sie hat keine weiteren Personen gesehen und auch keine Autos. Um diese frühe Stunde schleicht höchstens eine Katze über den Markt.
Julia holt ihr Telefon aus der Jackentasche und lädt das Passfoto des Mannes. Sie zeigt es der Zeugin.
„Das ist der Mann. Er heißt Rolf Unruh. Kennen Sie ihn, haben Sie ihn schon einmal gesehen?“
Die Frau schaut auf das Display. Sie schüttelt ein wenig den Kopf. „Nicht, dass ich mich erinnern könnte.“
„Es ist wichtig!“, mahnt Julia.
„Gestern war im Gemeindezentrum“, die Zeugin zeigt in die Richtung, quer über den Markt, „das Sonnenwendfeuer. Vielleicht hat ihn dort jemand gesehen. Ich kenne ihn nicht.“
Hinter den Frauen geht eine Kundin ins Geschäft.
„Ich muss wieder rein“, sagt die Ladeninhaberin.
Letzten Freitag sprach Alex davon, dass er jedes Jahr zu diesem Sommerfest geht. Er bedauerte, dass weder seine Frau Caro noch seine Tochter Laura dabei sein würden. Er wollte allein hingehen. Wahrscheinlich war er froh, dass er so am Sonntag nicht ganz allein sein musste. Jetzt hat Julia einen Grund, um den Leuten auf den Zahn zu fühlen, die vielleicht auch etwas über Alex wissen könnten. Bei diesem Feuer muss mehr geschehen sein, als nur fröhliche Stimmung am längsten Tag des Jahres. Julias Herz beginnt wieder wie wild zu klopfen, als sie sich die ersten Fragen zurechtlegt, die sie in Alexanders Angelegenheit stellen wird. Sie fragt sich: Ist das korrekt von mir? Was werde ich erfahren? Ihre Gedanken tanzen wie wild. Er war heute Morgen in Panik. Er hat versucht, es zu verbergen. Seine Stimme und seine Unsicherheit haben erkennen lassen, dass er außer sich war.
Was, wenn Alex von einem Nachbarn erfährt, dass sie in seiner Sache Fragen stellt? Sie atmet tief durch, beruhigt sich. Schließlich hat sie gelernt, wie man mit solchen Situationen umgeht. Man ermittelt ohne jede Erwartungshaltung! Schwierig, denkt sie, wenn es um den eigenen Chef geht und er nichts davon erfahren darf.
Sie lässt ihr Auto stehen und geht die kurze Strecke zu Fuß.
In Julias Kopf drehen sich noch immer die Fragen, auf die sie nur von Alex eine Antwort bekommen kann. Aber was, wenn gar nichts geschehen ist? Was, wenn er Damenbesuch hatte und es ihm nun peinlich ist, dass sie es bemerkt hat? Was, wenn er gestern so betrunken war, dass er sich nicht mehr erinnern kann. Sie schüttelt den Kopf und ist überzeugt, dass er ganz genau weiß, was geschehen ist. Er will nicht, dass diese Angelegenheit offiziell wird. Ich bin heute Morgen in etwas hineingeraten, was ich nicht hätte sehen sollen. Aus irgendeinem Grund hat Alex etwas zu verbergen. Was, wenn ich mich selbst in Gefahr bringe, indem ich hier etwas ans Licht zerre, das Alex unbedingt im Dunklen halten will? Julia schaltet den Gedankensturm in ihrem Kopf aus. Schluss, jetzt wird ermittelt, denkt sie und geht zum Gemeindezentrum Waldschänke.
Der Garten des ehemaligen Ausflugslokals ist von einer überdachten Galerie umgeben. Inmitten des Grundstücks steht das zweistöckige Haus. Es ist prachtvoll. Das Gebäude ist frisch saniert und die Fassade nun hellblau, grau und weiß. Julia steht mitten im Grundstück und sieht eine Metallschale, in der verkohlte Reste des gestrigen Feuers liegen. Tische und Stühle stehen noch herum. Unter einer Überdachung ist die Zapfanlage aufgebaut und zwei Fässer stehen daneben. Lichterketten hängen in den Bäumen.
„Suchen Sie etwas?“, wird Julia von einem Mann angesprochen.
„Ja. Ich suche den Veranstalter des Sonnenwendfeuers. Mein Name ist Julia Kranz.“ Sie hält ihren Ausweis hin.
„Der Veranstalter bin ich. Uwe Lorenz. Worum gehts?“
„Waren Sie gestern Abend hier?“
„Natürlich.“
Julia hält Herrn Lorenz das Passfoto von Rolf Unruh hin. „War dieser Mann gestern auch hier? Kennen Sie den Mann?“
Einen Moment lang herrscht Stille. „Ja, der war gestern hier, aber ich kenne ihn nicht.“
„Woran können Sie sich erinnern, diesbezüglich?“
„Der hatte ganz schön geladen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Julia zieht die Augenbrauen hoch und schaut ihn fragend an.
„Der war ganz schön voll.“
„Betrunken?“
Der Mann nickt.
„Frau Kranz, warum schickt man Sie? Warum ist Alex nicht hier? Der wohnt hier. Der war gestern dabei und wenn ich mich richtig erinnere, dann hat er sogar mit dem Mann gesprochen.“ Er zeigt auf das Bild. „Fragen Sie Alex! Er hat mit fast jedem gesprochen. Er kennt hier beinahe alle und er hatte Zeit. Er war Gast. Ich hatte zu tun.“
„Womit hatten Sie zu tun? Mit dem Feuer?“
„Nein. Das hat die Feuerwehr veranstaltet. Ich habe mich um die Organisation der Bewirtung gekümmert.“
„Wo hat dieser Mann gesessen?“
„Überall mal. Er hatte wohl ein Auge auf die Mädels.“
„Eine Bestimmte?“
„Fragen Sie Alex. Ich habe nicht so drauf geachtet.“
„Wie war das gestern mit dem Alkohol? Ist viel getrunken worden?“
Uwe Lorenz lacht sarkastisch. „Das kann man sagen!“
„Haben Sie auch…?“
„Nein, gar nichts habe ich getrunken. Fragen Sie Alex. Der wird das bestätigen. Wir beide haben uns die letzte Cola geteilt.“
„Was hat Alex getrunken?“, fragt Julia und würde diese Frage im selben Moment gern ungeschehen machen.
„Cola. Hören Sie mir überhaupt zu? Wieso fragen Sie danach? Was ist mit Alex? Warum ist er nicht hier? Ist ihm was geschehen?“
In Julias Kopf blitzen die Gedanken wie ein Gewitter. Dann sagt sie: „Alex ist mit einem anderen Fall beschäftigt und nicht abkömmlich. Deshalb bin ich hier.“
„Was ist denn mit dem Mann geschehen? Warum wollen Sie das wissen?“ Uwe Lorenz schaut auf das Bild im Display.
Julia sagt: „Der Mann hat heute Morgen auf einer Bank am Markt gelegen und es besteht der Verdacht, dass er zusammengeschlagen wurde.“
„Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er unversehrt, aber alkoholisiert.“
„Mit wem ist er gegangen?“
„Das habe ich nicht gesehen.“
„Könnte Alex das wissen?“
„Nein. Alex ist verhältnismäßig früh gegangen. Noch vor Mitternacht. Der Mann dort“, er zeigt auf das Handy, das Julia inzwischen wieder eingesteckt hat, „ist noch ganz zum Schluss hier gewesen.“
„Sicher?“
„Warum fragen Sie, wenn Sie mir nicht glauben?“
„Sagen Sie, wie war das Feuer? War es sehr groß? Hat es sehr gequalmt?“
Der Mann schaut Julia an und überlegt: „Nein, weder noch. Schauen Sie doch selbst.“ Er zeigt auf die Feuerschale. „Es hat auch nicht gequalmt. Es hat gut gebrannt. Es war kaum Wind.“
Julia lächelt, zieht ihre Visitenkarte aus der Tasche und überreicht sie. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann rufen Sie mich an, bitte.“
Sie nimmt die Personalien des Zeugen auf und verabschiedet sich.
Jede Aussage dieses Mannes verweist auf Alex. Wieso kann der sich an nichts erinnern? Sie muss ihn fragen, doch sie scheut sich, zu ihm zu gehen und ihm gegenüberzutreten.
Alle Überlegungen, die sie während der letzten Stunde angestellt hat, sind wie weggewischt. Sie hat den Klingelknopf an Alexanders Tür gedrückt und nun steht sie vor ihrem Chef und erkennt ihn beinahe nicht. Er hat die Tür geöffnet und ist dann wortlos in die Küche gegangen. Sie ist ihm gefolgt. Alex sitzt auf einem Stuhl und starrt ins Nichts.
„Was ist geschehen? Wie geht es dir?“, fragt sie und sie sieht, dass es ihm nicht gut geht. Seine Nasenspitze ist weiß und er scheint um Jahrzehnte gealtert.
„Geht schon…“, stammelt er. Dann steht er von seinem Stuhl auf und sagt: „Komm mal mit.“ Er geht voraus, die Treppe hinauf und bleibt vor Lauras Kinderzimmer stehen. Die Tür ist offen und er schaut hinein. „Als Laura abgefahren ist zur Klassenfahrt, hat sie hier alles weggeräumt. Sie hat Staub gesaugt und ihr Bett frisch bezogen. Jetzt schau mal, wie es hier aussieht.“ Er tritt bei Seite.
Julia sieht eine Kuhle im Bett. Da hat jemand gelegen. Die Schranktüren sind nur angelehnt und eine Schublade ist offen. Unterwäsche eines Teenagers ist zu sehen. Sie dreht sich zu Alex: „Bist du sicher, dass sie das Zimmer nicht so hinterlassen hat?“
Alex nickt.
„Dann sollten wir sofort Pit anrufen!“, sie greift nach ihrem Handy.
„Auf gar keinen Fall! Die Kriminaltechnik hat anderes zu tun, als dem Chaos meiner Tochter nachzuspüren.“ Er drückt ihre Hand nach unten, in der sie das Telefon hält.
„Alex, warum zeigst du mir das?“, fragt Julia in scharfem Ton.
„Nichts ist hier geschehen, gar nichts. Ich weiß es selbst nicht. Julia, ich will, dass du über die merkwürdigen Vorgänge hier den Mund hältst.“
Sie fällt ihm ins Wort: „Du bist gut! Ich bin, wie alle Polizisten, zu jeder Strafverfolgung verpflichtet, von der ich Kenntnis habe. Das hier fällt eindeutig darunter.“
„In erster Linie ist es mein Haus. Hier entscheide ich. Meine Entscheidung lautet: Keine Kriminaltechnik! Hast du das verstanden?“
Julia schüttelt den Kopf. „Ich weiß nicht, was das hier bedeutet, aber irgendetwas geht hier vor. Das siehst du doch selbst so. Warum willst du, dass ich davon weiß, wenn du dann meine Meinung ignorierst?“
„Vergiss es“, brummt Alex und steigt die Treppe wieder hinab.