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Dresden - Mord am Terrassenufer ist der erste Teil einer neuen Reihe von Dresden-Krimis. Kriminalhauptkommissar Alexander List hat in der Dresdner Mordkommission schon alles erlebt, was es an Scheußlichkeiten gibt. Das Schlimmste war vor Jahren der Tod seines Freundes und Kollegen. Bei einer Personenüberprüfung wurde er erschossen und Alexander hätte es verhindern müssen. Seitdem quält er sich mit Vorwürfen. Als er den Schmerz überwunden glaubt, wird die Tochter seines toten Freundes in sein Team versetzt und si e ist ihrem Vater unglaublich ähnlich.
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Seitenzahl: 577
Veröffentlichungsjahr: 2022
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hat in der Dresdner Mordkommission schon alles erlebt, was es an Scheußlichkeiten gibt. Das Schlimmste war vor Jahren der Tod seines Freundes und Kollegen. Bei einer Personenüberprüfung wurde er erschossen und Alexander hätte es verhindern müssen. Seitdem quält er sich mit Vorwürfen. Als er den Schmerz überwunden glaubt, wird die Tochter seines toten Freundes in sein Team versetzt und sie ist ihrem Vater unglaublich ähnlich.
geboren in Leipzig, lebt sie in ihrer Wahlheimat Dresden.
Als Dozentin an einer sächsischen Polizeischule hat sie einst Polizisten unterrichtet.
Jetzt schreibt sie Krimis und andere Geschichten.
www.clara-martha-mai.de
Eine Novembernacht kann furchtbar dunkel sein, denkt Kriminalhauptkommissar Alexander List, als er in Richtung Innenstadt fährt. Das Elbtal hat etwas von einem Amphitheater.
Geschwungene Hänge säumen den Blick auf das Eigentliche, unten am Fluss. Will man die Stadt verlassen, so muss man bergauf.
Andersherum schaut der Ankommende von oben hinein und wird so in die Stimmung der Vorfreude versetzt. Doch heute fühlt sich Alex, als ob er in den Trichter eines Ameisenlöwen geraten ist. Ein Insekt, das unsichtbar anderen auflauert, um sie zu verschlingen. Ganz unten, auf der untersten Talsohle wartet etwas, was er noch nicht sieht, wovon er aber weiß, dass es gleich seine ganze Aufmerksamkeit fordert. Wissend setzt er seinen Weg dennoch fort. In den Abendstunden wird die Kuppel der Frauenkirche, die Hofkirche, die Semperoper - das ganze Panorama der Altstadt beleuchtet. Es ist ein Anblick, den man lange genießen möchte. Doch jetzt, zu dieser frühen Stunde, liegt alles in Dunkelheit. Alex fährt über die Augustusbrücke auf das Schloss zu. Er biegt rechts ab, vorbei am schlafenden »Italienischen Dörfchen« – einem noblen Restaurant. Noch zweimal biegt er nach rechts und fährt nun unter der Brücke durch, auf der er eben den Fluss überquert hat. Sein Weg führt ihn am Altstädter Elbufer entlang, vorbei an den Ausflugsdampfern. An der nächsten Kreuzung mit der ausgeschalteten Ampel sieht er schon, dass seine Fahrt gleich enden wird. Ein Kollege in Uniform sperrt die Uferstraße mit blinkenden Pylonen. Links der Fluss, rechts drei Häuserblocks aus den Fünfzigern. Zwischen Fußweg und Häuserwänden sind gepflegte Rasenflächen angelegt. Die Kollegen von der Kriminaltechnik stellen ein hohes Zelt und Scheinwerfer auf dem Rasen auf. Das Zelt überdeckt eine tote Frau. Sie ist der Grund, weshalb Kriminalhauptkommissar Alexander List so früh unterwegs ist. »Morgen«, brummt Alex. Die Kollegen nicken nur. Sie haben weiße Schutzanzüge angezogen und halten Alex Plastiküberzüge für seine Schuhe hin. »Was gibt es?«
»Eine Tote. Tanja Hofmeister, steht in ihrem Ausweis. Sie ist erst neunundzwanzig Jahre alt.« Helena Große, eine Mitarbeiterin des Kriminaltechnischen Institutes, streckt ihm den Personalausweis entgegen, den man in der Handtasche der Toten gefunden hat. Alex wirft einen Blick auf das Foto. Eine schöne Frau. Lange schwarze Locken, hübsches Gesicht. Er fühlt einen Stich im Herzen, dass dieses junge Leben nun tot zu seinen Füßen liegt.
»Der Notarzt wartet noch«, sagt Helena. Alex sieht den Krankenwagen stehen. Die Scheinwerfer haben Standlicht und alle Türen sind geschlossen. Alex greift in seine Jackentasche und zieht Dienstausweis und Personalmarke heraus, während er an die Tür der Beifahrerseite tritt. »Kriminalhauptkommissar List«, stellt er sich vor und hält seine Legitimation hoch. Der Mann neben dem Fahrer steigt aus. Auf seiner Jacke liest Alex: Dr. Daniel Mischke. »Sie haben die Tote untersucht?«
»Ja. Sie war schon tot, als wir eintrafen.«
Er holt einen Zettel aus der Tasche. »Der Notruf kam um zwei Uhr zehn. Wir waren zwei Uhr einundzwanzig hier. Die Frau lag auf dem Bauch. Der Brustkorb war eingedrückt, der Kopf schwer verletzt. Auf dem Rücken ihrer Jacke konnte ich deutliche Reifenspuren sehen. Sie hatte Ohrhörer in den Ohren und die Musik war laut. Man konnte es hören, obwohl die Dinger noch in ihren Ohren steckten. Ich habe sie dann umgedreht. Sie hatte keinen Puls mehr und keine Atmung.«
»Waren noch Personen oder Fahrzeuge da? Haben Sie jemanden gesehen?«
»Ja. Ein Zeitungsausträger. Er hat die Tote gefunden und er hat uns angerufen.« Alex schaut sich um. »Wo ist er?« Dr. Mischke hebt die Schultern und die Augenbrauen. Er schaut sich um und zeigt dann auf einen jungen Mann, der sich in einem Hauseingang untergestellt hat.
»Da.« Dann hält Dr. Mischke Alex einen Zettel entgegen. »Der Totenschein«, sagt er und wischt einen Regentropfen vom Papier.
»Nicht natürlicher Tod«, liest Alex.
»Wir müssen dann wieder.«
»Ja, natürlich. Danke, dass Sie gewartet haben. Die Techniker müssen noch ihr Sohlenprofil fotografieren, Vergleichsmaterial.«
Alex dreht sich um und ruft: »Helena, kommst du mal!«
Alex weiß nicht, wie oft er an diesem Haus schon vorbei gefahren ist.
Unzählige Male. Drei Häuserblocks und jeder hat vier Hauseingänge.
Vor dem mittleren Häuserblock ist es geschehen. Die Haustüren sind von kleinen Vordächern geschützt und in einem wartet schon seit einiger Zeit ein junger Mann. Ein Fenster neben der Haustür öffnet sich. Eine Frau im Bademantel schaut auf das Geschehen. »Was ist denn los?«, fragt sie. »Drehen Sie hier einen Film?« Das wäre schön, denkt Alex. »Das erkläre ich Ihnen gleich. Ich werde sie noch befragen müssen«, sagt er, als er auf den Zeitungsboten zugeht. Die Frau scheint zu ahnen, dass es keine Dreharbeiten sind.
»Um Gottes willen…« Alex hält dem Zeugen seinen Ausweis hin und stellt sich vor. »Sie haben die Tote gefunden?« Er nickt. »Wie heißen Sie? Kann ich Ihren Ausweis sehen?« Alex zieht sein Telefon und fotografiert den Ausweis. Dann sagt er:
»Erzählen Sie mal, wie haben Sie die Frau gefunden?«
»Ich habe mein Auto, wie immer, auf der Straße in der Mitte des ersten Blockes abgestellt, die Warnblinkanlage eingeschaltet und dann bin ich zu den Briefkästen neben den Haustüren gegangen, um meine Zeitungen loszuwerden. Als ich an der letzten Haustür des ersten Blockes war, sah ich etwas auf dem Rasen liegen. Ich dachte, da hat jemand etwas verloren, eine Decke vielleicht. Es war dunkel und nass. Ich habe mein Auto dann vor den nächsten Häuserblock gefahren und bin mit den Zeitungen losgegangen. Dabei musste ich an dem da vorbei«, er macht eine Handbewegung zu dem Zelt, das jetzt die Tote überdacht, »und ich sah, dass es keine Decke war. Ich habe nachgesehen, ob sie noch lebt. Sie hat noch geröchelt. Also habe ich den Notruf gewählt. Ich wollte eigentlich nicht hier bleiben, allein mit dieser Frau. Aber der Mann in der Notrufzentrale hat gesagt, dass ich warten muss.«
»Haben Sie jemanden auf der Straße gesehen?«
»Nein, da war niemand.«
»Fahrzeuge?«
»Nichts. Ich war ganz allein.«
»Denken Sie genau nach.«
Der Mann schüttelt den Kopf.
»Es kann sein, dass wir noch Fragen haben, bitte bleiben Sie erreichbar. Wir müssen auch Ihr Sohlenprofil fotografieren.« Alex ruft noch einmal nach der Technikerin. Dann verabschiedet er sich. Die Frau am Fenster hält sich die Hand vor den Mund und ihre Augen sind geweitet. Auch sie hat nichts gesehen, ist erst durch das helle Licht vor ihrem Fenster erwacht.
Alex fragt: »Die Frau heißt Tanja Hofmeister. Sagt Ihnen der Name etwas?«
»Ja, natürlich. Sie wohnt hier im Haus und kommt jede Nacht um diese Zeit nach Hause.«
»Wo kommt sie her?«
»Von ihrer Arbeit, denke ich.«
»… und wo arbeitet sie?«
»Woher soll ich das wissen? Sie kam meistens um diese Zeit und sie kam immer allein. Sie hat gegrüßt und dann ist sie weitergegangen.
Ich wüsste nicht, dass sie jemals stehengeblieben wäre und sich mit jemandem unterhalten hätte.«
»Gut. Aber vielleicht fällt Ihnen noch irgendetwas ein. Jede Kleinigkeit kann ein Hinweis sein.« Die Frau schaut ins Leere. »Ja. Doch. Sie hat einen Parkplatz im Hof.
Dort stellt sie ihr Auto ab. Normalerweise geht sie immer durch die Hintertür ins Haus. Das höre ich, weil die Tür etwas klemmt.«
»Danke«, sagt Alex. Ein Auto im Hof, denkt er. Er wendet sich den Kollegen unter dem Zelt zu. Alex lässt sich den Autoschlüssel aus der Handtasche der Toten geben und ruft einen Uniformierten.
»Suchen Sie mal das dazugehörige Auto. Es könnte hinter dem Haus stehen.«
Das Licht unter dem Zelt ist so hell, dass Alex die Augen zusammenkneift. Die Frau liegt auf dem Rücken. Ihr Gesicht ist schmutzig, blutig und entstellt. Durch die Kleidung hindurch sieht man, dass ihr gesamter Körper zerquetscht ist. Sie liegt in ihrer eigenen Blutlache.
Pit Willhelms ist inzwischen eingetroffen. Er ist der Chef der Techniker und hat wohl jedes Studium abgeschlossen oder zumindest angefangen, was an europäischen Universitäten angeboten wurde, so kommt es Alexander jedenfalls vor. Es gibt kein Fachgebiet, von dem er nichts versteht, außer Lyrik vielleicht. Pit ist um die vierzig, und in Alexanders Augen ein Verrückter. Im letzten Sommer hat Alex seinen Kollegen einmal zu Hause abgeholt. Pit hat ihm sein altes Haus und den riesigen Garten, vor allem aber seine Schätze in den Garagen gezeigt. Dann hat er Alex seine Projekte erklärt und die Pläne, die er hat. Alex hat nur geschmunzelt und nichts gesagt. Wenn das alles einmal entstehen soll, dann muss Pit dreihundert Jahre alt werden.
Fertig sind bis jetzt nur die zehn Garagen, in denen er alte Autos sammelt. Das Wohnhaus ist ein Provisorium. Das Dach ist gemacht und es gibt auch Wasser und Strom, aber alles andere sind die Projekte der Zukunft. In der Küche steht ein transportabler Heizkörper, mit dem er verhindert, dass er erfriert. Er schläft auf einem Sofa unter dem Küchenfenster. Die Küche ist der einzige Raum, den er bewohnt. Dort kocht er, sieht fern, wäscht seine Wäsche und dort schläft er auch. Im Obergeschoss wird er einmal ein Schlafzimmer haben und ein Luxusbad daneben. Auch das ist Zukunft. Im künftigen Wohnzimmer liegen die Sommerreifen von drei verschiedenen Autos, der elektrische Antrieb für ein Garagentor, die Kreissäge und zehn Säcke Zement. Wenn Pit von seinem Garten spricht, dann könnte man an Rasen, Blumen und Obstbäume denken.
Pits Garten ist eher ein Lager für Steine und Kies, Schubkarren und Betonmischer. Jetzt steht dieser Mann im Schutzanzug vor der toten Frau.
Alex beobachtet jeden seiner Handgriffe. Pit kommentiert für Alex, was er tut. Er fotografiert, legt zur Nummerierung der Beweise Zahlentafeln und Pfeile auf und neben den Leichnam. Dann gilt seine Aufmerksamkeit den Reifenspuren auf dem Rand des Rasens. Er erklärt mit Gesten und dem Lichtstrahl seiner Taschenlampe, dass diese junge Frau von einem Auto absichtlich überfahren wurde.
Jemand hat sie von hinten angefahren, hat sie vorwärtsfahrend überrollt, den Rückwärtsgang eingelegt und ist noch einmal über sie gefahren.
Pit erhebt sich und sagt zu Alex: »Unfall mit Fahrerflucht könnt ihr ausschließen. Hier ist jemand ganz gezielt vorgegangen.«
Alex schaut starr auf Pit, dann fragt er nach: »Kein Unfall?«
»Nein, wirklich nicht.«
»Das bedeutet: Arbeit für uns! Ich rufe Volkmann an.« Alex holt sein Telefon heraus und informiert den verschlafenen Staatsanwalt von den Ereignissen der Nacht.
Helena steht neben Pit. Sie hat eine Handtasche und ein Telefon mit angeschlossenen Ohrhörern in der Hand. Noch immer schallt es blechern aus den Ohrstöpseln. »Hier«, sagt sie und hält beides in Alexanders Richtung. Er nimmt die Sachen entgegen. Er hält die Handtasche unter eine Lampe und schaut nach, was sie bei sich hatte.
Ein Portemonnaie, eine kleine Dose Hautcreme, Kugelschreiber, Taschentücher, ein Täschchen mit Lipgloss, Nagelfeile, Pinzette. In einer Seitentasche stecken eine Packung Kopfschmerztabletten und zwei Kondome. Ganz normaler Kram. Er reicht die Tasche an Helena zurück. »Nehmt sie in den Bericht mit auf.« Er drückt auf das Handy.
Die Musik verstummt. Alex geht den Speicher durch: Musikdateien, Adressdateien, Fotos – hauptsächlich von Pferden. Alex reicht auch das Handy an Helena zurück: »Das auch.«
Dann ist Volkmann da. Trotz der frühen Stunde hat er einen Anzug an, die Krawatte gebunden und er trägt einen langen, dunkelbraunen Schal über dem Revers seines wadenlangen Mantels. Alex hat immer Magenschmerzen bei seinem Anblick. Niemals war Volkmann unfair zu ihm. Doch er gab ihm stets das Gefühl, dass er selbst der Ermittler sei und Alex sein Handlanger. Volkmann zog die Schlussfolgerungen und er entschied auch, welche Spur welche Priorität hatte, allemal bei großen Fällen. Manchmal, wenn Alex einem Verdächtigen im Vernehmungsraum gegenüber saß, dann spürte er ganz deutlich, dass Volkmann irrte. Er hätte dann gern eine andere Strategie verfolgt, doch der Staatsanwalt bestand darauf, dass erst jeder letzte Zweifel an seiner Idee ausgeräumt werden musste, ehe man einem anderen Gedanken nachging. Das hatte in der Vergangenheit schon mehrmals dazu geführt, dass sich Ermittlungen verzögerten. Ganz klar sah Alex in diesem Mann einen Hemmschuh, ein Hindernis auf der Zielgerade zu seinem eigenen Erfolg.
Am Straßenrand elbseitig zwischen den parkenden Autos der Anwohner sieht Alex, wie Helena Zahlentafeln aufstellt, Fotos macht, Dinge aufhebt, in Tüten verpackt und weiter geht, um die Prozedur nach einem halben Meter zu wiederholen. Zigarettenkippen, denkt Alex. Doch es sind auch benutzte Taschentücher, Knöpfe, Haarnadeln und alles, was Menschen so auf der Straße fallen lassen.
Der Uniformierte kommt und bringt den Autoschlüssel zurück.
»Hinter dem Haus, erste Reihe, Parkplatz 4.«
Der Leichenwagen fährt vor und legt die Tote in einen Metallsarg.
Alex denkt, wie schon viele Male vorher: So schnell kann es gehen.
Vor zwei Stunden hatte diese junge Frau noch eine Zukunft und nun ist alles vorbei. Ein Haufen Zellgewebe in einer Blechkiste. Alex darf diesen Gedanken nicht aufkommen lassen. Er muss sich darauf konzentrieren, zu erfahren, was geschehen ist. Das ist seine Aufgabe und diese Aufgabe hatte er einmal gewollt.
Wie weiter, treibt sich Alex selbst an. Er entscheidet sich für die Inspektion des Autos der Toten. Hinter dem Haus, da wo früher die Wäschetrockenplätze angelegt waren, stehen jetzt die Autos der Bewohner. Fast alle Parkflächen sind belegt. Es ist dunkel und nur von den Straßenlaternen scheint etwas Licht durch die Lücke zwischen den Häusern. Neben den Parkplätzen ist ein Kinderspielplatz umzäunt. Alex sieht ein Verbotsschild für Hunde. Er findet den Kleinwagen in Parklücke 4 und überlegt: Sie hat ihr Auto abgestellt und ist durch die Lücke zwischen den Häusern zur Straße gegangen. Sie hatte die Ohrhörer in den Ohren und hörte Musik. Sie bog um das Haus, in dem sie wohnte und ging zur Haustür an der Vorderseite. Ehe sie die Haustür erreichte, hat sie ein Auto erfasst und überrollt. Alex versucht, die Situation nachzufühlen. Sicher hat sie den Aufprall erst wahrgenommen, als sie schon auf der Motorhaube lag. In dem Moment erlitt sie vielleicht einen Schock. Ob sie das Geschehen überhaupt noch verstanden hat? War sie sich gewahr, dass sie gerade getötet wird? Der Zeitungsbote hat ausgesagt, dass sie noch Geräusche von sich gegeben hat. Oh Gott, was für ein Wahnsinn. Er stellt sich vor, was ihm wohl durch den Kopf gegangen wäre, wenn er das erlebt hätte. Ihm ist eiskalt und er schiebt den Gedanken weg. Wem nützt das? Das macht sie nicht wieder lebendig und mir tut das auch nicht gut, denkt er.
Alex steht zwischen den Häusern. Vor ihm die Grünanlagen der Häuser, der Fußweg, die Fahrbahn, der gegenüberliegende Fußweg, noch einmal eine Grünanlage und dann das Elbufer. Er schätzt die Meter ab, die sie gegangen ist. Er schaut in die andere Richtung und er denkt, dass dort, wo jetzt eine Parklücke ist, auf der anderen Straßenseite, ein Auto auf sie gewartet haben muss. Doch das macht nur Sinn, wenn es entgegen der Fahrtrichtung gestanden hat. Er geht zu dieser Stelle und sieht Markierungen auf dem Boden. Die Spurensicherung hat diesen Platz genau untersucht. Er überlegt: Wenn das Auto entgegen der Fahrtrichtung in dieser Lücke gestanden hat, dann hat der Fahrer auf der Seite des Fußweges gesessen. Er schaut auf den Boden und sieht, dass die Spurensicherung auch dort Dinge sichergestellt hat. Es liegen noch Nummern für Beweisfotos auf dem Boden. Das Auto, das Stoßstange an Stoßstange vor dem Tatfahrzeug gestanden hat und das Fahrzeug dahinter, was Kofferraum zu Kofferraum gestanden haben müsste, lassen eine sehr lange Parklücke dazwischen frei. Aus dieser Parklücke kann man bequem herausfahren, ohne zu rangieren. Die Bordkante des Fußweges zwischen den beiden Häuserblocks ist abgesenkt und so kann man von der Straße aus den Hof befahren. Genau an dieser Stelle wird das Fahrzeug auf den Fußweg gefahren sein, jedoch nicht, um hinter die Häuser zu gelangen, sondern um auf dem Fußweg hinter dem Opfer herzufahren. So könnte es gewesen sein, denkt Alex. Volkmann steht neben Pit und lässt sich berichten.
Mit einer Handbewegung beordert er Alex zu sich. »Was haben Sie schon?«
»Die Aussagen des Auffinders, des Notarztes und einer Hausbewohnerin. Die Tote muss regelmäßig nachts nach Hause gekommen sein. Sie wohnt dort.« Alex zeigt auf den Hauseingang,
»und ihr Auto steht hinter dem Haus. Das ist vorerst alles.«
»Gut. Erstatten Sie mir sofort Bericht, wenn es etwas Neues gibt.«
Alex nickt.
Wie nun weiter, überlegt er. Das hängt ganz von der Art des Verbrechens ab, hat er vor langer Zeit gelernt und in all den Jahren hat sich das bestätigt. In diesem Fall denkt er: Gewalt gegen eine junge und zudem noch attraktive Frau ist wahrscheinlich eine Beziehungstat. Weder ihr Handy noch das Geld, das sie bei sich trug, wurden gestohlen. Alex ist sich sicher: Ich suche einen Mann, den sie abgewiesen hat. So, wie hier vorgegangen wurde, scheint er gedacht zu haben: Wenn ich sie nicht haben kann, dann soll sie keiner haben.
Alex macht in Gedanken eine Liste. Er braucht Übersicht über alle Kontakte, die die Tote hatte. Dann muss er über jedes Fahrzeug innerhalb des Bekanntenkreises Bescheid wissen. Das wird schon mal eine ganze Reihe der in Frage kommenden ausschließen. Den kleinen Rest werde ich mir genau ansehen. Die Handydaten müssen ausgelesen werden. In drei Tagen ist der Fall erledigt, wenn nicht was anderes dazwischen kommt und ich abgezogen werde.
Die Angehörigen müssen informiert werden und die Wohnung der Toten sollte er unbedingt ansehen. Was zuerst? Er schaut auf die Uhr.
Es ist erst zehn Minuten vor fünf Uhr. Lassen wir die Angehörigen noch ein wenig in seligem Unwissen, denkt er.
Alex öffnet die Haustür. Ganz oben, unterm Dach, steht ihr Name an der Tür. Er klingelt, klopft, aber alles bleibt still. Dann schließt er die Tür auf, schiebt sie ein paar Zentimeter auf und bleibt erst einmal stehen.
»Hallo! Ist da jemand?«
Nichts. Er denkt nicht, er hat keine Absicht, er versucht nur zu fühlen, wahrzunehmen. Wie riecht es, welchen Gedanken spült es in diesem Augenblick nach oben? Er hält den Blick geradeaus und steht so etwa zwei Sekunden lang wartend in der Tür. Das hat ihm ein alter Kollege vor langer Zeit beigebracht. Er sagte, achte genau auf den ersten Gedanken, den du hast! Das könnte etwas sein, was man später leicht übersieht, aber von großer Bedeutung ist. Alex hat einen feinen Geruch in der Nase. Er fühlt, dass ein Tier hier sein könnte. Vorsicht, vielleicht ein Hund! Der Flur ist schmal. Weiße Raufasertapete, Laminatboden, eine kleine Deckenlampe. In einer Ecke stehen ein Paar Schuhe und ein Paar Reitstiefel auf einem Schuhtablett. Ein Pferd, denkt Alex und seine Aufmerksamkeit wegen des Hundes lässt nach. Die Schuhe sind sauber und stehen geordnet da. Ein mannshoher Spiegel, ein halbhohes Schränkchen. Auf dem Schränkchen die leere Ladestation für das Handy. Eine Hakenleiste mit drei leeren Kleiderbügeln. Zwischen zwei Türen hängen einige Bilder an der Wand, Fotos. Alex wirft einen Blick darauf. Die Tote neben einem braunen Pferd, die Tote mit drei jungen Mädchen in Reiterkleidung. Das braune Pferd allein von der Seite. Er schließt die Wohnungstür und öffnet die Zimmertüren. Das Bad. Waschbecken und Spiegel sind blitzblank. Kein Haar ist in Kamm und Bürste.
Dieser Frau war Ordnung wichtig, denkt Alex und fotografiert mit seinem Handy. Die Küche. Der gleiche aufgeräumte Zustand. Er fotografiert, bevor er eintritt. Ein Kühlschrank, ein Küchenschrank, der Herd, das Spülbecken und der Geschirrspüler. Vor dem Fenster steht ein kleiner Tisch mit zwei Hockern. Auf dem Küchentisch sieht er eine Thermoskanne und einen Becher. Er öffnet die Kanne, riecht: Pfefferminztee, noch warm. Der Becher ist unbenutzt. Er tritt auf den Hebel des Mülleimers und der Deckel schwingt auf. Drei Teebeutel, eine zerbrochene Tasse, eine leere Packung Kaffee und ein fauliger Apfel liegen darin. Kein Krümel in der ganzen Küche, keine Dekoration, nur sachliche Nüchternheit. Ungewöhnlich für eine junge Frau, denkt Alex. Er öffnet den Kühlschrank. Zwei Flaschen Cola light, drei Zitronen, eine Packung Milch und ein Becher Quark, beide fast ohne Fett. Er kennt solche Kühlschränke. Hier setzt jemand alles daran, die Kontrolle zu behalten. Kontrolle über das eigene Gewicht, wenn es ein sehr junger Mensch ist und Kontrolle über alles und jeden, wenn es sich um einen reifen Erwachsenen handelt. Er öffnet die letzte Tür. Vorsichtig. Vielleicht ist doch ein Hund im Haus? Nein.
Ein größeres Zimmer. Es herrscht die gleiche Ordnung, wie in den anderen Räumen. Couch, ein Sessel, ein Rolltisch mit einem Laptop, Bücherregale, ein Pokal, Fotos und ein Pferd aus Plüsch. Alex fotografiert. Dann tritt er ein. Ein Kleiderschrank steht hinter der Tür.
An der Wand auch hier wieder Fotos von der Toten. Diesmal auf dem braunen Pferd sitzend in professioneller Reiterkleidung. Das Pferd hat eine runde Reiterschleife am Zaumzeug – eine Siegerehrung. Die Rückseite der Wohnzimmertür ist voller Schleifen, rund, jede mit einer Jahreszahl. Eine Dressurreiterin, denkt Alex. Das Pferd spielte im Leben der Toten eine große Rolle. Er stellt sich die junge Frau auf einem fein geputzten Pferd vor. Sie hält die Zügel in den Händen und auch ihr Anblick ist geputzt. Ihre Körperhaltung ist tadellos und gestrafft bis in die letzte Faser. Das Pferd unter ihr macht kleine Bewegungen. Sie lässt lächelnd nicht die geringste Regung erkennen.
Das Pferd macht, was sie unmerklich für andere befiehlt. Ja, denkt Alex, das passt hier her. Ein kontrollierender Mensch kontrolliert ein Tier.
Er öffnet den Kleiderschrank. Reiterkleidung in Kunststoffverpackung hängt auf der Kleiderstange, frisch aus der Reinigung. Eine Steppjacke, eine schwarze Hose, mehrere Jeans. In den Fächern liegen T-Shirts und Pullover. Kleine Kästen mit Unterwäsche, Strümpfen, Gürtel. Alex tritt einen Schritt zurück, macht ein Foto und denkt: Das erinnert an den Spind eines Soldaten.
Dann schließt er den Schrank und dreht sich um. Die Couch ist ausgeklappt. Ein Kopfkissen, eine Steppdecke und ein Nachthemd liegen säuberlich arrangiert bereit, um ein Nachtlager zu bieten. Das Nachthemd ist ein großes T-Shirt mit einem Pferd auf der Brust, große Kindergröße. Bevor er nach einem Notizbuch, Adressverzeichnis oder Kalender der Toten sucht, macht er Fotos. Er findet nichts. Dann nimmt er den Laptop und geht zum Ausgang.
Normalerweise ist es Chaos und Verwüstung, was er in den Wohnungen vorfindet. Manchmal haben die Menschen schon lange in Verwahrlosung gelebt, manchmal ist in Folge des Todeskampfes Verwüstung entstanden. Ganz abgesehen von den belastenden Gerüchen, die in einem vernachlässigten Haushalt oder von einem Leichnam ausgehen können. Einen ordentlichen Zustand findet er selten. Nun ist es zu Ende - dieses geordnete, offenbar zielstrebige, junge Leben, denkt Alex und eine Gänsehaut läuft seinen Rücken hinab. Er muss es jetzt den Angehörigen mitteilen. Das ist immer ein schlimmer Teil seiner Arbeit. Mit dem Laptop des Opfers verlässt er die Wohnung. Er versiegelt die Tür.
»Pit!«, ruft er den Chef der Kriminaltechnik, als er wieder vor dem Haus steht: »Hier, das ist der Computer der Toten. Schaut euch den mal genau an.«
Pit nimmt ihn mit einem Brummen entgegen.
»Habt ihr schon was?«
Pit nickt. »Schau mal. Der Radabstand lässt vermuten, dass es kein PKW war. Ein Kleinbus oder ein Transporter vielleicht. Das kann ich noch nicht genau sagen. Das wird dann im Bericht stehen. Jedenfalls muss es ein größeres Fahrzeug gewesen sein.«
»Aha.«
Pit weist auf die Lücke zwischen den parkenden Autos auf der Straße.
»Dort könnte das Fahrzeug gestanden haben. Wir haben ein paar Zigarettenkippen gefunden.«
Alex nickt. »Danke«, sagt er. Er hat die Parklücke auch gesehen und mit dem Tatfahrzeug in Verbindung gebracht.
Alex hat bereits recherchiert, dass die Mutter und die Schwester der Toten in der Nähe wohnen.
»Herr Kunze, kommen Sie!«, ruft er und der Mann in der Uniform dreht sich zu ihm um. »Wir müssen es den Angehörigen sagen. Ich möchte, dass Sie mich begleiten.«
Roland Köhler richtet sich in seinem Pflegebett auf, soweit es eben geht. Seit vielen Monaten schon ist das die einzige Freiheit, die er noch hat. Beinahe. Er könnte rufen und dann würde seine Frau aus dem Schlaf gerissen und zu ihm kommen und ihn fragen, was er wolle. Doch das vermeidet er. Er weiß, dass sein letztes Stück Lebensqualität von ihr abhängt. Soll sie schlafen. Wenn sie ausgeschlafen ist, wird sie ihn mit einem Lächeln fragen, ob er Tee oder Kaffee zum Frühstück wünscht. Doch jetzt versucht Roland, sich aufzurichten. Er hält den Griff, der über seinem Bett hängt und zieht sich ein wenig hoch. Was würde er darum geben, sich kraftvoll aus dem Bett zu schwingen. Doch das ist endgültig vorbei. Roland schaut durch die Tüllgardine in die Dunkelheit, ob der Scheinwerferkegel des Pflegedienstes zu sehen ist. Regelmäßig kommt eine junge Frau, die ihm die Zähne putzt und so manch anderes erledigt, wozu er seit seinem Schlaganfall nicht mehr in der Lage ist. Früher hätte er diese Frau geneckt, Witze gerissen und eine Annäherung versucht, doch auch das ist vorbei. Was, wenn ihn seine Ehefrau dabei erwischt oder schlimmer – wenn die junge Frau darauf eingeht? Er liegt nachts oft stundenlang schlaflos und wünscht sich den Morgen herbei. Sein Bett steht jetzt im Wohnzimmer, da wo er einst Gäste empfangen und vor dem Fernseher die Fußballspiele am Sonntagnachmittag gesehen hat.
Jetzt ist das Haus sein Gefängnis, das er selbst vor fünfzehn Jahren gebaut hat. Wenn es wenigstens im Zentrum des Ortes stünde, doch nein. Er hat das letzte Grundstück der letzten Straße des Dorfes vor den Toren Dresdens gekauft und dort gebaut. Hinter den Bäumen, entlang seines Zaunes, beginnen Felder, Weiden und Wiesen. Nur sein Nachbar auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat die gleiche Abgeschiedenheit gewählt wie er. Damals haben sie sich gegenseitig dazu beglückwünscht. Doch heute? Jeden Morgen klopft sein Herz voller Freude, wenn die Scheinwerfer die Ankunft eines Autos ankündigen. Vielleicht bringt es einen Besucher? Vielleicht bringt es Abwechslung in seine Gefangenschaft? Schon seit September geschieht das jeden Morgen auf merkwürdige Weise, lange bevor der Pflegedienst kommt. Roland sieht nur das Dach eines Autos. Es hält vor dem Nachbarhaus, gegenüber.
Manchmal dauert es ein paar Minuten, manchmal geschieht es gleich nach der Ankunft: Eine Frau um die sechzig steigt aus und geht in Richtung des Feldes. Roland kann aus seiner Position nur ihren Kopf erkennen. Sie hat ein Fernglas und verschwindet damit aus seinem Blick in Richtung Feld. Wenn sie zurückkommt, ist ihr Gesicht tränennass. Meistens startet sie das Auto, wendet und fährt schnell davon. Wenig später laufen die beiden Kinder vom Misthof an seinem Haus vorbei. Misthof, so nennt Roland den schlampigen Reiterhof auf der anderen Seite des Feldes. Der vorbeilaufende Junge ist Erstklässler und der Sohn des Bauern, das größere Mädchen kennt Roland nicht. Sie muss erst seit kurzem dort wohnen. Was hat das zu bedeuten?, grübelt er jeden Morgen. Wird eine Entführung vorbereitet? Als ob es auf dem Misthof etwas zu holen gäbe! Je länger er über die Frau mit dem Fernglas nachdenkt, umso unheimlicher wird ihm das. Sollte er es seiner Frau erzählen? Lieber nicht.
Abwarten, das wird sich schon noch aufklären, beruhigt er sich selbst.
Der Misthof gehört nicht mehr zum Ort. Er gehört zu den Dörfern, drüben auf dem Hochland. Der Weg zwischen den Feldern ist viel kürzer als der Umweg über die Straße. So nehmen die Kinder jeden Tag den Weg über die Bergkuppe, um zur Schule zu kommen. Kein schöner Schulweg, denkt Roland und hat Mitgefühl mit den beiden Kindern. Er sieht die Scheinwerfer des Pflegedienstes. Gleich beginnt für ihn ein neuer Tag mit dem Geschmack von Pfefferminzzahnpaste.
Alexander List und sein Kollege, Polizeimeister Wolfgang Kunze, steigen die Treppe zum ersten Stock hinauf. An der Wohnungstür der Mutter der Toten hängt ein Türkranz mit Lampionblumen, Herbstlaub, Kastanien. Zu beiden Seiten der Wohnungstür stehen mannshohe Oleanderbüsche in Töpfen. Das Klingelschild ist aus Messing. Hofmeister steht darauf, kein Vorname. Alex schaut zu seinem Kollegen, dann tritt er auf die Fußmatte mit dem Rosenmuster und drückt auf den Klingelknopf. Eine Melodie ertönt. Wenn Alex die Wahl hätte, dann würde er lieber eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt erdulden als das, was er jetzt zu tun hat.Eine Frau um die fünfzig im weißen Bademantel öffnet die Tür. Verschlafen schaut sie Alex an und dann Kunze. Ihr Gesicht verändert sich und dann sagt sie leise: »Nein, nein!« Sie starrt die beiden abwechselnd an und schüttelt den Kopf.
»Frau Verena Hofmeister?«
Die Frau nickt, hält sich die Hand vor die Brust. Ihr Gesicht ist weiß und ihre Augen aufgerissen.
»Wir müssen Ihnen leider eine schlimme Nachricht überbringen.
Können wir hineingehen?«
Die Frau dreht sich um und geht in die Wohnung. Die beiden Polizisten folgen ihr ins Wohnzimmer. Blühende Orchideen, kunstvolle Gardinenarrangements und ein dicker, chinesischer Teppich fallen Alexander auf.
»Nicht Tanja, nein«, flüstert sie und schüttelt den Kopf. Kunze ist zum Sprung bereit, sie aufzufangen, falls es nötig wird. Er nimmt ihren Arm und führt sie zum Sofa. Sie setzt sich.
Alexander nickt nur.
»Was? Wieso? Ein Überfall? Ich habe es immer gewusst. Irgendwann musste es so kommen.«
»Ihre Tochter Tanja ist heute Morgen von einem Auto überfahren worden. Sie ist noch am Unfallort verstorben.«
»Sind Sie ganz sicher? Ist es wirklich meine Tanja?«
»Ja.« Alex berichtet von dem flüchtigen Unfallfahrer und davon, dass die Spurensicherung den Unfallort untersucht und auch, dass der Hergang des Unfalls noch nicht ganz eindeutig ist. Einen Moment lang überlegt er, ob er dieser armen Frau noch mehr zumuten kann.
Dann sagt er: »Wir haben den Verdacht, dass es kein Unfall war. Sie ist auf dem Fußweg vor ihrem Haus erfasst worden. Auf dem Gehweg.«
Verena Hofmeister starrt fassungslos ins Leere und schüttelt noch immer den Kopf. »Das muss ein Irrtum sein.«
Ein junges Mädchen im Nachthemd steht barfuß in der Tür. Sie ist ebenso bleich wie ihre Mutter.
»Mein Beileid, Ihnen beiden«, sagt Alexander und wartet eine Sekunde. »Fühlen Sie sich in der Lage mir ein paar Fragen zu beantworten?«
Verena Hofmeister nickt.
»Was könnte Ihre Tochter um diese Zeit unterwegs gemacht haben?«
»Sie wird von der Arbeit gekommen sein. Sie kam immer nachts nach Hause. Nicht regelmäßig, aber immer nachts.«
»Was hat sie denn gearbeitet?«
»Sie ist, war, Pächterin eines Cafés in einem Studiokino. Je nachdem, wann der letzte Film zu Ende war, machte sie Feierabend. Manchmal war es halb zwölf und manchmal später. So genau weiß ich das auch nicht.«
»Wie lange hat sie das schon gemacht?«
»Ein oder zwei Jahre.«
»Sie wissen es nicht so genau?«
»Damals, als sie von der Schule ging, gab es einen schrecklichen Streit. Ich habe ihr vorgeworfen, dass sie ihre Chancen verspielt, wenn sie nicht das Abitur macht, studiert. Ich habe sie allein groß gezogen, wie auch ihre Schwester Svenja.«
»Sie sind Svenja?«, fragt der Kommissar das Mädchen in der Tür.
»Ja.«
»Als ich mit Svenja schwanger war, ist der Vater der Mädchen abgehauen. Ihm war das zu eng, zu kleinkariert. Er wollte das Abenteuer, das große Leben. Mich hat keiner gefragt, was ich wollte.
Ich wollte die beiden Mädchen zu lebenstüchtigen Frauen heranwachsen sehen. Mein Leben hat sich dem untergeordnet.« Die Frau scheint den Faden verloren zu haben. Sie starrt auf die Hände in ihrem Schoß.
»Was war Tanja für ein Mensch, Frau Hofmeister?«
»Ein schwieriger Mensch, von klein an. Sie war laufend krank, sie war eifersüchtig auf ihre Schwester, sie wollte nicht in die Schule gehen, hat geschwänzt. Dabei fiel ihr das Lernen leicht. Dann kam die Essstörung. Was habe ich nicht alles unternommen, um ihr zu helfen.
Endlose Stunden habe ich bei Ärzten zugebracht, mit ihr Therapien besucht, besonderes Essen gekocht, aber letztlich war alles für die Katz.«
»Was heißt das?«
»Wer nicht will, dem kann man auch nicht helfen. Ich habe dann aufgegeben und mit ansehen müssen, wie sie dünner und dünner wurde. Sie hat mich regelrecht gequält damit.«
»Wie alt war sie da?«
»Dreizehn, vierzehn. Dann hat sie diese Reiterei für sich entdeckt. Sie wurde bewundert, weil sie so dünn war. Das Pferd hätte es dadurch leichter. Welcher Irrsinn. Ich habe diesen Gaul gehasst. Er hat mir meine Tochter genommen. Dieses Vieh hat sie vom rechten Weg abgebracht.«
»Hat sie allein gelebt?«
Verena Hofmeister nickt. »Zumindest hat sie nie etwas anderes gesagt. Anfangs hat sie gelegentlich Männer hierher mitgebracht. Das habe ich mir verbeten. Sie hat uns vorgeführt, wie auf dem Pferdemarkt. Schließlich habe ich ihr gesagt, sie solle mir nur noch den vorstellen, der ihr auch einen Antrag gemacht hat. All die Typen, die nur ihren Spaß haben wollen, soll sie mir ersparen. Sie hat dann nie mehr einen mitgebracht.«
»Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Tochter Feinde hatte?«
Sie schüttelt den Kopf: »Ich weiß es nicht. Sie war eine erwachsene Frau und hatte ihr eigenes Leben. Woher sollte ich wissen, was da vorging? Manchmal hat sie uns besucht für eine halbe Stunde. Dann haben wir geplaudert. Wenn sie Geburtstag hatte, waren wir bei ihr eingeladen. Sie war flügge.«
»Haben Sie ein Auto?«
»Ja, einen…«, sie stockt in ihrer Rede. »Wollen Sie damit sagen, dass auch ich unter Verdacht stehe? Das ist ja das Letzte. Sie sprechen von meiner Tochter! Sie hat in meinem Bauch ihren Anfang genommen und an meiner Brust gelegen.« Ihre Unterlippe zittert.
»Nein, so war das nicht gemeint, selbstverständlich nicht. Aber wir müssen in so einem Fall systematisch vorgehen und über jedes bekannte Fahrzeug eine Liste anlegen. Es tut mir leid, es ist ein rein sachlicher Vorgang.«
»Ja, ich habe ein Auto.« Sie zieht aus ihrer Handtasche die Fahrzeugpapiere und Alexander fotografiert sie. Noch immer ist sie außer sich. Das Dreieck um ihren Mund ist weiß. Alexander sieht, wie schlecht es ihr geht und überlegt einen Augenblick. Er würde sie gern aus dieser Beklemmung herausholen, zumindest versuchen sollte er es.
»Wie würden Sie den Charakter Ihrer Tochter beschreiben?«
»Was wollen Sie hören?« Die Stimme von Verena Hofmeister hat etwas Aggressives. »Sie war eigensinnig. Sie hat von einer Tante etwas Geld geerbt und davon hat sie sich ein eigenes Pferd gekauft.
Ich war dagegen. Dieses Tier hat sie wie närrisch geliebt. Sie war eine gute Schülerin, hätte Abitur machen können und studieren. Doch sie wollte Geld verdienen für die Freiheit, die auf dem Rücken dieses Pferdes liegen soll. Ich habe sie ermahnt, angefleht und ich habe ihr gedroht. Doch das hat alles nichts geholfen. Sie hat jede Gelegenheitsarbeit gemacht, die sie finden konnte. Sie ist ausgezogen, als sie achtzehn war, im Streit. Sie hat dann eine Zeit lang in dem Stall geschlafen, wo sie ihr Pferd hatte. Alle haben gesagt: Das geht vorbei.
Wenn die Pubertät vorüber ist, dann verschwindet auch der Pferdewahn. Doch darauf habe ich bis gerade eben noch gewartet. Ich hatte so große Hoffnungen für sie. Sie hätte alles erreichen können.«
»Sie waren mit dem, was Ihre Tochter tat, nicht einverstanden?«
Frau Hofmeister beginnt zu schluchzen, Tränen rollen über ihr Gesicht. »Sie war ein wunderbarer Mensch. Sie ging ihren Weg. Sie war tierlieb und geradlinig. Sie war sauber und ordentlich. Sie war eigensinnig und klug. Sie war mein Kind und nun ist sie tot und das ist nicht richtig!« Bei den letzten Worten erstickte ihre Stimme beinahe. »Finden Sie den Kerl, der das getan hat. Bitte! Lassen Sie mich jetzt allein. Ich kann nicht mehr über meine Tochter reden.«
»Es tut mir sehr leid für Sie.«
Das Mädchen im Nachthemd gibt die Tür frei und begleitet die Polizisten zum Ausgang.
»Wie kann ich Sie erreichen?«, fragt sie flüsternd.
Alexander List übergibt ihr seine Visitenkarte. »Wollen Sie mir noch etwas sagen?«
»Nicht jetzt. Das geht nicht.«
Eine Frau ist in Eile. Sie hat dunkelbraune Haare bis zur Schulter mit einem Mittelscheitel. Man könnte sie jünger schätzen, aber sie ist schon um die Dreißig. Ihr Gesicht ist symmetrisch perfekt. Sie hat große blaue Augen und eine makellose Haut. Sie ist eine Schönheit, doch ihr fehlt das Strahlen der Lebensfreude. Sie trägt Turnschuhe, schwarze Hose, Parka und einen Rucksack über der linken Schulter.
Gegen den Regen hat sie die Kapuze über den Kopf gezogen und sie geht mit langen, eiligen Schritten. Sie könnte langsamer gehen, sie hat noch genügend Zeit. Sie hätte die Straßenbahn nehmen können, die gerade an ihr vorbei fährt, doch sie will gehen. Sie treibt sich selbst an. Sie gönnt sich keinen Moment der Gelassenheit. Sie weiß, dass sie zu hadern beginnt, wenn sie die Spannung lockert. Nur so kann sie weitermachen. Physisch ist sie nicht in Gefahr. Das ist vorbei. In der Vergangenheit hat sie viel nachgedacht, viel zu viel. Sie hat alles über Bord geworfen, woran sie und ihre Angehörigen glaubten.
Manchmal, wenn ihre Gedanken ihre eigenen Wege suchen, dann wünscht sie sich, sie könnte endlich resignieren. Dann könnte sie wieder Ruhe finden und ein ganz normales, einfaches Leben führen.
Irgendwann wird es so sein, lautet das Mantra, mit dem sie sich antreibt. Sie muss Zeit gewinnen. Wenn sie erst im Kopf versteht, dann wird sie auch Wege finden, im Herzen zu verstehen. Davon ist sie überzeugt, schon seit vielen Jahren. Seit jenem Verbrechen an ihrem Vater. Damals war sie noch Studentin. Lehramt. Mathe und Sport. Wie unglaublich stolz war sie, als sie immatrikuliert wurde. Sie hatte es geschafft. Auf Anhieb. Das Lernen fiel ihr leicht. Sie begriff schnell. Sie wollte ihre Sache gut machen, wenn sie erst Lehrerin wäre. Damals glaubte sie noch, sie könnte allen Kindern mit offenem Herzen begegnen. Dann zog die schwarze Wolke über ihre Familie.
Am Anfang war es eine private Tragödie. Man musste das Leben neu organisieren. Da war ihre Mutter, die seitdem wie im Schock lebt, und da war ihre jüngere Schwester. Sie ging damals noch zu Schule, hatte Prüfungen. Auch sie selbst musste das Examen bestehen. Wie ein Automat antwortete sie auf alle Fragen. Mit unsäglicher Wut und Trauer warteten sie darauf, dass das Geschehene aufgearbeitet wird, amtlich. Endlich kam der Tag der Gerichtsverhandlung. Was dann geschah, war mindestens genauso schlimm, wie das Unglück selbst.
Verhöhnt, verlacht, beschmutzt, erniedrigt – nein, in den Dreck gestoßen, gingen sie nach Hause.
Dann sollte die Zeit der Heilung kommen. Der Abgrund ihres gemeinsamen familiären Unglücks war wie ein Sog, der alles verschlang. Ihre Mutter suchte Antworten in der Religion. Niemand in der Familie war bisher an Pfarrers Segen interessiert. Ihre Mutter wurde immer aufgelöster. Es gab nichts, was sie nicht mit einem Gebet verband. Ihre Schwester hatte die Prüfungen gut hinter sich gebracht. Danach begann sie zu rauchen und zu trinken. Zum Glück hat sie das inzwischen gelassen. Es fehlte ihr bald das Geld dazu. Jetzt hüllt sie die Mutter in Watte. Wenn die Schwester wenigstens eine Idee von dem hätte, was sie selbst einmal mit ihrem eigenen Leben anfangen will.
Die Frau mit den eiligen Schritten ist innerlich erkaltet. Der Anblick eines kleinen Hündchens oder ein fremdes Lächeln wärmten früher ihr Herz. Das ist lange her. Wenn sie auf die Menschen schaut, zum Beispiel während einer Zugfahrt, dann versucht sie sich vorzustellen, welche Abscheulichkeit der eine oder andere gerade vor ein paar Minuten begangen hat. Begegnet ihr jemand freundlich, dann erwartet sie Betrug und Gemeinheit. Die Frau jongliert ohne Unterlass mit ihren Gedanken, immer darauf bedacht, dass ihr keiner herunterfällt. So ein gefallener Gedanke kann viel Unheil anrichten in einer Seele, die einen tiefen Graben hat. So ein gefallener Gedanken landet schnell an der tiefsten Stelle dieses Grabens und verursacht Schmerzen, die sie nicht mehr aushalten kann. Also ist sie immer in Eile, immer in Gedanken an sachlich, reale Dinge. Sie denkt immerzu: Nur nicht zur Ruhe kommen, das bringt mich um. Sie hat es weit gebracht damit.
Sie sehnt sich nach der Leichtigkeit ihrer Jugend. Nach Träumen, die wahr werden. Schon wieder war einer ihrer Gedanken nahe an dem Zünder der Mine, ganz unten in ihrer Seele.
Damals, im Gerichtssaal, als sie wusste, dass sie den falschen Beruf ergriffen hatte, war ihr jede Alternative recht. Sie bewarb sich überall.
Sie bekam nur Absagen. Ausgerechnet da, wo sie die Quelle allen Übels sah, wollte man sie haben. Also gut, dachte sie, machen wir eine Konfrontationstherapie. Zuerst studierte sie noch einmal, dann drückte sie verschiedene Bürostühle. Immer, wenn Routine zum Alltag wurde, kamen die schmerzhaften Gedanken wieder. Deshalb hat sie sich auf jede ausgeschriebene Stelle beworben, die neue Aufgaben stellt. Sie ist in zwei Jahren die Karriereleiter um vier Stufen hinaufgestiegen. Außer, dass es ihren Ehrgeiz mästet, bringt es ihr nichts vom elementaren Vertrauen zurück, das sie damals verloren hat.
Besonders schlimm ist es immer, wenn sie abends im Bett liegt und das Rattern ihrer Gedanken sie nicht schlafen lässt. Dann baut sie Luftschlösser. Sie stellt sich vor, dass sie in einer wunderschönen Wohnung wohnt. Stuck an der Decke, eine Veranda mit Bleiglasfenstern, Türklinken aus Messing und all das direkt an einem Park. Sie möbliert die Räume, erträumt sich Gardinen, Lampen, Teppiche, Blumenvasen und Bücherregale und sie entwirft ein Sofa, das sie sich maßgenau anfertigen lassen wird. Sie träumt von romantischen Kleidern, Ohrringen und hochhackigen Schuhen. Sie überlegt sich für jeden Wochentag eine neue Frisur und sie träumt von einem großen Schrank voller Handtaschen. Später wird alles wieder gut sein. Dieser Gedanke ist die Krücke für ihre wunde Seele.
Später wird sie leben, später wird sie eine Familie gründen, später wird ihre Mutter wieder zu Lebensfreude finden, später wird die Schwester endlich für ihr eigenes Leben Verantwortung tragen, später wird sie promovieren. Später ... Irgendwann erlöst sie der Schlaf von dem Krampf, nicht an die hoch explosive Stelle in ihrem Inneren zu stoßen.
Sie hat das Polizeipräsidium der Stadt Dresden beinahe erreicht. Sie schaut auf das alte Gebäude, das an ein italienisches Renaissanceschloss erinnern soll. Es hat Türme, wie eine Burg. Das flache Dach verbirgt sich hinter einer umlaufenden Balustrade.
Italienischer Landhausstil, steht im Reiseführer. Die Frau sieht eher ein Element, das sich eignet, Schützen Deckung zu bieten, falls das Gebäude einmal belagert werden sollte. Heute wird darin für sie ein neuer Abschnitt ihrer Berufstätigkeit beginnen. Sie müsste aufgeregt sein, sich freuen. Das Tempo ihres Herzschlages ist bestimmt vom Tempo ihrer Schritte. Alles andere dringt nicht mehr zu ihr durch. Sie freut sich schon lange nicht mehr. Sie kennt nur noch den Drang nach vorn und sie erwartet immer, dass Menschen ihr wehtun.
Alexander List öffnet die Tür seines Dienstzimmers. Er hängt die Lederjacke über seine Stuhllehne. Die Federung des Stuhles wird heruntergedrückt, denn diese Jacke ist schwer. Außer seinem Dienstausweis und der Dienstmarke enthält sie alles, was er möglicherweise gebrauchen könnte. Da sind Gummihandschuhe, Plastiktüten, Pinzette, Wattestäbchen und Notizbuch. Auch Handschellen hat er dabei.
Seine Waffe trägt er in einem nagelneuen Holster unter dem linken Arm. Doch er trägt sie nur, wenn er im Dienst ist. Er hat seine Waffe noch nie mit nach Hause genommen. Das ist ihm zu gefährlich. Und zu dieser Vorsicht hat Alex allen Grund. Der Aufhänger am Kragen seiner Jacke ist längst abgerissen und seine Frau Caro hat ihm eine kleine, stabile Kette aus Metall an dieser Stelle angenäht. Seine privaten Utensilien: Schlüssel und Portemonnaie trägt er in der linken Hosentasche, rechts hat er das Handy. Es vibriert. Er hält es ans Ohr:
»Ja.«
»Guten Morgen, Alex. Hier ist Marion. Du sollst bitte sofort zum Chef kommen«, sagt die Sekretärin des Leiters der Mordkommission.
»Was gibts?«
»Das wird er dir selbst sagen.« Alex zieht seine Jacke wieder über – man weiß ja nie - und mit seiner Jacke hat er auch alles dabei, was er brauchen könnte. Dann geht er. Im Zimmer des Kriminalrates Hans-Jürgen Germer sitzt eine Frau. Sie ist groß, sportlich, hat schulterlange braune Haare mit Mittelscheitel, schwarze Hose, Turnschuhe. Alex ist auf alles vorbereitet, immer, aber diese Frau hätte er nicht erwartet.
Der Chef sagt: »Kriminalkommissarin Julia Kranz muss ich dir nicht vorstellen, Alex? Schließlich hast du damals die Grabrede ihres Vaters gehalten. Sie hat bisher im Dezernat für Versicherungsbetrug gearbeitet und hat die besten Referenzen.« »Guten Morgen, Julia!«, sagt Alex und reicht der Frau die Hand. »Welche Überraschung!«
»Guten Morgen, Alexander«, antwortet die Frau scheinbar emotionslos.
Germer weist auf die Sessel in der Fensternische seines Arbeitszimmers. »Man hat unsere Gebete erhört«, sagt er lächelnd und zeigt mit dem Zeigefinger nach schräg oben, ungefähr in die Richtung, in der Dr. Wolfgang Wiegold, Kriminaloberrat und Leiter der Kriminalpolizei sein Dienstzimmer hat. »Wir haben Verstärkung bekommen. Zwar ist es nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber immerhin. Sie wird in deinem Zimmer sitzen und vorerst mit an dem neuen Fall arbeiten.«
»Prima!«, sagt Alex und macht zu Julia eine Handbewegung, »Los gehts!«
Die beiden gehen den langen Gang im Polizeipräsidium nebeneinander her. Hinter den Türen der anderen Dienstzimmer herrscht morgendliche Betriebsamkeit. Alex bleibt vor dem Kaffeeautomaten stehen, wirft zwei Münzen ein und entnimmt zwei Becher Kaffee.
Neben dem Automaten stehen Tisch und Stühle, eine Grünpflanze und über dem Tisch hängt ein gerahmtes Foto mit Trauerflor. Es ist das Bild von Julias Vater. »Alex, ich wusste nicht, dass ich dir zugeteilt werde.«
»Hast du ein Problem damit?«
»Naja, nein. Also, ich dachte, dass du ein Problem hast. Schließlich wirst du an die schlimme Geschichte von damals wieder erinnert.«
Alex zeigt auf das Bild an der Wand: »Denkst du, ich könnte das je vergessen? Ich habe monatelang mein Gesicht im Spiegel nicht ertragen, weil ich mir die Schuld an seiner schlechten Sicherung gegeben habe. Noch heute kann ich mich nicht freisprechen davon.
Aber letztlich war es Zufall, dass es so gekommen ist. Die Chance, dass es mich erwischt hätte, stand fünfzig zu fünfzig. Glaub mir Julia, wenn ich könnte, würde ich alles dafür tun, dass es andersherum wäre.« Er reicht ihr einen Kaffeebecher und sein Blick bleibt an Martins Foto hängen.
Viele Jahre ist es her, dass er und Martin gemeinsam in Zivilkleidung auf Streife waren. Alle verfügbaren Polizisten waren in jener Nacht unterwegs. Man suchte einen Mann, der schon mehrere Frauen vergewaltigt hatte. Er saß im Winter in der Dunkelheit der späten Nachmittagsstunden immer in seinem Auto nahe einer Parkanlage. Wenn sich eine Frau näherte, sprang er heraus, warf sie zu Boden und zerrte sie ins Gebüsch. Polizistinnen liefen als Lockvögel durch die Gegend.
Nach einigen Wochen sah Martin in der Ferne ein Auto auf einem Parkplatz einer Sportanlage. In der Dunkelheit saß ein Mann auf der Beifahrerseite. Als sich Alex und Martin näherten, duckte sich der Mann und das Auto schien leer. Alex und Martin nickten sich zu, dann traten sie an das Auto. Ein Mann lag auf den Vordersitzen.
Martin klopfte an die Scheibe. Der Mann erhob sich, lächelte, öffnete die Tür.
»Guten Tag, Polizei«, Martin hielt seinen Ausweis hin, »Was machen Sie hier? Ihre Papiere bitte.«
»Ich warte auf meinen Sohn. Der trainiert hier. Ich habe nur mal kurz die Augen zugemacht, war ein langer Tag heute.«
»Ihre Papiere bitte.«
»In meiner Aktentasche, im Kofferraum«, sagte er und machte eine Kopfbewegung.
»Bitte!«, Martin war schon ein wenig nachdrücklicher.
Der Mann stieg aus, ging zum Kofferraum, doch er öffnete ihn nicht.
Er drehte sich langsam um. In dem Moment erkannte Alex, dass der Mann eine Waffe in der Hand hielt. Noch ehe Alex seine eigene ziehen konnte, traf ihn ein Strahl von Martins warmem Blut.
Unzählige Male haben alle Polizisten geübt, was in so einem Fall zu tun ist. Alex sah den Kerl davonrennen. Von ihm ging in diesem Moment keine weitere Gefahr aus. Bevor er sich um Martin kümmerte, gab er die genaue Stelle des Ereignisses und das Geschehen an den Einsatzleiter weiter. Martin stand an dem Auto und hielt sich mit einer Hand fest. Mit der anderen drückte er ungläubig gegen seinen Hals. Zwei Einschüsse hatte er direkt nebeneinander und das Blut schoss in Intervallen durch seine Finger. Sekunden später saß Alex auf dem Boden, Martins Kopf auf dem Schoß. Vier Hände versuchten, die Blutung zu stoppen. Noch bevor die Kollegen und der Notarzt bei ihnen waren, verlor Martin das Bewusstsein. Wenig später war er tot.
Julia nimmt den Kaffeebecher und sagt – das erste Wort besonders betonend: »Das war ein Unglück. Es war schlimm für uns alle, für Mutter, für mich und meine Schwester. Auch für dich. Was später kam, hat mir weit mehr zu schaffen gemacht. Daran kaue ich noch heute und das hat nichts mit dir zu tun oder mit irgendeinem Polizisten.«
»Was meinst du?«
»Vielleicht mal später. Wenn ich jetzt davon rede, verliere ich die Fassung und das ist am ersten Arbeitstag hier kein guter Zustand.« Sie leert den Becher und wirft ihn in den Eimer. »Wolltest du nicht Lehrerin werden? Du warst fast fertig mit dem Studium. Ich habe mich gewundert, dass du zur Polizei gegangen bist?«
»Ja. Damals, als wir alle auf dem Friedhof standen, hätte ich mir das auch nicht vorstellen können. Jetzt ist es aber so und ich will es nicht anders. Ich bin froh, dass ich es bis hierher geschafft habe und ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit dir.« Alex öffnet die Tür ihres gemeinsamen Büros. Der zweite Schreibtisch, jener an dem Julia arbeiten soll, liegt verborgen unter Bergen von Akten, Computerteilen, Druckerpatronen und einem Tischkopierer. Alex zieht den Schreibtischstuhl heran, nimmt einen vollen Pappkarton vom Sitz und sagt mit einem entschuldigenden Lächeln: »Einen Stuhl hätten wir schon mal.«
Es klopft. In der Tür steht Svenja Hofmeister. Vor wenigen Stunden hat sie ihre Schwester verloren. Normalerweise sind Befragungen, Vernehmungen oder sonstige Kontakte mit Bürgern in einem eigens dafür eingerichteten Zimmer durchzuführen. Dienstanordnung 23/91: Es ist unbedingt zu vermeiden, dass ermittlungsinterne Informationen, die in Dienstzimmern unvermeidlich sichtbar sind, von ermittlungsfernen Personen einzusehen sind, lautete die Begründung, oder so ähnlich.
Alex bittet Svenja Hofmeister herein, bietet ihr den gerade freigelegten Stuhl an. Noch hat er die Details des Falles nicht aufgearbeitet, noch ist alles nur in seinem Kopf. Es gibt noch keine ermittlungsinternen Informationen einzusehen. Dass die junge Frau den Zustand des Dienstzimmers sieht, macht Alex nichts aus.
»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Sie wollten noch etwas sagen?
»Ja. Es gab da so eine dumme Geschichte. Ich weiß nicht, ob es Ihnen weiterhilft und ich erzähle sie nur ungern. Ich will nicht, dass Mutter davon erfährt. Sie würde mir endlos Vorwürfe machen. Sie versteht mich nicht.«
»Worum geht es?«
»Tanja und Mutter sind in einer bestimmten Hinsicht aus dem gleichen Holz. Wenn sie von etwas eine Idee haben, dann sind sie nicht zu beeinflussen, beide. Mutter will zwei brave Töchter, die treu und bieder ihren Weg gehen und Tanja will alles. Das verträgt sich nicht.
Es gab immer Reibereien und keine von beiden hat nachgegeben.«
Julia hat sich mit dem Rücken an das Fensterbrett gelehnt. Alex sitzt hinter seinem Schreibtisch und Svenja davor. Alex versucht, so wenig wie möglich in Svenjas Wahrnehmung zu treten. Wenn sie von selbst spricht, dann sollte sie nicht unterbrochen werden. Sie redet von ihrer Schwester noch, als käme die gleich zurück. Er wird sie nicht korrigieren. Er will nur hören, nickt ihr zu, damit sie spürt, er hat sie verstanden.
»Man darf von Toten nichts Schlechtes sagen. Ich will aber, dass Sie das Schwein fassen, der ihr das angetan hat. Tanja war keine Heilige, wirklich nicht, aber das hat sie nicht verdient. Niemand hat das verdient.«
Alex nickt.
»Tanja war ein Biest. Sie war zwölf Jahre älter als ich und ich habe sie bewundert.«
Ohne die geringste Regung zu zeigen überschlägt Alex, dass die junge Frau vor ihm noch nicht volljährig ist. Siebzehn, vielleicht erst sechzehn. Um sie zu befragen, braucht es Vollmachten, das Einverständnis der Mutter wenigstens. Er hört ihr zu, egal, ob volljährig oder nicht.
»Sie hatte alles, wovon ich nur träumen kann. Sie war ausgezogen, hatte eine Wohnung, verdiente ihr eigenes Geld. Sie konnte jeden Mann haben, den sie wollte. Sie war die Größte für mich. Sie saß oben auf dem Pferd – auf dem hohen Ross. Ich bin Mutters Fußsoldat.
Wenn unsere Mutter etwas getan haben will, legt sie mir einen Zettel hin und ich mache, was draufsteht. Tanja gab mit ihrer Peitsche nur kleinste Befehle und alles gehorchte ihr. Haufenweise standen die Mädchen neben ihren Pferden und warteten auf ihr Kommando. Auf mich hört niemand. Ich bin diejenige, die springt, wenn Mama pfeift.«
Alex hebt fragend die Augenbrauen.
»Ich bin einfach zu nett. Wenn die Leute gewusst hätten, wie Tanja über diese Mädchen gedacht hat, niemand wäre zu ihren Reitstunden gekommen. Speckbarbies nannte sie alle, die nicht untergewichtig waren. Wenn sie über die Mädchen sprach, blies sie die Wangen auf.
Das Kuriose war, dass die ganz närrisch nach ihr waren. Tanja hinten, Tanja vorne. Wenn Tanja ein blaues Tuch um den Hals trug, kamen beim nächsten Mal garantiert ein oder zwei auch mit blauen Tüchern.
Tanja sagte einmal, dass sie Katzen lieber mag als Hunde. Beim nächsten Mal hatte ein Mädchen ein T-Shirt mit einem Katzenbild an.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich bin lange Zeit ein solches Mädchen gewesen. Sogar ich wurde beneidet, weil ich eine so coole Schwester hatte.«
»Sie liebte Pferde und sie wurde dafür geliebt, das ist etwas Schönes.«
»Sie liebte die Pferde nicht. Für sie waren es Sportgeräte, mit denen sie besonders gut aussah. Es waren Kreaturen, die sich nicht gegen sie wehren konnten. Sie hat sie drangsaliert. Ich glaube, meine Schwester hat nur sich selbst geliebt.« Svenja schaut nach oben, als ob sie um Fassung ringt. »Es machte ihr Spaß, das Gegenteil von dem zu tun, was Mama wollte. Wenn es Essen gab, hatte sie keinen Hunger. Wenn sie mich vom Kindergarten abholen sollte, damals, hatte sie keine Zeit. Wenn Mama von ihr verlangte, dass sie Staub saugen sollte, bekam sie Husten. Mama hat nur noch geschimpft. Als ich in die zweite Klasse kam, zog Tanja aus. Aber sie war einmal in der Woche da und ich vergötterte sie. Sie brachte mir Geschenke mit, die ich von Mama nie bekommen hätte. Als ich zehn war, nahm sie mich zum Reiten mit. Wenn Mama etwas dagegen hatte, dann drohte Tanja überhaupt nicht mehr zu Besuch zu kommen. Also gab Mama immer nach, obwohl sie es nicht wollte.«
Alex schaut zu Julia. Sie steht regungslos am Fenster und blickt auf die junge Frau. Julias Gesicht zeigt gespannte Aufmerksamkeit.
Weder Zweifel noch Fragen erkennt man in ihren Augen. Was denkt sie, würde er gern wissen, doch er wendet sich wieder an Svenja.
»Denken Sie, dass eines der Reitermädchen etwas mit dem Tod Ihrer Schwester zu tun hat?«
Svenja schüttelt den Kopf: »Nein, die würden sich für sie in Stücke reißen lassen.«
»Was ist ihr Verdacht?«
Eine stumme Träne läuft über ihre Wange. »Ich glaube, ich habe ihr das eingebrockt. Wenn ich damals nicht so naiv gewesen wäre, würde sie bestimmt noch leben.«
»Was ist geschehen?«
»Ich war zum ersten Mal total verliebt in einen Jungen aus der Klassenstufe über mir. Ich fand ihn so süß. Dann traf ich ihn in der Disko und wir haben geknutscht. Er wollte meine Handynummer und er gab mir seine. Am nächsten Tag habe ich ihn angerufen. Ich wollte mich mit ihm treffen, doch er hatte keine Zeit. Er sagte, dass er mich anruft, wenn es zeitlich klappt. Tag und Nacht habe ich nur an ihn gedacht. Ich habe das Handy nicht aus der Hand gelegt, für den Fall, dass er anruft. In der Schule habe ich vor seinem Klassenraum gestanden, um ihm zuzuwinken. Nach zwei Wochen hat er gesagt, dass er mich ätzend findet und ich ihn in Ruhe lassen soll. Ich war komplett am Ende. Ich habe geheult und hatte die schlimmsten Gedanken.
Dann kam Tanja. Ich habe ihr den Schlamassel erzählt und sie hat nur gelacht. Das macht man ganz anders, hat sie gesagt. Sie brachte Eintrittskarten für den Karneval mit. Mutter haben wir erzählt, dass im Stall die Handwerker arbeiten und wir mithelfen müssen. Deshalb kämen wir erst spät wieder, vielleicht schlafen wir auch gleich im Stall.«
Alex denkt: Das klingt nicht gut.
»Sie hat uns zwei Kostüme besorgt und dann wollte sie mir zeigen, wie das geht, mit den Kerlen. Als wir in der Kneipe waren, hat sie gesagt, ich solle einen für sie aussuchen. Ich habe auf einen Typen gezeigt, von dem ich überzeugt war, dass es bestimmt nicht klappt.
So einer mit Sonnenbrille und Haargel, Markenklamotten und so. Sie ist so auf ihn zugegangen, dass sie zusammengestoßen sind. Sie sagte, dass sie eine Kontaktlinse verloren habe und ein halbblinder Maulwurf sei. Eine Stunde später hat sie mir Geld gegeben, damit ich mir ein Taxi nehmen konnte, um nach Hause zu fahren. Sie rief mich am nächsten Morgen an und sagte, dass es bestens gelaufen sei. Sie hat ihn mit nach Hause genommen. Am nächsten Morgen tat sie, als hätte sie verschlafen. Sie hat ihn weggeschickt, ohne großen Abschied, ohne ein Versprechen auf ein Wiedersehen. Sie sagte mir: Nimm den Kerl mit, dann schmeiß ihn raus und lass ihn zappeln. Das vertragen die nicht. Sie wollen unbedingt, dass man ihnen sagt, sie seien großartig gewesen. Bleibt das aus, kannst du mit ihnen machen, was du willst. Das klappt immer, hat Tanja triumphiert. Als sie uns das nächste Mal besuchte, sagte sie: Schau mal zum Fenster hinaus. Da steht jemand vor der Haustür und wartet, dass ich herauskomme. Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich den Typen vom Karneval da vor unserem Haus gesehen habe.«
»Was wissen Sie über den Mann?«
»Nur seinen Namen: Sebastian Becker. Ich weiß nicht, wo er wohnt, oder wo er arbeitet. Es sollte ein Lehrstück für mich sein.« Svenja sucht ihr Taschentuch und wischt sich die Tränen ab. »Tanja hat ihm gedroht, ihn anzuzeigen, wenn er sie weiterhin mit dem Telefon terrorisiert. Er hat sich entschuldigt, gelobt, sie nicht mehr zu belästigen. Aber er hätte sich nun einmal in sie verliebt und dafür könne er nichts. Sie sei seine Traumfrau für alle Zeiten. Seitdem ist er ihr nachgelaufen wie ein Hund. Überall wo sie war, war er nicht weit. Sie erzählte, dass er ihren Zeitplan genau erforscht habe, genau wisse, wann sie arbeiten muss, wann sie nach Hause fährt und in den Stall.
Anfangs war er galant. Wenn sie auf Arbeit fuhr, dann hat er dort schon auf sie gewartet, hat ihr einen Parkplatz freigehalten. Er hat ihr Blumen geschickt und Süßigkeiten. Jeden Tag hat sie von ihm einen Zettel im Briefkasten gehabt mit Liebesschwüren.«
»So etwas kann böse enden. Sie sollten sich das nicht zum Vorbild nehmen, Fräulein Hofmeister«, sagt Alex.
»Bestimmt nicht. Wie auch? Ich wohne bei meiner Mutter und die ist immer zu Hause.«
Alex schmunzelt. Aufsicht ist nicht das Schlechteste für ein Mädchen in diesem Alter. »Wie, sagten Sie, war der Name? Sebastian Becker?«
Alex notiert. »Was wissen Sie noch über den Mann? Alter, Aussehen, was immer Ihnen einfällt.«
»Er ist dünn und vielleicht so alt wie Tanja.«
»Hat er ein Auto?«
»Bestimmt, gesehen habe ich es nicht, aber wie sollte er sonst hinter Tanja her sein. Die war nur mit dem Auto unterwegs, selbst wenn sie nur um die Ecke wollte.«
»Sie sagten: Anfangs war er galant. Hat sich das geändert?«
»Ja. Nach einiger Zeit hat er dann nur noch gestanden, wo Tanja war.
Er hat auf sie gewartet, sie belagert, wie eine Festung. Sie hat ihn angebrüllt, er solle verschwinden. Dann ist er ein paar Tage lang weg gewesen. Doch schließlich war er wieder da. Nicht jeden Tag, aber oft.«
»Sie wissen, wie man das nennt?«
»Ja, Stalking. Ich mache mir solche Vorwürfe. Warum habe ich von meinem Liebeskummer erzählen müssen. Als ob sie daran etwas ändern könnte.«
»Jeder ist für sich selbst verantwortlich, auch ihre Schwester«, sagt Alex.
»Wollen Sie damit sagen, dass sie selbst schuld ist an ihrem Tod?«
»Nein, das bestimmt nicht. Sie kann sich nicht selbst überfahren haben.«
»Denken Sie, dass dieser Idiot sie umgebracht hat?«
»Das müssen wir erst untersuchen, noch denken wir gar nichts. Hatte Ihre Schwester Freudinnen oder Leute, denen sie etwas anvertraut haben könnte?«
»Ja. Hier ist ihr altes Telefonverzeichnis. Ich dachte, das könnte sie interessieren. Sie hat es zu Hause liegen gelassen, als sie ausgezogen ist. Sie brauchte es wohl nicht mehr. Sie hatte ja alle Daten in ihrem Handy.« Svenja legt ein kleines Büchlein auf den Tisch und dann erhebt sie sich. Sie streckt Alex die Hand entgegen.
»Ich muss jetzt zur Schule.«
Als Alex sicher ist, dass Svenja ihn nicht mehr hören kann, schaut er zu Julia. »Ist das wirklich so, wie sie sagt?«
»Der Auslöser für Stalking kann verschiedene Ursachen haben. Einer davon ist der Wunsch seine Liebe erwidert zu bekommen. Sicher endet auch das bei Rache, irgendwann, wenn das Objekt der Begierde unerreichbar bleibt.«