Drop-outs - Oliver Koppel - E-Book

Drop-outs E-Book

Oliver Koppel

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Beschreibung

Blaue Pille – Junge, rosa Pille – Mädchen: Seit der Erfindung von Wish können Eltern kinderleicht das Geschlecht ihres Nachwuchses auswählen. Von den sozialen Netzwerken wird das Präparat gefeiert, doch hinterlässt es bereits nach wenigen Generationen eine Welt, die wohl niemand so erwartet hätte. In dieser Zeit verliebt sich die junge Aufseherin Queenie in Alex, einen Drop-out. Gefangen in Gesellschaften, die weit mehr als nur ein meterhoher Zaun trennt, suchen Alex und Queenie verzweifelt nach einem Weg für eine gemeinsamen Zukunft. Und tatsächlich scheint ihr Plan aufzugehen – bis ein afghanisches Flüchtlingsmädchen ihre Wege kreuzt...

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Oliver Koppel

Drop-outs

Die Zukunft sieht nicht rosig aus

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

One World Trade Center, Manhattan

Babylon, Long Island

Canarsie

Brooklyn Heights

Die Folgejahre

One World Trade Center II

Merritt Island, Florida

Daytona Beach, Florida

Provinz Parwan, Afghanistan

Rückblick: Die Zwischenjahre

Merritt Island II

Daytona Beach II

Provinz Parwan II

Rückblick: Die Zwischenjahre II

Merritt Island III

Daytona Beach III

Provinz Parwan III

Rückblick: Die Zwischenjahre III

Merritt Island IV

Daytona Beach IV

Daytona Beach V

Merritt Island V

Daytona Beach VI

Merritt Island VI

Daytona Beach VII

Lake Monroe, Florida

Daytona Beach VIII

Volusia County, Florida

Merritt Island VII

Daytona Beach IX

Merritt Island VIII

Daytona Beach X

Merritt Island IX

Volusia County II

Daytona Beach XI

Orlando, Florida

Daytona Beach XII

Orlando II

Daytona Beach XIII

Orlando III

Daytona Beach XIV

Epilog

Impressum neobooks

One World Trade Center, Manhattan

Rückblick: Die ersten fünfzig Jahre

»Fortschritt ist nur die Verwirklichung von Utopien.«

Oscar Wilde

Jetztzeit

Im Wartebereich der Investmentfirma drängten sich unzählige Grüppchen junger Erwachsener, die Erprobten unter ihnen hatten Klappstühle mitgebracht. Aufgeregtes Getuschel erfüllte den Raum, durch den ein diffuser Duft von Aftershave waberte.

Seit Stunden schon standen Debby und Jay mit dem Rücken an eine Wand gelehnt, doch die jungen Frauen waren froh, überhaupt noch einen Platz erobert zu haben. Debby presste die Lippen aufeinander, während ihre Augen immer wieder zu der Tür mit dem goldenen Schriftzug MVP wanderten. Nervös zupfte sie an ihrem Businesskostüm herum und entfernte imaginäre Flusen. Mit einem Lächeln legte Jay ihrer Freundin die Hände auf die Schultern und suchte deren Blick.

»Du siehst absolut spitze aus, Debby. Und es gibt überhaupt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Schließlich...«

Aus dem Deckenlautsprecher erklang ein Knarzen und wie auf Kommando wandten sich alle Köpfe nach oben.

»Dr. Austin, Dr. Sen.«

Während die Spannung im Raum einem enttäuschten Gemurmel wich, schlängelten sich Debby und Jay zur Tür, wo sie von einer blonden Assistentin in einem Etuikleid in Empfang genommen wurden. Entlang verglaster Einzelbüros führte sie die beiden Frauen in ein fensterloses Besprechungszimmer und begab sich umgehend zurück zum Empfang.

Die Mitte des Raumes füllte ein quadratischer Kunststofftisch, um den herum fünf unbequem anmutende Designerstühle angeordnet waren. Missbilligend musterte Jay das Ambiente, während sie in ihren Rucksack griff und vor jedem der Stühle eine kleine Schale mit einer roten und einer blauen Pille platzierte.

Wenige Augenblicke später kehrte die Empfangsdame zurück, gefolgt von einer attraktiven Frau mediterranen Typs und einem zierlichen Mann mit Geheimratsecken.

»Darf ich vorstellen? Miranda Lorenzo, Head of Marketing bei Malley Venture Partners, und Oleg Kasparow, Senior Expert Innovation. Bitte nehmen Sie doch schon Platz.«

Kaum hatte sich die Runde auf die Stühle verteilt, schon platzte ein Hüne von einem Mann in den Raum und steuerte mit kraftvollen Schritten auf den letzten freien Platz zu. Sein Körper glich dem eines Zehnkämpfers und war in einen geschmackvollen Anzug in der Farbe seiner grau melierten Haare gekleidet.

»Bleiben Sie sitzen«, bedeutete der Riese mit einer Bewegung seiner muskulösen Hände, während er einen teilnahmslosen Blick auf seinen Tabletcomputer warf.

»Ich bin Mike Malley und schmeiße den Laden hier. Sie sind also Wissenschaftler?«

»Mein Name ist Debby Austin, 29 Jahre alt, geboren in Babylon, Long Island. Ich bin Biotechnologin und arbeite am ...«

»Danke, das reicht«, fuhr Malley dazwischen und wandte sich wortlos Jay zu.

»Mein Name ist Jayashree Sen, Humangenetikerin, und wie meine Kollegin arbeite ich am Polytechnic Institute der New York University.«

»Liegt das nicht drüben in Brooklyn? Was verschlägt Sie denn zu uns in die große Stadt?« Ohne eine Antwort abzuwarten deutete Malley auf die Schale mit den farbigen Pillen vor sich. »Lassen Sie mich raten. Sie wollen uns einen Trip in die Matrix verkaufen?«

Wie auf ein Zeichen erhob sich Debby und aktivierte mit einem Klick auf den Laserpointer die Präsentation. Das Raumlicht wurde abgedunkelt und sie erhob ihre Stimme, in welcher der Stolz einer Wissenschaftlerin mitschwang.

»Während der letzten fünf Jahre haben meine Kollegin und ich das Bewegungsverhalten menschlicher Spermien erforscht. Diese sind bekanntlich blind und auf Signale angewiesen, ohne die sie den Weg zur Eizelle niemals finden würden.«

Auf der Projektionsfläche erschien eine animierte Sequenz, in der sich stilisierte Keimzellen in einer Flüssigkeit fortbewegten.

»Wie Sie vielleicht wissen«, fuhr Debby synchron zu der Animation fort, »unterstützt der weibliche Körper diese Suche, indem er Botenstoffe wie Progesteron verströmt. Einige davon kontrollieren die Geschwindigkeit des Spermiums, andere steuern dessen Bewegungsrichtung, indem sie das Öffnen molekularer Schleusen in der Geißel bewirken.«

In der Animation traf eine bunte Molekülkette auf den Rezeptor eines Spermiums, das in der Folge eine zuckende Linkskurve beschrieb.

»In der Fachwelt sind diese Zusammenhänge bereits seit Beginn des Jahrtausends bekannt. Uns ist es nun jedoch nach intensiver Grundlagenforschung gelungen, unter Einbindung der Aldehyde Cyclamal und Bourgeonal ...«

»Stopp!«, fuhr Malleys dröhnende Stimme dazwischen. »Wissen Sie, wir bekommen hier dutzende solcher Präsentationen. Jeden Tag. Wundermaterialien, Onlineplattformen – suchen Sie sich was aus. Und die Erfinder sehen sich alle schon als zweiten Mr. Google. Ich gebe Ihnen beiden einen Tipp frei Haus: Verwechseln Sie nicht technische Eleganz mit Marktpotenzial. Selbst wenn Sie die verdammte Weltformel entdeckt hätten, würde mich das nicht interessieren. Es sei denn, Sie verraten mir, wie man damit Geld verdient. Also kommen Sie endlich auf den Punkt und langweilen Sie mich nicht mit diesem Gequatsche!«

Debby rang nach Luft. Konsterniert starrte sie Malley an, der seine letzten Worte mit stechenden Bewegungen der Zeigefinger untermalt hatte. In diesem Moment erhob sich Jay und setzte die Präsentation mit einem Klick wieder in Gang.

»Wir haben sämtliche Botenstoffe entschlüsselt, die im Rahmen der Fortpflanzung relevant sind – und wir können sie nutzbar machen. Stellen Sie sich nun bitte ein Leitsystem vor, das Sie nach Ihren Wünschen steuern können.«

Die Animation zeigte Ampeln und Verkehrszeichen, deren Zusammenspiel den Fluss der stilisierten Keimzellen regelte.

»Unser Präparat ermöglicht, dass nur bestimmte Spermien den Weg zur Eizelle finden. Diese erhalten freien Lauf und werden zusätzlich stimuliert, so dass sie sich schneller fortbewegen. Die übrigen werden durch eine rote Ampel gestoppt und in eine Sackgasse umgeleitet.«

Jay registrierte, wie Malleys Augen Oleg Kasparow fixierten, dessen Mimik eine Mischung aus Ungläubigkeit und Aufregung verriet.

»Für den abschließenden Teil der Präsentation übergebe ich zurück an Dr. Austin, die für den Durchbruch bei unseren Forschungsarbeiten verantwortlich zeichnet.«

Debbies Körper straffte sich und sie erhob ihre Stimme.

»Wir haben einen Cocktail an Botenstoffen entwickelt, mit dem sich die zwei Spermientypen getrennt voneinander ansprechen und steuern lassen. Unsere Wirkstoffkombination lässt ausschließlich diejenigen zur Eizelle durch, die über das erwünschte Geschlechtschromosom verfügen.«

»Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen«, kommentierte Kasparow und Debby lächelte ihm dankbar zu.

»Zusammenfassend haben wir ein Präparat entwickelt, mit dessen Hilfe Eltern das Geschlecht ihres Nachwuchses auswählen können – und das kinderleicht.«

Zu Debbies Worten griff Jay in die kleine Schale vor sich und hielt abwechselnd die farbigen Pillen zwischen Daumen und Zeigefinger hoch.

»Blaue Pille: Junge – rote Pille: Mädchen.«

In der Runde herrschte gespannte Ruhe. Miranda Lorenzo versuchte, eine Reaktion ihrer beiden Kollegen aufzufangen. Kasparow nahm einen Schluck Wasser und räusperte sich.

»Wer weiß bisher davon?«

»Nun, einige der peripheren Forschungsergebnisse haben wir in Fachzeitschriften publiziert, aber für den Kern der Erfindung ...« Jay griff in eine Dokumentenmappe und zog ein Blatt Papier mit goldenem Siegel und roter Schleife heraus. »... haben wir vor zwei Wochen dieses Patent erhalten – und damit die Eintrittskarte in die exklusive Vermarktung. Alles, was wir jetzt noch brauchen, ist einen Investor, der uns das entsprechende Startkapital zur Verfügung stellt.«

Malley tauschte einen kurzen Blick mit Kasparow und übergab das Wort mit einem kurzen Nicken an Lorenzo.

»Erzählen Sie uns noch ein bisschen mehr über das Produkt. Wen sehen Sie als Zielgruppe?«

»Sieben von zehn Akademikerfamilien hierzulande haben Einzelkinder«, konstatierte Debby. »In China ist die Ein-Kind-Politik sogar gang und gäbe. Insbesondere in Familien mit gebildeten und beruflich erfolgreichen Frauen sollte das erste Kind daher auch direkt das gewünschte Geschlecht haben, denn zu einer zweiten Chance kommt es – statistisch betrachtet – nur selten. Als weitere Zielgruppe sehen wir Mehr-Kind-Familien, denen wir einen Wunsch nach Family Balancing erfüllen können.«

»Was können Sie uns über konkurrierende Produkte erzählen?«, erkundigte sich Kasparow bei Jay.

»Die einzige Alternative besteht in einer künstlichen Befruchtung mit Präimplantationsdiagnostik. Diese Prozedur ist jedoch nicht nur in den meisten Ländern verboten, sondern mit unangenehmen Eingriffen in den weiblichen Körper verbunden. Im Gegensatz dazu funktioniert unser Produkt ohne Aufwand – und zu einem Bruchteil der Kosten.«

Malley verschränkte die Hände hinter dem Kopf und zog eine Augenbraue hoch.

»Apropos Kosten. Wie steht es damit?«

»Wir haben für unser Präparat eine Depotkapsel entwickelt, deren Wirkung sechs Monate lang anhält«, erwiderte Debby. »Die reinen Materialkosten dafür liegen bei etwa fünfzig Cent.«

»Peanuts«, schnaubte Malley mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Und machen Sie sich bitte bewusst, dass unser Präparat noch eine weitere Verwendungsmöglichkeit bietet. Werden die blaue und die rote Pille gleichzeitig eingenommen, so resultiert eine maximal zuverlässige Empfängnisverhütung, denn in diesem Fall werden sämtliche Spermien von ihrem Weg zur Eizelle abgelenkt.«

»Und all das, ohne in den Zyklus der Frau einzugreifen und ohne sonstige Nebenwirkungen«, ergänzte Jay. »Unsere Vision ist es, mit nur einem einzigen Produkt die Marktführerschaft in sämtlichen Phasen der Familienplanung zu erobern. Das Motto lautet: Blau und Rot: sichere Verhütung – Blau oder Rot: Wunschkind-Schwangerschaft«

Debby tauschte einen kurzen Blick mit Jay und räusperte sich dezent.

»Und hier ist unser Vorschlag, Mr. Malley. Sie übernehmen die Finanzierung bis zur Markteinführung und erhalten im Gegenzug eine Beteiligung von fünfzig Prozent minus einer Aktie. Nachdem die Zulassung des Präparats erfolgt ist, initiieren wir einen Börsengang und Sie können Ihre Anteile verkaufen.«

»Immer langsam, meine Damen«, unterbrach Malley mit einer beschwichtigenden Geste. »Meine Kollegen und ich werden uns Ihre Idee erst mal genauer ansehen. Wir informieren Sie dann beizeiten.«

Zu Malleys letzten Worten hatte die blonde Assistentin bereits die Tür des Raums geöffnet und geleitete Debby und Jay zu den Fahrstühlen. Kaum, dass die beiden Frauen außer Sichtweite waren, berief Malley mit kreisenden Bewegungen seiner Zeigefinger eine Besprechung ein. Gefolgt von Lorenzo und Kasparow betrat er sein Büro und schlug die schalldichten Türflügel hinter sich zu.

»Heilige Scheiße!«, platzte es aus ihm heraus, während er sich mit beiden Händen durch die eisgrauen Haare strich. »Das wird der nächste Blockbuster. Kategorie Viagra.«

Lorenzo runzelte die Stirn und es gelang ihr nicht, den skeptischen Unterton in ihrer Stimme zu verbergen.

»Ob die Leute eine ähnlich hohe Zahlungsbereitschaft dafür haben werden?«

»Ich erkenne ein Geschäft, wenn ich eins sehe«, polterte Malley. »Was probieren Eltern nicht seit jeher alles, damit der eigene Nachwuchs auch ja das richtige Geschlecht bekommt? Die einen haben nur an bestimmten Tagen Sex, die anderen nur in bestimmten Stellungen. Bloß hat ihnen das bislang nicht das Geringste genutzt.«

»Ein Vorteil des Präparats ist natürlich, dass es einem die freie Auswahl lässt«, warf Kasparow ein, der im Stillen recherchiert hatte. »In einem Großteil der Welt, insbesondere in Asien und Afrika, werden ganz klar Söhne bevorzugt, in Skandinavien dagegen Töchter. Und auch bei uns haben viele Eltern eindeutige Präferenzen. Die einen so, die anderen so.«

»Ein Freund von mir hat sogar seine gesamte Ernährung umgestellt, nur weil er unbedingt einen Jungen haben wollte«, pflichtete Malley bei. »Er hat jeden Tag Unmengen von diesen Proteindrinks in sich reingeschüttet, die ihm sein Arzt verkauft hat. Drei Jahre lang, der Idiot!«

Unvermittelt schlug er auf seine Oberschenkel und lachte lauthals auf.

»Und seine Alte hat es ihm mit zwei Mädchen gedankt!«

Lorenzo überspielte ihren Schrecken mit einem erprobten Lächeln.

»Was war das eigentlich mit den Mehr-Kind-Familien, die angeblich als Zielgruppe in Frage kommen sollen? Dieses Family ... Family ...«

»Family Balancing«, erläuterte Kasparow. »Nimm meine Frau und mich zum Beispiel. Wir haben schon zwei Jungs und Nadya wünscht sich nichts sehnlicher als endlich ein Mädchen. Aber ihre Sorge vor einem dritten Jungen ist einfach zu groß. Sie würde ohne mit der Wimper zu zucken ihr heißgeliebtes Cabrio gegen die Garantie eintauschen, beim nächsten Mal ein Mädchen zu bekommen.«

»Vielleicht sollten wir das Zeug exklusiv an Königshäuser verkaufen«, grübelte Malley vor sich hin. »Fünfzig Millionen für einen Thronfolger auf Bestellung. Ganz diskret.«

Kasparow tippte auf seinem Tabletcomputer herum und runzelte die Stirn.

»Wenn ich es richtig sehe, gibt es gerade einmal zwanzig gekrönte Häupter weltweit. Das ist eine arg kleine Nische. Und nachdem dann der Kronprinz geboren wurde, erlischt der Bedarf auch erst mal wieder bis zur nächsten Generation. Ich denke, der Massenmarkt wäre deutlich lukrativer für uns, Mike. Immerhin werden jedes Jahr rund 120 Millionen Kinder geboren.«

Malley wiegte den Kopf hin und her und nickte schließlich.

»In Ordnung, lasst uns die Finanzdaten durchgehen. Sind die Angaben der Ladies plausibel, Oleg?«

»Das sind sie. An einigen Stellen sieht unser Benchmark-Programm sogar noch Einsparpotenzial. Für die klinische Prüfung kalkulieren die beiden zum Beispiel eine Milliarde Dollar, aber in Asien bekämen wir die Studien natürlich für ein Viertel. Auch könnte die Produktion an einem einzigen Standort erfolgen, denn die Kapseln sind so klein, dass die Kosten für Lager und Logistik zu vernachlässigen sind. Wenn ich mal einen branchenüblichen Produktlebenszyklus unterstelle, liegen die Gesamtkosten pro Pille bei gerade einmal fünf Dollar. Und die Zahlungsbereitschaft der Kunden dürfte ein Vielfaches davon betragen.«

Lorenzo stütze ihren Kopf in die Hände.

»Aber sprengen die Investitionen nicht unseren Rahmen?«

Malley lehnte sich grinsend in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

»Die Pharmabranche ist nun mal ein verdammtes Monaco. Der Eintritt bringt dich fast um, aber wenn du einmal drin bist, fließen Milch und Honig wie im Schlaraffenland.«

Kasparow grinste zustimmend.

»Zur Not holen wir noch ein oder zwei Partner ins Boot, aber die Finanzierung dürfte ein Selbstläufer werden. Nicht zuletzt befindet sich der Wirkstoff ja bereits an der Schwelle zur Marktreife. Und das Wort Pharma ist für Investoren schließlich ein liebgewonnenes Synonym für Rendite.«

Es klopfte an der Tür und die blonde Assistentin steckte ihren Kopf herein.

»Sir, als nächstes warten da draußen die drei jungen Harvard-Absolventen in der Sache ...«

»Nicht jetzt!«, unterbrach Malley. »Die sollen irgendwann wiederkommen. Sag die restlichen Termine für heute ab. Und reservier einen Tisch für fünf Personen bei diesem neuen Edeljapaner Broadway Ecke Grand«, rief er ihr nach, bevor er sich mit einem breiten Grinsen Kasparow zuwandte. »Und du bereitest den Beteiligungsvertrag vor, Oleg. Nicht, dass uns die beiden Goldfische noch vom Haken springen.«

Mit einem krachenden Schlag auf die Tischplatte besiegelte Malley seine Entscheidung. Lorenzos erschrockenes Gesicht verriet, dass sie einen Moment zu lange gebraucht hatte, um ihre Fassung wiederzugewinnen.

»Alles in Ordnung, Miranda?«

»Alles bestens, Mike. Unter Marketing-Aspekten empfehle ich jedoch, die Mädchenpille rosa zu färben anstatt rot.«

Babylon, Long Island

Eine Woche später

Die schwere Limousine hatte den Highway bereits verlassen und bog in eine Stichstraße ab, die hinab zum Wasser führte. Debby saß auf dem Rücksitz und blickte aus dem Panoramafenster, das sie einen Spalt breit geöffnet hatte. Sie genoss diese Fahrt jedes Mal aufs Neue und sog die salzige Meeresluft tief in ihre Lungen. Schon als sie am Bahnhof von Babylon aus dem Zug gestiegen war, hatte sie von Ferne das vertraute Kreischen der Möwen vernommen.

Verborgen hinter hohen Hecken zogen herrschaftliche Anwesen im Landhausstil an ihr vorbei, von denen die meisten nur kurz durch die Tore der privaten Zufahrtswege zu erahnen waren. Am Ende der Straße fiel ihr Blick auf ein gusseisernes Portal, dessen Flügel sich soeben öffneten. Die Limousine glitt hindurch und rollte über den weißen Kiesweg. In einem Bogen zog der Chauffeur das Gefährt um einen venezianischen Brunnen herum, aus dem vier Löwenköpfe Wasser spien, und brachte es vor der Veranda einer Villa zum Stehen. Ein Hausangestellter in Livree eilte herbei, holte das leichte Gepäck aus dem Kofferraum und trug es die Stufen hinauf. Peinlich berührt blickte Debby ihm nach, bis er in der Eingangstür verschwunden war.

Sie umrundete das Gebäude und trat auf die sonnenbeschienene Terrasse des Anwesens. Wie gewöhnlich um diese Zeit saß Ihre Mutter in einem Korbsessel, hatte die Füße auf einen gepolsterten Hocker hochgelegt und ließ den Blick entlang des Horizonts wandern. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie die Anwesenheit ihrer Tochter bemerkte. Debby fiel ihr um den Hals und umarmte sie innig.

»Hallo Mom.«

»Mein gutes Mädchen. Wie schön, dass du da bist«, erwiderte ihre Mutter und tätschelte Debbies Hände. »Ich bin so stolz auf dich.«

Nachdem die Frauen einige Zeit geplaudert und die Strahlen der hoch stehenden Sonne genossen hatten, hob Debby den Kopf und blickte sich suchend um.

»Wo ist eigentlich Pa?«

»Na wo wohl?«, deutete ihre Mutter mit einer Kopfbewegung in Richtung des offenen Meeres. »In der Dämmerung ist er mit deinem Bruder mal wieder zu einem Duell ausgelaufen, aber die beiden wollten eigentlich schon längst zurück sein.«

In einiger Entfernung zum Ufer machte Debby einen weißen Punkt auf dem Wasser aus, der sich gemächlich tuckernd der Küste näherte. Als sie ihre Augen fixierte, erkannte sie die Gwendolyn. Wenig später erstarb das Motorengeräusch und Debbies Vater legte die Yacht in einem gekonnten Manöver an. Mit einem Satz sprang ihr Bruder Max auf den hauseigenen Steg und vertäute die Leinen. Während die beiden Männer die Stufen zur Terrasse erklommen, reckte Max triumphierend eine Anglerbox in die Höhe, die er sogleich an den herbeieilenden Hausangestellten weiterreichte.

»Fünf Blaubarsche und zwei Meerbrassen haben wir rausgeholt. Das Mittagessen ist gesichert. Wir hatten sogar einen Marlin auf dem Schirm, aber kurz hinter Hampton Bays hat der dämliche Detektor das Vieh wieder verloren.«

Debbies Vater seufzte vernehmlich und klopfte seinem Sohn auf die Schulter.

»Fünf zu zwei ist leider auch unser Duell ausgegangen. Ich muss allmählich einsehen, dass ich gegen den Kerl keine Chance mehr habe.«

Debby gab ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und zwinkerte ihm zu.

»Vielleicht solltest du künftig nur noch deine Geschäftsfreunde mitnehmen, Dad. Auf der anderen Seite hast du ja bald wieder Zeit, um in Übung zu kommen. Hast du dich mit dem Gedanken inzwischen angefreundet?«

Die beiden Männer ließen sich nieder und nahmen gekühlte Erfrischungsgetränke zu sich, die der Hausangestellte auf einem Tablett servierte.

»Was bleibt mir schon übrig?«, erwiderte ihr Vater achselzuckend. »Dem Fallbeil des Ruhestands ist schließlich noch niemand entkommen.«

»Mom hat mir eben erzählt, dass ihr euch nach deinem Ausstand Europa anschauen wollt.«

»Ob die Zeit für ganz Europa reicht, werden wir sehen. Wie ich eben erfahren habe, müssen wir nach zwei Wochen wieder hier sein. Denn dann gibt es richtig was zu feiern.«

Er legte eine Pause ein und strahlte über das ganze Gesicht, während er seinem Sohn die Nachricht überließ.

»Ich werde zum Partner ernannt.«

Debby knuffte ihn freundschaftlich in die Seite, während ihre Mutter vor Freude die Hände vor den Mund schlug.

Als Fahrzeugbauingenieur hatte Debbies Bruder die Entwicklung eines autonomen Steuerungssystems verantwortet, das sich anschickte, in absehbarer Zeit zum Branchenstandard zu werden.

»Gratuliere, Bruderherz!«

»Danke. Das Gesamtpaket kann sich wirklich sehen lassen. Inklusive Prämien komme ich auf drei Millionen pro Jahr. Und meinen Dienstwagen darf ich natürlich frei wählen. Hast du vielleicht eine Empfehlung für mich?«

Debby versuchte, die kleine Provokation zu überhören, zeigte ihr Bruder doch bei jeder Gelegenheit aufs Neue seine Verwunderung über ihren Lebensstil. Auf seiner letzten Party hatte er in ihrem Beisein einen Witz über Menschen gemacht, die mit Anfang dreißig noch immer in Wohngemeinschaften lebten.

»Da kann ich dir leider nicht helfen, Bruderherz. Und selbst wenn ich ein Auto hätte, wäre ich bestimmt kein guter Ratgeber für das Luxussegment.«

»Was hast du bloß gegen Autos?«, seufzte Debbies Vater kopfschüttelnd. »Dank Max lenken sich die Dinger bald sogar von selbst, doch du benutzt immer noch diese öffentlichen Verkehrsmittel.«

»Was soll ich sagen, Dad? In der Bahn oder im Bus musste ich noch nie lenken.«

»Wenn du eine Ahnung hättest, wie viel Zeit meines Lebens ich hinter dem Steuer verschwendet habe. Ganz zu schweigen von dem Stau auf der verdammten 495 nach Manhattan – jeden Tag!«

»Und damit bist du nicht der Einzige«, bestätigte Max. »Allein für berufliche Fahrten wendet ein durchschnittlicher Erwerbstätiger fast fünfhundert Stunden pro Jahr auf. Fünfhundert Stunden, die er nicht sinnvoll nutzen kann, weil er die Hände am Steuer behalten muss. Aber wir schenken den Menschen diese Zeit zurück.«

»Wäre da bloß nicht dieser kleine Unterschied zwischen freier Zeit und Freizeit, Bruderherz. Wer surft auf dem Weg zur Arbeit schon im Internet oder stöbert in einer Illustrierten, wenn E-Mails vom Chef warten? Für die Menschen in meinem Umfeld wären die zusätzlichen Stunden jedenfalls ein vergiftetes Geschenk. Der Arbeitsdruck würde den größten Teil davon aufzehren.«

»Nun streitet euch doch nicht schon ...«, setzte Debbies Mutter in versöhnlichem Tonfall an.

»Lass sie, Gwen!«

»Ich verstehe dich nicht, Deb. Hätte ich vielleicht etwas erfinden sollen, das die Menschen daran hindert, ihre Arbeit effizient zu erledigen? Nur als Tipp unter Geschwistern: Innovation ist, wenn der Markt Hurra! schreit. Und Milliarden Dollar an Wertschöpfung, die unserer Volkswirtschaft künftig nicht mehr durch die Lappen gehen, sind ein ziemlich lautes Hurra.«

»Tut mir leid, aber bis nach Brooklyn habe ich das Hurra noch nicht gehört. Muss am Großstadtlärm liegen.«

In New York hatte die Taxi Workers’ Alliance ihre 45.000 Cabs zu einem Streik aufgerufen, um einen Testbetrieb selbststeuernder Autos zu verhindern und die Arbeitsplätze der Fahrer zu erhalten. Busse und Bahnen hatten sich angeschlossen und der Aktion einen durchschlagenden Erfolg beschert. Bei dem Gedanken daran blies Debbies Vater verächtlich Luft zwischen den Zähnen hervor.

»Selig sind die Ewiggestrigen. Aber welche Innovation hätten die Gewerkschaften denn auch zur Abwechslung mal nicht blockiert?«

»Unsere zum Beispiel«, erwiderte Debby. »Wir erhalten dafür umso heftigere Anfeindungen aus dem konservativen Lager.«

»Also bitte, du willst doch jetzt nicht ernst zu nehmende moralische Warnungen mit den erpresserischen Maßnahmen der Linken vergleichen, oder?«

»Ich halte mich an Tatsachen, Dad. Gestern hat unsere Hochschule einen Anruf ihres wichtigsten Mäzens erhalten. Er will seine kompletten Fördermittel streichen, wenn wir unser Patent nicht zurückziehen. Soll ich das jetzt als ernst zu nehmende moralische Warnung oder als erpresserische Maßnahme verstehen?«

»Ich glaube, ich sollte dringend mal ein paar Worte mit eurem Mäzen wechseln«, bemerkte Max. Während Debby noch die Bedeutung seiner Worte einzuschätzen versuchte, erklang aus dem Inneren der Villa ein Gongschlag. Der Hausangestellte erschien auf der Terrasse und deutete eine Verbeugung an.

»Verehrte Herrschaften, das Essen ist bereitet.«

Canarsie

Zeitgleich

Jay hatte die Kapuze ihres Sweatshirts tief in das Gesicht gezogen, während sie auf ihrem Mountainbike die Glenwood Road hinunterfuhr. Es regnete wie aus Kübeln und der kalte Wind peitschte die Tropfen gegen ihre Kleidung. Auf den Straßen Brooklyns hatten sich Wasserlachen gebildet und das Kanalisationssystem arbeitete bereits jenseits der Belastungsgrenze. Zur Rechten passierte Jay ihre alte Schule, deren betonierte Basketballfelder von hohen Metallzäunen umschlossen wurden. Ein Stück die Straße herunter parkte ein Lowrider mit abgetönten Scheiben, aus dem das monotone Wummern eines Basses drang. Unter dem Vordach einer Bushaltestelle wenige Meter weiter standen zwei junge Männer in Hip-Hop-Outfits und diskutierten gestenreich miteinander.

Als sich Jay der Szenerie näherte, heulte hinter ihr eine Polizeisirene auf. Die Reflexionen des rot-weiß-blauen Alarmlichts verwandelten die nasse Straße in einen flackernden Lichtteppich. Einen Augenblick später preschte ein Streifenwagen des 69. Reviers an ihr vorbei und entschwand hinter der nächsten Kreuzung.

Die jungen Männer hatten kaum Notiz genommen, beendeten ihr Zwiegespräch und tauschten einige Geldscheine gegen ein Plastiktütchen. Jay wandte ihren Blick wieder der Straße zu. Sie kannte den Dealer seit ihrer Kindheit und es fiel ihr nicht schwer sich vorzustellen, welche seiner Kumpels in dem Auto saßen. Canarsie war ihr Viertel. Hier hatte sie den größten Teil ihres Lebens verbracht und war erst weggezogen, als sie vor fünf Jahren ihre Postdoc-Stelle angetreten hatte.

Kurze Zeit später erreichte sie den siebenstöckigen Sozialbau, in dem ihre Tante ein kleines Apartment bewohnte. Auf einer überdachten Bank vor dem baufälligen Gebäude lungerten einige Halbstarke in Baggy Pants herum und bedachten Jay mit aufreizenden Pfiffen. Der Anführer der Gruppe musterte sie kurz, wandte seinen Blick jedoch betont desinteressiert wieder ab.

Trotz ihrer wenig einschüchternden Statur hatte sich Jay einen gewissen Ruf der Wehrhaftigkeit erworben, der sie vor weitergehenden Belästigungen schützte. Als 14-Jährige hatte sie einem Zwei-Zentner-Rüpel aus der Nachbarschaft zwei Rippen gebrochen, als dieser versucht hatte, sie in sein Auto zu drängen.

Jay drückte auf eine der zahlreichen Klingeln und betrat mit dem Summen des Öffners das Treppenhaus. Sie setzte erst gar keine Hoffnungen auf den chronisch defekten Fahrstuhl, schulterte ihr tropfendes Fahrrad und hievte es in die vierte Etage. Eine zierliche Frau in den Sechzigern öffnete ihr die Tür. Sie war in einen grasgrünen Sari gehüllt, der ihre grauen, zu einem Knoten gesteckten Haare unbedeckt ließ. Jay fiel ihrer Tante in die Arme und drückte sie innig.

»Mashi!«

»Mein Liebes! Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich für dich freue.«

Im Flur der kleinen Wohnung empfing Jay ein vertrautes Potpourri aus Safran, Gewürznelken und schwarzem Kardamom. Sie folgte dem Duft in den Wohnraum, vorbei an ihrem alten Zimmer, das ihre Tante inzwischen als Schlafraum nutzte. Auf einem durchgesessenen Sofa, neben dem ein üppiger Benjamini gedieh, ließen sich die Frauen nieder. Sogleich fiel Jays Blick auf die gegenüberliegende Wand, von der aus mindestens ein Dutzend blühender Pflanzen um die Gunst des Betrachters buhlten. Dazwischen prangten großformatige Fotos: Ihr erster Schultag an der Canarsie High School – Als Teenagerin beim Musti-yuddha, einer dem Boxen verwandten Kampfsportart mit indischen Wurzeln – Hinter einem Mikrofonpult bei der Rede als Jahrgangsbeste – In kurzen Hosen vor der Golden Gate Bridge – In schwarzem Talar und mit quadratischem Hut bei der Abschlussfeier ihrer Universität – Mit Debby und Kasparow bei der Unterzeichnung des Beteiligungsvertrags.

Ungläubig runzelte Jay die Stirn.

»Das Foto habe ich dir doch gerade erst geschickt.«

»Du kennst mich doch«, gluckste ihre Tante und wackelte entschuldigend mit dem Kopf. »Magst du etwas essen? Ich habe frische Samosas gemacht.«

»Danke, aber wir kochen heute Abend noch für Kollegen.«

Jays Blicke wanderten die Aufnahmen entlang und blieben an einem leicht vergilbten Polaroid hängen. Auf ihm war eine junge Inderin zu erkennen, die auf einer Bank aus weißem Marmor saß, im Hintergrund das majestätische Taj Mahal. In ihren Armen hielt die Frau ein kleines Mädchen und strahlte aus fröhlichen Augen in die Kamera. Bei genauerem Hinsehen wirkte das Foto seltsam asymmetrisch, ganz so, als sei ein Teil nachträglich abgetrennt worden. Jay fühlte das bekannte Gefühl von Beklemmung und ohnmächtiger Wut in sich aufsteigen. Gleich darauf legte sich eine beruhigende Hand auf ihre Schulter und die Stimme ihrer Tante drang wie durch einen Wattebausch zu ihr durch.

»Deine Mutter wäre heute unendlich stolz auf dich.«

»Das wäre sie«, murmelte Jay mit brüchiger Stimme und biss sich auf die Unterlippe. Mit Tränen in den Augen wandte sie sich von dem Bild ab. Einige Zeit lang herrschte Stille, ehe ihre Tante duftenden Chai aus einer silbernen Kanne einschenkte. Jay nahm einen großen Schluck und spürte, wie sich ihre Sinne wieder schärften. Mit einem tapferen Lächeln blickte sie ihre Tante an und stellte die Tasse auf dem Tisch ab.

»Ich muss mit dir reden, Mashi.«

»Immer heraus damit. Was hast du auf dem Herzen, Liebes?«

Jay zögerte und suchte nach den richtigen Worten.

»Du weißt doch, dass wir jetzt einen Investor für unsere Erfindung haben. Na ja, der Beteiligungsvertrag hat natürlich auch uns einiges Geld eingebracht. Und damit konnte ich mir gestern endlich einen lang gehegten Wunsch erfüllen.«

Jay kramte in ihrem Rucksack herum und fischte eine Hochglanzbroschüre heraus.

»Ich habe eine Wohnung gekauft.«

Ihre Tante schlug die Hände zusammen.

»Wie schön. Du hast mir ja gar nicht erzählt, dass du nach einer suchst. Wo bist du denn fündig geworden?«

»Gerade einmal drei Blocks von unserer WG entfernt. Nichts Großartiges, aber gut geschnitten. Zwei Zimmer plus Wohnküche. Erdgeschoss. Tageslichtbad mit bodenebener Dusche. Und nach hinten heraus sogar ein kleiner Garten. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit immer daran vorbei gekommen und die Tage habe ich zufällig das Schild im Fenster gesehen.«

»Die sieht ja wirklich wunderschön aus.«

Ihre Tante blätterte aufmerksam durch das Exposé und hob plötzlich den Kopf.

»Was sagt denn Debby dazu?«

»Oh, sie freut sich sehr darüber.«

»Aber ihr habt euch doch so gut verstanden in eurer WG.«

»Und das werden wir auch weiterhin. Denn die Wohnung ist ja nicht für mich – sondern für meine Lieblingstante.«

»Bitte … Was?!«

»Sieh mal, meine neue Arbeit wird mir nur noch wenig Zeit lassen und ich hätte meine Lieblingstante einfach gerne in der Nähe. So könnte ich sie viel leichter besuchen und ab und zu auch mal nach dem Rechten schauen.«

»Hält mein Liebes seine Tante etwa für einen Pflegefall?«

»Das hat doch keiner behauptet. Aber auch meine Lieblingstante wird nicht jünger. Und sie soll bitte daran denken, was ihr der Arzt gesagt hat. Die vielen Treppen sind Gift für ihre Gelenke.«

»Mein Liebes braucht sich keine Sorgen zu machen. Die Hausverwaltung hat gestern geschrieben, dass der Aufzug bald repariert wird.«

»Hinter den Ohren scheint meine Lieblingstante noch grüner zu sein als ihr Sari. Aber da wir gerade bei Grün sind: Seit ich denken kann, hat sich meine Lieblingstante einen eigenen Garten gewünscht.«

»Aber mein Liebes ...«

Ihre Tante schlug die Hände vor das Gesicht.

»Du warst immer für mich da, Mashi, und hast so unendlich viel für mich getan. Jetzt habe ich endlich die Möglichkeit, dir ein wenig davon zurückzugeben.«

»Bist du sicher, dass du das wirklich möchtest?«, brachte ihre Tante mit belegter Stimme hervor.

Jay nickte heftig und umarmte sie.

»Und wie ich mir sicher bin!«

Brooklyn Heights

Am Abend desselben Tages

Die Klingelanlage verbreitete einen sanften Ton und zeigte auf dem Display ein dämmriges Bild. Im Eingangsbereich des kleinen Stadthauses, das mit seiner rötlich-braunen Fassade und Feuertreppe für diese Ecke Brooklyns geradezu typisch war, warteten zwei junge Männer und eine Frau.

»Rührst du den Reis weiter?«, bat Debby und reichte den Holzlöffel an Jay, während sie zur Tür lief und den Besuch herein ließ.

»Herzlichen Glückwunsch zu eurer Finanzierung! Und vielen Dank für die Einladung«, wurde sie von Hector Sanchez begrüßt. Der junge Mann trat über die Türschwelle und überreichte Debby eine Weinflasche. »Ein Sauternes, Château La Crotte. Lena, Dave und ich haben zusammengelegt.«

»Vielen Dank, Hector. Der macht ja wirklich was her.«

»Am Ende überleben schließlich nur die am besten Angepassten«, näselte Dave Bell. »Und am Institut erzählt man sich, dass ihr neuerdings in den edelsten Restaurants Manhattans diniert. Hoffentlich schmeckt euch der Tropfen überhaupt noch.«

»Stell ihn einfach kalt, Dave, dann werden wir das gleich mal überprüfen. Den Wein hat doch bestimmt dein Schatz ausgesucht, oder?«

»Touché«, gestand Lena Rivic mit einem Lächeln. »Und hier ist noch der Gasbrenner aus dem Labor, um den du mich gebeten hattest.«

Jay gesellte sich aus der Küche hinzu und begrüßte den Besuch.

»Perfektes Timing, Leute. Wir sind gerade fertig geworden. Lass mich dir die Sachen abnehmen, Lena.«

Die Runde nahm an einem einfachen Holztisch in der Wohnküche Platz und Jay servierte ein duftendes Fenchelrisotto. Als sie die Vorspeise beendet hatten, erhob Dave sein Glas.

»Einen Toast auf Debby und Jay. Eines Tages wird die Welt von ihnen sagen, dass es ihre Pillen waren, die den Feminismus ausgelöscht haben.«

Lena musste prusten und knuffte ihren Freund in die Seite.

»Was soll denn das bitte heißen?«

»Na, was wohl? Versetz dich doch einfach mal in die Situation künftiger Eltern. Durch die Wahlfreiheit entsteht da eine knallharte Konkurrenz: Sohn oder Tochter? Und es ist ja wohl klar, was die große Mehrheit darauf antworten wird.«

»Auf Wiedersehen, Ladies«, vollendete Hector mit einer winkenden Handbewegung.

»Interessante Sichtweise. Welche Argumente sprechen denn eurer Meinung nach für Jungs?«, wollte Debby wissen.

»Was für eine Frage!«, platzte es aus Dave heraus. »Jungs sehen zu dir auf, machen dich einfach stolz.«

Debby runzelte die Stirn.

»Natürlich möchten Eltern stolz sein. Aber darf ich dich daran erinnern, dass es inzwischen die Mädchen sind, die in der Schule bessere Noten erzielen. Und es sind die Frauen, die häufiger ein Studium abschließen.«

Hector zuckte mit den Achseln.

»Schön und gut. Aber kannst du mir auch nur ein einziges Land auf der Welt nennen, in dem zur Abwechslung mal die erstgeborene Tochter idealisiert würde? Seien wir doch mal ehrlich: Unter dem Strich zählt nur ein erfolgreicher Stammhalter, der den Namen der Familie weiterträgt.«