DSA 147: Der Nabel der Welten - Michael Masberg - E-Book

DSA 147: Der Nabel der Welten E-Book

Michael Masberg

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Beschreibung

Im Ringen um den Umbilicus, heiliges und geheimnisumwobenes Artefakt der Hesindekirche, mussten die junge Magierin Avesa Farfara und ihre Gefährten eine schwere Niederlage gegen den unheilvollen Drachenkult einstecken. Doch Avesa ist nicht bereit aufzugeben. Um die finsteren Pläne ihrer Feinde zu durchkreuzen und die geraubte Reliquie zurückzuerlangen, entwickelt sie einen gefährlichen Plan, der sie direkt in die Höhle des Drachen führen wird. Zur gleichen Zeit begibt sich der Draconiter Borson Erantes in die Silberstadt Silas. Ihn treiben Visionen von Drachen, die sich erheben, um das Land zu verbrennen und die Flüsse zum Kochen zu bringen. Der Nabel der Welten ist der abschließende Band des Zweiteilers Drachenschatten. Er führt nicht nur die Geschichte um Avesa und ihre Gefährten fort, sondern erzählt auch von dem Magier Killgorn von Punin, der Jahrzehnte zuvor Welten jenseits von Aventurien bereiste, um das Geheimnis des Umbilicus zu lüften.

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Seitenzahl: 498

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Biografie

Michael Masberg wurde 1982 geboren und studierte The­a­ter­wissenschaft und Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2009 arbeitet er als freier Regisseur, Autor und Projektleiter. 2010 gründete er das Theaterlabel epikur hotel | theater.raum.bild., das mit interdisziplinären Projekten im deutschsprachigen Raum auftritt. Darüber hinaus wirkt er in den freien Netzwerken bEATPLANTATIOn und I HEART RUHR YORK mit.

Für das RollenspielDas Schwarze Augeschreibt er seit 2005 und war seitdem an vielen Publikationen als Autor und Redakteur beteiligt, unter anderem bei den AbenteuernBahamuths Ruf, Mit wehenden BannernundDer Mondenkaisersowie den RegionalspielhilfenSchattenlandeundReich des Roten Mondes. Er schreibt zudem regelmäßig für das MagazinAventurischer Bote.

Michael Masberg lebt in Essen.Der Nabel der Weltenist nach dem VorgängerDer Kreis der Sechssein zweiter Roman in der Welt des Schwarzen Auges.

Weitere Informationen finden sich auf der Homepage www.michael-masberg.de

Titel

Michael Masberg

Der Nabel der Welten

Drachenschatten - Band 2

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses SpieleBand 11048EPUB

Titelbild:Karsten Schreurs Aventurien-Karte: Ralph Hlawatsch Illustration: Mia Steingräber Lektorat: Florian Don-SchauenBuchgestaltung: Ralf BerszuckE-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright © 2013 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE,MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 978-3-86889-215-4

Zitate

»Zweifel sind der erste Schritt in die Verdammnis.« —Praiodane Almira Werckenfels

»Zweifel sind der erste Schritt in die Freiheit.«

Interludium

Die Geschichte mit Neuenburg

Neuenburg, 7. Phex 1022 BF

Seine Lungen brannten, als habe man sie mit flüssigem Feuer gefüllt. Er schmeckte Rauch, Asche und Blut. Der ganze Innenhof stank nach verbranntem Fleisch.

Hier, im Zwielicht der Ruine, lag Gorodez im Schatten der Statuen der lange vergangenen Herren von Neuenburg und fragte sich, in welchem Augenblick die Angelegenheit aus dem Ruder gelaufen war.

Sie hatten mit einem weiteren unbedeutenden Kultistenzirkel gerechnet, der im Hinterland des Großen Flusses seinen obskuren Riten nachging – ein Zirkel wie die zahllosen, die sie in letzter Zeit ausgehoben hatten. Möchtegern-Okkultisten, die selten verstanden, mit welchen Mächten sie sich einließen. Im besten Fall harmlose Spinner, im schlimmsten Fall gefährliche Idioten.

Jetzt waren elf Menschen tot. Und nur fünf davon waren Kultisten. Ein weiterer war Gorodez’ Meister. Wenn man es genau nahm, war diese Katastrophe Gorodez’ Schuld.

Er selbst lebte – noch. Denn es war noch nicht vorbei.

Gorodez hatte schon als Kind aufgehört, auf Wunder zu vertrauen. Auch jetzt erhoffte er sich keines. Alles, was ihm blieb, war sein Hass, und am meisten hasste er gerade sich selbst. Sein Blatt war mies, und es war keine Karte mehr im Spiel, die ihn noch retten konnte. Es war nicht einmal genug, um überzeugend zu bluffen. Er war vollkommen ausgebrannt, seine astrale Kraft hätte nicht einmal für einen simplenFlim Flamgereicht. Außerdem konnte er sich kaum bewegen. Er war ein röchelnder Knochensack, zum Sterben abgelegt. Man hatte ihn sich bis zum Schluss aufbewahrt. Nun kehrte die Bestie zurück, um das Werk an ihm zu vollenden.

Sie waren ihren Feinden in die Falle getappt. Ein simples Trugspiel, doch es hatte seinen Zweck erfüllt. Gorodez hatte wirklich geglaubt, es wäre die ganze Zeit nur um ihn gegangen. Das war ein verhängnisvoller Irrtum gewesen. Er hatte seinen Meister verraten, und nun war sein Meister tot.

Die Bestie ließ sich von einem ihrer überlebenden Handlanger einen Umhang reichen. Wie die anderen trug der Mann den Armreif mit dem Drachen.

»Schmerzt es sehr, Zauberlehrling?«

Gorodez wollte etwas antworten, doch als er Luft holte, wurde sein Körper von Krämpfen durchgeschüttelt.

»Du bist nur der Stimme in deinem Kopf gefolgt. Der Drache hat gerufen und der Wurm kam gekrochen. Akzeptiere, dass du nicht mehr als das Werkzeug zu meiner Rückkehr gewesen bist.«

Gorodez sammelte seine Kräfte. »Verrecke«, presste er zwischen den Zähnen hervor. Für mehr reichte sein Atem nicht.

»Wenn du wüsstest, von wie vielen Kreaturen ich dies schon gehört habe. Ich existiere immer noch. Ich habe große Pläne mit Aventurien. Die Saat des Goldenen Thrones ist ausgesät, nur wirst du die Ernte nicht mehr erleben.«

Er zitterte am ganzen Körper, obwohl sein Trotz ihm gebot, dem Ende gefestigt entgegenzusehen.

Die Bestie gab ihren Anhängern ein Zeichen.

»Ich schenke dir die restlichen Jahre deines kümmerlichen Lebens, als Dank für deine Hilfe. In deinem Zustand werden es ohnehin nicht viele sein.«

Mit einem letzten Blick auf die Überreste seines Meisters, in dem etwas Verborgenes lag, das er nicht deuten konnte, verschwand die Bestie in die Nacht und ließ Gorodez zurück. An das Mauerstück gelehnt, gegen das sie ihn geschleudert hatte, blickte der junge Magier ihr hinterher. Wie die Dinge standen, würde er nicht einmal diese Nacht überleben. Dann fiel sein Blick auf etwas zwischen den Leichen: seine Umhängetasche, die er im Kampf verloren hatte. Sie lag nur wenige Schritt von ihm entfernt, aber in seinem Zustand hätte sie auch in einer anderen Sphäre liegen können.

Vielleicht ist Sterben eine Alternative, dachte er bitter.Allerdings habe ich mir geschworen, meinen Abgang selbst zu bestimmen.

Er versuchte durch die Nase zu atmen, was sich als weniger schmerzhaft erwies als durch den Mund. Mit geschlossenen Augen holte er mehrmals Luft und kämpfte den Brechreiz nieder. Dann ließ er sich langsam zur Seite gleiten.

Es fehlte ihm an Kraft aufzustehen. Selbst auf die Knie kam er nicht. Aber er war entschlossen, sein Ziel kriechend zu erreichen, und wenn es Stunden dauern würde.

Tatsächlich kam es ihm wie eine Ewigkeit vor. Immer wieder musste er innehalten, wenn sein Körper versagte und ihm die Luft wegblieb. Als er die Überreste seines Meisters passierte, hätte er fast resigniert und sich seinen Schmerzen hingegeben.

Ihr hattet wieder einmal recht. Ihr habt stets gesagt, eines Tages würde ich noch Euer Tod sein.

Gorodez weigerte sich, aufzugeben. Er weigerte sich, die Götter anzuflehen. Er schluckte die Namen der Erzdämonen hinunter.

Schließlich bekam er mit ausgestrecktem Arm den Gurt seiner Tasche zu fassen. Er rollte sich auf die Seite und zog sie zu sich heran. Endlich gönnte er sich eine längere Pause und ging in Ruhe seinen Plan durch.

Eigentlich war dieser Plan sehr simpel. Er lautete: überleben.

Als er sich wieder gesammelt hatte, kramte er mit einer Hand in der Tasche und fand, was er suchte: seine Pfeife. Allerdings war sie zerbrochen. Verärgert ließ er sie in den Staub fallen.

Kurz dachte er nach, dann holte er ein kleines Buch hervor. Es hatte einen roten, abgegriffenen Einband und begleitete ihn nun schon seit zehn Wintern. Er pflegte darin seine Notizen zu machen, auch wenn er in letzter Zeit nachlässig geworden war.

Wahllos schlug er eine Seite auf und riss sie heraus.

Nach und nach kramte er weitere Dinge aus der Tasche und stellte sie neben sich auf. Eine Rolle mit etwas Garn. Feuerstein und Zunder. Beutelchen und Tiegel mit getrockneten Kräutern. Seine silberne Tabakdose.

Er legte die Seite aus dem Buch vor sich hin und streute etwas Pfeifenkraut darauf. Dann widmete er sich den Kräutern. Seine fast tauben Finger zerrieben den getrockneten Gulmond. Dazu kamen etwas Tarnele, Wirselkraut sowie Nothilf, dessen in Öl eingelegte Blätter er erst abtropfen musste. Und schließlich die grünlichen Knospen des Ilmenblatts.

Gorodez durchmengte dies alles, rollte anschließend das Papier zusammen und umwickelte es mit dem Garn. Skeptisch betrachtete er das Werk. Es war alles, was er hatte.

Mit dem improvisierten Zigarillo zwischen den Zähnen brauchte er mehrere Anläufe, bis der Zunder entflammte. Als Papier und Kräuter schließlich Feuer fingen, drehte er sich auf den Rücken und rauchte. Erst in vorsichtigen Zügen, dann in immer tieferen. Der Schmerz in seiner Brust ließ nach, und eine angenehme Taubheit breitete sich in seinem Körper aus.

Dort im Dunkeln, alleine mit den Leichen, seiner Schuld und seiner Rache, schwor sich Gorodez, jeden verbleibenden Atemzug darauf zu verwenden, den Kult auszulöschen.

Und dass sich so etwas wie Neuenburg nicht wiederholen würde.

Überlebende

Kuslik, 30. Efferd 1032 BF

»Durch deinen Tod wird dein weibisches Dasein in etwas Größerem aufgehen.«

Das geisterhafte Licht der grünlichen Feuer spiegelte sich in der scharfen Klinge des Krummdolches. Unruhig tanzten die Schatten über das bärtige Gesicht des Derwischs. Je weiter er sich zu ihr hinunterbeugte, desto mehr hüllte sich sein Antlitz in Dunkelheit.

Avesas Kopf war leer. In ihrer Brust rührte sich nichts. Ihr war, als hockte sie am Grund eines tiefen Brunnens, in dem das Echo ihres letzten Schreis nachhallte. Unerreichbar über ihr befand sich die Öffnung, in die sich Mhaduls Gesicht schob, um den Schacht zu verschließen und sie mit den anderen Leichen zu begraben.

Seltsamerweise machte es ihr nichts aus.

»Missverstehe mich nicht, knospende Blüte«, sprach Mhadul weiter. »Ich respektiere den Mut, mit dem du gestritten hast, ein Mut, der manchem Mann gut zu Gesicht gestanden hätte. Doch letztlich musstest du an deinem verzagenden Herzen scheitern, das doch bloß das einer Frau ist.«

Übelkeit überfiel Avesa, ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie lehnte sich gegen den Altar in ihrem Rücken, ihre Hände stützten sich auf den Boden ab. Dabei berührten die Finger ihrer rechten Hand Metall.

Mhadul nahm ihren Kopf und strich ihr durchs Haar. »Pssst«, machte er. »Zeige mir noch einmal deinen Mut, das Feuer einer rassigen Stute. Ich will, dass du dem schlafenden Gott gefällst.«

Die Übelkeit ließ ebenso unvermittelt nach, wie sie gekommen war. Nur ein leichtes Schwindelgefühl blieb.

Hinter Mhadul ertönte ein kurzes, trockenes Husten, zweimal, um dann röchelnd zu ersterben. Der Derwisch blickte über die Schulter. »Du wirst der Nächste sein, du seuchenbringender Auswurf aus dem Schoß sternloser Nächte.«

Avesa sah alles ganz genau. Den sehnigen Hals zwischen dem ergrauenden Bart und dem hellen Stoff seines Gewandes. Die dunklen Flecken des Alters. Den sich gleichmäßig hebenden und senkenden Brustkorb. Die rote Schärpe, die um den Bauch gewickelt war. Sie sah den scharfen Krummdolch und spürte gleichzeitig das kühle Metall der Basiliskenzunge, die neben ihr auf dem Boden lag.

Ihre Hand schloss sich um den Griff der gewellten Klinge und stieß sie dem Novadi in den Bauch.

Mhadul sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. Im nächsten Moment schrie er auf, hob seinen Dolch und stach auf Avesa ein. Als die Klinge niedersauste, brach sich in ihr etwas Bahn, was bisher in die schweren Fesseln der Lethargie geschlagen war. Sie riss den linken Arm hoch. Ein scharfer Schmerz durchfuhr sie, als die Klinge das Fleisch durchschnitt, doch er war wie Öl, das man in ihr aufflammendes Feuer schüttete.

Avesa schrie nun ebenfalls. Ihre tastende Rechte fand einen Stein. Sie schlug ihn Mhadul ins Gesicht, warf sich gegen den wankenden Alten, stürzte mit ihm zu Boden. Zwei-, drei-, viermal schlug sie mit dem Stein zu. Unter ihr splitterten Knochen und zuckte ein Leib. Sie musste sich mit dem linken Arm aufstützen. Abermals durchfuhr sie der Schmerz. Sie ignorierte ihn. Sie schlug zu, bis sie den Arm kaum mehr heben konnte.

»Das Feuer hat mich geküsst«, flüsterte sie. »Es lässt sich nicht zügeln.«

Dann brachen die Tränen aus ihr heraus, und sie fiel zur Seite. Sie wurde in einen Strudel aus Wut, Angst, Trauer, Verzweiflung und Trotz gerissen, aus dem sie erst ein geflüstertes Wort befreite.

»Prinzessin?«

Avesa schluckte und lauschte.

»Avesa, bist du das?«

Es war Dartans Stimme. Zuerst wollte sie nicht antworten, dann rang sie sich zu einem dünnen »Ja« durch.

»Geht es dir gut?«

Was für eine dumme Frage,dachte sie. »Ich lebe.«

»Ich auch.« Stille. »Was ist …?«

»Zita ist fort«, antwortete Avesa, die immer noch auf dem Rücken lag und sich kein Stück bewegte. »Sie hat, weswegen sie gekommen ist, und ist gegangen. Der Derwisch sollte sich um uns kümmern.«

»Mhadul?« Dartans Stimme klang bitter. »Ich glaube, es ist meine Schuld, dass sie uns gefunden haben.«

Avesa wagte es nicht, den Kopf zu wenden und das zu betrachten, was von dem Novadi geblieben war. »Vergiss deinen Krähenfreund. Zita – oder was immer sie war – hat Horadan … Und Gorodez, er …«

»Gorodez war hier?«

Avesa hörte Dartans Frage kaum.Das Husten! Das war nicht Dartan.

Sie richtete sich so schnell auf, dass ihr schwindelte. Immer wieder musste sie sich abstützen, sonst wäre sie gestürzt, so schwach waren ihre Beine. Zuerst entdeckte sie Dartan, der sich ebenfalls mühsam aufrichtete. So ungelenk, wie er sich bewegte, schien sein ganzer Körper aus Schmerzen zu bestehen. Er versuchte sich an einem gezwungenen Lächeln.

An dem alten Gemäuer zusammengesunken, zwischen uralten Pergamentrollen und Büchern, lag Gorodez. Das eingefallene Gesicht erinnerte im Schein der Geisterfeuer noch mehr als sonst an eine Totenmaske. Der Magierstab lag neben ihm, sein Körper wirkte seltsam verdreht. Avesa erinnerte sich an das laute Knacken, als das Drachenwesen mit dem Magier fertig gewesen war.Sie hat etwas in ihm zerbrochen.

Mit flackernden Lidern schlug der Magier die trüben Augen auf.

»Ihr seid noch nicht tot.«

»Du auch nicht. Uns geht es besser als erwartet.« Ein Husten ließ den dürren Körper zittern.

Dartan humpelte an Avesas Seite. »Was ist mit ihm?«

»Diese Schlampe hat mir das Rückgrat gebrochen. Ich spüre meine Beine nicht mehr.«

»Gut so«, sagte Dartan und legte eine Hand auf Avesas Schulter. »Lass uns aus diesem Albtraum verschwinden, Prinzessin.«

Er wollte sie fortziehen, doch Avesa streifte seine Hand ab. Sie sah Gorodez fest in die Augen. Für einen Herzschlag blickte sie in einen Spiegel. »Ich muss das hier zu Ende bringen. Und ich werde mich nicht davon abhalten lassen.«

»Es wird nicht besser werden, Kind.«

Avesa besah sich ihre Hände, das Blut daran und die winzigen Knochensplitter. »Zum letzten Mal: Nennt mich nie wieder ‚Kind‘.«

Ganz schwach nickte Gorodez mit dem Kopf. »Sie war in meinem Kopf. Sie hat sich an allem bedient, was sie wissen musste. Wahrscheinlich hat sie sich längst den Umbilicus geholt und ist auf und davon, um ihre Pläne voranzutreiben. Aber«, und damit kehrte das selbstgefällige Grinsen in das Gesicht des Magiers zurück, »ich habe mich auch bei ihr umgesehen.«

»Können wir sie aufhalten?«

Dartan sah sie entsetzt an. »Seid ihr zwei nun von Hesinde vollkommen verlassen? Diese Frau ist uns über.«

»Du hast keine Vorstellung.« Avesa schüttelte den Kopf und sah Dartan, den unwissenden Freund, mitleidig an. Ihn hatte bereits die Bewusstlosigkeit in den gnädigen Mantel gehüllt, als Zita … Yalstene ihr wahres Gesicht gezeigt hatte. »Das war keine Frau. Es war nicht einmal ein Mensch.«

»Wovon redest du?«

»Niemand wird uns glauben, Dartan. Ich selbst verstehe nicht, was ich gesehen habe. Es gibt niemanden, an den wir uns wenden können. Niemanden, dem wir vertrauen können.«

»Aber dem da, dem willst du vertrauen?«

»Das habe ich nie getan, diesen einen Rat habe ich befolgt. Aber ich schulde ihm etwas, und er ist der einzige, der mir helfen kann.«

»Was ist mit mir? Ich habe geschworen, dich zu beschützen.« Wütend trat Dartan gegen einen Stapel kostbarer Pergamente.

Seine Verzweiflung versetzte Avesa einen Stich, doch sie spürte, dass es für sie kein Zurück mehr gab. Sie hatte fast alles verloren, was ihr Leben ausgemacht hat. Die Avesa, die vor zehn Tagen unbeschwert durch das erwachende Kuslik geschlendert war, erschien ihr wie eine Fremde.

Dass sie schwieg, gab Dartan die nötige Antwort. Er drehte sich um, hinkte zum Eingang des Gewölbes und ließ sich dort, mit dem Rücken zu ihr, nieder.

»Sagt ein Wort und ich lasse Euch in der Tat dort liegen.«

»Ich wollte dich nur bitten, deine magische Heilkunst auf mich zu verwenden. Keiner von uns möchte, dass du mich trägst.«

Avesa zuckte zusammen und warf einen scheuen Blick zu ihrem Stab, der zwischen den Tischen und Altären aufragte. »Ich kann nicht«, flüsterte sie.

»Willst du mir erklären, der alte Valberto hat es versäumt, dir die Grundlagen der Zauberei beizubringen? Ein einfacher Balsam wird …«

»Ich bin an meinen Stab gebunden«, unterbrach sie ihn. »Wenn ich ihn nicht in den Händen halte, ist es mir nahezu unmöglich, die astrale Kraft in wirkungsvolle Bahnen zu lenken.«

»Dann hol ihn her.«

Avesa zögerte, und Gorodez wurde langsam ungehalten. »Du kannst ihn nicht ewig dort lassen, wo er ist. Ich würde dir die Aufgabe gerne abnehmen, aber wie du weißt, kann ich meine Scheißbeine nicht bewegen. Und wenn du nicht zaubern kannst und ich nicht laufen, wird es ein harter Kampf gegen unsere Feinde.«

»Schweigt!« Avesa atmete tief durch und machte sich auf den beschwerlichen Weg zu ihrem Stab, zu der Stelle, wo Horadan lag, die Spitze des Holzes in seinem Herzen. Mit jedem Schritt fühlte sie sich mehr und mehr wie eine Schlafwandlerin. Endlich stand sie neben Horadan und blickte in sein Gesicht. Sie wusste, wie sie eigentlich auf diesen Anblick hätte reagierensollen. Es wäre nur richtig gewesen, neben ihm auf die Knie zu sinken und um ihn zu trauern. Doch wie schon bei Valbertos Tod verschob sich in ihr etwas. Eine kalte Rüstung legte sich um ihr Herz und hielt alles von ihr fern.

Sie ging auf ein Knie nieder, schloss Horadan die Augen und strich über die von Bartstoppeln kratzige Wange. »Ich weine um dich, wenn dies alles vorbei ist«, versprach sie ihm. Sie erhob sich wieder, stellte einen Fuß auf die Brust des Toten, packte fest den Stab, bat stumm, sein Herz möge das Holz freigeben – und zog es mit einem Ruck heraus.

Dartan hatte sich wieder umgewandt und musterte sie. Sie hielt seinem Blick stand. Er senkte die Augen.

Als sie an Gorodez’ Seite trat, verharrte sie kurz. Dann stieß sie mit der Spitze des Stabes gegen sein linkes Bein. »Ihr spürt nichts?«

»Nein.«

Sie streckte eine Hand aus. »Dartan, gib mir deinen Dolch.«

Dartan zögerte, kehrte dann aber zu ihr zurück. Gorodez musterte sie mit wachsender Neugier.

»Was hast du vor?«, fragte der Dieb.

Avesa legte den Stab beiseite und nestelte an ihrem Gürtel herum. Aus einer kleinen Tasche holte sie einen kleinen Metallsplitter hervor. »Ihr erinnert Euch daran?«

»Du bist wirklich nachtragend.«

»Keiner von uns wird vergessen, was hier geschehen ist. Es wird tief in uns sitzen und schmerzen, wie ein Stachel im Herzen.« Sie legte den Splitter sacht auf den Boden ab und nahm von Dartan den Dolch entgegen. »Ich weiß nicht, ob Ihr ein Herz besitzt, aber Ihr werdet ebenso wie ich nicht vergessen.«

Mit diesen Worten stieß sie Gorodez den Dolch ins Bein. Dartan stieß einen überraschten Laut aus, der Magier verzog jedoch keine Miene, auch nicht, als sie die Klinge wieder aus dem Fleisch zog. Sie legte den Dolch weg, nahm den Splitter und drückte ihn in die Wunde.

»Ich heile Euren Rücken und Euer Bein. Der Splitter wird in Euch bleiben, und immer, wenn Ihr zaubert, werdet Ihr einen kleinen Schmerz spüren. Nicht viel, aber es wird reichen, um Euch an mich zu erinnern.«

Gorodez ließ den Kopf nach hinten sinken und blickte zur Decke. Er sagte nichts.

Avesa horchte in sich hinein. Sie spürte, dass ihre verbliebene Astralkraft nicht reichen würde, die schweren Wunden zu heilen. Sie würde ein größeres Opfer bringen müssen, um dieses Leben zu bewahren. Mit mulmigem Gefühl dachte sie an den Zauber, den sie dem almadanischen Roten am Brunnen des Liebenden Dichters entgegengeworfen hatte. Als sie an jener verbotenen Pforte geklopft hatte, vor der sie Meister Valberto vor vielen Jahren gewarnt hatte.

In jedem von uns existiert eine dunkle Pforte, eine versiegelte Tür. Wer sie zu öffnen versteht, vermag seine Zauber mit der Kraft seines Lebens zu nähren. Doch dadurch kann sich der Zauber zu einem gierigen Tier wandeln. Und wenn es schon schwierig ist, die verbotene Pforte zu finden, ist es noch schwieriger, sie wieder zu schließen.

Was sie vorhatte, war gefährlich und zudem verboten, doch letztlich war das einerlei. Sie riss den Ärmel ihrer Robe auf. Der Schnitt, den Mhaduls Krummdolch ihr zugefügt hatte, war schmerzhafter, als er aussah. Vorsichtig benetzte sie die Fingerkuppen mit ihrem Blut. Sie nahm ihren Stab auf den Schoß, legte ihre Rechte auf Gorodez’ Bauch und die Linke auf seine Beinwunde. Dabei konzentrierte sie sich auf den Zauber, den sie weben wollte. »Balsam Salabunde«, hauchte sie wieder und wieder, während sie die astrale Kraft zu ihren Händen lenkte, wo sie überging auf Gorodez’ Körper und mit dem dünnen Netz seiner Lebenskraft verschmolz.

Sie konzentrierte sich auf ihren Herzschlag und das Rauschen des Blutes, bis es in ihren Ohren zu einem Dröhnen anschwoll. Mit geschlossenen Augen spürte sie dem Fluss ihrer eigenen Lebenskraft nach, bis zu dem Punkt, an dem sich die Kräfte des Lebens und der Magie berührten. Vor Avesas geistigem Auge entstand ein von zwei Eiben geformtes Portal, in dem sich eine hölzerne Tür befand. In das Holz waren feine Efeuranken aus Silber eingelassen, die sich wie Schlangenleiber wanden.

Ich tue es nicht für Gorodez, dachte sie, griff nach dem silbernen Türknauf und zog daran. Sogleich war ihr, als übergieße man sie mit warmem Wasser. Der Zauber unter ihren Hände labte sich begierig an der neuen Kraft und ließ sie in Gorodez’ geschundenen Körper fließen. Es berauschte Avesa, diese Kraft zu spüren, zu fühlen, wie sich zersplitterte Knochen und durchtrennte Sehnen wieder zusammenfügten. Von irgendwoher erklang eine ferne Stimme, doch sie ging unter in dem Rauschen in ihren Ohren. Bereitwillig gab sie dem Zauber, was er brauchte. Mehr. Und mehr. Versonnen lächelte sie.

Wie schön es ist, Leben zu spenden.

Es war, als würde sie sich auflösen. Das war ein verlockender Gedanke.Einfach verschwinden, vergehen im Nichts.

Plötzlich wurde sie gepackt und fortgerissen. Der Zauber entglitt ihr, die Fäden zerrissen, und in ihrem Inneren wurde eine Tür zugeschlagen. Sie fühlte sich schwach und benommen. Etwas lastete auf ihrer Brust und machte ihr das Atmen schwer.

»Avesa?«

Langsam nahm sie wieder ihre Umgebung wahr, und der Druck ließ nach. Sie lag auf dem Boden. Neben ihr kniete Dartan und bettete ihren Kopf auf seinem Schoß. Sie wollte ihn anfauchen, was er getan hatte, doch sie fühlte sich zu schwach.

»Ich musste dich fortreißen. Du wurdest immer blasser, dann fingst du an, aus Nase und Ohren zu bluten. Es war, als sauge dir etwas das Leben aus dem Leib.«

Ich habe die Kontrolle verloren. Wenn Dartan mich nicht gerettet hätte, hätte ich mein Leben für diesen Zauber gegeben.»Danke«, hauchte sie. »Hat mein Zauber gewirkt?«

Ein leises Knistern war zu hören, kurz darauf drang ein beißender Geruch an ihre Nase.

»Das hat er, in der Tat.«

Über ihr stand Gorodez und rauchte. Er streckte ihr eine Hand entgegen, doch sie ließ sich von Dartan aufhelfen.

»Können wir sie aufhalten?«, wiederholte sie ihre Frage.

Gorodez blies den Rauch in das vergessene Gewölbe und dachte nach. »Es wird nicht einfach. Aber wenn wir ihren Plan verstehen, können wir ihn auch durchkreuzen.« Ein nicht zu deutendes Lächeln umspielte seine Lippen. »Und ich weiß, von wem wir ein paar Hinweise bekommen können.«

Avesa erinnerte sich an ihr Gespräch mit Gorodez imTanzenden Bärenvor einer Woche. »Warum habt Ihr Valbertos Amulett mitgenommen? Ihr sagtet, Ihr hättet nicht die Antworten bekommen, die Ihr erhofft hattet. Ihr meintet damit aber nicht das Amulett, richtig?«

»Richtig, Collega.«

Avesa überlegte. »Ich habe einen Plan«, verkündete sie schließlich. Sie erklärte ihren Gefährten, was sie ersonnen hatte. Dartan sah mit wachsender Besorgnis zwischen den beiden Magiern hin und her, während sich in Gorodez’ Gesicht ein breites Grinsen schlich.

»Du steckst voller Überraschungen«, sagte er anerkennend. »In der Tat, du bist wirklich Valbertos Schülerin.«

»Wie gut kanntet Ihr ihn?«

»Ich bin ihm einmal begegnet. Da war ich bedeutend jünger als ihr beiden.«

Dartan schüttelte den Kopf. »Vesa, was du vorhast, ist nicht mehr nur Wahnsinn, das ist Ketzerei! In was für Sümpfe Mater Lucara auch immer bis zum Hals gesteckt haben mag, dieser Frevler ist Gift für deine Seele. Hast du mir das nicht selbst gesagt? Und nun folgst du bereits seinen Pfaden!«

Avesa strich dem aufgebrachten Freund über den Kopf. »Es hat sich alles verändert. Horadan ist tot, Valberto und Invher sind es ebenfalls. Ich erwarte nicht, dass du uns begleitest. Es ist vielleicht besser, wenn du zurückbleibst. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren. Ich bedeute Unglück für alle, die mir wichtig sind.« Ehe er antworten konnte, küsste sie ihn auf die Stirn. Dann wandte sie sich Gorodez zu. »Ihr hattet recht, Gorodez: Die Götter sind grausam. Wollen wir gehen?«

Gorodez nickte, und sie suchte zusammen, was sie benötigen würde.

Gerade als sie aufbrechen wollte, fand Dartan seine Worte wieder. »Was ist mit Horadan?«

Wie vom Donner gerührt blieb Avesa stehen. Die Rüstung um ihr Herz bekam Risse. Hilflos sah sie zwischen der Stelle, wo er lag, und Gorodez hin und her.

Dartan kam zu ihr und nahm sie in die Arme. »Vergiss es, Prinzessin. Ich kümmere mich um ihn. Wir haben uns vielleicht nicht gemocht, aber er war ein feiner Kerl – für einen Roten. Geht schon mal vor, ich bleibe hier.«

Avesa schluckte und löste sich aus der Umarmung.

»Und es ist mir egal, was du sagst. Ich werde mitkommen, wo immer du hingehst. Und wenn es in die Niederhöllen selbst ist.«

Sie war erleichtert, dass sie ihn nicht abschütteln konnte, trotz der Angst, die sie um ihn hatte.

Hinter ihr wartete ungeduldig Gorodez. Sie schloss sich ihm auf den Weg nach draußen an. Dartan hatte recht: Ihr Plan konnte nur aufgehen, wenn sie Wege beschritten, die geradewegs zum Scheiterhaufen führten. Allerdings spürte sie ohnehin, dass die Geschichte kein gutes Ende für sie nehmen würde. Also konnte sie zumindest Yalstene mitnehmen.

»Du hast ihm nicht gesagt, mit was wir es wirklich zu tun haben«, bemerkte Gorodez in dem staubigen Gang.

»Nein. Ich weiß es selbst nicht genau.«

Gorodez schnippte den Zigarillo in die Dunkelheit. »Yalstene ist eine Mantra’ke.«

Avesa blieb stehen. »Ein Mandrake? Und ich dachte immer, die Drachenmenschen wären nicht mehr als eine Legende.«

»Fürchte Legenden, sie neigen dazu, die Wahrheit zu verharmlosen.«

Avesa warf einen beunruhigten Blick zurück in die Kammern, die sie entdeckt hatten und in denen sie Dartan alleine mit den Toten und den Geistern zurückließ. Dann schloss sie schnell zu Gorodez auf.

***

Kuslik, 1. Travia 1032 BF

»Man hat Morsiuncula gefunden.«

Pater Ammarantes führte Borson in die kühlen Gewölbe unterhalb der Halle der Weisheit. Hier befanden sich die Grüfte der Kirchenfürsten sowie die Gräber und Urnen anderer bedeutender Diener Hesindes, die unter ihrem heiligsten Tempel eine letzte Ruhestätte gefunden hatten. Borson war bisher nur einmal hier unten gewesen und hatte diesen Besuch unangenehm in Erinnerung. Dabei waren es nicht die toten Leiber gewesen, die ihn geängstigt hatten. Es war die Aura, die von dem Ort ausging, in dem jene ruhten, die ihr Leben ganz der Göttin hergegeben hatten. Unter ihnen waren Erleuchtete und Heilige, deren Namen er nur mit Ehrfurcht im Mund führte.

Und nun hat die Allweise mich, ihren wertlosesten Diener, auserwählt.Die heftige Vision, die ihn während des Prüfungsfestes ereilt hatte, ließ ihn nicht mehr los, auch wenn er sie nur selten zu fassen bekam. Es kam ihm vor, als müsste er mit verbundenen Augen ein Mosaik zusammensetzen, das er nur einmal kurz gesehen hatte.

Unter den kühlenden Verbänden mit Conchinissalbe sah er immer noch aus, als habe er sich am gesamten Körper einen Sonnenbrand zugezogen. Dabei war die Hitze, die seine Haut verbrannt hatte, von innen gekommen.

Der alte Pater führte ihn nicht weit in die Gewölbe, und darüber war Borson sehr erleichtert. Sie betraten eine kleine Kammer, zwischen deren dunklen Wänden Weihrauch verbrannt wurde. Hier wurden kürzlich verstorbene Angehörige des Tempels aufgebahrt, bis die Geweihten aus dem Borontempel jenseits der Stadtmauern kamen, um den Toten zu versorgen. Auf einem schlichten Basaltblock, der als einzigen Schmuck ein eingemeißeltes Boronsrad trug, lag Morsiuncula. Man hatte den Krieger der Eisernen Schlange in ein schwarzes Totengewand gehüllt, das die Hautbilder auf den Armen verdeckte. Beim Näherkommen entdeckte Borson die tödliche Wunde unter dem Kinn.

Borson und Ammarantes knieten nieder und gedachten schweigend des Kriegers, den sie kaum gekannt hatten. Er hatte erst wenige Wochen in Kuslik geweilt, und seine Aufgabe hatte allenfalls Lucara gekannt. Von der Präzeptorin fehlte nach wie vor jede Spur. Sie war am selben Tag verschwunden wie Morsiuncula. Nun vor seiner Leiche zu stehen, ließ Schlimmes befürchten.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, erhob sich Borson und ging zu der Leiche. Er schob den linken Ärmel zurück. Den Unterarm umschloss ein eiserner Reif. Vorsichtig wendete er den Arm.

»Hast du etwas entdeckt, Filius?«

Borson spürte Hitze in sich aufwallen. Ganz fein war in dem zerkratzten Metall eine Gravur zu erkennen. Sie zeigte einen Drachen, mit zwei kleinen Jadesplittern als Augen. Noch während er den Reif betrachtete, verfärbte sich das Metall. Das Eisen wurde dunkler, doch innerhalb der Gravur verwandelte es sich in Gold. Die grünen Jadeaugen änderten ihre Farbe ins Rötliche, und dann war es Borson, als blickten sie ihn direkt an. Er begann zu schwitzen und atmete stoßweise. Blankes Entsetzen drückte ihm die Kehle zu. Vor seinen Augen schälte sich der goldene Drache aus dem Reif und schnappte fauchend nach ihm.

Mit einem Aufschrei ließ er den Arm los und taumelte zurück in Pater Ammarantes’ Arme.

»Ich hätte dich nicht mit hinunternehmen sollen, Borson. Das Fieber greift wieder nach dir.«

Borson konnte wieder ruhig atmen. Morsiunculas linker Arm hing von dem Basaltblock herab, der Armreif sah aus wie vorher. Mit zittrigen Beinen und von Ammarantes gestützt trat er abermals an die Leiche und sah in das kantige Gesicht.

»Er hat uns getäuscht, Pater.«

Ammarantes zog fragend seine buschigen Augenbrauen hoch. »Was sagst du da?«

Borson legte seine Hand auf das Gesicht des Toten. Ihm war, als würde er es wie eine Maske abnehmen. »Er war keine Eiserne Schlange. Seinen Namen hat er nicht zur Weihe erhalten, sondern angenommen, um uns zu täuschen.«

»Das kannst du sehen?« Ammarantes’ Stimme klang ehrfürchtig. Borson wusste, dass der Pater ihm glaubte.

»Etwas ist mit mir geschehen, geschieht noch. Ich verstehe nicht, was es ist, aber ich kann die Wahrheit sehen.« Die Worte kamen wie selbstverständlich über seine Lippen. In ihm war etwas, das alle Zweifel verbrannte. »Ich bin ein leeres Gefäß, das man gefüllt hat.«

Die erfüllende Kraft verließ ihn ebenso plötzlich, wie sie aufgeflammt war. Er ließ von dem Toten ab und spürte die Hitze und den Schwindel wieder.

»Bitte, Pater, geleitet mich nach draußen. Ich brauche frische Luft.«

Ammarantes nickte und stellte keine weiteren Fragen. Dafür war Borson ihm dankbar, denn auch wenn er die Wahrheit gesehen hatte, so scheute er doch davor zurück, sie zu verkünden. Er hatte nur eine ungefähre Ahnung, welche Mächte sich hinter der Kabale verbargen, aber dafür die Gewissheit, wer sie ebenfalls getäuscht hatte.

Lucara trägt einen ähnlichen Drachenreif. Vielleicht ist sie nicht die treibende Kraft, aber sie ist in diese Täuschung verwickelt.

Ammarantes führte Borson durch das große, säulengetragene Portal nach draußen. Es regnete noch immer, und der Schlangenplatz am Fuße der Treppe unter ihnen wirkte verlassen und trostlos.

Borson ließ sich den Regen ins Gesicht sprühen und spürte, wie die Hitze nachließ. Schließlich drehte er sich zu Ammarantes um. »Erinnert Ihr Euch noch, wie ich Euch gestern sagte, dass die Drachen sich erheben würden?«

Der alte Draconiter stand im Schutz des Daches und hatte die Arme um sich geschlungen. Er nickte. »Du hast mir nur noch nicht gesagt, ob dies gut oder schlecht ist.«

»Ich sah brennende Städte.«

Die dunkelbraunen Augen prüften Borson. Er versuchte es mit einem müden Lächeln und wandte dann den Blick ab. »Du musst mit Ihrer Erhabenheit sprechen«, seufzte Ammarantes.

Borson haderte mit sich. Er scheute sich, der Magisterin der Magister gegenüberzutreten. Doch wer sollte ihm besseren Rat geben können als sie?

»Ich denke, der Umbilicus war erst der Anfang.«

»Steckt dieser frevlerische Magier mit Morsiuncula unter einer Decke? Ist er in unsere heiligen Hallen gelangt, weil Morsiuncula ihn hereingelassen hat?«

Die nächsten Worte kosteten Borson große Überwindung, zumal er gleich an sein verbranntes Gesicht denken musste. Aber die Ahnung in ihm war zu drängend. »Ich weiß nicht, ob der Magier wirklich unser Feind ist.«

»Der Ketzer ist ein Tempelräuber!«, rief Ammarantes so laut, dass man es in ganz Kuslik hören musste. Ein Novize, der vor dem Regen in den Tempel flüchtete, blieb ängstlich stehen. Als ihn Ammarantes’ Blick traf, eilte er weiter.

»Er ist nicht unser Freund. Ich sage nur, dass er vielleicht auch nicht unser Feind ist.«

Ammarantes schwieg – und wartete. Um sie herum trommelte der Regen mit unzähligen, ungeduldigen Fingern auf die Steine.

Borson ließ die Schultern hängen. »Unterrichtet Ihre Erhabenheit über meinen Zustand und bittet um eine Audienz. Und sprecht bitte für mich auch mit Pater Dorogar.« Der Propräzeptor war Lucaras Stellvertreter.

»Was soll ich ihm ausrichten?«

»Ich bitte um Erlaubnis, Kuslik verlassen zu dürfen.«

Der Ordensbruder nickte, als habe er nichts anderes erwartet. »Wohin wirst du gehen, Frater?«

Borson sah zu den dunklen Gewitterwolken, die über Kuslik hingen. »Das habe ich hoffentlich bald herausgefunden.«

***

Lucara hatte jegliches Gefühl für die Zeit und ihren Zustand verloren. Sie wusste nicht, wie lange sie sich schon in dieser Lage befand, wie lange das letzte Gespräch mit ihrem Peiniger, dem Ketzer Gorodez, zurücklag. Es spielte für sie keine Rolle. Versunken in der Kontemplation vergaß die Geweihte den kalten, harten Boden der Kammer, die Fesseln, die ihr an Armen und Beinen ins Fleisch schnitten, den Durst und den Hunger. Sie bestand nur noch aus ihren Gebeten und Gedanken.

Beginne die Suche nach den Antworten damit, die richtigen Fragen zu stellen, hatte ihre Mentorin sie einst gelehrt. Die wichtigste Frage, die sie beschäftigte, lautete: Hatte sie sich geirrt?

Ihre Laufbahn im Heiligen Drachenorden hatte sie stets auf ihren Aufstieg ausgerichtet. Innerhalb weniger Jahre hatte sie es zur Sotera des Kusliker Hortes gebracht, schließlich zur Präzeptorin. Ihr Wort besaß Gewicht im Orden und in der Kirche, ihre Ratschläge wurden von der Magisterin der Magister gehört und geprüft. Und dann war da noch die andere Seite. Sie hatte die Mysterien der Vergangenheit entschlüsselt, aus Zeiten, als die menschliche Verehrung der Göttin Hesinde noch jung gewesen war, aus Zeiten, als die Menschen eine untergeordnete Rolle in der Geschichte gespielt hatten. Auf diesen Pfaden wandelnd, war sie dem Verkünder begegnet, und seine Worte hatten ihr den Weg zu den letzten Geheimnissen gewiesen. Sie hatte sich ihm und seinem Zirkel angeschlossen und ihren rasanten Aufstieg wiederholt. Schließlich war sie eine der sechs Wegbereiter derHeres aetatis aurigeworden, der Erben des Goldenen Zeitalters, um die Rückkehr des Gottdrachen Pyrdacor und mit ihm eine neue Epoche des Gleichgewichts einzuleiten.

Nun stand sie vor den Trümmern ihres bisherigen Lebens, und ihr Scheitern bedrohte nicht nur den Geheimzirkel, sondern auch die Kirche der Göttin, der sie ihr Leben geweiht hatte. Glauben und Wirken waren ihr stets als eins erschienen. Ihre verborgenen Pläne hatten für sie die innersten Geheimnisse ihres Glaubens berührt. Doch in der Einsamkeit ihrer Gefangenschaft blieb für Lucara nur eine Frage: Was, wenn sie sich geirrt hatte?

Derart in ihren Gedanken versunken, wurde sie erst spät der Schritte gewahr, die sich ihrem Kerker näherten. Licht flammte auf und blendete sie. Nur langsam konnte sie die zwei Gestalten erkennen, die zu ihr herabgestiegen waren: die große, hagere Gestalt des Magiers Gorodez mit dem eingefallenen Gesicht, unrasiert, das braune Haar verfilzt. Und neben ihm, einen Kopf kleiner als er und fast zwei Jahrzehnte jünger als sie, Adepta Avesa. Sie erkannte sie an dem Feuermal an der rechten Schläfe. Es schien ihr Ewigkeiten her, dass sie sie das letzte Mal gesehen hatte. Etwas war mit ihr geschehen.

»Sie lebt tatsächlich noch.«

Gorodez entzündete einen Zigarillo an dem magischen Feuer seines Zauberstabs, das dunkle Schatten auf die Wände und die Gesichter der beiden Magier malte. »Ich bin ein selbstgefälliger Drecksack, aber ich bin pragmatisch veranlagt.«

Lucara versuchte sich aufzurichten, doch ihr fehlte die Kraft. Avesa kniete sich vor sie hin. Die Augen der jungen Magierin verschwanden in den Schatten, nur das Feuermal leuchtete im Dunkeln. »Wieso?«

»Du würdest es nicht verstehen.«

Die Ohrfeige des Mädchens traf Lucara unvorbereitet. Ihr alter Stolz flammte wieder auf. »Ich bin eine Geweihte der Hesinde! Ich bewahre und vertiefe das Wissen und die Geheimnisse der Welt. Du wagst es, deine Hand gegen mich zu erheben? Ich bin deine Hirtin!«

»Ihr seid eine Mörderin.« Die Kälte, mit der Avesa diese Worte sprach, trafen Lucara mehr als die Ohrfeige. »Mein Mentor ist tot, ebenso meine Schwester und mein Geliebter. Ihr Blut klebt an Euren Händen.«

Lucara öffnete den Mund – und schloss ihn.Es ist wahr, dachte sie. Sie hatte Morsiuncula nach Kuslik geholt, und er hatte Avesas Schwester getötet. Aber das hatte sie nicht gewollt. Zudem hatte der Verkünder den Tod von Magister Valberto zu verantworten. Und was war mit ihrem Geliebten?

»Das war nie geplant«, stammelte sie. Plötzlich empfand sie Mitleid mit Avesa.

Hinter dem Rücken des Mädchens lachte Gorodez auf. »Wenn Euer kleiner Geheimbund erfolgreich ist, wird noch viel mehr Blut an Euren Händen kleben. Das aller menschlichen Völker.«

Lucara verstand kein Wort und sah irritiert zwischen den beiden Magiern hin und her. »Der Umbilicus …?«

»Ist fort«, erwiderte Gorodez tonlos.

»Euer Verkünder hat ihn sich geholt – und meinen Horadan getötet. Dass wir noch am Leben sind, verdanken wir wohl nur dem Hochmut dieser Bestie.« Avesa beugte sich so nah an sie heran, dass ihr Gesicht nur noch ein schwarzes Loch war, umgeben von einer rötlichen Aureole, wo sich das Licht in ihrem Haar verfing. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Es ist nichts Menschliches. Ich hoffe für Eure Seele, dass Ihr wirklich keine Ahnung habt,wasIhr Euch angeschlossen habt.«

»Ich bin nur der Wahrheit gefolgt«, verteidigte sich Lucara. »Was wir tun, tun wir, um das Übel der Welt an der Wurzel zu packen. Unser Streben gilt einzig dem Gleichgewicht des Kosmos.«

»Ihr habt Euch geirrt«, sagte Gorodez und blies Rauch in die Luft.

Lucara starrte den Magier an. Gorodez lächelte ihr zu.Bei Xeledon dem Spötter, dieser Ketzer darf nicht recht behalten!

Avesa erhob sich. »Ihr werdet uns helfen.«

»Wobei?«

»Den Kult zu unterwandern. Ihr wollt das Übel an der Wurzel packen? Dies ist Eure Gelegenheit.«

Die Avesa, die nun über Lucara stand, hatte nichts mehr gemein mit der naiven Adepta, der Lucara vor gar nicht langer Zeit zum ersten Mal begegnet war. Sie war hart, verbittert und schien zu allem entschlossen.

»Und wenn ich mich weigere?«

»Dann werdet Ihr nie wieder das Sonnenlicht sehen. Über Eure Schuld wird Rethon entscheiden, wenn er Eure Seele wiegt – bevor er sie in die Sternenleere stößt.«

Ohne auf ein weiteres Wort von ihr zu warten, drehte sich Avesa um und ging an Gorodez vorbei nach draußen. Der bleiche Magier blieb, wo er stand, und rauchte.

»Ihr habt sie vergiftet«, zischte Lucara. »Es sind Eure Lügen aus ihrem Mund.«

»Genau genommen ist sie Euer Werk. Eine weitere Schuld, mit der Ihr werdet leben müssen.«

»Das muss Euch ungemeine Freude bereiten.«

»Ich leugne nicht, dass dem Ganzen eine gewisse Ironie innewohnt. Allerdings mag ich die Kleine und hätte ihr das gerne erspart. Fragt Euch allerdings nie wieder, warum ich Euch Geweihtenpack nicht leiden kann.« Er nahm einen letzten Zug und schnippte den Zigarillo in die Dunkelheit. »Erinnert Ihr Euch an unser vorletztes Gespräch? Ich versprach Euch, Eure Umtriebe öffentlich zu machen, um diesen ganzen sakralen Lügenbau, den Ihr Kirche nennt, zum Einsturz zu bringen. Aber diese Angelegenheit ist wichtiger als meine Befindlichkeiten.«

»Worauf wollt Ihr hinaus?«

»Helft uns, und Eure Taten kommen nur ans Licht, wenn Ihr glaubt, Euer Gewissen erleichtern zu müssen.«

Lucara misstraute dem Angebot. »Ihr schlagt mir einen Handel vor?«

»Nein«, sagte Gorodez und wandte sich zum Gehen. »Dies ist nur ein Anflug von Großzügigkeit. Verweigert Ihr Euch, sterbt Ihr hier in diesem dunklen Loch. Und wenn Ihr uns verratet, seid Ihr ebenso tot. Aber meditiert ruhig noch ein wenig, auch wenn ich mir sicher bin, dass die Antwort Euch leicht fallen wird. Ich sorge dafür, dass Ihr zu essen bekommt, Euch stärken und herrichten könnt. Wir haben noch ein paar Angelegenheiten in Kuslik zu klären, bevor wir aufbrechen.«

»Aufbrechen? Wohin?«

Gorodez grinste. »Sagt Ihr mir das.«

***

Silas, 2. Travia 1032 BF

Debero trat hinaus auf den Schafmarkt und ließ sich mit geschlossenen Augen das Gesicht von der milden Traviasonne wärmen. Es war wahrlich eine anstrengende, kräftezehrende Aufgabe, die Geschicke einer Republik mitzubestimmen, aber mehr denn je war es gerade jetzt wichtig, dass er die Zügel fest in der Hand behielt, um sie im entscheidenden Moment loszulassen. Auf diesen Moment arbeitete er seit Jahren hin. Als Zunftmeister der Alchimisten war er eine der treibenden Kräfte hinter der Syndikokratie von Silas gewesen, als das alte Grafenhaus im Krieg der Drachen in Ungnade gefallen war.

»Verdammte Echserei«, grummelte es auf Höhe seiner Hüfte. Neben ihm stand Simrascha Tochter der Segroscha, die im Priorium der Republik für die Interessen der Zwerge sprach, die in Silas zahlreich vertreten waren. »Die Schlangenschwestern werden hier kein Echsenwerk ausgraben, das Väterchen Angrosch unter Stein gebannt hat.«

»Liebes Mütterchen, Ihr sprecht mir aus dem Herzen. So sehr ich ein großer Förderer der Renascentia bin, um die vergessenen Errungenschaften glorreicherer Zeiten wieder ans Licht zu befördern, so schaudert es mich bei dem Gedanken an die kaltblütigen Schrecken, die dieses Land einst terrorisierten. Sie sollten in den Löchern bleiben, in die die Heiligen sie trieben.«

»Solch furchtsame Worte aus dem Mund von Prior Debero Cabresa?«, mischte sich eine weitere Stimme in das Gespräch ein. »Was für ein seltenes Ereignis.« Geronita Gharlinda hatte nun ebenfalls das reich verzierte Zunfthaus am Schafmarkt verlassen und gesellte sich zu ihnen. Sie war eine faszinierende Schönheit, klein und zierlich, mit blonden Locken, strahlenden blauen Augen und einer sehr hellen Haut, die die Sonne Yaquiriens zu keiner Jahreszeit zu färben vermochte. Debero fand dies aufregend und bedauerte es, dass sie stets nur Konkurrenten geblieben waren. Als Zunftmeisterin der Spiegelmacher hatte Geronita großen Einfluss im Priorium, und es schien ihr eine neckische Freude zu bereiten, diesen gegen ihn zu verwenden. Zudem pflegte sie durch ihr Handwerk tiefgreifende Kontakte zu den Brillantzwergen der Stadt.

»In meinen Adern fließt heißes Blut«, konterte Debero. »Bei Euch allerdings bin ich mir nicht immer sicher. Mitunter wirkt Ihr kalt wie eine Echse in Menschengestalt.«

Geronita lachte glockenhell auf, doch von Simrascha fing er sich einen Klaps gegen das Bein ein. »So redet man mit keiner Dame, du Bengel!«

Debero entschuldigte sich. Bald darauf verabschiedeten sich die beiden Frauen, und Geronita verschwand mit der alten Zwergin im Getümmel des Marktplatzes. Die Spiegelmacherin stand den Bestrebungen der Erzwissensbewahrerinnen nahe, in der vormenschlichen Vergangenheit der Stadt zu wühlen, während Simrascha eine der erbittertsten Gegnerinnen solcher Vorhaben war. Debero kam die Neugier der Hesindekirche ebenfalls ungelegen, wenn auch aus anderen Gründen, als er vorgab. Doch da er Montan dyll Varesi, den gegenwärtigen Podestaten der Republik, auf seiner Seite wusste, hatte er nicht viel zu befürchten.

Ich muss mich nicht mehr lange gedulden. Dann werden alle in dem Blut untergehen, mit dem ich Silas’ Antlitz reinwaschen werde.

Er wandte sich nach Norden, in die Richtung des Viertels Simiamada, in dem unter der Förderung des Ingerimmtempels allerlei Handwerk gedieh, auf dem die Zünfte der Stadt ihren Reichtum und ihre Macht begründeten. Er war dieser Stadt tief verbunden, doch mehr noch ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft, als deren Architekt er sich verstand. Auf einem der geräumigen Plätze hielt er inne und ließ den Eindruck auf sich wirken. Mächtige, uralte Mauern umschlossen das beschauliche Silas, das vergessene Juwel, Zeugen einer verblassten Zeit, in der die Horaskaiser hier residiert hatten. Kein Gebäude ragte an die wulstige Mauerkrone heran, was Debero immer ein Sinnbild dafür gewesen war, wie bequem es sich die Menschen in den Schatten der Vergangenheit einrichteten. Eine gepflasterte Straße, breit genug, dass eine Legion auf ihr marschieren konnte, führte hinab zum Hafen, wo der Sikram geheimnisvoll im Sonnenlicht glitzerte. Auf der anderen Seite der Stadt erhob sich auf einem Hügel die trutzige Basaltburg. Fugenlos schimmerte das schwarze Gestein, ein weiteres Mysterium der Vergangenheit.

Debero strich sich lächelnd durch den gewachsten Kinnbart und ließ sich wieder von dem Strom der Handwerker, Reisenden und Bürger treiben, die von dem Reichtum der nahen Gold- und Silberminen lebten. Sein Weg führte vorbei an der Brillantenbörse, vor der grimmige Zwergenkrieger argwöhnisch Wache hielten, und an den Werkstätten der Glasmacher, die Silas im gesamten Lieblichen Feld und darüber hinaus berühmt gemacht hatten.

Schließlich erreichte er die Werkstätten der Alchimisten, die sich mit einer zwei Schritt hohen Mauer von den anderen Gebäuden abgrenzten. Leere Flächen waren in Silas kein seltenes Gut, und es beruhigte die Nachbarn ungemein, wenn kräftige Mauern und ein weitläufiger Park ihre Häuser von dem explosiven Handwerk der Alchimie trennten. Er warf einen Blick auf einige Arbeiten, ließ sich über die Fortschritte unterrichten und durchmaß dann den mit antiken Kunstwerken geschmückten Park zu seiner Stadtvilla, die am anderen Ende des Geländes lag.

Diener eilten herbei, um seinen Mantel in Empfang zu nehmen und ihn in seine Hausgarderobe zu kleiden. Sein Leibdiener Tristoban informierte ihn über eingegangene Botschaften und anstehende Termine, dann zog sich Debero in sein Arbeitszimmer im ersten Stockwerk zurück, durch dessen gläserne Fenster er über die Mauern auf den prachtvollen Ingerimmtempel blickte, der als eines der reichsten Gotteshäuser Aventuriens galt.

»Achte auf deine Gedanken, sonst verlierst du dich in ihnen.«

Die fremde Stimme ließ Debero aufschrecken. Auf dem roten Triclinium saß eine ihm unbekannte Frau mit blonden Locken. Sie war ausgesprochen hübsch, doch ging von ihr eine untergründige Gefährlichkeit aus, die Debero beunruhigte. Etwas war mit ihren Augen, das ihn verstörte.

»Wer seid Ihr, und was wagt Ihr es, hier einzudringen? Erklärt Euch oder ich lasse Euch entfernen.«

Die Fremde lächelte, und der Schönheitsfleck über ihrem linken Mundwinkel tat einen kleinen Sprung nach oben. »Das letzte Mal hast du mich mit der gebührenden Ehre empfangen, Wegbereiter.«

Instinktiv fiel sein Blick auf ihre Handgelenke, doch sie trug keinen Armreif wie er. Dennoch dämmerte ihm, mit wem er es zu tun hatte.

»Ihr seid der Verkünder?« Er war dem Oberhaupt des Kultes nur wenige Male begegnet, doch stets verhüllt. Unter der goldenen Maske hatte die Stimme dumpf und geschlechtslos geklungen.

»Mein Vertrauen in deinen Scharfsinn war angebracht. Die Zeit, in der wir uns hinter Masken verbergen mussten, endet, Giftzahn.« Sie griff nach einem Beutel, der neben ihr auf dem Triclinium ruhte, öffnete ihn und holte einen dunklen Gegenstand hervor.

Deberos Mund wurde trocken, als er der vollendet gerundeten Kugel ansichtig wurde. »Der Umbilicus!«

»Unser Vorhaben in Kuslik war letztlich von Erfolg gekrönt. Es hat bedauerliche Verluste gegeben, doch diese Tatsache wird dich freuen, denn sie stärkt letztlich deine Position unter den Erben des Goldenen Zeitalters. Sind alle Vorbereitungen in Silas getroffen?«

»Wie Ihr es gewünscht habt.«

»Gut.« Die Verkünderin verstaute den Umbilicus wieder. »Wenn sich die anderen Zirkel nicht ebenfalls zu einer Enttäuschung wie Schwester Schlangenmund entwickeln, werden unsere Feinde zu sehr mit sich selbst beschäftigt sein, um uns stören zu können. Bald schon werden wir die Hände nach dem Weltenherz ausstrecken und das neue Zeitalter nach unserem Willen formen.« Sie erhob sich. »Ich werde deine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen.«

»Was soll ich antworten, wenn man mich nach Euch fragt?«

»In letzter Zeit gebrauchte ich den Namen Zita Zidona, doch er scheint mir nicht mehr angebracht. Er gehörte einer unbedeutenden Magierin, die zu neugierig wurde, und hat seinen Zweck erfüllt. Nenne mich Yalstene.« Sie schenkte ihm erneut ihr grausiges Lächeln. »Yalstene vom Yaquirbruch. Eine glühende Anhängerin der Renascentia.«

Mit diesen Worten ging sie und ließ Debero mit seinen Plänen für die Zukunft von Silas alleine.

Ymras Seiten: Das Flügelrad

Taphîrels Turm, nördliches Tobrien, 5. Praios 1010 BF

Das neue Jahr fing unerfreulich an. Zwischen den Jahren hatte die gesamten Namenlosen Tage ein schrecklicher Sturm über dem nördlichen Tobrien gewütet, als zerre der finstere Gott an seinen Ketten, um das Firmament zu zerreißen. Der Sturm fand auch mit dem Beginn des Götterlaufes kein Ende. Ich war nie ein abergläubischer Mensch und gönnte mir diese Schwäche auch in diesen Tagen nicht. Vielmehr war es mir, als spiegele sich in der Welt mein eigenes düsteres Gemüt.

Unsere Gemeinschaft war zerbrochen, und eigentlich lief soweit alles nach meinen Plänen. Ich hatte Jariel getötet, vielmehr geopfert, um Taphîrel zur Wahrheit zu zwingen und mir Zeit zu erkaufen, die Umstände zu bewerten. Und ich hatte einen Keil in den Kreis der Sechs getrieben. Kiranya und der Elf Salandrion hatten uns den Rücken gekehrt. Wie ich meine geliebte Zyklopäerin einschätzte, würden wir uns das nächste Mal als Feinde gegenüberstehen. Ich bezweifelte, dass ich sie dadurch tatsächlich gerettet hatte, auch wenn ich versuchte, mir das einzureden. Und während ich die Rolle des loyalen Verschwörers in Taphîrels welterschütternden Plänen spielte, saß ich in Wirklichkeit zwischen allen Stühlen. Mein Blut – und meine Neugier – verpflichteten mich dem Verhüllten Meister, doch ich war auch ein Agent Dexter Nemrods. Dieser erwartete, dass ich alles herausfand und Taphîrel notfalls aufhielt.

Die Wahrheit war, dass ich mich noch nicht entschieden hatte. Doch die Zeit, die mir blieb, meine Wahl zu treffen, schmolz immer weiter dahin.

Aleya Ambareth, der undurchsichtige Schwarzmagier aus Brabak, hatte uns noch vor dem Ende des Jahres verlassen, um Kontakt zu seinen Verbündeten aufzunehmen, über deren Natur er zumindest mich im Unklaren ließ. Ich konnte nur hoffen, dass er in dieser Zeit, die ich in Taphîrels Turm in der tobrischen Einöde festsaß, nicht gegen Kiranya vorging, wie er es angedeutet hatte. Ich vertraute darauf, dass Kiranya sich würde zu helfen wissen, hatte aber in Gareth miterlebt, wozu Ambareth fähig war. Die Untätigkeit setzte mir zu.

Zusammen mit dem alten Greis, seinen beiden Schülern und Tudhentana, dem letzten Mitglied unseres Zirkels, verbrachte ich also die Namenlosen Tage in dem baufälligen Turm. Taphîrels Scholar Damiano mied mich nach Möglichkeit, was ihm auf dem engen Raum nicht immer gelang. Dann bedachte er mich mit finsteren Blicken. Jariel war dem vierzehnjährigen Jungen ein Freund gewesen, und noch weigerte sich Damiano zu begreifen, dass der Zauberer aus den Nordmarken ihn nur benutzt hatte, um an Taphîrel heranzukommen. Auch Jariel war ein Agent Nemrods gewesen.

Ich stand auf der schmalen Terrasse vor dem Eingang zum Turm. Die Unwetter hatten nachgelassen, tatsächlich gönnten sie sich aber nur eine Atempause. Praios’ Auge brannte mitleidlos vom Himmel auf die karge Moorlandschaft. Ich war so in meine eigenen Gedanken vertieft, dass ich mich weder an dem fauligen Gestank störte noch an den dunklen Mückenschwärmen, die mich bald umkreisten.

Hinter mir öffnete sich mit knarrendem Ächzen die Tür, und Tudhentana trat an meine Seite. Er trug eine blaue Seidenrobe und verbarg sein blasses Gesicht hinter einem ebensolchen Schleier.

»Du wolltest mich sprechen, Sahib Killgorn?« Seit er die Pläne Taphîrels kannte, einen mächtigen Zauberbann im Limbus zu errichten, der die Dritte Sphäre von den Versuchungen der Erzdämonen, den Heimsuchungen der Geister und dem Wirken der Götter gleichermaßen befreien würde, war sein alter Stolz zurückgekehrt. Seine Loyalität stand außer Frage. Er war zu allem bereit, um Teil von etwas Großem zu sein.

»Es ist an der Zeit, die Wahrheit nicht mehr zu verhüllen.«

»Ist es das?«

»Der Verrat kam aus unserer Mitte. Ich muss sicher sein, dass ich den Verbleibenden vertrauen kann.«

Tudhentana lachte auf. »Killgorn, du selbst kleidest dich in einen dunklen Mantel aus Geheimnissen und gefällst dir darin, diesen zu tragen. Wie jeder von uns. Darunter verbergen wir unsere geheimen Gedanken und Motive, doch wir haben bewiesen, dass uns das große Ziel eint. Ich sehe keinen Grund für Misstrauen.«

In den letzten Wochen hatte ich mich ausgiebig mit der Erzählung desFyrsten von Cuslicumbeschäftigt, die Jariel in der Tungbert-Ausgabe vonKreaturen am Rande der Weltentdeckt hatte. Und Taphîrel war in unseren Gesprächen großzügigmit Hintergründen und Quellen gewesen, die er bisher zurückgehalten hatte.

»Du gibst dich tulamidischer als jeder Dschinnenmeister inTausendundeinem Rausch«, sagte ich mit Blick auf Tudhentanas übertriebene Gewandung. »Dabei ist es für jeden offensichtlich, dass in deinen Adern so viel tulamidisches Blut fließt wie in meinen das eines Goblins.«

Unter dem Turban zogen sich die blonden Augenbrauen zusammen. »Ich lernte die Zauberkunst in Fasar, der altehrwürdigen und ältesten aller Städte. Und dort wurde ich auch geboren.«

»Das mag so sein, Collega. Ich habe mich mit den Fährten des Blutes beschäftigt, denen Taphîrel gefolgt ist, um aus uns den Kreis der Sechs zu formen. Die Spur, die zu dir führt, endet in Fasar, aber sie wird nicht dort begonnen haben.«

Tudhentana sah hinaus in die Trostlosigkeit des Landes. Nur zu deutlich haderte er mit sich, sein Geheimnis preiszugeben.

»Ich brauche nur aufmerksam die Legende über Malugin zu lesen, von den sechs zaubermächtigen Streitern der Götter des Westens, die gegen den Fürsten stritten. Wer von uns wird wohl den Zaubersänger der Alten Grenze zu seinen Vorfahren zählen, wer den Feuergeborenen von Cyclopea? Jariel hat seinen Vorfahren ebenso erkannt wie ich den meinen. Bleiben Ambareth und du.«

»Sieh dir dieses Land an«, wechselte Tudhentana unvermittelt das Thema. »Wenn man es sich so betrachtet, kann man dann glauben, dass diesem kargen Grund jemals etwas Großes erwachsen wird – oder ist?« Er nahm den Schleier ab. »Mein Vater war Tobrier.«

‚Die Schlangenpriesterin des vertriebenen Volkes.‘ So nannte die Legende ein weiteres Mitglied im ersten Kreis der Sechs.

»‚Dieses Land lässt die Menschen verzweifeln‘, hat mein Vater immer gesagt. ‚Etwas Böses schlummert in seinem Boden, und seine Träume vergiften den Geist.‘ Bemerkenswerte Worte für einen Mann wie ihn. Sein Vater war noch Baron gewesen, doch während der Kaiserlosen Zeit hat er die falschen Verbündeten gewählt – jene, die verloren haben. Unserer Familie blieb nicht mehr als die Stammburg. Sie liegt nicht einmal weit von hier.«

Diese Eröffnung überraschte mich. Ich hatte vieles hinter Tudhentana vermutet, aber nicht einen verhinderten tobrischen Adligen.

»Was führte deine Familia nach Fasar?«

»Mein Vater wurde Raubritter und trieb es so zügellos, dass der heutige Herzog Kunibald sich selbst des Ärgernisses annahm. Die Burg meiner Familie brannte, und mein Vater floh mit dem, was ihm am Leib blieb. Er verdingte sich als Söldner, kam nach Fasar und stellte sich in den Dienst eines der Erhabenen. Als mein Potential entdeckt wurde, ließ mich der Erhabene zu seinem Leibmagier ausbilden.«

Das also war seine Geschichte. Die eines Dieners, der den Moment gekommen sah, über sich hinauszuwachsen.

»Mit Taphîrels Einladung setzte ich das erste Mal überhaupt einen Fuß in dieses Land, das mein Vater gleichermaßen geliebt wie gehasst hat. Während du in Khunchom weiltest, habe ich die Ruinen der Burg besucht, auch, um zu überprüfen, was mir Taphîrel über den Ursprung meiner Familie erzählt hat.«

Unwillkürlich dachte ich an das alte Gemälde im Eingang des Turmes, das Taphîrels Mutter zeigte, eine di Madjani, die auch zu meinen Ahnen zählte.Der Greis scheint allen einen Teil des Geheimnisses offenbart zu haben, um uns an sich zu binden.

»Viel hat der Brand vor über vierzig Jahren nicht übrig gelassen. Aber in einem halb verfallenen Torbogen entdeckte ich das Wappen meiner Familie eingemeißelt: unter einem schwarzen Mond eine Schlange, die sich um einen Stab windet. Wenn Taphîrel richtig liegt, geht meine Familie noch auf das Reich der Alhani zurück – und hat dieses überdauert. Du hast dich geirrt. Es gibt wohl doch tulamidisches Blut in meinen Adern. Hoffentlich liegst du mit dem Goblin nicht ebenso falsch.«

Ich schnaubte. Die Alhanier hatten hier zu Bosparans Zeiten über ein Großreich geherrscht, das in Flammen und Verrat untergegangen war.

Irgendwo im Moor krächzte eine Krähe, als ich mich an Tudhentana vorbei dem Turm zuwandte. »Ich wollte wissen, ob ich dir vertrauen kann, und du erzählst mir eine Geschichte von Verrat und Scheitern. Ich hoffe sehr, dass du nicht nach deinen Ahnen schlägst.«

Tudhentana sah mich mit großen Augen an, dann lachte er zu meiner Überraschung laut auf. »Killgorn, du bist wahrlich ein Almadani. Nichts ist angreifbarer als dein Stolz, und umgehend versuchst du es, mit gleicher Münze heimzuzahlen.« Er legte eine Hand auf meine Schulter und wurde ernst. »Dir verdanke ich mein Leben und meine Freiheit. Ich stehe nach wie vor in deiner Schuld, und mein gegebenes Wort werde ich halten. Vergiss das nicht.«

Ich nickte. Natürlich hatte ich es nicht vergessen.

Gemeinsam gingen wir ins Innere.

***

Taphîrels Turm, 14. Praios 1010 BF

Mitte Praios teilte uns Taphîrel mit, dass Ambareth zurückkehren würde – und nicht alleine. Ich fragte mich, woher er das wusste.

Unlängst hatte uns der Verhüllte Meister eröffnet, wie wenig Zeit uns und ihm noch blieb. Seinen Berechnungen zufolge würde sich das Ritual, das Magnum Opus, die Vollendung seines Lebenswerkes nur zu einem bestimmten Stand der Sterne durchführen lassen, eine äußerst seltene Konstellation, die am 3. Praios 1011 BF eintreten würde – und dann erst in 63 Jahren wieder. Taphîrel würde garantiert keine weiteren sechs Jahrzehnte mehr erleben, und ich war mir sicher, dass dies auch für jeden anderen von uns eine einmalige Gelegenheit bleiben würde. 1074 wäre ich fast so alt wie Taphîrel jetzt. Angesichts meines Lebenswandels erwartete ich nicht, überhaupt fünfzig Winter zu sehen.

Tudhentana und ich befanden uns alleine mit Taphîrel im obersten Stockwerk des Turmes, in diesem verstaubten Museum der magischen Geschichte. Aralea und Damiano waren nach Vallusa geschickt worden. Wie eine vertrocknete Spinne saß der blinde Greis zusammengesunken in seinem Lehnstuhl. Die Luft war noch stickiger als sonst, aufgeheizt durch die Sommersonne, deren Wärme den modrigen Geruch der Jahrzehnte und des Verfalls aus den Möbeln und Büchern trieb. Auf Taphîrels wächserne Stirn trat kein Tropfen Schweiß, Tudhentana und ich waren jedoch, obwohl warme Temperaturen gewöhnt, bald wie aus dem Wasser gezogen.

Ich schenkte dem Meister etwas Wein in den Pokal. Als ich ihn ihm reichte, beugte er sich vor. »Es ist gut, dich hier zu wissen«, krächzte er mir zu, wie so oft in den letzten Wochen. »Mein Erbe.«

Er war der Bastard unseres Hauses, ich der ungeliebte Spross. Der Blinde, der mehr sah und gesehen hatte als viele andere Sterbliche. Und der Blender, den die Wissenschaft stets weniger interessiert hatte als die Mittel, die sie ihm zur Verfügung stellte. Wir waren schon eine seltsame Familia.

»Sie kommen«, sagte Taphîrel plötzlich, und seine erstaunlich klaren, hellblauen Augen fixierten einen Punkt in der Mitte der Kammer. Wir richteten unseren Blick dorthin.

Man hätte das Geräusch von reißendem Stoff erwarten können, doch es blieb jeder Laut aus, als die Wirklichkeit zur Seite glitt und sich ein waberndes Tor ins Nichts öffnete. Zwei Gestalten traten aus dem grauen Limbus hervor. Ambareth schritt voran. Wie stets war der blasse Südländer in Schwarz gekleidet. Er lächelte. Ihm folgte eine zierliche Person, die sich in eine weite Kapuzenrobe hüllte, deren Stoff so grau und farblos war wie der Limbus. Das Gewand schien ihr zu groß, die Ärmel hingen über die Hände herab. Der Stoff verbarg alles bis auf die bemerkenswerten Augen, eines saphirblau, das andere smaragdgrün. Als mich ihr Blick traf, durchzuckte mich eine undeutliche Erinnerung, ein vergessenes Gefühl von Verlorenheit, das ich nicht einordnen konnte.Wie ein Käfer in der Borke eines riesigen Baumes.

»Ich bin zurückgekehrt, Meister. Und mit mir bringe ich die Hoffnung für unsere Pläne. Meine Verbündeten wollen auch die Euren sein.«

Mir fiel ein Symbol auf der Brust von Ambareths verhülltem Begleiter auf. Sechs rote Drachenschwingen, angeordnet zu einem Rad. Ich wusste, dass wir uns schon einmal begegnet waren, nur nicht wo.

Ambareth trat zur Seite. »Dies ist Yalstene vom Orden der Menacoriten.«

Meine Hand krallte sich um den Rubinknauf meines Stabes. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Tudhentana überrascht einen Schritt zurückwich.

»Es ist mir eine außerordentliche Ehre, eine graue Wanderin in meinem Refugium begrüßen zu dürfen.« Nur ein leichtes Zittern in der Stimme verriet Taphîrels Aufregung.

»Es gibt sie wirklich!«, entfuhr es Tudhentana.

»Natürlich, Collega«, sagte Ambareth wie selbstverständlich.

»Tarraro!«, krächzte Taphîrels Rabe.

Die Menacoriten waren eine weitere Legende der Magier. In Punin hatte ich von ihnen gehört, und selbst dort hielt man sie allenfalls für Phantasie. Oder man hatte uns Adepten etwas verschwiegen. Unseren Lehrmeistern dienten sie als Schreckgespenst, ähnlich wie freie Dämonen oder der Sphärenkönig, das uns davon abhalten sollte, jemals von den Pfaden abzuweichen, die sie uns wiesen. Die grauen Wanderer, wie man sie auch nannte, sollten sich dem Hohen Drachen Menacor verschrieben haben und als seine Diener über den Limbus wachen. Nun stand eine von ihnen leibhaftig vor uns.