DSA 16: Im Farindelwald - Ina Kramer - E-Book

DSA 16: Im Farindelwald E-Book

Ina Kramer

4,4

Beschreibung

Werwesen aller Art, böse Feen und tückische Geister hausen im Farindelwald, und namenlose Gefahren warten auf den Wanderer, der sich verirrt. Anselm Peckert, ein besonnener Medicus, der zu seinen Verwandten nach Salza reist, zieht es trotz aller Warnungen in den Wald, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Auch Sylphinja, eine junge Hexe, verschlägt es in den Farindelwald. Schicksalhafte Begegnungen erwarten die beiden ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 389

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,4 (18 Bewertungen)
10
5
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titel

Ina Kramer

Im Farindelwald

Die Reise nach Salza

Teil 1

Sechszehnter Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses SpieleBand 16

Kartenentwurf: Ralf HlawatschE-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright ©2012 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN: 3-453-10964-3 (vergriffen)E-Book-ISBN: 978-3-86889-636-7

Dankesworte

Für A., die mir Lust aufs Schreiben gemacht hat, und für Ralf der die Arbeit geduldig begleitete

1. Kapitel

Nur wenige Wimpernschläge nachdem er das Stadt­tor von Abilacht passiert hatte, erfuhr Anselm vom großen Ereignis des Tages: Um die Praiosstunde würde auf dem Marktplatz eine Hexe verbrannt wer­den. So, so, eine Hexe, dachte er, als er die Nachricht hörte, und wußte selbst nicht, was er damit hätte sa­gen wollen, hätte er es laut ausgesprochen. Er kannte sich mit Hexen nicht aus und hatte sich um das He­xenwesen (oder -unwesen) nie sonderlich geküm­mert. Ein Vers kam ihm in den Sinn – Hexenblick und Hexenkuß / Hexenspeichel, Hexenschuß / Krötenschleim und Zaubernuß / Garst‘ger Kater, schwarz wie Ruß –, aber er entsann sich nicht, wo er ihn gehört oder gele­sen hatte.

Es war Anselms erste Hinrichtung – oder vielmehr die erste, der er beiwohnen würde. Bis Mittag blieben ihm noch drei Stunden, Zeit genug, eine Herberge zu suchen und einen kräftigen Imbiß zu verzehren. Er wäre allemal rechtzeitig am Markt, um sich einen gu­ten Platz zu sichern. Um seinen Magen machte er sich keine Sorgen – er würde das Frühstück schon bei sich behalten. Aber er spürte doch ein leises Kribbeln der Erregung, als er seinen grauen Wallach in die Stadt lenkte.

Anselm Peckert oder Anselmo Pecarion aus Punin, wie er sich nannte, seit er die Grenzen seiner Heimat­baronie hinter sich gelassen hatte, stammte aus Cres, der Hauptstadt ebenjener Baronie, war aber immer­hin viermal in seinem nunmehr zweiundzwanzigjäh­rigen Leben in Punin gewesen und wußte damit ge­nug über den Ort, um sich, sollte er jemals einem Pu­niner oder Punin-Kundigen begegnen (was er für eher unwahrscheinlich hielt), keine Blöße zu geben und nicht des Lügens überführen zu lassen. Cres selbst hatte er keine Träne nachgeweint, als er es ver­ließ, denn auch wenn es seine Heimat war und sich Hauptstadt nannte, so war es doch nicht viel mehr als ein halbverlassenes Dorf, dessen größte Attraktionen das heruntergekommene Schlößchen aus Kaiser Per­vals Zeiten und das seit Jahren verwaiste Imman-Stadion waren.

Der junge Mann war Medicus, und er hielt sich selbst für einen guten Diagnostiker und soliden Handwerker. Er hatte den Beruf von seinem Vater, Jucho Peckert, gelernt. Dieser stammte aus dem Born-land, aus einer Familie von teils seßhaften, teils rei­senden Heilern, Viehärzten und Badern und hatte sich, fast vierzigjährig, drei Götterläufe vor Anselms Geburt in Almada niedergelassen. Was ihn aus seiner Heimat vertrieben hatte, ob es Hunger, Mißgunst, enttäuschte Liebe oder Abenteuerlust war, wissen wir nicht mit Sicherheit, gewiß jedoch ist, daß er ein Jahr lang das Mittelreich bereiste, bevor er sich Cres im Herzen Almadas zur neuen Heimat erkor. Zwei Jahre später – Jucho hatte sich inzwischen als guter Zahn­reißer, Furunkelstecher, Geburtshelfer und Apothe­ker einen Namen gemacht – schloß er mit der Bäcker­stochter Dorine den Traviabund, und neun Monde später erblickte der kleine Anselm Deres Licht.

Vier Götterläufe lang lebte die Familie in Frieden und bescheidenem Wohlstand, dann starb Dorine im Wochenbett; das Kind, das sie zur Welt brachte, war schon im Mutterleibe abgestorben – erdrosselt von der eigenen Nabelschnur. Dieser Schicksalsschlag drückte nicht nur schwer auf Juchos Gemüt, er schä­digte auch sein Ansehen als Medicus (was sollte man von einem Heiler halten, der seiner eigenen Frau nicht helfen konnte?), und erst viele karge Monde später, nachdem er zwei schwere Fälle von blauer Keuche erfolgreich kuriert hatte, faßten die Creser wieder Vertrauen zu ihm.

So gingen die Jahre dahin – mit Aderlässen, Schröpfköpfen, Egeln und Klistieren. Anselm lernte früh, Anblick und Geruch von Blut, Eiter, Brand, fau­lem Atem und anderen ungesunden Ausdünstungen und Absonderungen zu ertragen, denn nach dem Tod seiner Frau ließ Jucho den Knaben nur selten allein; der Kleine begleitete ihn bei allen Hausbesuchen, und daheim im Behandlungs- und Beratungsstübchen des väterlichen Hauses saß er still auf einem Schemel, wenn Jucho die Patienten empfing. Es freute den Me­dicus, daß dem Kind vor den oft widerwärtigen Ma­nifestationen dämonischen Wirkens oder göttlichen Strafens – den Ursprung der Krankheiten zu ergrün­den, sollte Jucho niemals gelingen, sosehr er es sich auch wünschte und sooft er auch darüber nachsann – nicht nur nicht graute, sondern daß es vielmehr ein nüchternes, nicht von Angst, Ekel oder Mitleid ge­trübtes Interesse für sie zeigte.

Als Anselm sieben Jahre zählte, begann Jucho, ihn zu unterweisen. In den ersten drei Götterläufen lehrte er ihn die Grundlagen jeder Wissenschaft: lesen, schreiben und rechnen, messen, wiegen, vergleichen und schätzen. In den folgenden drei Götterläufen lehrte er ihn, Pflanzen zu bestimmen, zu sammeln und sachgemäß zu trocknen, des weiteren das Ko­chen von Süden, die Herstellung von Salben und das Pillendrehen. Vom dreizehnten bis zum siebzehnten Jahr unterwies er ihn in Anatomie und Krankheits­kunde, lehrte ihn die gebräuchlichen Behandlungs­methoden, das richtige Mischen der Arzneien, das Schienen von Brüchen und das Nähen von Wunden.

Einzig das Amputieren konnte Jucho seinem Sohn nur in der Theorie nahebringen, denn bis zu seinem Tode ergab sich in Cres keine Notwendigkeit für ei­nen solchen Eingriff.

Mit knapp achtzehn Jahren besaß Anselm die glei­chen Kenntnisse und Fertigkeiten wie sein Vater, und er konnte sich mit Fug und Recht Medicus nennen. Doch er ahnte, daß Juchos Wissen begrenzt sei, wie alles menschliche Wissen, und zu gerne wäre er in die Welt gezogen, um Dinge zu lernen, von deren bloßer Existenz er jetzt noch nichts ahnte. Doch Jucho, me­lancholisch seit seines treuen Weibes Tod, begann zu kränkeln und vergeßlich zu werden, und sein Augen­licht und Gehör ließen ihn immer häufiger im Stich. Da beschloß Anselm schweren Herzens, dem Vater weiterhin beizustehen und das Reisen bis auf weite­res zu verschieben.

Drei wenig ereignisreiche Jahre verstrichen. An­selm übernahm mehr und mehr die väterlichen Auf­gaben, wurde vom Gehilfen allmählich zum selb­ständigen und geachteten Heiler, begann sich nach einer geeigneten Frau umzuschauen und hatte sich schon halb damit abgefunden, niemals mehr von der weiten Welt zu sehen als die zugegeben sehr schönen Straßen und Plätze von Punin. Da erkrankte vor nunmehr drei Monden der alte Jucho. Es war der Brabaker Schweiß, wie Anselm am hohen Fieber und den wahnhaften Angstzuständen unschwer erkannte, noch bevor er die sieben Einstiche entdeckt hatte. Nun, der Brabaker Schweiß ist keine tödliche Krank­heit, auch für einen gebeugten Alten nicht, und An­selm wußte, was er zu tun hatte. Er bereitete einen Brei aus getrockneten und zerstoßenen Donf Sten­geln, mit dem er seinen Vater fütterte, und als er sich spät abends zur Ruhe legte, war das Fieber deutlich gesunken.

Doch Boron hatte andere Pläne: Er holte den guten Jucho noch in derselben Nacht zu sich – mitten in ei­nem wohligen Traum ließ Er ihn sanft entschlafen –, und als Anselm früh am nächsten Morgen nach dem Vater schaute, fand er nur noch dessen leblosen, kal­ten und bereits erstarrten Körper.

Zu sagen, daß Anselm verzweifelt und im Grunde seiner Seele erschüttert gewesen wäre, entspräche nicht der Wahrheit. Aber er war traurig – traurig, weil er vom Vater nicht hatte Abschied nehmen kön­nen, weil ihm plötzlich bewußt wurde, daß ein Ab­schnitt seines Lebens, die Jugend, nun endgültig vor­über war, und weil er einen Menschen verloren hatte, mit dem er zweiundzwanzig Jahre lang fast ständig zusammengewesen war. Doch schon auf dem Ritt nach Ragath, wo er einen Boronpriester zu finden hoffte, der den Vater würdig und den Riten gemäß bestatten sollte, kam ihm der Gedanke, daß er nicht nur einen Verlust erlitten hatte, sondern auch von ei­ner Fessel befreit worden war. Endlich würden Pflicht und Gewohnheit ihn nicht mehr binden, und er könnte tun, was ihm beliebte; er könnte reisen, die Welt stünde ihm offen. Und die Creser machten es Anselm leicht, den Gedanken zum Entschluß reifen zu lassen.

Zum Begräbnis erschien die halbe Stadt, und sogar aus Schlehen waren ein paar Patienten angereist, um dem alten Medicus die letzte Ehre zu erweisen. Nachdem der Sarg im Boden versenkt worden war und der Geweihte die Seele des Verstorbenen Borons Gnade anempfohlen hatte, sprachen die Leute An­selm ihr Beileid aus, und der eine oder andere wisch­te sich dabei eine Träne aus dem Auge, aber schon beim anschließenden Leichenschmaus mit Wein, weißen Fladen und geräucherten Gnitzen begannen die ersten scheel zu blicken und zu tuscheln. Und von diesem Tag an schienen sie allesamt von jedem Gebrechen befreit und gegen jede Krankheit gefeit zu sein.

Anselm merkte es in den ersten Tagen kaum, daß die Patienten ausblieben; er war damit beschäftigt, sein Leben zu überdenken und die Habe seines Va­ters zu sichten und zu ordnen. Doch nach einer Wo­che begann er sich zu wundern und sich zu fragen, ob die Creser das Vertrauen in seine Heilkünste verloren hätten. Nach einer weiteren Woche, in der er keinen Kreuzer einnahm, kam ihm zu Ohren – sehr vage, flüsternd vom einen zum anderen weitergegeben, kaum mehr als der Hauch eines Gerüchtes und mit der Beteuerung zugetragen, man selbst glaube sol­ches selbstverständlich nicht –, daß man in Cres den Verdacht hege, er, Anselm, sei am Tod seines Vaters nicht ganz unschuldig, habe womöglich ein wenig nachgeholfen, um schneller das Erbe antreten und ein lustiges Leben führen zu können.

Auch wenn es in Cres nur einen einzigen Men­schen geben sollte, der ihm die Ungeheuerlichkeit des Vatermordes zutraute, auch wenn die Wirren der letzten Jahre, die answinistische Pest und danach die Orkkriege, die Menschen mißtrauisch und böse ge­macht hatten, so verbitterte es Anselm doch, daß man dem Verleumder lauschte und das Erlauschte weiter­trug, statt ihm das Maul zu stopfen. An diesem Tag beschloß der junge Medicus, das Haus zu verkaufen und Cres für immer den Rücken zu kehren.

Drei Wochen suchte er vergebens nach einem Käu­fer, und als er in der vierten schließlich einen fand, mußte er sich mit weniger als der Hälfte des erhofften Gewinnes zufriedengeben. Und doch verfügte er nun über eine erkleckliche Barschaft, die es ihm ermögli­chen würde, sollte ihm kein Unglück widerfahren, zwei Jahre lang sorglos die Welt zu bereisen. Doch war es zunächst ein ganz bestimmter Ort der Welt, der sein nächstes Ziel sein sollte (denn ein Ziel braucht der Mensch, im Leben wie beim Reisen) – die große Stadt Salza am Meer der Sieben Winde, wo der rauhe Beleman blies und sich die Kulturen der ern­sten, schweigsamen Nostrianer und der fröhlichen, trinkfesten und rauflustigen Thorwaler miteinander vermischten. Das jedenfalls war Anselms Vorstellung von Salza. Er war auf den Ort verfallen, als er beim Sichten der väterlichen Papiere einen alten, vergilbten Brief entdeckt hatte, der als Absender die Anschrift

Jasper Irjan Peckert, Medicus, wohnhaft in Salza im drit­ten Haus an der Hauptstraße links trug. Das Schreiben stammte von einem Vetter zweiten Grades des Vaters oder einem Oheimskind mütterlicherseits – Anselm konnte sich auf die verzwickten verwandtschaftli­chen Verhältnisse nicht mehr besinnen –, doch waren es nicht die Familienbande, die ihn nach Salza zogen; es war jene Stelle in dem Schreiben, wo es hieß: Neben der Arbeit als Arzt, die mich gut ernährt und zum größten Teil aus Routine besteht – die Nordmänner und -frauen sind von kerniger Gesundheit, aber sie raufen halt gern, und so gilt es fast jeden Tag eine Platzwunde zu nähen und zu verbinden –, beschäftige ich mich seit einiger Zeit damit, Ursprung und Wesen des Vampirismus und der Lykanthropie zu ergründen – ein hochinteressantes Feld, lieber Vetter, wenn auch sehr ungewiß und die Gefahr in sich bergend, den Forscher in Sphären zuführen, die keines Menschen Fuß je betreten sollte. Des weiteren studiere ich (in rationi nur, leider, leider, da ich, wie Du weißt, die Ga­be nicht besitze) die Heilkünste der Hexen und Elfen.

Ja, das ist es, hatte Anselm gedacht – Lykanthropie und Vampirismus! Solche Worte kannte man in Al­mada gar nicht, und Fälle dieser Krankheiten hatte es, solange er lebte, im Umkreis von hundert Meilen nicht gegeben. Auch zog es ihn nach Norden. Jetzt, in seinem dreiundzwanzigsten Jahr, gestand er sich ein, daß das Leben im sonnigen Almada – die heißen Sommer und die milden Winter, der gute Wein und die üppigen Speisen, die belanglosen Krankheiten der Leute und ihre ebenso belanglose Behandlung – über kurz oder lang zu körperlicher und geistiger Trägheit führen mußte, wobei er die zweite weit mehr fürchte­te als die erste. Im Grunde seines Herzens war er ein Nordmann, befand Anselm, war das bornische Erbe seines Vaters stärker durchgeschlagen als das süd­ländische Naturell der Mutter, und wenn der Alte ihm gelegentlich von den bitterkalten Wintern seiner Heimat erzählt hatte, hatte er mehr Neid als Furcht oder Grausen empfunden.

Bis zu Anselms endgültigem Aufbruch sollten noch achtzehn Praiosläufe vergehen. Er gab bei der Sattle­rin geräumige Packtaschen in Auftrag, die seine Klei­dung, seine Bücher, das medizinische Gerät, die Tink­turen, Salben und Kräuter fassen würden, beim Schneider bestellte er winterliche Kleidung (und das im Ingerimm), und er erstand die Dinge, die man nach seinem Dafürhalten zum Überleben in der Wildnis brauchte (obwohl er sich vornahm, die Wild­nis nach Möglichkeit zu meiden). Viel Zeit und Sorg­falt verwandte er darauf, seine Dukaten und Silber­münzen an verschiedenen geheimen Stellen seiner Wämser, Joppen, Gürtel und Beinkleider einzunähen. Die Kleider seines Vaters und den Hausrat, den er nicht mehr benötigte, verschenkte er an ein Mütter­chen, das eigens den weiten Weg von Schlehen ge­kommen war, um sich von ihm einen schmerzenden Zahn ziehen zu lassen – sie war die erste Patientin seit des Vaters Tod und blieb bis zu Anselms Abreise die einzige.

Und dann hieß es Abschied nehmen. Nur wenigen Cresern sagte der junge Medicus Lebewohl, und un­ter diesen war auch das Mädchen, das er als zukünf­tige Ehefrau in Erwägung gezogen hatte. Mehr als ein paar Gespräche, einige Abendspaziergänge und recht leidenschaftslose Küsse hatte es zwischen ihnen nicht gegeben (seine Unschuld hatte Anselm in Punin ein­gebüßt), und da beide wohl eher vom Verstand als vom Herzen dazu verleitet worden waren, über eine gemeinsame Zukunft zu reden, flossen beim Ab­schied auch keine Tränen.

Für die Reise von Cres bis Abilacht brauchte An­selm nur gut drei Wochen, denn es ging zügiger und problemloser voran, als er erwartet hatte. Er ritt zu­nächst nach Nordwesten, entlang der lichten, eben erwachenden Wälder der Amboß-Berge, bis er auf den Großen Fluß traf. Dort schiffte er sich und seinen guten Grauen ein, genoß die Frühlingssonne und die fremde Landschaft, die träge vorüberzog, beobachtete die Schiffer bei der Arbeit und erhielt in Elenvina, wo er das Schiff verließ, einen guten Teil des Fahrpreises zurück, weil er unterwegs die Kapitänin und die hal­be Mannschaft vom flinken Difar befreit hatte. In Elenvina hielt er sich zwei Tage auf – es war die zweitgrößte Stadt, die er je gesehen hatte –, dann folgte er der Reichsstraße bis Abilacht, wo wir ihm gleich wiederbegegnen werden.

Am neunzehnten Ingerimm war Anselm aufgebro­chen, und während er reiste, wurde der Frühling all­mählich zum Sommer. Als er Abilacht erreichte, schrieb man den vierzehnten Rahja.

Das Frühstück hatte aus einer dünnen Rettichsup­pe, geschlagenen Eiern mit Speck und Bohnen, wür­zigem Magerkäse (dem berühmten ›Abilachter Stin­ker‹, wie der Wirt stolz erklärt hatte), gesäuertem dunklen Brot und einem Krug kühlen Bieres bestan­den. Ein typisches Frühstück der Nordleute, dachte Anselm befriedigt, während er in seinen Taschen nach der alten, vom vielen Entfalten und Wiederzu­sammenlegen schon ganz brüchig gewordenen Karte suchte. Mit Bohnen, Eiern, Speck und Käse war er verpflegt worden, seit er die Grafschaft Honingen be­reiste, und er hielt diese Speisen für kräftigender und wohlschmeckender als die aus Cres gewohnte Mor­genkost, die wahlweise aus Hafermus mit Honig oder dünnen hellen Fladen mit Beerenkompott bestanden hatte. Heute mußte er sich entscheiden, auf welchem Weg er die Reise fortsetzen wollte. Er hatte zwar eine recht genaue Vorstellung von der Lage der wichtig­sten Orte und Flüsse, den Verlauf der Straßen jedoch hatte er sich trotz des wiederholten Kartenstudiums vor und während der Reise nicht einprägen können. Von Abilacht führte eine Hauptstraße westwärts nach Havena, das wußte er. Aber gab es nicht auch eine, die nach Norden führte, geradewegs nach Winhall, wo der sagenhafte ›Schwertkönig‹ genannte Graf Raidri Conchobair residierte und wo vor vielen Jah­ren ein Werwolf sein Unwesen getrieben haben sollte, wie man ihm erzählt hatte?

Die Karte des Mittelreichs aus dem väterlichen Nachlaß befand sich in dem sorgfältig verschnürten Wachstuchbeutel, der auch Anselms Bücher barg. Als der Medicus den Beutel öffnete, fiel ihm als erstes ein kleinformatiges, aber recht dickes, in abgegriffenes braunes Leder gebundenes Buch in die Hände, und er betrachtete es für einen Moment, bevor er es öffnete und zu blättern begann. 19. Efferd, 16 Hal las er; die kleine, säuberliche, leicht nach links geneigte Schrift war Anselm so vertraut wie die eigene. Und auch die meisten der Aufzeichnungen aus Juchos medizini­schem Tagebuch (wobei der Begriff ›Tagebuch‹ nicht zu wörtlich genommen werden durfte, denn oft lagen Wochen oder gar Monde zwischen zwei aufeinander­folgenden Eintragungen) waren ihm bekannt, da er nach des Vaters Tod sämtliche seiner Aufzeichnun­gen und Korrespondenzen zumindest überflogen hat­te.

Habe heute, auf dem Rückweg von Likan, auf der großen Sumpfwiese etliche Büschel blühender Tarnelen entdeckt, Peraine sei Dank! Den morgigen Tag werden Anselm und ich mit Ernten und Salben-Bereiten verbringen.

Anselm lächelte – er mußte an die zahlreichen Ausrit­te an des Vaters Seite denken, bei denen sie im Wald, in den Bachauen, auf trockenen und sumpfigen Wie­sen Heilkräuter gesammelt und heilkräftige Wurzeln ausgegraben hatten. Und in welche Aufregung sie einmal der vermeintliche Fund des seltenen Pestspo­renpilzes versetzt hatte, der sich, nachdem sie die kostbare Haut mit äußerster Vorsicht entfernt hatten, als ein etwas runzlig geratenes Exemplar des gemei­nen Gurkenbovistes erwies. Anselm ließ die Seiten gedankenverloren durch die Finger gleiten und woll­te eben das Büchlein schließen, als sein Blick auf ei­nen Eintrag aus den frühen Jahren fiel:

23. Praios, 7 Hal.

Heute bin ich in den Wäldern östlich der Stadt bei der Su­che nach Bäumen, auf denen Traschbart wächst, einer Per­son begegnet, die mir höchst seltsam erschien und die ich nie zuvor gesehen habe. Sie war von blendender Schönheit und schwer schätzbarem Alter, trug das flammendrote Haar offen, starrte mich aus grünen Augen – lauernd? in­teressiert? wie der Luchs das Rotpüschel? – an (es fällt mir schwer, ihren Blick zu beschreiben, aber er war mir nicht geheuer) und hatte außer einem Reisigbündel nur ein win­ziges Körbchen dabei – viel zu klein zum Beeren- oder Kräutersammeln. Ich kann mir schon vorstellen, was dar­innen war und welcher Zunft die Dame angehört. Sie hatte mich wohl schon eine Weile beobachtet, doch als ich mich ihr zögernd näherte, verschwand sie urplötzlich zwischen den Bäumen. Ich weiß nicht, was ich von der Sache halten soll, und ob ich‘s dem Baron oder dem Büttel melden soll oder nicht. Sie ist gewiß nicht von hier, denn das liebliche Almada ist nicht der rechte Ort für die Töchter Satuarias. Was mag sie nach Cres verschlagen haben, und was mag sie im Schilde führen? Mögen die Götter verhüten, daß sie plant, sich in unseren Wäldern niederzulassen. Wenn‘s ei­ne gute ist, so mag‘s hingehen (könnte allerdings mein Ge­schäft ein wenig mindern), doch wenn‘s eine böse ist ...

Seltsam, dachte Anselm, ›Töchter Satuarias‹ – so nann­ten sich die Hexen. Da war der Vater also vor vielen Jahren in Cres einer Hexe begegnet, und er, Anselm, hatte bis zum heutigen Tag nichts davon gewußt, hatte diesen Eintrag übersehen. Und just heute las er ihn, am selben Tag, an dem hier in Abilacht eine Hexe ver­brannt werden sollte. Ein höchst merkwürdiges Zu­sammentreffen, befand er, doch dann fiel ihm ein, daß er sich bis vor wenigen Stunden nicht im geringsten für die Hexen und ihr Treiben interessiert hatte (es stimm­te, was der Vater geschrieben hatte – das liebliche Al­mada war in der Tat nicht der rechte Ort für die Töchter Satuarias) und daß erst eben seine Sinne und Gedan­ken auf dies Phänomen gelenkt worden waren. Ähn­lich erging es einem oft beim Pilzesammeln: Man durchstöberte das Laub oder durchkämmte das Gras und wollte die Suche schon aufgeben, als man den er­sten Dotterhäubling entdeckte und dann, nach weni­gen Augenblicken, feststellen mußte, daß man die ganze Zeit auf einer wahren Dotterhäublingplantage herumgeirrt war. Er blickte auf das Buch und fand in den folgenden Eintragungen – ohne sie zu lesen – das Wort Hexe gleich dreimal, so als wäre es größer ge­schrieben oder mit einer dickeren Feder gezogen wor­den (was aber nicht der Fall war). Der nächste Eintrag war auf den siebenundzwanzigsten Praios datiert.

Heute ist ein Fremder in die Stadt gekommen, von dem es heißt, daß er im Auftrag des Barons Nemrod das Land be­reist. Ich selbst habe ihn nicht gesehen und weiß nicht, wie die Leute darauf kommen, daß er ein Agent oder Inquisitor sei. Ob seine Anwesenheit in Cres mit der Frau im Wald in Verbindung steht? Sie geht mir nicht aus dem Sinn, ich muß immerzu an sie denken. Sie ist eine Hexe, da bin ich mir sicher.

Die beiden letzten Einträge waren von sonderbarer Privatheit, fand Anselm, sie entsprachen nicht dem Stil des Buches aus den letzten Jahren, wo der Vater Rezepte für Mixturen notiert oder die seltenen Fälle von Krankheiten beschrieben hatte, deren Verlauf von der gängigen Lehre und seinen eigenen Erfah­rungen abwich. Ich sollte mich waschen und umklei­den, ging es ihm durch den Kopf, aber nun wollte er wissen, wie die Geschichte weiterging (falls sie wei­terging), und so las er die nächsten Einträge:

1. Rondra, 7 Hal.

Heute morgen bin ich ins Gasthaus Vierwinden gerufen worden, wo der Fremde abgestiegen ist. Die Magd, die mich holte und die ihm jeden Tag das Frühstück aufs Zimmer bringt, erzählte mir unterwegs, daß der Mann die Sprache verloren habe (er lalle wie der ärgste Trunkenbold, flüsterte sie, aber sein Blick sei nicht stier, sondern zornig und wild, und sein Auge sei nicht blutunterlaufen). Es stimmte, was sie erzählte: Er lallte und nuschelte, und es gelang mir beim besten Willen nicht, auch nur ein einziges Wort zu verstehen. Er hingegen schien alles zu begreifen, was ich sagte, wie ich aus Mimik und Gesten schloß. Er wirkte weder berauscht noch krank, doch kann ich beides nur vermuten, da er mir mit herrischen Gebärden verwehr­te, seinen Körper zu untersuchen. Eine solch plötzliche Zungenlähmung ist mir bisher nicht untergekommen, und ich habe in meinen Büchern nichts darüber gefunden. Der Name des Mannes – jedenfalls der Name, den er den Wirtsleuten nannte, aber warum sollte er lügen? – lautet Irineius, Edler von Streitzig. Ich gab ihm Donf da dies Kraut krampflösend wirkt und niemals schadet. Beim Hi­nausgehen erkannte ich am Kragen seines Umhanges, der an einem Haken hing, eine goldene Sonnenscheibe. Also ist er tatsächlich ein Inquisitor oder Laienpriester des Herrn Praios. (Bisher habe ich niemandem von der Begegnung im Wald erzählt. Ihm hätte ich mich anvertrauen müssen; was mich davon abhielt, weiß ich nicht.)

2. Rondra, 7 Hal.

Der Donf hat nicht gewirkt (wie ich fast vermutet hatte). Die Magd berichtete es mir, denn Herr von Streitzig will mich weder sehen noch meine Dienste ein zweites Mal in Anspruch nehmen. Von der Magd erfuhr ich auch, daß von Streitzig am Abend vor dem Unglück sehr spät noch aus­geritten ist. Die Lähmung seiner Zunge deutet auf keine uns bekannte Krankheit hin. Also ist sie magischen Ur­sprungs. (Göttlicher, menschlicher oder elfischer Magie? Eine Strafe? Ein Fluch?) Ob die Hexe dahintersteckt?

3. Rondra, 7 Hal.

Herr von Streitzig ist abgereist. Den ganzen gestrigen Tag habe er mit Schreiben verbracht, sagte man mir – einge­schlossen in seinem Zimmer und keine Störung duldend. Ge­stern abend habe er dem Wirt einen an den Baron adressier­ten Brief übergeben, den dieser sogleich zum Schloß gebracht habe, und heute in der Früh seien von dort vier Bewaffnete zum Gasthaus gekommen, um den Fremden nach Punin zu begleiten. Nun, vielleicht kann ihm im dortigen Hesindetem­pel oder in der Magierakademie geholfen werden.

Mitternacht.

Auch die Hexe ist fort. Vor kaum einer halben Stunde sah ich sie davonfliegen. Ich hatte um die zehnte Stunde, von innerer Unrast getrieben, noch einmal das Haus verlassen, um mich ein wenig in der frischen Abendluft zu ergehen. Unversehens (soll ich sagen, ohne es zu wollen, da ich doch keineswegs sicher bin, ob ich es wirklich nicht wollte?) ge­langte ich zu dem Wäldchen, wo ich ihr vor elf Tagen be­gegnet war. Aber mir graute, den Wald bei Nacht zu betre­ten. So blieb ich sinnend stehen und ließ meinen Blick über die schwarzen Wipfel der Bäume schweifen. Plötzlich hörte ich ein Brausen wie von einer heftigen Bö, und dann sah ich die Person, auf einem Reisigbesen reitend, sich rasch in die Höhe erheben und davonfliegen. Sie sang (oder lachte), und obwohl es sehr helle, liebliche Töne waren, schauderte mir. Sie ist nach Nordosten gezogen, dorthin, wo meine al­te Heimat liegt und wo in hellen Efferdnächten die Töchter Satuarias ihre düster-wilden Feste feiern. Trotz der Dun­kelheit sah ich sie deutlich: Ihr Antlitz und ihre Gestalt waren von überirdischer Schönheit, ihr Haar loderte wie Feuer, und ihr Gewand schimmerte grünlich wie Meeres­leuchten. Ich bin erleichtert (seltsamerweise auch ein wenig enttäuscht). Hoffentlich habe ich das Rechte getan, die Anwesenheit der Dame zu verschweigen.

Das Blatt war hier zu Ende, und Anselm schlug die nächste Seite auf. Die Einträge vom vierten und fünf­ten Efferd handelten von der nahenden Niederkunft einer Frau namens Traviane (Anselm fragte sich, ob es sich dabei um die Schmiedin Traviane Gnitzen­bach handeln mochte, rechnete kurz nach und war sich gewiß) und dem ungewöhnlich starken Umfang ihres Leibes. Am siebten Efferd hatte der Vater nichts geschrieben, aber am achten war folgendes notiert:

Sie ist seit Tagen fort, aber ich höre nicht auf, an sie zu denken. Deshalb vermutlich (mir selbst sagte ich, daß es wohl wegen des Traschbartes sei, obwohl die Bündel der letzten Ernte noch nicht einmal gänzlich getrocknet, ge­schweige denn zu Pulver zerstoßen sind) bin ich noch ein­mal zum Wäldchen gewandert. Anselm wollte mich beglei­ten, aber ich erlaubte es nicht. Er schaute grimmig, sagte aber kein Wort. Im Wald machte ich zwei interessante Entdeckungen: eine verlassene Feuerstelle und, kaum fünf­zig Schritt entfernt, etwa an der Stelle, wo ich die Hexe zum erstenmal sah, ein Binsenkörbchen, das sie, wie ich meinte, dort vergessen hatte. Es enthielt allerlei (inzwi­schen welke) Blumen und Kräuter, auf denen ein Nest(?) mit einem leuchtendgrünen, etwa walnußgroßen Ei darin ruhte. Da der Fund mir nicht recht geheuer war, zögerte ich zunächst, das Körbchen zu berühren. Schließlich schob ich es in den Beutel, der den Traschbart aufnehmen sollte, und trug es vorsichtig nach Hause. Meine Analyse des In­haltes hat folgendes ergeben: Bei den Blumen handelt es sich um Löwenzahn, Immenglöckchen, Wegewarte, Kamil­le, Tarnele und Efferdtränen, das Nest ist tatsächlich ein Vogelnest, und das Ei ist hohl (ich kenne auch keinen Vo­gel, der solche Eier legt), aber etwas klappert darin. Auf dem Boden des Körbchens fand ich ein Stück Birkenrinde, mit blaßbräunlicher Tinte beschrieben. Ich werde den Vers abschreiben, bevor er völlig unlesbar geworden ist, obwohl ich nicht weiß, was er mir sagen soll (ich glaube nicht mehr, daß sie das Körbchen vergessen hat – ich sollte es wohl finden).

Jeder kriegt, was ihm gebührt, Haß erhält, wer Haß geschürt, Löffelt aus, was er gerührt. Doch wo Freundlichkeit regiert, Bleibt Verrat unausgeführt. Nimm, was man als Dank erkürt: Süßen Traum das Ei gebiert.

Banalitäten, in Reime gefaßt, dachte Anselm. Einzig die Stelle mit dem Ei war ihm unklar, aber er hoffte, bald eine Antwort zu finden. Doch die Eintragungen der nächsten Wochen sagten nichts darüber. Traviane hatte am zwölften des Monats gesunde Zwillinge zur Welt gebracht – daher der ungewöhnlich dicke Bauch. Anselm kannte die beiden stämmigen Mädchen, die den Schmiedehammer inzwischen fast ebensogut führten wie die Mutter, aber da sie ihm nicht gefielen, hatte er ihre Freundschaft nie gesucht. Er blätterte wei­ter und befand sich unversehens im Jahre zehn. Als er verblüfft die Seiten wieder umwandte, stellte er fest, daß offenbar einige fehlten; fein säuberlich waren sie mit einem scharfen Messer herausgetrennt worden. Die letzte Notiz war interessant, sie lautete:

2. Efferd, 7 Hal.

Heute nacht ist das Ei geplatzt und hat eine kleine dunkel­grüne Kugel freigegeben – ausgestoßen? hervorgepreßt? geboren? Leider war ich nicht zugegen, als es geschah, aber als ich in der Früh ins Nest schaute, wie jeden Morgen, fand ich die Schalen faltig aufeinanderliegend, und das grüne Ding, das vorher nicht da war, ruhte beim spitzen Ende des früheren Eis. Es sieht aus wie eine Frucht, nicht wie ein Kern, und wenn ich nicht wüßte, wie ungeheuer selten und kostbar die Früchte des Wasserrausches sind, hielte ich es für eine solche. Nächste Woche muß ich nach Punin reisen, um mir beim Alchimisten ein paar wichtige Ingredienzen für meine Arzneien zu kaufen. Ich werde die Frucht von ihm prüfen lassen, und wenn sich meine Ver­mutung bestätigt, ist sie wohl der süße Traum, der mir versprochen wurde. Sie ist gewiß weit mehr als zehn Duka­ten wert, aber ich weiß nicht, ob ich sie verkaufen soll. Viel­leicht werde ich sie selber schlucken und dann in ein Haus gehen, wo man Entspannung findet – Dorine, vergib mir. Doch sind das müßige Überlegungen, solange ich keine Gewißheit habe.

Ärgerlich, ärgerlich, dachte Anselm, gerade jetzt, da es spannend wird, geht es nicht weiter. Er blätterte vor und zurück, aber daran gab es nichts zu deuteln: Die Seiten mit den Aufzeichnungen aus der Zeit zwi­schen Efferd, 7 Hal und Travia, 10 Hal fehlten. Und die folgenden Einträge waren in dem knappen, sach­lichen Stil verfaßt, den er vom Vater kannte. Er schloß das Buch und schaute sinnend zum geöffneten Fen­ster, hinter dem sich, da er am Boden kauerte und die Gaststube sich im dritten Stockwerk befand, nichts weiter zeigte als der wolkenlose blaue Himmel. Nun erführe er niemals, wie die Geschichte geendet war; er konnte den Vater nicht mehr fragen. Eine leise Wehmut wich dem Ärger, doch verflog sie rasch, als Anselm gewahrte, daß die Geräusche der Stadt – menschliche und tierische Stimmen, Hufgetrappel, das Rumpeln von Rädern – deutlich angeschwollen waren. Er legte das Buch in den Beutel zurück und trat zum Fenster.

Auf der Gasse herrschte reges Treiben: Männer, Frauen und Kinder im Praiostagsstaat wimmelten durcheinander, doch bemerkte man, wenn man sie ein Weilchen beobachtete, daß alle in dieselbe Rich­tung strebten. Anselm runzelte die Brauen; strömten die Leute etwa schon zum Richtplatz? War es schon so spät? Hatte er sich sosehr vertrödelt? Auf das Wa­schen und Umkleiden müßte er nun wohl verzichten, denn ein guter Platz war ihm allemal wichtiger als ein gepflegtes Erscheinungsbild. Er strich das Haar zurück, klopfte sich kurz auf die Schenkel, um die Beinkleider vom Staub zu befreien, zupfte Kragen und Manschetten zurecht, wischte mit einem Zipfel des Flickenteppichs über die Schuhe und war, nach­dem er Fenster, Taschen und Tür sorgfältig ver­schlossen hatte, bereit, sich ins Getümmel zu stürzen.

Kaum hatte Anselm die Straße betreten, als er auch die Burg wiedersah, die von jedem Punkt Abilachts aus zu erkennen war (nur eben von seiner Stube aus nicht, da deren Fenster zum Hof wies). Sie war ihm schon ein paar Meilen vor der Stadt aufgefallen, da sie die Stadtmauer und alle Häuser überragte – ein seltsam gedrungenes und kompaktes Bauwerk, das auf einem ebenso gedrungenen Sockel aus Fels thron­te wie die Glucke auf dem Nest. Doch auch ohne dies respektgebietende Wahrzeichen, zu dessen Füßen sich der Markt befinden mußte, auch ohne dem Strom der Menschen zu folgen, hätte Anselm sich nicht verlaufen, denn Abilacht ist ein kleines Städt­chen, das man in einer halben Stunde durchmessen hat.

Als der junge Medicus nach kaum zweihundert Schritt Weges den Marktplatz erreichte, war dort schon viel Volk versammelt – etwa fünfhundert Leu­te, schätzte er, und es wurden beständig mehr. Sein hoher Wuchs – immerhin ein Schritt und vierund­vierzig Finger – gewährte ihm einen guten Überblick, und so blieb er zunächst am Rande der Menschen­traube stehen, bereit, weiter nach vorn zu drängen, sobald sich eine Lücke auftäte.

Der Scheiterhaufen war schon aufgeschichtet, ein imposanter Holzstoß von fast zwei Schritt Höhe, mit einer kleinen Plattform auf dem Gipfel und einem Pfahl in der Mitte, an den offenbar die Delinquentin gefesselt werden sollte, doch von ihr selbst, dem Ba­ron, dem Richter, dem Praiosgeweihten und dem Henker war weit und breit nichts zu sehen. Einzig sechs berittene Gardisten waren damit beschäftigt, die Leute zu Ruhe und Ordnung zu mahnen und sie hinter eine mit weißer Kreide rings um den Scheiter­haufen auf das Pflaster gezeichnete kreisförmige Li­nie zurückzudrängen. Der Durchmesser des Kreises mochte gut dreißig Schritt betragen, und somit war der Strich weit genug vom Feuer entfernt, um die Menschen vor Funkenflug zu schützen, und ebenfalls weit genug, um eine eventuelle überraschende Be­freiung der Verurteilten zu vereiteln. Doch schien niemand in Abilacht solches zu planen. Es herrschte frohe Festtagsstimmung: Einige Leute hatten sich fe­sten und flüssigen Proviant mitgenommen (wozu? fragte sich Anselm; er schätzte, daß von der ersten Berührung des Feuers bis zum Eintritt des Todes nur wenige Augenblicke vergehen würden), aber nur wenige hatten dem flüssigen schon so reichlich zuge­sprochen, daß sie grölten und krakeelten.

»Was hat sie verbrochen, schöne Dame?« wandte sich Anselm an die bäuerlich, aber adrett gekleidete junge Frau neben ihm, weniger aus Neugierde, als um sich mit einer Plauderei die Zeit zu vertreiben (beim Frühstück in Travias Nachtruh, wo er abgestie­gen war, hatte er schon allerlei über den Fall erfah­ren).

Die Frau wandte den Kopf und strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Ihr seid nicht von hier, nicht wahr, mein Herr? Sonst wüßtet Ihr es. Das ist eine ganz Schlimme, schon seit Jahren treibt sie‘s so. Gut, daß sie endlich gefaßt worden ist! Der wird keiner ei­ne Träne nachweinen. Wir werden jubeln und klat­schen, wenn sie brennt. Mindestens fünf Bauern aus der Gegend hat sie das Vieh verzaubert, daß es erst keine Milch mehr gegeben hat und später elend ver­reckt ist, und wen sie nicht leiden konnte, dem hat sie sogleich einen Hexenschuß oder Hinkefuß angehext. Das sag ich Euch, das könnt Ihr mir glauben! Doch ist das alles nichts im Vergleich zu ihrer letzten Schand­tat. Wißt Ihr, was sie getan hat? Ihr werdet es nicht für möglich halten. Sie hat das Brot und die Suppe im Traviatempel vergiftet! Könnt Ihr Euch so etwas Ab­scheuliches vorstellen? Wie kann ein Mensch – ein Mensch ist sie ja immerhin, aber vielleicht auch nicht

– nur eine so widernatürliche Sünde begehen, die Speisen der guten Frau Travia zu vergiften! Alle, die davon gegessen haben, sind krank geworden, sehr krank sogar, nur das Gauklergesindel nicht, aber die stecken mit dem Hexenpack ja unter einer Decke, und die arme Mutter Idra ist daran gestorben, Boron sei ihrer Seele gnädig. Mutter Idra war unsere Tempel­vorsteherin, müßt Ihr wissen.« Die Frau hielt inne und nestelte wieder an ihrer Strähne. »Darf man fra­gen, wo Ihr herkommt und was Euch nach Abilacht führt? Geschäfte?«

Anselm machte eine knappe Verbeugung. »Gestat­ten, Anselmo Pecarion aus Punin«, sagte er.

»Punin?«

»Sagt nicht, daß Ihr Punin nicht kennt, das prächti­ge Punin, Hauptstadt des sonnigen Almada. Nun, dort komme ich her, aber ich werde mich, leider« – Anselm verneigte sich abermals ein wenig – »in Eu­rem entzückenden Abilacht nicht lange aufhalten können, denn ich befinde mich auf der Durchreise. Mein Ziel ist Salza im Königreich Nostria, und bis dorthin ist es noch ein weiter Weg.«

»Dacht ich es mir doch gleich, daß Ihr aus dem Sü­den kommt«, sagte die Bäuerin. »Man hört es. Aber mit dem schnellen Weiterreisen, das solltet Ihr Euch noch einmal überlegen. Wenn unser beschauliches Abilacht auch nicht so prächtig sein mag wie Euer Punin, so läßt es sich hier doch gut leben und eben­sogut rasten.« Sie lächelte verschmitzt, denn der jun­ge Mann gefiel ihr, obwohl er nicht eigentlich hübsch zu nennen war.

Daß Anselm von stattlicher Größe war, sagten wir bereits. Dennoch wirkte er nicht hünenhaft, da er eher schmal gebaut war und sich in seinem zweiund­zwanzigjährigen Umgang mit den untersetzten Al­madanern eine leicht vorgebeugte Haltung ange­wöhnt hatte. Sein Haar, das trotz der feinen Beschaf­fenheit (an Stirn und Schläfen war es gar ein wenig gelichtet) wie eine Mähne vom Kopfe abstand, war von einem verwaschenen rötlichen Braun, und auch die Farbe der Augen war schwer zu bestimmen – ein heller Ton, irgendwo zwischen braun, grün und bernsteinfarben angesiedelt. Die rundlichen Wangen, das rundliche Kinn, das jetzt, bedingt durch die Un­bequemlichkeit des Reisens, von weichen, nicht allzu üppig sprießenden, rötlichbraunen Stoppeln bedeckt war, und die rundliche Nase verliehen Anselms Zü­gen einen fast kindlichen Ausdruck, der, im Zusam­menspiel mit der lebhaften Mimik und Gestik, ein überaus charmantes Gesamtbild ergab. Er hatte den Ausführungen der Bäuerin mit leicht zur Seite ge­neigtem Kopf gelauscht. Nun runzelte er die Brauen, wiegte den Kopf, blickte in die Ferne, warf das Haar aus der Stirn, fixierte die Frau einen Augenblick lang und lächelte plötzlich.

»Woher weiß man, daß sie es war?« fragte er. »Hat man sie bei ihren Schandtaten beobachtet? Ist sie auf frischer Tat ertappt worden?«

»Wer soll es denn sonst gewesen sein, wenn nicht sie? frag ich Euch. Sie ist ja die einzige Hexe weit und breit, und eine ganz und gar schändliche noch dazu. Wenn sie durch die Straßen der Stadt schleicht, das Gesicht unter dem großen Kopftuch halb verborgen, damit man sie nicht erkennt, und wenn sie dich ur­plötzlich mit wildem Blicke anstarrt und dir gleich darauf ein dämonischer Schmerz ins Kreuz fährt – na, was sagt Ihr dazu? Ist das Beweis genug? Sie haust mit ihrer dicken schwarzen Krähe irgendwo in den Wäldern östlich der Stadt, und was sie dort treiben mag, darüber will ich in Praios‘ Gegenwart lieber nicht nachdenken, geschweige denn reden. Dort braut sie auch ihre Tränke, die schon so manchen hier liebestoll gemacht oder ihm auf andere Weise den Verstand geraubt haben. Ja, sie hat viel Unglück über die Stadt gebracht. Doch damit hat es, Praios sei Dank, ja nun ein Ende.« Die Frau schaute sinnend zur Burg hinüber und wies plötzlich aufgeregt in die Richtung ihres Blickes. »Schaut nur, da kommen sie!« rief sie.

Eine breite, in den Fels gehauene Treppe führte, zwei Zacken beschreibend, vom Burgtor zum Fuß des Sockels. Auf dieser bewegte sich langsam eine kleine Prozession abwärts; Anselm zählte zwölf Personen. Vorweg schritten zwei Gardisten, mit Schwertern und schimmernden Hellebarden bewaffnet und mit im Licht der Mittagssonne blinkenden Helmen und Brünnen. Ihnen folgte ein Mann, in dem der Medicus unschwer den Baron erkannte, denn er war auf ganz ähnliche Weise gekleidet wie der Creser, wenn er Ge­richtstag hielt: Das Haupt des Mannes zierte ein schmaler goldener Reif, und um die Schultern hatte er sich einen weiten, karmesinroten, mit weißem Pelz verbrämten Mantel gelegt. Hinter dem Baron stiegen zwei Priester die Stufen herab, links, von Anselm aus gesehen, ein Hochgeweihter des Praios, ganz in rot­goldenen Brokat gewandet, und rechts eine Gestalt in schwarzer Kutte, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen

– ein Priester oder eine Priesterin des Boron (das Ge­schlecht des Menschen ließ sich auf die Entfernung nicht bestimmen). Die beiden mußten von weither angereist sein, vermutete der junge Mann, denn in Abilacht gab es weder einen Praios- noch einen Bo­rontempel, wie er erfahren hatte. Den Priestern folgte eine Dame mit langem, wohlfrisiertem, äußerst üppi­gem, gelblich-weißem Lockenhaar, in einen grauen Mantel gehüllt, an dessen Kragen goldene Stickereien blinkten, und dieser wiederum zwei Bewaffnete. Hin­ter den Soldaten schritt, aufrecht und hocherhobenen Hauptes, eine Frau, offenbar die Delinquentin, denn sie trug einen schweren eisernen Ring um den Hals und hatte die Hände auf dem Rücken gefesselt. An­selm hatte ganz fest eine Rothaarige erwartet, und deshalb war er nicht wenig überrascht, daß tief­schwarzes, fast bläulich schimmerndes Haar sich wild um Kopf und Schultern ringelte. Ob sie jung oder alt, schön oder häßlich war, konnte er auf die Entfernung nicht entscheiden, und doch war er sich gewiß, daß sie sich, aus der Nähe gesehen, als betö­rende Schönheit erweisen würde. Auch die Füße der Hexe waren gefesselt, wie er erst jetzt bemerkte, als ein kurzes, von Klirren begleitetes Straucheln an der Treppenkehre ihr stolzes Schreiten unterbrach. Sie müssen ja mächtig Angst haben, daß sie ihnen ent­wischt und davonfliegt, dachte der Medicus, daß sie sie in Eisen legen wie einen Oger ... Eisen ... Eisen ... wiederholte er in Gedanken. War da nicht etwas mit Eisen und Magie, daß das Metall die arkanen Kräfte binde? Oder betraf das nur Zauberer und Schelme – Hexen, Druiden und Schamanen aber nicht? Er wußte es nicht, und als sich schräg vor ihm eine Lücke auf­tat, interessierte ihn die Frage nicht weiter.

Die Lücke erwies sich als schmaler Pfad, der An­selm, ohne daß er viel rempeln mußte, bis dicht vor die weiße Linie führte. Die junge Bäuerin hatte er be­reits vergessen, als er der Prozession ansichtig ge­worden war, und so vermißte er sie auch nicht an seiner Seite, denn es war ihr nicht gelungen, ihm zu folgen.

Hinter der Hexe schritten zwei Gardisten, deren einer die Kette hielt, mit der ihre Hände gefesselt wa­ren. Und den Schluß des Zuges bildete der Henker – oder richtiger: die Henkerin, denn die massige Ge­stalt trug außer der obligatorischen, das ganze Haupt verhüllenden roten Kapuze nichts weiter als lederne Stiefel, lederne Beinkleider und eine lederne Schürze, deren Latz die schweren Brüste nicht gänzlich zu be­decken vermochte. Die Frau hatte ein mächtiges Richtbeil geschultert, und in der Linken trug sie eine Fackel und einen Beutel, der wohl Zunder und Feuer­stein enthielt. Seltsam, dachte Anselm, wozu das Beil? Sie soll ja verbrannt und nicht enthauptet werden. Und wozu die Schürze, da doch kein Blut fließen wird? Er hatte noch nie zuvor einen Henker oder eine Henkerin gesehen und fand die Erscheinung höchst merkwürdig. Und wenn die Kapuze nicht gewesen wäre, hätte er sich die Frau ebensogut als Feldscherin vorstellen können.

Vor dem Scheiterhaufen stand ein geschnitzter Armstuhl; Anselm fragte sich, ob er von Anfang an dort gestanden hatte oder in der Zwischenzeit auf den Platz getragen worden war, denn er war ihm vorher nicht aufgefallen. Die Gardisten hatten eben den Fuß der Treppe erreicht, und nun bewegte der Zug sich langsam zum Scheiterhaufen. Das Stimmen­gewirr ringsumher, das seit Erscheinen der Prozessi­on immer heftigerem Rumoren gewichen war, ver­stummte für einen Augenblick, und die Leute senk­ten die Köpfe und beugten ehrerbietig die Knie, als der Baron den Platz betrat, doch schwoll es sogleich wieder an, wurde zu Grölen, Kreischen und Pfeifen, als die Hexe ihre bloßen, weißen, mit Eisen gefessel­ten Füße auf das Pflaster setzte. Für wenige Augen­blicke verlor der Medicus die kurze Menschenschlan­ge aus den Augen, da der gewaltige Holzstoß ihm die Sicht versperrte, doch als sie wieder vollständig in seinem Blickfeld erschien, sah er, daß sie eben nicht vollzählig war. Drei Personen fehlten – die Hexe und ihre beiden Bewacher.

Wo mögen sie geblieben sein? ging es Anselm durch den Kopf. Ob es auf der anderen Seite des Haufens eine Treppe oder Leiter gibt? Doch kam er nicht dazu, den Gedanken weiterzuspinnen, denn nun war es an ihm und den ihm zunächst Stehenden, sich zu verbeugen, da der Baron samt seinem Gefolge eben die Stelle des Kreises passierte, wo der Medicus stand.

Als Anselm sich nach einer guten Weile langsam wieder erhob, es seinen Nachbarn gleichtuend und fast zögernder als jene – er hatte sich, seit er reiste, angewöhnt, die Sitten der fremden Orte übergenau zu befolgen –, war der Baron gerade dabei, sich in dem Armsessel niederzulassen. Sorgfältig breitete er seinen Mantel über die Knie, legte die Arme auf die Lehnen des Stuhles und starrte mit unbewegter Mie­ne in die Menge. Ihm zunächst plazierten sich auf der einen Seite die beiden Priester und auf der anderen die Henkerin und die Dame in Grau, die Anselm für die Richterin hielt. Außen bezogen die Gardisten Stel­lung.

Die Richterin trat vor, und im selben Augenblick sah Anselm auch die Hexe wieder. Sie taumelte, ge­zerrt und gestoßen und durch die Fesseln behindert, auf die Plattform und wäre wohl gestrauchelt, wenn einer der Bewacher sie nicht durch einen groben Griff in den Schopf am Stürzen gehindert hätte. Die graue Dame merkte am Geraune der Leute und an der Rich­tung der Blicke, daß hinter und über ihr sich etwas Interessantes ereignete, doch schaute sie sich nicht um, sondern verharrte schweigend und mit vor der Brust verschränkten Armen, bis wieder Ruhe einge­kehrt war.

Auch Anselm starrte nach oben. Wie flink die Gar­disten ihre Arbeit verrichten, dachte er. So als säße ihnen ein Siebengehörnter im Nacken. Mit schnellen Griffen lösten sie die Ketten, ersetzten sie durch Seile (oder Lederbänder – Anselm konnte es nicht erken­nen, fand es jedoch sehr umsichtig, das kostbare Ei­sen zu retten und gegen ein minder wertvolles Mate­rial zu tauschen), mit denen sie die Delinquentin blitzgeschwind am Pfahl fixierten. Dabei hielten sie die Köpfe gesenkt oder zur Seite gewandt, damit ihr Blick dem der Hexe nicht begegne, und als sie nach nur wenigen Augenblicken die Plattform verließen – offenbar lehnte tatsächlich eine Leiter an der anderen Seite des Scheiterhaufens –, hörte man sie förmlich vor Erleichterung aufatmen. Die Frau jedoch hatte keinen Laut von sich gegeben und keinen Widerstand geleistet.

Immer noch war die Entfernung zu groß, als daß Anselm die Züge der Hexe genau hätte erkennen können, aber sie war nicht so jung, wie er erwartet hatte, das sah er immerhin – Ende der Dreißig oder Anfang der Vierzig vielleicht. Warum er damit ge­rechnet hatte, daß sie jung wäre, hätte er nicht zu sa­gen gewußt. Das Gesicht der Frau war von fremdar­tigem Schnitt, zu seltsam, um als schön zu gelten: Die ausgeprägten hohen Wangenknochen und das spitze kleine Kinn ließen seine Form entfernt einem Linden­blatte gleichen. Und es war bleich wie Kalk. Beunru­higend aber waren vor allem die Augen. Als Anselm sie nun sah, als er einen kurzen Herzschlag lang den Blick der Hexe auf sich gerichtet glaubte, schien es ihm im ersten verwirrten Moment, als sei sie blind, denn die Iriskreise waren so hell, daß sie sich von dem umgebenden Weiß kaum unterschieden. Es mußte ein sehr blasses Blau oder Grün sein, eine be­unruhigende Farbe, und schon spürte der junge Mann, wie ihm ein feines Kribbeln das Rückgrat hin­ablief, und konnte nicht verhindern, daß sich augen­blicklich die Muskeln der Lendenwirbel verspannten. Wer solche Augen hat, wer so zu schauen versteht, dem mag man wohl große Macht und große Bosheit zutrauen, dachte er. Die Wimpern jedoch waren schwarz wie das Haar – Brauen hingegen erkannte man nicht – und die Winkel der vollen Lippen ein wenig abwärts gezogen.

Die Richterin hob nun die Hand – eine große Hand für eine Dame –, und nach und nach verstummten die Leute. »Bürger von Abilacht«, sagte sie mit durchdringender Altstimme, »wir haben uns hier versammelt im Angesicht Praios‘, nicht um Recht zu sprechen, sondern um das Urteil zu vollstrecken, denn gerichtet ist diese bereits, die ihr dort oben seht. Sephyra aus dem Eschengrund, wie sie sich nennt, ist überführt der Hexerei und der schwarzen Magie, welche Verbrechen sie nach strenger Befragung auch gestand.«