DSA 23: Das letzte Duell - Hans Joachim Alpers - E-Book

DSA 23: Das letzte Duell E-Book

Hans Joachim Alpers

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Beschreibung

Thalon schmiedet ein Bündnis gegen den Praefos von Ghurenia. Die Seeschlacht steht unmittelbar bevor - die Allianz ist brüchig. Da kommt es zum Duell mit dem gefürchteten Piratenkapitän. Im dritten und abschließenden Roman über die Piraten des Südmeer sucht Thalon seinen Platz in der aventurischen Welt. Doch am letzten Duell mit dem gefürchteten Piratenkapitän Eiserne Maske führt kein Weg vorbei.

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Hans Joachim Alpers

Das letzte Duell

Die Piraten des Südmeeres Teil 3

Dreiundzwanzigster Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses Spiele Band 23

Kartenentwurf: Ralf HlawatschE-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright ©2012 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIAsind eingetragene Marken der Significant GbR.Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN:3-453-11945-2 (vergriffen)

1. Kapitel

Auf Yongustra

Ohne jede Erregung und beinahe mürrisch sah Murenius zu, wie derh’vasdes Ch’Ronch’Ra die dunkelhäutige Shevanu bestieg. Shevanu hatte erst vor kurzem das Amt als Priesterin der Dienerschaft übernommen, und sie verdankte diese Auszeichnung vor allem ihren üppigen Rundungen. Die Diener saßen, den Harnisch bereits angelegt und die Waffen gegürtet, im Kreis um das Paar herum und gerieten immer mehr in Verzückung. Derh’vasnahm Shevanu hart und rücksichtslos, wie Ch’Ronch’Ra es liebte. Es dauerte nicht lange, bis derh’vasopferte und die Diener dabei in einen wilden Rausch versetzte.

»Ch’Ronch’Ra! Ch’Ronch’Ra’ Ch’Ronch’Ra!« So erklang es frenetisch aus dem Rund.

Murenius schwieg. Dies entsprach seiner Würde als Hoherpriester. Tatsächlich verspürte er auch nicht die Verzückung der anderen Diener. Er dachte an die Zeiten zurück, als es noch keinenh’vasgegeben und der Hohepriester den rituellen Akt in der Gestalt einer Echse vollzogen hatte.

Für gewöhnlich gönnte Ch’Ronch’Ra seinemh’vasnur eine kleine Pause, bis er ihn zwang, so lange weitere Dienerinnen zu begatten, bis seine Manneskraft erschöpft war – für gewöhnlich fünf oder sechs Frauen, manchmal mehr, denn derh’vaswar jung und kräftig.

Heute beließ Ch’Ronch’Ra es bei einer Besteigung. Er wollte seinenh’vasnicht erschöpfen. Seine Kraft wurde für wichtigere Dinge gebraucht.

Shevanu erhob sich, als sich derh’vasaus ihr zurückgezogen hatte. »Für Ch’Ronch’Ra!« schrie sie ein über das andere Mal und tanzte wild umher. Ihre schweren Brüste bebten und wackelten, als wollten sie sich selbständig machen, und ihre krausen Haarlocken wirbelten herum, so daß kaum noch etwas vom Gesicht zu erkennen war.

»Für Ch’Ronch’Ra!« kam es von den Dienern zurück. Die Männer und Frauen sprangen auf und zogen die Waffen.

Derh’vasdes Ch’Ronch’Ra hatte sich ebenfalls erhoben. Es handelte sich um einen Mann mit einem sonst ebenmäßigen, schönen Gesicht, das jetzt zu einer Fratze verzerrt war. Der hüftlange Zopf aus glattem schwarzen Haar flog herum, als derh’vassich ruckartig den Dienern zuwandte. Die hellbraune Haut war feucht vom Schweiß, das Glied immer noch größer als normal und leicht versteift. Die Augen versprühten ein dämonisches rötliches Feuer, was demh’vaszusätzlich zu seiner Wildheit und Geilheit ein furchterregendes Aussehen verlieh.

Derh’vasstieß zischende Geräusche aus, und die Menge verstummte. Gleichzeitig spürte Murenius, wie Ch’Ronch’Ra seinen Geist berührte.

Sprich zu ihnen!befahl Ch’Ronch’Ra.

Murenius sprang in den Kreis. Ch’Ronch’Ra beherrschte den Körper desh’vas,aber es war ihm noch nicht gelungen, daß dieser mit menschlicher Zunge sprach. Aber er lernte stetig hinzu. Er verstand die Sprache der Menschen und nahm sie über die Ohren seinesh’vasauf. Früher war er nur in der Lage gewesen, seinem Hohenpriester Zorn oder Wohlgefallen mitzuteilen. Inzwischen vermochte er sich klar und deutlich in Murenius’ Kopf mitzuteilen. Daß er offensichtlich nicht in der Lage war, die Gedanken seines Hohenpriesters zu lesen, empfand dieser als eine glückliche Fügung.

»Diener des Ch’Ronch’Ra!« rief Murenius. »Zügelt eure Erregung! Spart sie auf für den Kampf, der vor uns liegt! Für Ch’Ronch’Ra!«

»Für Ch’Ronch’Ra!« kam es aus mehr aus zweihundert Kehlen zurück. Die Männer und Frauen, fast alle jung und stark, reckten tatendurstig Schwerter, Degen, Säbel, Armbrüste, Beile und Spieße.

»Abmarschformation!« befahl Murenius.

Die Diener, eben noch im Sinnestaumel, beeilten sich, ihre Plätze in den Marschgruppen einzunehmen, wie sie es vorher eingeübt hatten. Jeder der fünf Züge wurde von einem Hauptmann oder einer Hauptfrau befehligt. Es setzte Peitschenhiebe und Schläge mit der flachen Seite des Schwertes, als einzelne Diener nicht schnell genug ihren Pflichten nachkamen.

Murenius sah zufrieden zu. Er dachte an die Zeiten zurück, als die Dienerschaft nichts weiter als ein ungeordneter Haufen gewesen war, der außer ekstatischem Kampfeswillen und unzureichenden Waffen nichts zu einer Schlacht hatte beitragen können. Das war jetzt anders. Obwohl die eigentliche Ausbildung in der Hand der zumeist kampferfahrenen Hauptleute gelegen hatte, betrachtete es Murenius als sein Hauptverdienst, daß die Diener über eine ausgebildete Armee verfügten. Seiner Arbeit und seinem Geschick war es zu verdanken, daß die Diener von Brabak über Sylla, Charypso bis hin zu den Waldinseln insgeheim Anhänger geworben und auf Ch’Ronch’Ra eingeschworen hatten. Nur die besten und mutigsten Leute aus allen Regionen waren von Murenius für diesen Kampf ausgesucht und nach Yongustra gebracht worden.

Nur wenig hatte Ramon Murenius zuvor über die Insel Yongustra gewußt und hätte sich kaum träumen lassen, daß er dieses öde, felsige Eiland jemals zu Gesicht bekäme. Yongustra lag etwa vierhundert Seemeilen südöstlich von Efferds Tränen und wurde äußerst selten von einem Schiff aus Ghurenia angelaufen. Der südöstliche Teil des Südmeers war kaum erforscht und nur spärlich besiedelt. Die Handelsgüter, die diese Region zu bieten hatte – Früchte, Wein, Gewürze, Nüsse und Felle –, konnten einfacher und billiger von nähergelegenen Inseln geholt werden. Dennoch gab es auf Efferds Tränen einen Kaufherrn namens Klabinto, der mit zwei Schiffen Südosthandel betrieb und offenbar mit den mageren Erlösen zufrieden war, die dieser Handel erbrachte. Yongustra allerdings ließen auch Klabintos Schiffe fast immer abseits liegen. Man ankerte dort nur dann, wenn es eine nennenswerte Nachfrage nach Artefakten und Kultgegenständen alter Achaz-Kulturen gab. Tatsächlich schien Yongustra in einer der frühen Achaz-Hochkulturen eine gewisse Rolle gespielt zu haben.Überreste einer alten Stadt waren noch vorhanden, die die jetzigen Bewohner plünderten, um die Ausbeute gegen jene wenigen Handelsgüter einzutauschen, die sie nicht selbst erzeugen konnten, vor allem Werkzeuge und Waffen. Das größte Wunder an Yongustra war denn auch die Tatsache, daß auf dieser Insel überhaupt Menschen lebten, und zwar mit angeblich fünfhundert erstaunlich viele und dazu höchst seltsame Bewohner.

Den Erzählungen der Seeleute hatte Murenius schon damals in Ghurenia entnommen, daß sie in einer straff geführten militärischen Gemeinschaft lebten und in einer großen und gut befestigten Burg lebten. Jetzt, da die Galeere des Ch’Ronch’Ra und die beiden Begleitschiffe in Yongustras unbewohnter Nordbucht vor Anker lagen, wußte Murenius einiges mehr. Späher der Dienerschaft des Ch’Ronch’Ra hatten herausgefunden, daß sich nur etwa sechzig Männer und Frauen ständig in der Burg aufhielten und dort neben rituellen Waffenübungen handwerklichen Tätigkeiten nachgingen. Weitere hundertfünfzig, höchstens zweihundert Menschen bewirtschafteten den Südteil der Insel, der als einziger fruchtbares Land bot. Sie bauten Getreide und Wein an, buken Brot, züchteten Vieh oder fuhren mit Flachbooten zum Fischfang auf das Meer hinaus. Diese Leute betrieben ihre Waffenübungen weniger sorgsam als die Burgbewohner.

Murenius hatte befohlen, alles sorgsam vorzubereiten und die Yongustraner über Monde hinweg zu beobachten. Einem Voraustrupp war diese Aufgabe übertragen worden. Gelegentlich hatten die Yongustraner einige Späher entdeckt und verjagt, schienen aber keinerlei Argwohn zu hegen. Offenbar hielten sie die Späher für Eingeborene der umliegenden Inseln, die auf der Insel jagten. Dabei hatte man entdeckt, daß am ersten Borontag eines jeden Mondes jeweils zwanzig Leute aus der Burg gegen zwanzig der Bauern und Fischer ausgetauscht wurden. Offenbar geschah dies nach einem festen Plan, dem Männer wie Frauen, Alte wie Junge, selbst die Kinder gehorchten. Jeder, so schien es, mußte in immer gleichen Abständen die Pflichten auf der Burg mit denen im Umland tauschen. Lediglich eine kleine Anzahl von Offizieren oder leitenden Ordensbrüdern – was das gleiche zu sein schien – war davon ausgenommen und blieb ständig auf der Burg.

Murenius folgte den beiden besten Zügen, die den Sturmangriff auf die Burg ausführen sollten. Shevanu tauchte neben ihm auf. Murenius’ Miene verfinsterte sich. Shevanu hatte ihre Blößen mit einem ärmellosen schwarzen Leinengewand bedeckt – nur der rote Saum kennzeichnete sie als Priesterin –, das die Oberschenkel nur knapp verhüllte, dazu plumpe Lederstiefel übergestreift und trug wie Murenius ein Kurzschwert im Gürtel. Sie sah ihn von der Seite an und bemerkte den grimmigen Ausdruck auf seinem Gesicht. Shevanu, die reiche Erfahrung im Umgang mit Männern besaß, deutete es richtig. »Eifersüchtig, Ramon?« fragte sie spöttisch.

»Eifersüchtig auf einen Gott?« gab Murenius ungehalten zurück. »Unsinn!« Er wandte sich von ihr ab, als seine feine Nase den Geruch des Saftes wahrnahm, den derh’vasin ihr vergossen hatte.

»Du hättest wahrhaftig auch keinen Grund dazu«, sagte sie, noch immer überlegen lächelnd. Ihr war anzusehen, wie sehr sie das Vorrecht genoß, stets als erste und wie heute als einzige von Ch’Ronch’Rash’vasgenommen zu werden. »Schließlich bist du bei mir noch immer zu deinem Recht gekommen, oder?«

Murenius mußte zugeben, daß jene Sinnlichkeit, die Ch’Ronch’Ra an Shevanu schätzte, auch ihm gefiel und ihm ausreichend oft zu Diensten stand. Aber Shevanu war im Grunde eine ungebildete und gewöhnliche Frau, nicht zu vergleichen mit Hejara. Er trauerte seiner einstigen Geliebten noch immer nach und verfluchte den Praefos, daß er sie getötet hatte. Hejara hatte Rahjas Gabengenossen,wozu auch gehörte, daß sieihngenoß, ob er sie nun als Echsenmann auf dem Altar der alten Götter befriedigte oder bei anderen Gelegenheiten in seiner menschlichen Gestalt nahm. Es bereitete ihrSpaß,es mit ihm zu treiben, auch und gerade dann, wenn andere dabei zusahen. Inwieweit dabei die Tatsache eine Rolle spielte, daß er als Stellvertreter Ch’Ronch’Ras auftrat, das hatte Murenius stets nur wenig gekümmert.

Shevanu, wie derb sie auch sein mochte, schien seine Gedanken zu erraten. »Oder ist es der Unmut darüber, daß der Hohepriester gegenüber demh’vasins zweite Glied zurücktreten mußte? Daß sein Schwanz buchstäblich nur das zweite Glied ist?« Sie lächelte über das eigene Wortspiel.

»Ich vermisse nichts«, gab Murenius schroff zurück. »Was ich getan habe und was ich tue, geschah und geschieht einzig und allein, um unserem Gott zu dienen.« Mit größere Schärfe fügte er hinzu: »Hüte deine Zunge, Priesterin des Ch’Ronch’Ra! Dein Rang in der Dienerschaft kann schon bald dahin sein, denn die Vorzüge, die du Ch’Ronch’Ra zu bieten hast, welken rasch. Du besitzt nichts, was andere Frauen nicht auch besitzen. Aber ich bin der Vertraute Ch’Ronch’Ras, sein oberster Diener, mit dem er spricht und den er auserkoren hat.«

Shevanus Lächeln war verschwunden, und ihr Gesicht zeigte nun einen Ausdruck von Unsicherheit. Sie schwieg. Offensichtlich hatte sie verstanden, daß sie zu weit gegangen war, als sie versuchte, sich auf eine Stufe mit Murenius zu stellen.

Wenn Murenius das Wort ›Gott‹ in den Mund nahm, so geschah dies aus Berechnung und nicht aus eigenerÜberzeugung. Er verachtete die aventurischen Götter und wollte sich auch den Echsengöttern der Achaz nicht unterordnen. Er selbst verstand sich als sein eigenes und einziges Maß. Zudem hatte er von Anfang an daran gezweifelt, schon als er zum erstenmal dem Steinkopf gegenüberstand und dieser ihm mitteilte, daß Ch’Ronch’Ra ein Gott sei. Aber er hatte die Möglichkeiten erkannt, die in einer Verbindung zwischen Ch’Ronch’Ra und ihm bestanden. Diese Verbindung versprachMacht.Ch’Ronch’Ra wollte als Gott angesehen werden, und die Dienerschaft betete ihn als ihren Gott an. In den Jahren, die Murenius mit Ch’Ronch’Ra verbracht hatte, war allerdings deutlich geworden, daß der dunkelrot glühende Echsenkopf aus Stein nicht im Mindesten über göttliche Kräfte verfügte. Vermutlich steckte darin nur ein Dämon, noch dazu einer, der in der Rangordnung der Dämonen einen untergeordneten Platz einnahm.

Während Murenius und Shevanu hinter den Dienersoldaten über ein flaches Geröllfeld wanderten und gelegentlich größeren Felsbrocken auswichen, sah sich Murenius nach demh’vasum.

Er hatte sich ein purpurrotes Gewand übergeworfen und seine Sänfte bestiegen. Vier der stärksten Männer trugen sie. Beschützt und angeführt von den zehn besten Soldaten, folgte sie ihnen in einigem Abstand. Zufrieden wandte sich Murenius wieder nach vorn. Das Gelände wurde abschüssig und erforderte höhere Aufmerksamkeit. Am anderen Ende des Tals erhoben sich die dunkelgrauen Hügel, die den Blick auf den Südzipfel der Insel verbargen. Es hatte ihn Mühe gekostet, Ch’Ronch’Ra zu überreden, mit seinemh’vasan der Schlacht teilzunehmen. Es gab nur wenige, die alsh’vasgeeignet waren, und Ch’Ronch’Ra wollte den menschlichen Körper, den er zur Zeit benutzte, vor jeglichem Schaden bewahren. Ihn ernsthaft zu gefährden, lag auch nicht in Murenius’ Absicht. Wenn Ch’Ronch’Ra keinenh’vasbesäße, nähme er als Notlösung einen Teil seines Hohenpriesters in Besitz. Dies versuchte Murenius um jeden Preis zu vermeiden, denn er wollte nicht das gleiche Ende nehmen, das früher oder später jedemh’vasdrohte. Andererseits wußte Murenius, daß nur die Anwesenheit ihres Gottes die Diener dazu brächte, ihr Bestes im Kampf zu geben und ihr Leben bedenkenlos zu opfern. Und das mußten sie tun, denn die Verteidiger der Burg mochten zwar zahlenmäßig unterlegen sein, waren aller Voraussicht nach jedoch zähe und gut ausgebildete Soldaten.

»Dort liegt der Paß, von dem die alte Vettel berichtet hat«, sagte Shevanu und deutete nach vorn.

Die erste Marschkolonne hatte den Felsspalt bereits erreicht. Murenius nickte knapp. Ch’Ronch’Ra hatten die Auskünfte nicht genügt, die die Späher der Diener über die Bewohner der Insel eingeholt hatten. Er ließ eine alte yongustranische Frau entführen, foltern und schließlich qualvoll langsam töten, nachdem sie alles verraten hatte, was sie wußte. Von ihr stammten der Hinweis auf den Felspfad zum Süden und allerlei nützliches Wissen über die Gewohnheiten der Inselbewohner.

Die Yongustraner nannten sich Rondra-Legisten und pflegten eine höchst eigenartige Form des Dienstes an Rondra, der Göttin des Krieges und des Sturmes. Sie lebten in dem Glauben, irgendwann werde ihr Eiland, wenn das restliche Aventurien längst gefallen sei, zur letzten Bastion im Kampf gegen die Horden des Namenlosen werden, und dieser letzten Bastion sei es bestimmt, den Kampf zu gewinnen. Auf diesen Tag arbeiteten alle Inselbewohner hin und ließen deshalb in ihren rituellen Waffenübungen nicht nach. In gewisser Weise würde sich die Vision der Randra-Legisten in der Tat erfüllen. Allerdings würde nicht der Namenlose, sondern Ch’Ronch’Ra nach ihnen greifen; sie würden auch nicht die letzte Bastion sein, sondern die erste, und vor allem würde ihre Bastion fallen, statt zu überdauern.

Woher der seltsame Glaube stammte, wußte die alte Frau nicht. Sicher war nur, daß die Rondra-Legisten seit Jahrhunderten ihren merkwürdigen Ritualen nachgingen. Wahrscheinlich war der Orden von schiffbrüchigen Kultisten aus fernen Landen gegründet worden. Das Aussehen der Bewohner von Yongustra wie auch die Beschaffenheit der Sprache wiesen darauf hin, daß sich hier die Merkmale unterschiedlicher Rassen und Völker miteinander verschmolzen hatten. Vorherrschend waren allerdings dunkle und bronzefarbene Haut sowie schwarzes Haar. Vermutlich hatten die Kultisten die einheimische Bevölkerung zunächst unterjocht und dann aufgesogen.

Die Rondra-Legisten lehnten fremde Einflüsse ab, um eine Verfälschung ihres Glaubens zu verhindern, und beschränkten die Kontakte auf das Notwendigste. Im Kern dienten diese wenigen Kontakte allein dem Zweck, Ersatz für zerbrochene Waffen und Werkzeuge zu bekommen.

Dies alles, ihre Wehrhaftigkeit, ihr Wachsamkeit, ihre zweifellos vorhandene Fähigkeit, mit Waffen umzugehen, machte sie für Murenius zu einem willkommenen Gegner für die Diener Ch’Ronch’Ras, um den Stand der eigenen Vorbereitungen zu messen. Vor allem jedoch die Einsamkeit des Ortes und die fehlende Einbindung in andere Machtgebilde gaben den Ausschlag. Wenn Yongustra fiele, würde dies außer den Rondra-Legisten niemanden in Aventurien kümmern. Mehr noch: Es würde überhaupt kaum jemand zur Kenntnis nehmen. Und auf keinen Fall war damit zu rechnen, daß Truppen anrückten, um Yongustra der Dienerschaft streitig zu machen. Anschließend wollte Murenius auf ähnliche Weise mit Efferds Tränen und weiteren Inselreichen des Südens verfahren. Bevor es den dort geschädigten Kaufherren anderer Reiche gelänge, Unterstützung für ihre Ziele zu erlangen oder gar selbst ein Söldnerheer aufzustellen, wäre die Dienerschaft stark genug für größere Auseinandersetzungen.

Soweit gingen die Ziele von Ch’Ronch’Ra und Murenius Hand in Hand. Obwohl Ch’Ronch’Ra seinen Willen inzwischen unmißverständlich kundtat und Befehle erteilte, kannte Murenius die wahren Absichten des Steinkopfes immer noch nicht. Es schien jedoch sicher zu sein, daß Ch’Ronch’Ra nicht ernsthaft versuchen würde, ein größeres Stück von Aventurien zu erobern, weil er sich dann zwangsläufig mit übergeordneten Mächten hätte anlegen müssen. Vielmehr richteten sich seine Anstrengungen auf ein Ziel, das für Dämonen, möglicherweise für Achaz und menschliche Anbeter von Echsengöttern von Wichtigkeit sein mochte, nicht aber für Murenius. Deshalb arbeitete Murenius seit geraumer Zeit an einem Plan, Ch’Ronch’Ra auszuschalten, sobald eine angemessene Machtbasis errichtet wäre, und die Dienerschaft auf ihn allein einzuschwören. Wäre dies gelungen, würde er den Steinkopf vernichten und denh’vastöten. Ch’Ronch’Ra mußte dann unvermeidlich in das Reich der Dämonen zurückkehren. Dann hätte Murenius freie Hand. Er würde natürlich behaupten, weiterhin mit Ch’Ronch’Ra in Verbindung zu stehen, und mit seiner Magie dafür sorgen, daß man ihm dies abnähme.

Der Kult des Ch’Ronch’Ra gründete zum einen auf der spürbaren Anwesenheit des Gottes, zum anderen auf der Ekstase des rituellen Beischlafs. Das eine würde er vortäuschen, das andere als Hoherpriester zelebrieren. Er würde den Dienern geben, was sie haben wollten, und auch die Männer unter ihnen wieder stärker daran teilhaben lassen, als es Ch’Ronch’Ra in seiner unersättlichen Gier erlaubte. Die Priesterin müßte sich wie früher auch von Dienern besteigen lassen, die sich besonders ausgezeichnet hatten.

Und du wirst es nicht sein, Shevanu, die mir und den auserwählten Dienern auf dem Altar ihren Schoß öffnet! Ich suche mir eine, die meinem Geschmack und nicht dem Geschmack eines Dämons entspricht! Du kannst in die Hurenhäuser Brabaks zurückkehren, aus denen du gekommen bist.

Kaum hatten Murenius und Shevanu den Paß betreten, da bildete sich unmittelbar vor ihnen plötzlich ein undurchdringlicher weißer Rauch oder Nebel. Zwei kleine, böse, rotleuchtende Augen starrten ihnen aus der Mitte des Gebildes entgegen. Shevanu stieß vor Schreck einen leisen Schrei aus und sprang einen Schritt zurück. Murenius, der sich schon gefragt hatte, wo dercurgadie ganze Zeit gesteckt haben mochte, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, obwohl auch ihm das Herz klopfte. Grimmig starrte er zurück, riß das Amulett aus dem schwarzen Umhang und reckte es demcurgaentgegen. Das Amulett war ein achteckiger Stern, in dessen Mitte sich, gefertigt aus geschliffenem Granatstein, eine Miniatur des Echsenkopfes befand, in dem Ch’Ronch’Ra hauste.

Der Seelenräuber erzeugte ein Geräusch, das wie ein Röcheln oder Schlürfen klang. Murenius dachte schon, dercurgawolle sich auf ihn stürzen. Aber dann lösten sich der Nebel und die Augen in nichts auf. Dercurgawar verschwunden.

Vor ihnen, in vielleicht zweihundert Schritt Entfernung, klirrten die Waffen der Soldaten, die von all dem nichts mitbekommen hatten. Hinter ihnen knirschten die Schritte von Ch’Ronch’Ras Eskorte, die gerade den Paß betrat, auf dem Geröll.

Shevanu hatte sich von dem Schreck erholt und spuckte aus, als hätte sie etwas von dem Nebel eingeatmet und wolle es schnell wieder loswerden. »Dercurgasollte unseren Feinden angst machen und nicht uns!« fluchte sie.

»Dercurgatut uns nichts«, erwiderte Murenius abfällig. »Auch er ist ein Diener Ch’Ronch’Ras. Er wird niemals einen anderen Diener Ch’Ronch’Ras angreifen, erst recht dann nicht, wenn dieser das Bildnis unseres Gottes mit sich führt. Du hättest ihm nur dein eigenes Amulett entgegenhalten müssen, um ihn zu vertreiben.«

»Ich bin Priesterin des Ch’Ronch’Ra und mit den Ritualen der Dienerschaft vertraut!« fauchte Shevanu verärgert. »Ich mag es trotzdem nicht, wenn er so plötzlich auftaucht.«

»Er kann nicht anders, das ist seine Art.«

»Seine Art ist es auch, Seelen zu fressen. Warum stürzt er sich nicht auf die Rondra-Legisten und macht sie zu plärrenden Narren? Das würde uns viel Arbeit ersparen.«

»Das ist nicht seine Aufgabe. Wir sind hier, um die Diener zu stählen. Wenn dercurgaihre Arbeit täte, wäre für die Kämpfe, die uns noch bevorstehen, nichts gewonnen.«

»Er könnte uns zumindest helfen, wenn es brenzlig wird.«

Murenius seufzte. Einmal mehr zeigte Shevanu einen beklagenswerten Mangel an Einsicht, sowohl was die Strategie der Dienerschaft als auch was die Macht über dencurgaanging. Ersteres war unverzeihlich und machte sie in Murenius’ Augen – von allen anderen Einwänden einmal abgesehen – ungeeignet für das Amt der Priesterin. Letzteres mochte ihr zur Not verziehen werden, zumal aus ihrem Wunsch die Erwartung sprach, Ch’Ronch’Ra gebiete über dencurga.Murenius war sich dessen nicht so sicher. Tatsächlich stellte dercurgaein kaum kleineres Rätsel als Ch’Ronch’Ra selbst dar, und Murenius war es bisher nicht gelungen, mehr als einen Zipfel der Wahrheit zu erfassen. Sicher schien nur die Tatsache zu sein, daß dercurgader Dämonenwelt angehörte und weit unter Ch’Ronch’Ra stand, vielleicht ein Halbdämon war. Offenbar mußte er gewisse Verpflichtungen gegenüber Ch’Ronch’Ra erfüllen, war aber keineswegs sein Diener und verfolgte vor allem eigene Ziele. Aufgetaucht war er erst in dem Augenblick, als Ch’Ronch’Ra sich Murenius gegenüber verständlich mitteilen konnte. Murenius überlegte, wann das gewesen war.

Vor vier Jahren etwa. Als es mir mit Ch’Ronch’Ras Hilfe gelang, Gorms Gewalt und dem sinkenden Schiff zu entkommen. Ich flog in der Gestalt des Adlers zum versunkenen Tempel, und Ch’Ronch’Ra sprach zum erstenmal mit mir. Er forderte einen menschlichen Körper, einenh’vas.Wenig später tauchte dercurgaaufMurenius hatte nie ernsthaft darüber nachgedacht, wie es Ch’Ronch’Ra gelungen war, nach den anfangs nur undeutlichen Willensbekundungen auf einmal klare Befehle zu erteilen. Jetzt, als er an seine Rettung zurückdachte, wußte er plötzlich, wie es geschehen sein konnte. Ch’Ronch’Ra hatte weit über sich hinauswachsen müssen, um Murenius’ Verwandlungsmagie über die große Entfernung hinweg zu verstärken. Murenius selbst hatte dies im Grunde für unmöglich gehalten. Aber es war geschehen und hatte zu einer engeren Verschmelzung zwischen ihm und dem Dämon geführt. Unsichtbare Zäune waren niedergerissen worden, die Verständigung wurde möglich. Die Erkenntnis versetzte Murenius in Sorge. War es möglich, daß ein Teil des Dämons in seinem Kopf hauste, ohne daß er etwas davon merkte?

»Er könnte diesen Praefos von Ghurenia töten.« Shevanus Nörgelei riß Murenius aus seinem dumpfen Brüten, in dem er die Umgebung kaum wahrgenommen und mechanisch einen Fuß vor den anderen gesetzt hatte.

»Kümmere dich nicht um Dinge, die dich nichts angehen, Priesterin«, gab Murenius ungehalten zurück. »Und verschon mich mit deinen Ratschlägen. Wenn du schlau bist, dann läßt du sie auch nicht an die Ohren desh’vasdringen.« In seinen Worten schwang eine unausgesprochene Drohung mit, und Shevanu schwieg endlich.

Wenn alles so einfach wäre!dachte Murenius. Das Verhalten descurgawar überhaupt nicht einzuschätzen, selbst von Ch’Ronch’Ra nicht. Der Seelenräuber ließ sich nichts befehlen. Allerdings schien es eine der Aufgaben descurgazu sein, geeigneteh’vasfür Ch’Ronch’Ra ausfindig zu machen und für die Übernahme vorzubereiten. Daneben verwüstete er gelegentlich den Geist eines Feindes, offenbar auf Anweisung oder Bitten Ch’Ronch’Ras. Häufiger fiel der Seelenräuber jedoch aus eigenem Antrieb über Menschen her, möglicherweise deshalb, weil er sich von ihren Seelen ernährte. Murenius selbst hatte Ch’Ronch’Ra vorgeschlagen, Gorm mit Hilfe descurgazu beseitigen und Malurdhin an die Macht zu bringen. Ch’Ronch’Ra hatte geschwiegen. Als Murenius den Vorschlag wiederholte, befahl ihm Ch’Ronch’Ra barsch, zu schweigen und niemals wieder Pläne vorzubringen, welche die Mitwirkung descurgaverlangten. Murenius deutete Ch’Ronch’Ras Verhalten dahingehend, daß der Vorschlag Ch’Ronch’Ras Möglichkeiten überstieg. So reagierte er stets, wenn er an seine Schranken stieß und nicht zugeben wollte, daß seiner Macht Grenzen gesetzt waren. Murenius hatte den Eindruck gewonnen, daß dercurganur solchen Anweisungen oder Bitten des übergeordneten Dämons nachkam, die die Belange anderer Dämonen – vielleicht auch Götter – nicht berührten. Er arbeitete an einer magischen Dämonenlehre zu diesem Thema, mußte aber zugeben, daß seine Studien noch nicht sehr weit gediehen waren. Immer wieder stieß er ins Leere.

Er schwitzte unter der sengenden Glut der Praiosscheibe. Schlimmer war, daß ihm die Füße weh taten. Die Riemen der Sandalen schnitten ihm ins Fleisch. Als Hoherpriester hatte er es für unter seiner Würde gehalten, außer einem Schwert militärische Ausrüstung anzulegen. Schließlich wollte er sich nicht an dem Kampf beteiligen. Jetzt bereute er, daß er nicht zumindest Stiefel verlangt hatte. Sandalen erwiesen sich in diesem Gelände als wenig geeignet, und das Barfußgehen schien noch weniger ratsam zu sein. Zumindest in diesem Punkt, gestand Murenius sich ein, hatte sich Shevanu mit ihrem unkleidsamen, aber robusten Schuhwerk als klüger erwiesen. Flüchtig überlegte er, den Verwandlungszauber zu sprechen, und tastete dabei unbewußt nach dem Kristall, der ihm neben dem Granatamulett um den Hals hing. Aber er verjagte den Gedanken. Es kostete zuviel Kraft, und es war zu früh dafür. Die Verwandlung in einen Adler war ein Akt, der sein Ansehen unter den Dienern festigte. Ohne Publikum war diese Anstrengung verschenkt. Er hätte es vor dem Abmarsch tun sollen. Jetzt mußte er damit warten. Murenius setzte sich auf den nackten Felsen und massierte sich die wunden Füße. Shevanu sah ihm spöttisch dabei zu, sagte aber nichts.

Der Paß lag bereits weit hinter den Truppen. Der erste Zug hatte den letzten Ausläufer des Hügelrückens erreicht und lagerte hinter einem Felsvorsprung. Späher kletterten den Felsen hinauf, beobachteten das darunterliegende Land und kehrten zurück, um ihrer Hauptfrau zu berichten. Jetzt verharrte auch der zweite Zug vor dem Felsen und wartete auf weitere Befehle. Von den drei anderen Zügen war nichts mehr zu sehen. Sie hatten sich südöstlich gehalten, um in das landwirtschaftlich genutzte Gebiet vorzudringen. Ihre Aufgabe bestand darin, die größere Zahl der Feinde, die sich außerhalb der Burg befanden, in Kampfhandlungen zu verwickeln. Auf diese Weise sollte verhindert werden, daß sie den Leuten auf der Burg zu Hilfe kamen.

Die Hauptfrau des ersten Zuges schickte einen Boten zu Murenius. Der Hohepriester erhob sich, um einen würdigeren Anblick zu bieten. Es war alles so, wie die alte Frau es beschrieben hatte. Die Burg lag nur eine halbe Meile entfernt, der See zugewandt. Man rechnete also mit keinem Angriff von der unzugänglichen Landseite. Die Zugbrücke war herabgelassen. Es gab keinen Hinweis darauf, daß der Gegner gewarnt war.

Murenius entließ den Boten mit dem Auftrag, die Hauptleute zu ihm zu beordern. Wenig später eilten Fenu, die Hauptfrau des ersten Zugs, und Xonto, der Hauptmann des zweiten Zugs, beflissen herbei. Befriedigt stellte Murenius fest, daß die Hauptleute ihn als Befehlshaber angenommen hatten, obwohl derh’vasdes Ch’Ronch’Ra mit seiner Eskorte inzwischen eingetroffen war. Aber derh’vasstarrte wie geistesabwesend, beinahe leblos vor sich hin, hinter den dunklen Augen glühte nur matt ein rötliches Leuchten. Offensichtlich langweilte sich Ch’Ronch’Ra, wenn er nicht sogar schlief. Seinemh’vasgab dies allerdings kein Freiheiten. Ohne seinen Meister war er nichts weiter als eine seelenlose Hülle. Wenn noch irgendetwas von dem Geist des Mannes zurückgeblieben war, dem dieser Körper einmal gehört hatte, dann war er eingesperrt im hintersten Winkel seines Hirns, ein ohnmächtiger Gefangener eines überlegenen Willens mit dämonischen Kräften. Ja, es sah in der Tat so aus, als sei der Dämon nicht bei der Sache. Murenius war dies nur recht.

Ein ›Gott‹ befaßt sich nicht mit Kleinkram wie militärischen Aufmärschen. Es genügt, daß seinh’vasdie Weiber vögelt und hin und wieder auf grausame Art Blut vergießt, aus eigener Lust und um seine Diener anzuspornen.

Ganz abgesehen davon hätte Murenius ohnehin als Übersetzer herhalten müssen, falls es Ch’Ronch’Ra in den Sinn gekommen wäre, den Überfall persönlich zu leiten.

Murenius wandte sich den Hauptleuten zu und beachtete Shevanu nicht, obwohl diese so tat, als nähme sie an dem weiteren Vorgehen heftigen Anteil. Am liebsten hätte er sie weggeschickt, aber vor den Hauptleuten durfte er die Priesterin nicht abwerten.

»Sagt den Soldaten, sie sollen sich mir zuwenden und erleben, wie ich mich mit der Hilfe Ch’Ronch’Ras in einen Adler verwandle und in die Lüfte erhebe«, erklärte Murenius. »Ich werde über die Burg hinwegfliegen und dabei einen Zauber wirken, der die Rondra-Legisten daran hindert, die Zugbrücke hochzuziehen. Sodann kreise ich dreimal über der Burg. Dies gilt als Zeichen, euch bereitzumachen. Schließlich wird der Kopf des Ch’Ronch’Ra über der Burg erscheinen. Dann greift ihr an. Derh’vasdes Ch’Ronch’Ra wird bei euch sein. Beschützt ihn bis zum letzten Atemzug.« Murenius strich sich über den sorgsam gestutzten Kinnbart und sagte mit einem seltenen Anflug von Humor: »Und vergeßt bei alledem nicht, die Burg zu erobern.«

Er erzählte den Offizieren damit nichts Neues, obwohl sie ihm mit wachsender Erregung zuhörten, denn das Wesentliche hatte er diesen beiden Hauptleuten und den anderen drei mindestens schon ein halbes dutzendmal eingetrichtert. Das magische Erscheinen des Steinkopfes galt auch für die anderen Züge als Angriffssignal. Obwohl sich Murenius eine weitere Wiederholung hätte schenken können, hielt er sie für notwendig, denn sie unterstrich seine Stellung als Befehlshaber. Für die Dienersoldaten war es wichtig, daß sich die Offiziere vor der Schlacht noch einmal berieten. Und natürlich wollte Murenius ihre ungeteilte Aufmerksamkeit bei der Verwandlung erzwingen.

»Für Ch’Ronch’Ra!« verabschiedete er die Hauptleute.

»Für Ch’Ronch’Ra!« riefen die beiden begeistert und eilten zu ihren Zügen zurück.

Murenius wartete, bis sich alle Soldaten erhoben hatten und zu ihm herüberstarrten. »Priesterin!« zischte er. »Zeig, daß du mehr kannst als deine Schenkel öffnen!«

Shevanu sah ihn verärgert an, aber dann besann sie sich auf ihre Pflichten. Sie zog die Stiefel aus, legte die Waffe und das Gewand ab, nahm das Amulett mit dem Steinkopf, küßte es, legte es vorsichtig zu Boden und verneigte sich nackt in Richtung der Sänfte. Dann kniete sie vor Murenius nieder. Sie hob die Hände über den Kopf, verdrehte die Augen, schaukelte mit dem Oberkörper hin und her und begann einen monotonen Singsang. Murenius stand kerzengerade da, die Augen Shevanu zugewandt. Allmählich kam Bewegung in seinen Körper. Erst kaum sichtbar, dann deutlicher wiegte er sich im Takt mit Shevanus Körper und ihrem Singsang. Die Darbietung war mehr für die Diener gedacht, und Shevanus schaukelnde schwere Brüste lenkten ihn eher ab, als daß die Sammlung seiner Gedanken gefördert wurde. Er hob den Blick von den Brüsten und schaute in den Himmel. Er griff in sein Gewand und zog den magischen Kristall hervor, der von Ch’Ronch’Ras Altar im versunkenen Tempel stammte. Er war etwa daumengroß und in Silber eingefaßt. Auch die dünne Kette, mit der er ihn um den Hals trug, bestand aus Silber. Murenius streifte die Kette über den Hals und reckte den Kristall hoch in die Luft, damit sich das Licht der Praiosscheibe in ihm brechen konnte. Eigentlich farblos, erglühte der Kristall plötzlich in einem hellroten Licht. Ch’Ronch’Ras Kräfte bewirkten dies. Der Dienerschaft galt dies als Beweis dafür, daß die Macht Ch’Ronch’Ras größer als die von Praios war.

Eine Weile verharrte Murenius in dieser Stellung, damit sich alle von dem Wunder überzeugen konnten. Dann ließ er langsam die Hände sinken und schloß sie in Brusthöhe um den Kristall. Das rote Glühen drang durch die geschlossenen Hände hindurch, und Murenius spürte, wie sich der Kristall erwärmte. Flüchtig kam ihm in den Sinn, daß Ch’Ronch’Ra zwar Dinge zum Glühen bringen und die Wirkung eines Zaubers um ein Vielfaches verstärken konnte, aber zu keiner eigenständigen Magie fähig war. Der Gedanke befriedigte ihn. Ohne ihn – ohne einen Magier – war Ch’Ronch’Ra hilflos! Er vertrieb den Gedanken, um sich ganz auf sein Werk zu konzentrieren. Der Singsang half ihm jetzt, in Trance zu fallen. Seine Lippen bewegten sich. Tonlos, weil Shevanu zuhörte, begann er mit der Litanei des Zauberspruchs. Er spürte, wie sich das arkane Netz formte und verdichtete. Fast gleichzeitig fühlte er die Kraft Ch’Ronch’Ras, die ihn stützte und höher hinaufhob in die arkanischen Gefilde, als ihm dies allein möglich gewesen wäre.

Die Verwandlung setzte ein. Die Umrisse des Hohenpriesters flackerten und verschwammen, als wäre er eine Gestalt aus Wachs, die von einer allzu heiß glühenden Praiosscheibe geschmolzen wurde. Der rotleuchtende Kristall schien in den verbliebenen restlichen Körper des Hohenpriesters hineinzuwachsen. In gleichem Maß, wie Murenius in sich zusammenfiel, formte sich sein neuer Körper. Schwarze Federn an breiten Schwingen wurden sichtbar, krallenbewehrte Füße formten sich, der mächtige Krummschnabel eines Adlers zeichnete sich ab.

Dann war es vollbracht. Murenius breitete die riesigen Flügel aus, schlug sie mehrmals zusammen und wieder auseinander, als wollte er ihre Tragfähigkeit und die Windrichtung erkunden. Mit einem kräftigen Stoß seiner Krallenfüße stieß er sich ab, peitschte mit schnellen Schlägen die Luft und schraubte sich unter dem Jubel der Diener in die Höhe.

Er genoß das unvergleichbare Gefühl, auf den Winden dahinzugleiten. Er fühlte Kraft und Stärke. Und er spürte den Kristall, der irgendwo unter den Federn verborgen war. Die dämonischen Kräfte des Ch’Ronch’Ra durchschnitten den arkanen Raum und umgaben seinen Schützling wie eine Glocke. Als Murenius zu den am Berg kauernden Dienern hinabsah, nahmen seine scharfen Augen selbst die kleinste Einzelheit wahr, obwohl er sich bereits eine halbe Meile hoch in der Luft befand. Er erkannte sogar Shevanus Brustwarzen und ihren immer noch feuchten Lustspalt, als sie sich erhob und ihr Gewand überstreifte.

Vor Murenius lag die Burg unmittelbar am Steilufer einer weitgeschwungenen Bucht. Wer die Burg besaß, beherrschte den südlichen Zugang zum Meer und die fruchtbare Tiefebene zwischen der Bucht und der Felskette im Norden. Ein dicker Söller und drei kleinere Türme ragten auf. Im Augenblick galt Murenius’ Aufmerksamkeit allerdings nicht der Burg, sondern den Felsen im Nordwesten.

In der Ferne erspähte er die drei anderen Züge der Dienerschaft. Er flog über sie hinweg und stieß im Steilflug bis fast zu den Köpfen der Soldaten hinab, um auf sich aufmerksam zu machen. Aber sie hatten ihn längst gesehen, als er heranflog, stoben auseinander und winkten, als er wieder Höhe gewann und sich entfernte. Er sah bebaute Felder, Hütten aus Lehm und Holz, einzelne Dörfer, gelegentlich ein paar Leute auf den Feldern, zwei Baumfäller in einem Zedernwald und – den Truppen Ch’Ronch’Ras am nächsten – einige Frauen und Männer in einem Weinberg. Sie wären die ersten, die von den Dienern getötet würden. Er sah auch einige Kinder. Mit etwas Glück würden sie überleben und in die Reihen der Dienerschaft aufgenommen werden. Kinder waren am leichtesten für Magie und einen leuchtenden Steinkopf zu begeistern.

Nachdem sich Murenius der Aufmerksamkeit aller Soldaten sicher war, nahm er sich der Burg an. Er gab sich keine Mühe, den Burgbewohnern verborgen zu bleiben. Sie würden sich über den stolzen Adler wundern, der über ihnen kreiste, aber das blieb ihnen unbenommen. Selbst wenn sie ein Unheil ahnten, war es zu spät, um Vorsorge zur Verteidigung zu treffen. Murenius achtete lediglich darauf, außerhalb der Reichweite der Armbrustschützen zu bleiben, falls es einem von ihnen einfallen sollte, sich mit der Trophäe eines Adlers schmücken zu wollen.

Schon krächzte er den Blockierzauber, der für Stunden die Holzräder unbeweglich machte, mit denen die Ketten der Zugbrücke hochgezogen wurden. Es war der einzige Magierspruch, den er seinem Wissen in den letzten Jahren hinzufügen konnte. Einer halb verrückten alten Magierin, die sich kurz vor ihrem Tod den Dienern angeschlossen hatte, verdankte er diesen Spruch. Leider war das Gedächtnis der Frau so zerrüttet gewesen, daß Murenius nichts von ihrem sonstigen Wissen abzweigen konnte. Der Spruch ließ sich nur auf Holz anwenden. Wären die Räder aus Eisen gefertigt gewesen, hätte Murenius den Überfall wahrscheinlich abbrechen müssen. Allerdings war er ziemlich sicher gewesen, daß die Rondra-Legisten über keine Eisenräder verfügten. Ein darbendes kleines Inselreich, das seine kargen Überschüsse zusammenkratzte, um die allernotwendigsten Werkzeuge und Waffen zu kaufen, besaß mit Sicherheit keine Eisenräder. Sollte es einst derlei Gerät gegeben haben, dann war es längst eingeschmolzen worden.

Die Burg befand sich in tadellosem Zustand. In den Mauern, welche die vier Außentürme miteinander verbanden, fehlte kein Stein. Der Hof mit einer Anzahl von hohen, schmalen, verwinkelten, spitzgiebeligen Gebäuden wirkte aufgeräumt. Das wuchtige viereckige Gebäude in der Mitte der Anlage sah mit seinen schmalen Fenstern und den Zinnen wie eine Festung in der Festung aus. Die Zugänge zu den Wehrgängen und die Wehrgänge selbst waren gegen feindlichen Pfeilhagel überdacht, die Treppen und die Wehrgänge wiesen keine morsche Stelle auf. Sorgsam eingepaßtes Frischholz wies darauf hin, daß die Yongustraner schadhafte Bretter und Bohlen beizeiten gegen neue austauschten.

Dies alles erspähte Murenius, und er war höchst zufrieden damit. Die Diener wären nicht in der Lage, die Burg zu erobern, wenn die Zugbrücke hochgezogen würde. Sie führten weder Rammböcke noch Katapulte oder anderes schweres Gerät mit sich, um sich den Zugang zu erzwingen, und für eine Belagerung fehlte es Murenius sowohl an Nachschub als auch an Geduld. Aber es lag ihm auch daran, nach all den Jahren des Versteckens endlich ein wehrhaftes Quartier, eine Trutzburg, eine erste Hauptstadt der Dienerschaft in die Hand zu bekommen, von wo aus die weiteren Eroberungen geplant und eingefädelt werden konnten. Um die Burg der Rondra-Legisten in die Hand zu bekommen, lohnte es alle Mühe. Die verbohrten Kultisten begriffen ihre Burg als letzte Bastion gegen den Namenlosen, und sie taten offensichtlich alles, damit diese Bastion drohend und abweisend wirkte und bestens in Ordnung gehalten wurde.

Murenius entdeckte, daß auf jedem der Türme mehrere Wachen postiert waren und daß sich auf dem Burghof mindestens zwanzig gerüstete Kämpfer übungshalber miteinander maßen. Sie benutzen Holzschwerter, während die echten Waffen nahebei in Holzgestellen hingen. Dies alles scherte Murenius nur wenig. Daß die Rondra-Legisten wachsam, wehrbereit und in den Waffenkünsten erprobt waren, wußte er. Er konnte weder davon ausgehen, daß sie sich überrumpeln ließen, noch daß sie sich kampflos ergaben. Das war aus Murenius’ Sicht auch nicht erwünscht. Die Diener sollten sich im Kampf beweisen. Wohlan, sie bekamen einen fähigen Gegner! Was sie daraus machten, mußten die Soldaten selbst entscheiden.

Einige Männer und Frauen, die den Übenden zusahen, blickten nach oben und zeigten auf den Adler. Die Kämpfer hielten inne und schauten ebenfalls herauf. Eine grauhaarige Frau, die offenbar den Kampf beaufsichtigt hatte, erteilte einen Befehl.

Murenius beachtete weder sie noch die Gaffer. Er schraubte sich steil nach oben, hoch genug, daß er sowohl von den Dienern im Nordosten als auch von denen im Nordwesten gesehen wurde.

Die Zeit für den Kampf war gekommen. Murenius konzentrierte sich auf den Kristall und leitete den Zauber der Magica Phantasmagorica ein. Flüchtig erinnerte er sich daran, wie er diesen Zauber vor Jahren auf dem Meer angewandt hatte, um die Schiffe des Praefos Piraten-Phantome jagen zu lassen. Der Zauber war ihm in Vollendung gelungen. Alle hatten die Schiffe gesehen und an ihr Vorhandensein geglaubt, von der gerissenen Kapitänin Chelchia einmal abgesehen, der merkwürdige Einzelheiten an den Piratenschiffen aufgefallen waren, die Murenius anderen Schiffen nachempfunden hatte. Der Zauber war gut gewesen – nur der Rest des Plans war leider mißlungen.

Heute war die Aufgabe noch einfacher. Das Phantombild erfüllte einzig und allein den Zweck, das Signal zum Angriff zu geben. Murenius hätte genausogut zurückkehren und persönlich den Befehl erteilen können. Aber das Phantombild war besser. Es würde den Dienern noch einmal die Macht ihres Gottes veranschaulichen – eigentlich die Macht ihres Hohenpriesters, was er bei Gelegenheit klarstellen wollte. Und was konnte sie besser dazu zu bringen, ihr Letztes zu geben, wenn das Antlitz ihres Gottes, der Steinkopf des Ch’Ronch’Ra, übergroß am Firmament unmittelbar über der Burg des Feindes erschien? Murenius wußte, daß sein Einfall vorzüglich war. Solche Einfälle hatte nur jemand, den man als den einzig wahren und würdigen Führer der Dienerschaft bezeichnen konnte und der diese Rolle früher oder später auch in alleiniger Würde für sich beanspruchen würde.

Der Kristall verstärkte die Fäden seines eigenen arkanen Netzes mit denen von Ch’Ronch’Ra. Aus dem Nichts erschien fünfzig Schritt über der Burg der leuchtende rote Steinkopf des Ch’Ronch’Ra, hundertmal hundert Schritt groß, ein Echsenhaupt mit glühenden Augen unter riesigen Augenwülsten, wundersam, unerklärlich, beängstigend greifbar, machtvoll und drohend.

Murenius, der sich noch inmitten der Luftwirbel befand, aus denen sich der Kopf geformt hatte, flog mit harten Flügelschlägen aus dem Kopf heraus und betrachtete sein Werk. Der Magiekundige erkannte am Flimmern der Luft, daß es sich um ein Truggebilde handelte, um eine Schimäre. Jeder andere jedoch mußte angesichts dieser drohenden Erscheinung um den Verstand fürchten. Erst allmählich, wenn sich herausstellte, daß die Erscheinung nichts weiter tat als zu glühen, würde der Schreck abflauen.

Murenius war von seinem eigenen Werk beeindruckt. Sobald Ch’Ronch’Ra entbehrlich und ins Dämonenreich zurückgeschickt worden wäre, wollte er Steinköpfe an verschiedenen Orten in Aventurien erschienen lassen, um den Dienern neue Anhänger zuzuführen. Dies jetzt schon zu tun, war ihm von Ch’Ronch’Ra untersagt worden. Denn wieder einmal schien der Dämon zu fürchten, mit derart auffälligen Phantombildern andere dämonische Mächte auf den Plan zu rufen, denen er nicht gewachsen war. Murenius hatte keine Angst vor solchen Mächten, und sie würden ihm gewiß keine Aufmerksamkeit schenken, wenn Ch’Ronch’Ra nicht mehr im Spiel war. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, mit Ch’Ronch’Ras Steinkopf zu werben, wenn der Dämon selbst seinen Steinkopf längst verloren hatte.

Aus der Burg drangen vielstimmige Schreckensschreie zu Murenius herauf. Erstaunlich schnell wurden die Schreie jedoch von herausgebrüllten Befehlen überlagert. Offenbar hatten die Führer der Rondra-Legisten das Erscheinen des Echsenkopfes als das begriffen, was er war: als Lug und Trug. Aber auch als Signal, daß die letzte Schlacht, auf die sie sich so lange vorbereitet hatten, endlich geschlagen wurde. In ihren Augen konnte es nur der Namenlose sein, der, aus welchen Gründen auch immer, einen Echsenkopf wählte, um seine Horden an die letzte Bastion heranzuführen.

Von den Hügeln im Nordwesten und Nordwesten wehte ein brausendes »Für Ch’Ronch’Ra!« heran, das sich an den schroffen Felsen brach, zurückhallte und ein um das andere Mal von den Dienern wiederholt wurde. Die fünf Züge der Diener strömten in das Tiefland – in der Ferne die drei Züge, die sich aufteilten und über die Landbevölkerung herfielen, nahebei die beiden Züge, die wild entschlossen auf die Burg zustürmten.

Das Angriffsgeschrei hatte die Verteidiger in ihrer Überzeugung bestärkt, daß die Horden des Namenlosen heranrückten und die letzte Schlacht angebrochen war. Die letzten Angstschreie verstummten, und ein vielstimmiges, nicht minder ekstatisches »Für Rondra!« rollte den Angreifern entgegen.

»Für die Zwölfgötter!« schrie einer der Rondra-Legisten, und auch dieser Ruf wurde begeistert aufgenommen. »Gegen den Namenlosen!« war der nächste Kampfruf der Verteidiger, der aus knapp hundert Kehlen wiederholt wurde, bis man sich wieder auf »Für Rondra!« einigte.

Murenius war verärgert über diese Entwicklung, die er nicht vorausgesehen hatte. Das Bild des Steinkopfes sollte die Diener anstacheln und nicht die Rondra-Legisten. Der Kampf würde härter werden, als dies vorauszusehen gewesen war. Irgendwelchen fremden Eroberern hätten sich die Reste der Yongustraner vielleicht ergeben, wenn sie gesehen hätten, daß die Sache aussichtslos stand. Aber der Glaube, es mit den Horden des Namenlosen zu tun zu haben, würde jeden Rondra-Legisten zum Äußersten treiben, und er würde lieber sterben, als diesen Horden nachgeben.

Nun gut, dann sterbt, ihr verdammten Kultisten. Ihr könnt uns nicht aufhalten! Ihr glaubt an Rondra, doch sie wird euch nicht helfen. Aber wir führen unseren ›Gott‹ mit uns! Jeder einzelne unserer Kämpfer hat ihn gesehen, seinenh’vasberührt und dabei zugeschaut, wenn unser ›Gott‹ die Priesterin vögelte. Was habt ihr zu bieten?

Innerlich aufgewühlt, flog Murenius durch das Phantombild und vergewisserte sich, daß sein anderer Zauber in gleichem Maß Wirkung zeigte. Er gewann sein inneres Gleichgewicht zurück, als er sah, wie ein halbes Dutzend Geharnischte ohne Erfolg versuchte, die Räder der Zugbrücke zu drehen. Er lachte, und aus dem Schnabel des Adlers drang ein heiseres Krächzen.

Ihr habt nur euren Irrglauben und eure Muskeln. Doch die Dienerschaft hat den Magier Murenius. Gegen ihn kommt ihr nicht an!

Murenius wandte sich seinen Truppen zu. Um die drei Züge, die aus Nordosten angriffen, machte er sich keine Sorgen. Obwohl sie die größere Zahl an Feinden überwinden mußten, hatten sie den Vorteil, auf keine ausgebauten Verteidigungsstellungen zu stoßen. Wie Murenius es nicht anders erwartet hatte, bewahrten die Bauern, Fischer und Viehzüchter ihre Waffen und Rüstungen in den Hütten und Häusern auf. Die ersten Yongustraner wurden in den Weinbergen und auf den Feldern niedergemetzelt, bevor sie sich rüsten konnten. Aber auch jene, denen es gelang, zu ihren Waffen zu gelangen, standen einer Übermacht gegenüber, der sie nicht gewachsen waren. Erst allmählich sammelten sich die Bewohner des burgnahen Geländes zu größeren Gruppen. Sie verschanzten sich in größeren Gehöften oder stellten Kolonnen zusammen, die sich den Angreifern entgegenwarfen. Befriedigt stellte Murenius fest, daß die Yongustraner die Verteidiger der Burg nicht zu verstärken versuchten. Offenbar vertrauten sie darauf, daß die Burg dem Ansturm auch ohne sie gewachsen war. Daß die Zugbrücke ihren Dienst versagte, fiel in der allgemeinen Verwirrung nicht auf. Und wer sich darüber wunderte, daß sie noch nicht hochgezogen worden war, hatte Dringenderes zu tun, als diesem Rätsel nachzugehen.

Als Murenius über seine Nordosttruppen hinwegflog, sah er, daß die Diener verbissen kämpften und nicht müde wurden, »Für Ch’Ronch’Ra!« zu brüllen und vorwärts zu eilen. Aber wer immer sich ihnen in den Weg stellte, tat es mit der gleichen Inbrunst und einem »Für Rondra!« auf den Lippen. So gut die Diener auch kämpften, selbst ältere Männer und Frauen oder sogar Kinder hatten ihnen jahrelange Übungen mit Schwert, Spieß oder Langbogen voraus. Fast immer waren vier oder fünf Diener nötig, um einen einzigen Yongustraner zu töten. Und oft genug gelang es dem Unterlegenen, sich lange genug der Hiebe und Stiche von allen Seiten zu erwehren, um auch einen oder zwei der Diener niederzustrecken. Die Nordosttruppen kamen langsamer voran, und die Verluste waren höher, als Murenius dies erwartet hatte. Aber sie folgten den Anweisungen, die Murenius ihnen erteilt hatte, und kämpften sich Hof für Hof zur Burg vor.

Der Adler verließ den Nordosten und kehrte zur Burg zurück. Die beiden Züge, die von Westen aus angriffen, stürmten der Burg entgegen. Auch hier durchbrausten auf beiden Seiten wilde Kampfrufe die Luft. Einige Bauern stellten sich den Dienern entgegen, wurden jedoch von der Übermacht niedergemetzelt. Die Vorhut des ersten Zugs hatte die Zugbrücke erreicht und wurde von einem Pfeilhagel der Verteidiger begrüßt. Fünf oder sechs Diener fielen. Noch einmal so viele wurden zu Boden gestreckt, als der nächste Pfeilhagel niederging. Doch inzwischen hatte der Pulk beider Züge das Tor erreicht und drosch auf die dort versammelten Verteidiger ein. Murenius entdeckte am Rand des Kampffeldes die Eskorte desh’vas.Die Träger hatten die Sänfte abgestellt, und derh’vasbeugte sich heraus. Mit rotglühenden Augen verfolgte Ch’Ronch’Ra das Kampfgeschehen. Die Soldaten der Eskorte schirmten ihn so gut wie möglich ab und wehrten mit ihren langen Schilden einige verirrte Pfeile ab, die von den Zinnen der Burgmauer heranflogen.

Mißmutig sah Murenius, daß der Kampf hin und her wogte, ohne daß es den Dienern gelang, die Verteidiger am Tor zu überwinden. Jetzt schickten sich die Randra-Legisten sogar an, mit zwanzig Kämpfern einen Ausfall zu versuchen. Hinter ihnen versammelten sich weitere Kämpfer, um die dadurch entstehenden Lücken auszufüllen. Murenius fluchte.

Plötzlich ertönte am Rand des Kampffeldes ein seltsamer, wilder, krächzender Schrei. Murenius sah, daß derh’vasdes Ch’Ronch’Ra aus seiner Sänfte sprang, einem Soldaten seiner Eskorte den Säbel aus der Hand riß und damit wild in der Luft herumfuchtelte. Rote Funken schienen aus seinen Augen zu sprühen. Dann stürmte er voran, das purpurrote Gewand wie eine Fahne gebläht, mitten hinein in die Stoßrichtung des Feindes, dessen Soldaten aus dem Tor quollen. Derh’vas,den Murenius noch nie hatte kämpfen sehen und dem er den Gebrauch keines anderen Säbels als seines Lustgebeins zugetraut hatte, drosch wie rasend um sich, schlug hier einen Kopf ab und kerbte dort einer Yongustranerin die Brust ein, daß das Blut in hohem Bogen hervorsprudelte. Wie es aussah, hatte sich Ch’Ronch’Ra in einen Blutrausch hineingesteigert, der durch nichts aufzuhalten war. Sorgenvoll sah Murenius aus luftiger Höhe zu, wie derh’vasim dicksten Getümmel um sich hieb und schon den vierten Feind niederstreckte. Er fürchtete um das Leben desh’vas,aber im Augenblick sah es so aus, als könne dieser für sich allein sorgen. Den Soldaten seiner Eskorte blieb gar nichts anderes übrig, als ihrem Herrn zu folgen und mit der gleichen Verbissenheit auf die Feinde einzuschlagen.

Im Nu färbte sich das Holz der Zugbrücke rot. Mehr als die Hälfte der Rondra-Legisten, die den Ausfall gewagt hatten, lag bereits enthauptet, erschlagen oder schrecklich verstümmelt auf den Bohlen aus Zedernholz. Die Vorwärtsbewegung der Yongustraner brach sich an der Phalanx der Diener um denh’vas.Drei weitere Verteidiger sackten zusammen, und der abgetrennte Arm eines vierten flog in hohem Bogen durch die Luft, streifte den Rand der Zugbrücke und fiel in den Burggraben. Trotzdem wichen die überlebenden Verteidiger keinen Fingerbreit zurück, teilten nach Kräften aus und wurden nicht müde, »Für Rondra!« oder »Gegen den Namenlosen!« zu schreien.

Es half ihnen nichts. Dem letzten Verteidiger der Zugbrücke wurden fast gleichzeitig der Kopf, ein Arm und ein Bein abgetrennt, und gurgelndes Blut spritzte aus den schrecklichen Wunden des Torsos.

Wieder stieß derh’vasdes Ch’Ronch’Ra einen Schrei aus, diesmal so schrill, daß er allen in den Ohren gellte. Dann stürmte er an der Spitze seiner Soldaten zum Burgtor. Die Diener mußten über die Körper der Toten hinwegklettern, und die Bohlen der Zugbrücke waren glitschig von Blut und herausgerissenen Eingeweiden. Eine Soldatin rutschte aus, schlug nach hinten und wurde von dem Speer eines hinter ihr Heranstürmenden aufgespießt. Ein junger Diener griff sich an die Brust, wo ein Armbrustbolzen dicht unter dem Herzen eingedrungen war, und kippte von der Zugbrücke ins Wasser. Aber der Rest der Diener ließ sich nicht aufhalten. Derh’vasund seine Eskorte lichteten die Reihen der Verteidiger am Tor, und endlich war der Durchbruch geschafft. Knapp achtzig Soldaten stürmten mit ›Für Ch’Ronch’Ra!‹-Rufen durch das Tor in den Burghof. Aus den verschiedenen Gebäuden eilten weitere Verteidiger herbei, und von den Wehrgängen sowie aus dem wehrhaften Hauptgebäude flogen Pfeile und Lanzen heran. Es schien jedoch, als sei die entscheidende Wende der Schlacht geglückt. Derh’vasdes Ch’Ronch’Ra tötete fünf weitere Feinde und schien gegen alle Angriffe gefeit zu sein. Tatsächlich hatte er bisher kaum eine sichtbare Schramme davongetragen. Murenius fragte sich, ob Ch’Ronch’Ra sich darauf verstand, seinenh’vasdurch magische Kräfte zu schützen, entdeckte dafür jedoch keine Anzeichen. Vermutlich war derh’vasmit seiner Metzelei nur deshalb so erfolgreich, weil ihn Ch’Ronch’Ra so gnadenlos antrieb wie bei den rituellen Begattungen. Die Soldaten der Eskorte taten ihr Bestes, dem Beispiel ihres Herrn gerecht zu werden. Die nachrückenden Diener stürmten die ersten Wehrgänge und kämpften mit den Verteidigern, die sich dort eingenistet hatten. Der Burghof füllte sich mit den Leichen gefallener Yongustraner und Diener. Finger um Finger, Spann um Spann, Schritt um Schritt vergrößerten die Diener ihren Herrschaftsbereich und brachen schließlich in das Hauptgebäude ein, wo sich die letzten Verteidiger verschanzt hatten.

Wie Murenius befürchtet hatte, ergab sich auf der Burg nicht ein einziger Yongustraner, und es kostete allein zehn Dienerleben, um die letzten vier Feinde im Hauptgebäude zu besiegen.

Draußen näherten sich die ›Für Ch’Ronch’Ra!‹-Rufe der Truppen, die das freie Land säuberten. Murenius in seiner Adlergestalt stieg höher und sah, daß sich auch hier der Sieg abzeichnete. Man hatte vereinzelt sogar einige Gefangene, zumeist kleine Kinder oder Verletzte, gemacht und trieb sie zusammen.

Als Murenius zur Burg zurückkehrte und sich auf einer Zinne niederließ, war dort endlich Ruhe eingekehrt. Zum Jubeln waren die überlegenen Diener zu erschöpft. Kaum mehr als die Hälfte der Dienersoldaten hatte den Kampf überlebt. Einige waren dabei, die eigenen Wunden oder die ihrer Kameraden notdürftig zu versorgen.

Der Blutrausch des Ch’Ronch’Ra war gestillt. Erschöpft, mit stierem Blick, in dem nur ein Abglanz des roten Funkeins zu sehen war, hockte derh’vaswie ein Geier auf dem Körper eines erschlagenen Feindes. Er atmete schwer, und der Säbel war ihm aus der Hand gerutscht.

Murenius hüpfte von der Zinne. Kaum beachtet von den Dienern im Burghof, murmelte er den Zauberspruch, der die Rückverwandlung bewirkte. Die Adlergestalt schwand dahin, Murenius nahm wieder seinen angestammten Körper an. Er schob den Kristall unter das Gewand, strich den schwarzen Samt mit der dunkelroten Einfassung glatt und stieg in den Burghof hinab. Aus dem Augenwinkel erblickte er Shevanu, die gerade durch das Burgtor schlenderte. Ihre Stiefel waren blutverschmiert, weil sie über die Leichen hatte hinwegsteigen müssen, aber ansonsten sah sie nicht so aus, als hätte sie sich am Kampf beteiligt. Als Priesterin war dies auch nicht ihre Aufgabe, ebensowenig wie die des Hohenpriesters.

War es die Sache wert?fragte sich Murenius.Unsere Kräfte sind halbiert, wenn es bei den anderen Zügen genauso aussieht wie hier. Wir mußten einen hohen Blutzoll zahlen. Es wird Jahre dauern, bis wir wieder stark genug sind, um Ghurenia anzugreifen. Und das alles nur, um eine einzige Burg auf einer kargen Insel zu erobern.

Hatte er zuviel erwartet? Den Dienern war kein Vorwurf zu machen. Sie hatten alles gegeben. Und doch glaubte Murenius nicht, daß sie ohne das Eingreifen des tollwütigenh’vas,der die letzten Kräfte eines jeden zu wecken verstand, die Burg an sich gebracht hätten.

Zu stark war der Feind gewesen; zu inbrünstig hatte er an die eigene Sache geglaubt.

In Ghurenia wird es einfacher sein. Die Söldner sind nicht mit dem Herzen dabei, und jene, die man zusätzlich zu den Waffen preßt, hassen den Praefos.

Plötzlich ertönte ein gurgelnder Schrei, so peinvoll und schrecklich, wie ihn Murenius nie zuvor in seinem Leben gehört hatte. Alle, die ihn hörten, erstarrten, drehten sich ruckartig um oder sprangen auf.

Derh’vasdes Ch’Ronch’Ra hatte den Schrei ausgestoßen. Der Körper in dem blutbesudelten Purpurgewand hatte sich halb von der Leiche des erschlagenen Feindes erhoben, die Augen schienen ihm aus dem Kopf zu quellen, die Zunge hing ihm unnatürlich lang zwischen den Lippen. Dann ergoß sich ein Sturzbach aus Schleim und Blut aus Mund und Nase; der Körper zuckte krampfhaft und brach wie ein gefällter Baum zusammen.

Murenius spürte, wie sich ein fremdes, schmieriges Etwas mitten in seinen Geist hineinschob und sich ausbreitete. Entsetzt versuchte er zurückzuweichen, aber niemand kann vor sich selbst und in sich selbst zurückweichen.

Derh’vasist verbraucht,sagte Ch’Ronch’Ra.Besorge mir denh’h’vas.Bis du ihn gefunden hast, werde ich dich als meinenh’vasbenutzen.

»Aber… aber du bist auf meine Fähigkeit angewiesen! Die Dienerschaft…«, stammelte Murenius.

Ich werde dich nur von Zeit zu Zeit benutzen, wenn es notwendig ist,teilte ihm Ch’Ronch’Ra mit.Und ich werde mir Mühe geben, deinen Geist nicht zu zerstören.

2. Kapitel

In Ghurenia

Mit gemächlicher Fahrt näherte sich die Karavelle dem Kai. Alle Segel waren gerefft. Die Restfläche und die hohen Aufbauten des Schiffes genügten dem Wind, um das Schiff gegen die schwache Uferströmung voranzutreiben. Auf dem Vorderkastell stand eine Matrosin mit einem Puffer aus Tauwerksresten, um den Druck auf das Schanzkleid zu mindern, sobald das Schiff mit der Kaimauer in Berührung kam. Weitere Matrosen machten sich auf dem Mittel-und Achterdeck bereit, Taukugeln oder Reisigbündel für den gleichen Zweck einzusetzen. Ein dicker kleiner Mann mit einem breitkrempigen dunklen Hut und einem dunkelroten Wams rief kurze, knappe Befehle in die eine oder in die andere Richtung. Die meisten Befehle galten der breitschultrigen Rudergängerin, die neben ihm stand und das schwere Steuerrad mit mächtigen Fäusten umklammert hielt, als wolle sie mit ihm ringen.

Ärgerlich stieß Canja Murenbreker einen Lastenträger zur Seite, der sich müßig an ihr vorbeigeschoben hatte und ihr die Sicht versperrte. Der Mann fuhr mit geballten Fäusten herum, die Augen im weingeröteten Gesicht zu schmalen Schlitzen verengt. Als er die Kaufherrin erkannte, ließ er jedoch schnell die Fäuste sinken, murmelte eine Entschuldigung und machte sich eilig davon.

Canja hatte den Mann nicht weiter beachtet. Niemand, der seine fünf Sinne beisammen hatte, hätte es gewagt, sie hier am Kai anzugreifen. Und wäre es doch jemandem in den Sinn gekommen, standen hinter ihr Bela, die Vorfrau der Stauer, und einige weitere Leute bereit, solche Tollkühnheit mit Dresche zu belohnen. Canja suchte das Deck derVumachanab, hatte bis jetzt aber nur Seeleute entdeckt.

Holz ächzte, und Tauwerk quietschte, als sich das Vorschiff gegen die Kaimauer drückte. Matrosen mit wettergegerbten Gesichtern warfen Leinen zum Kai, die von den Hafenknechten aufgefangen und an dämonenköpfigen Bronzepollern festgemacht wurden. Ein schwerer Geruch nach Teer, Ongel und Harpüse stieg Canja in die Nase, als das Schiff zur Ruhe kam und hoch über dem Kai vor ihr aufragte.

Im Niedergang des Achterkastells tauchte eine runde, schwarze, mit kleinen Edelsteinen geschmückte Samtkappe auf. Die Steine glitzerten im Licht der Praiosscheibe und sahen auf dem schwarzen Samt wie winzige Sterne aus. Unter der Kappe befanden sich eine hohe Stirn, eine markante, leicht gekrümmte Nase, ein breiter Mund und freundliche graublaue Augen, in deren unermeßlichen Tiefen Weisheit, Verständnis und alle Wunder Aventuriens geborgen zu sein schienen. Schneeweißes schulterlanges Haar rahmte das Gesicht ein, und ein üppiger, sorgsam gezwirbelter Schnauzbart von der gleichen Farbe gab dem Gesicht eine besondere Note. Der Mann stieg weiter die Treppe hinauf, während sein Blick suchend über den Kai glitt. Schmale Schultern steckten in einer derben Lederjacke, enganliegende Bundhosen und bis zu den Knien reichende Stiefel bedeckten einen schlanken, beinahe asketisch wirkenden Körper. Obwohl die Last der Jahre die Schultern ein wenig gebeugt hatte, strahlte dieser Körper noch immer etwas Stolzes und Erhabenes aus.

Canjas Herz schlug schneller. Sie hatte Valerion sofort erkannt. Schon die Kappe ließ kaum einen Zweifel daran. Er trug sie, solange sie zurückdenken konnte. Nur angesichts der weißen Haare hatte sie einen Moment lang gezögert. Als sie Valerion zuletzt gesehen hatte, war sein Haar noch blond gewesen.

Was hast du erwartet? Auch an dir sind die Jahre nicht spurlos vorübergegangen.

»Valerion!« rief sie, winkte mit beiden Armen und hüpfte wie ein kleinen Mädchen auf und ab. »Kaufherr Valerion Costald! Hier bin ich!«

Valerion sah zu ihr herüber und erstarrte. Ergriffenheit breitete sich auf seinen Zügen aus. Der Blick seiner Augen schien durch sie hindurchzugehen, als sähe er einen Schemen, vielleicht die junge Frau, die sie einmal gewesen war. Oder war es einfach nur ein Augenblick der stillen Einkehr, eine stumme Zwiesprache mit den Zwölfgöttern, ein überschwenglicher Dank, daß sie ihm diesen Augenblick des Wiedersehens gewährt hatten? Dann verschwand der unwirkliche Ausdruck aus seinen Augen. Valerion winkte zurück. »Canjana!« rief er mit rauher, beinahe krächzender Stimme und gebrauchte dabei das alte Kosewort aus der Zeit, als sie noch als kleines Mädchen auf seinem Schoß gesessen hatte.

Ein Ausdruck tiefempfundener Freude und Güte lag in seinen Augen, als die Blicke der beiden miteinander verschmolzen. Canja spürte, wie es sie durchrieselte. Ihr war zum Heulen zumute, und sie wußte auch, woran es lag. Seit Mirios Tod gab es in Ghurenia keinen Menschen mehr, zu dem sie mit tiefem Respekt, Vertrauen und Bewunderung aufblicken konnte. Einen Menschen, mit dem sie sich austauschen konnte. Jetzt gab es wieder jemanden, wenn auch nur für einige wenige Monde. Sie hatte nicht gewußt, wie sehr sie sich tief im Innern nach einem solchen Menschen gesehnt hatte.

Die Kaufherrin nahm sich zusammen und wurde äußerlich wieder zu der kühlen, befehlsgewohnten Frau, die sich in einer rauhen Welt zu behaupten wußte. Sie sah zu, wie der Hafenmeister seine Knechte scheuchte, als sie sich seiner Meinung nach zu langsam bewegten und zu ungeschickt mit den schweren Holzleitern anstellten. Endlich war die erste der Leitern über das Schanzkleid derVumachangewuchtet und vertäut worden. Mit mürrischer Miene stieg der Hafenmeister die Leiter hinauf, gefolgt von seinem schwergewichtigen Gehilfen. Der Hafenmeister, ein Mann mit derben Zügen und nicht minder derben Muskeln, sah nicht so aus, als würde er sich dumme Redensarten lange anhören. Anders der tolpatschige Gehilfe, dessen Gesicht, rund und stoppelbärtig, sowohl Einfalt als auch Wichtigtuerei ausdrückte. Sogleich mußte er sich den Spott einiger Matrosen und Matrosinnen anhören.

»He, he, fette Landratte, dich möchte ich mal in den Wanten sehen!«

»Bei Efferd, wenn der Kerl den Fuß an Bord gesetzt hat, hängen seine Arschbacken immer noch auf dem Kai.«

»Furz uns bloß nicht in die Segel, sonst reißen die Leinen, und wir finden uns auf hoher See wieder.«

»Hast du deine Hose bei Omar dem Zeltmacher anfertigen lassen?«

»Einen Mond lang den Fraß von unserem Bordkoch, und du kannst deinen Arsch wieder von deinem Gesicht unterscheiden.«

Der Dicke ließ es über sich entgehen und folgte seinem Meister an Deck. Die Erste Steuerfrau tauchte auf, machte dem Gejohle mit einem geknurrten Befehl ein Ende und verschwand mit den beiden Männern unter Deck, um ihnen zu erklären, was mit der Ladung zu geschehen habe.

Inmitten des Trubels hatte Kaufherr Costald dem kleinen Mann mit dem großen Hut, bei dem es sich um Kapitän Meraldus handelte, einige Anweisungen erteilt. Dann sprach er kurz mit einer sehnigen jungen Frau mit harten Zügen, die ein Kurzschwert im Gürtel führte. Die Frau nickte und verschwand unter Deck.

Costald gestikulierte in Canjas Richtung. Dann formte er die Hände vor dem Mund zu einem Trichter, um sich über das Stimmengewirr hinweg verständlich zu machen. »Hab noch ein wenig Geduld, Canja. Man bringt mir mein persönliches Gepäck.«

Wenig später kehrte die Bewaffnete zurück. Hinter ihr plagten sich zwei Schiffsknechte mit einer sperrigen Seekiste. Die beiden kräftigen jungen Männer trugen Beile und Dolche. Eine ältere Tulamidin mit einer nach rituellen Mustern geflochtenen strengen Haartracht bildete den Abschluß der kleinen Gruppe. Sie trug einen Säbel, dessen Scheide mit einem ledernen Kreuzband auf den Rücken geschnallt war. Die Muskeln, der federnde Gang und die wachsamen Augen der Frau machten deutlich, daß sie die Waffe nicht als Schmuckstück durch die Gegend führte.