DSA 25: Steppenwind - Niels Gaul - E-Book

DSA 25: Steppenwind E-Book

Niels Gaul

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Beschreibung

»Flyrijas«, den Geschwätzigen, so nennen die Leute von Bjaldorn den Wind aus der Steppe. Dem Kundigen erzählt er vielerlei: Im Frühling liegt der Duft des Tauwassers darin; im Sommer der würzige Geruch von blühendem Gras und firunwärts ziehenden Karenherden; von hitzigen Gewittern und trockenem Heu im Herbst. In diesem Winter aber, da Borbarad, der verfluchte Dämonenmeister nach Aventurien zurückgekehrt ist, schmeckt der Steppenwind nach Brand und Mord ...

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Titel

Niels Gaul

Steppenwind

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses Spiele Band 25

Aventurien-Karte: Ralph HlawatschE-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright © 1995, 2013 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE,MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 3-453-11954-1 (vergriffen) E-Book-ISBN 978-3-86889-878-1

1. Kapitel

Kunde aus Bjaldorn

Beilunk, Anfang Rondra 1020

Ayla wandelte ruhelos auf dem Bergfried von Bei­lunk. Der Sporn ihrer Stiefel sang hell auf dem glatten Stein; sie zählte sieben Schritte von Brüstung zu Brü­stung. So wie einst in sieben Schlägen Ingerimms Hammer Malmar Siebenstreich gehämmert hat, dach­te sie, die Götterschwinge aus Titanium, dem glü­henden Gigantengold. Ihre Gedanken verloren sich, als sie den eigenen Schritten lauschte, und einen Wimpernschlag lang wünschte Ayla, der Erzheilige Geron möge aus dem Paradies herabsteigen oder Leomar von Barburin aus seinem Wachenden Schlaf erweckt werden, um Siebenstreich, den Sulvodorn, wie eine Sense widerseineScharen zu führen, die mordlüstern die Lande verheerten:

So gleißet die KlingeAus Alverans Esse –Von Göttern gegürtet,Von Praios gepriesen Mit Mythraels Macht –Wie Sulvo der Stern,Wenn Ingrimms und RondrasEntfesselter ZornDen Recken beseelen,Der Siebenstreich schwingt.

Ayla erbebte, als die Erinnerung an den Rausch des Kampfes sie warm durchflutete – für einen Augen­blick pochte ihr Herz vernehmlich gegen das kühle Kettengewand. Dann aber verflog die selige Vision, und eine kribbelnde Kälte umzüngelte ihre bloßen Arme und Beine (wohin Kettenzeug und Wappen­rock nicht reichten, denn im Sommer pflegte sich Ay­la in leichte Gewandung zu kleiden) wieder so jäh und erbarmungslos wie die Flammen eines Scheiter­haufens. Die Sorgen, so schien ihr, machten sie mitt­sommers frösteln.

Geron der Einhändige hat mit der Linken allein sieben namenlose Ungetüme mit dreißig Hieben be­zwungen, dachte sie, und heute erschlägt eine Krea­tur der Niederhöllen siebzig Geweihte wie räudige Köter auf einen Streich. Konnte die Göttin Ihren Zorn grausamer bekunden? Kor hämischer Seinen Miß­mut? Rauh klommen die alten Worte die Kehle her­auf:

»Ihr himmlischen Helden,Einst bebten GigantenVom Glanz eurer Macht –So sungen die AltenVon euren Gewalten ...So flehen die Jungen ...Von Sehnsucht durchdrungen ...Den Segen des Sieges ...«

Weiterzusingen vermochte Ayla nicht, ein Zittern lähmte ihre Lippen; so nahm sie die einsame Wande­rung wieder auf. Da düstere Ahnungen sie quälten, glichen die Bewegungen der Marschallin denen einer müden Löwin; unter ihrer Haut spielten die Muskeln und Sehnen bei jeder Bewegung geschmeidig wie bei jener Katze. Und wie das Fell einer erschöpften Lö­win struppig vom Körper absteht, fiel Aylas Haar nicht in weichen Locken, sondern wehte ihr wirr ums Haupt. Die Wangen glänzten bleich wie von kaltem Schweiß und wölbten sich zugleich düster ein. Kein rötlicher Hauch wollte sich darauf stehlen, obzwar die Meeresbrise steif über die Brüstung strich und frisch ihr Antlitz streifte.

Ayla wandelte allein; nur ihr steter Schritt war zu hören. Vom Hof drang kein Laut herauf, der das Klir­ren der Sporen auf dem Stein übertönt hätte. Zu die­ser Stunde saßen Edelinge und Gesinde in der großen Halle zu Tisch beisammen, speisten und zechten. Der Marschallin des Hohebundes aber war nicht nach Ge­sellschaft zumute, einsam sollte sie ihre düsteren Ge­danken wälzen, dies war die Last des Goldenen Helms. Fürwahr, sie fror darob im frühen Rondra wie an einem Wintertage!

Der Türmerin, die zur Wacht auf der Wehr einge­teilt gewesen war, hatte sie knapp befohlen, sich zu entfernen. Singe und lache, solangeseinSchatten nicht auf dein Herz fällt. Die junge Frau hatte er­schrocken gelächelt; sie sehnte sich nach der Halle, wo die Spielleute mit dunkler Stimme Lieder von Helden und Schlachten zu Gehör brachten und die Pagen süßen Wein aus kristallenen Karaffen und dunkles Bier aus den Bingen von Lorgolosch in Glä­ser und Becher füllten.

Ayla verharrte abermals und trat auf die hölzerne Schwelle am Fuße der Zinnen. Darunter lagen die Pechnasen und Falluken versteckt, durch die die Frauen und Mannen der Burg im Krieg kochendes Pech auf die anstürmenden Feinde gössen. Bald schon würden die schwarzen Löcher vielleicht gierig und schmatzend in die Tiefe speien, und der jetzt so verlassene Burghof klänge vom Gestöhne und Ge­schrei der Verwundeten wider – wer wußte, wohinerseine Scharen sandte? Löwenstein und Kurkum wa­ren gefallen, das stolze Volk der Amazonen war ge­demütigt und versprengt; Yppolita, die kluge Köni­gin, lag besudelt in ihrem Blute. Aylas Herz krampfte sich zusammen, so sie an den Augenblick dachte, da der Bote von Yppolitas letztem Kampf berichtet hatte – sie würde zum Schwurfest feierlich befehlen, das Kapitel Yppolitas im Rondrarium zu beginnen.

Durch eine Scharte blickte sie über die spitzen Dä­cher der Stadt und das ebene Meer hinweg zum Ho­rizont, wo Wasser und Himmel zu einem einzigen Schatten verschmolzen. Das stumpfe Kettenhemd un­ter dem schneeweißen Wappenrock klirrte leise, als Ayla die kräftige Brust müde an den kalten Stein lehnte. Die stählernen Ringe wurden durch das zer­scheuerte Unterwams hart auf den Leib gepreßt; sie spürte kaum mehr den leichten Schmerz auf der Haut, den sie seit so vielen Jahren aus so vielen Schlachten kannte. Ihre weichen Nasenflügel bebten, da sie den scharfen Wind in tiefen Zügen einsog und Witterung nahm wie eine Löwin. Die Gespinste der Luft wirbelten den beißenden Geruch von Verrat und Fäulnis über das Perlenmeer, schwarzes Wolkenge­dräu folgte nicht weit dahinter. Wie ein Morfu, die fleischgewordene Widerwärtigkeit, kroch die Düster­nis aus dem Osten heran; selbst Praios, so schien es Ayla, lenkte Seinen Sonnenwagen rascher und weiter nach Westen, als nötig gewesen wäre.

Einen Götterlauf zuvor, meinte sie sich zu erinnern, war die Kuppel Seines Tempels in diesem mittsom­merlichen Mond und zu dieser frühen Abendstunde im letzten Gruße des Götterfürsten wie ein kristalle­ner Kandelaber im Haus des Kaisers erstrahlt. Nun aber schimmerte die Kuppel matt, und Ayla erwog für einen kurzen Augenblick, ob nicht eher Hoffart denn Sein gestrenger Wille die Priester dazu verführt hatte, die Kuppel so verschwenderisch zu vergolden – der Augenblick lehrte, daß man von glänzendem Gold besser scharfe Schwerter und Lanzen erwarb, als der Sonne, deren Pracht überderisch war, vergeb­lich nachzueifern suchte.

Aber für Hader war nicht der rechte Augenblick; und insgeheim begrüßte Ayla, daß die Praiosdiener und die Geweihten der Rondra in den letzten Jahren einander frohgemut begegneten und Hand in Hand still widerihngewirkt hatten. Das gemeine Volk verstand von den alten Schriften ohnedies nichts und entsann sich der Schrecken der Priesterkaiser-Willkür als schaurige Mär, nicht aber als Mahnung vor künf­tigen Zeiten, sprach, wie ihm der Schnabel gewach­sen war, und bezeichnete Praios und Rondra als Ge­mahlin und Gemahl, Himmelskönig und Alverans Gebieterin. Und Aylas geschlagene Schar genoß der­weil die Gastung der Praiospiester; da ziemte sich solch schmählicher Undank nicht.

Doch düstere und zornige Gedanken spukten in Aylas Kopf, da auf ihren Schultern die Bürde des Löwenhelms, der goldenen Krone des Schwerts der Schwerter, lastete wie nie zuvor. Zum vierten Male würde sie das Wunderschwert Armalion gürten, die gleißende Klinge der Heiligen Ardare, um die Pro­zession der Geweihten am Fest des Schwertes anzu­führen und die Großen der Kirche zum Rat will­kommen zu heißen. Zum vierten Male würden die jubelnden Menschen sie mit dem alten Ruf ›Schütze uns, o Schild und Wehr der Zwölfgöttlichen Lande!‹ voller Hoffnung begrüßen. Zum ersten Male aber, seitdem sie Armalion trug, fände die Prozession nicht zu Perricum, sondern zu Beilunk statt – im Heerlager sozusagen –, und zum ersten Male zweifelte Ayla, daß sie die Zwölfgöttlichen Lande überhaupt schüt­zen könnte; sie sah sich gezwungen, die Zeichen der Göttin schlechter zu deuten denn je.

Seinen Anfang genommen hatte das Unglück aus­gerechnet zu dem Zeitpunkt, als König Brin und sei­ne Gemahlin Emer – Aylas vertraute Freundin – zu den Behütern des Reiches bestellt wurden: Am letz­ten Tage des frohen Festes durchbohrte ein feiger Pfeil das wackere Herz Viburns von Hengisfort, des Schwertes der Schwerter. Sodann hatte Dragosch von Sichelhofen, der sich sein Amt mit Lüge erschlich, Armalion getragen; ein Schicksalsschlag nach dem andern erschütterte hernach die Kirche der Rondra. Im zweiten Jahre seiner Herrschaft waren fünfzig Geweihte in einen orkischen Hinterhalt geritten und hatten ein grausiges Ende gefunden. Flam­menschweifige Dämonen, wie die niederhöllische Parodie eines Leuen gestaltig, schwebten auf die Schar des Schwertes der Schwerter herab und rissen blutige Wunden, derweil die Schwarzpelze die Recken der Rondra mit einem tödlichen Guß von Bolzen und siedendem Pech überschütteten.

Damals hieß es, daß Dragosch, den Meineidigen, der Zorn der Göttin gestraft und er allein schuld habe an dem Ungemach; inzwischen ahnte Ayla, daß auch der schurkische Sichelhofen nur ein Zünglein an der Waage gewesen war – gewesen sein konnte. Die eitle Kirche Praios‘ beutelten zur selben Zeit Zwist und Schisma, zu Drôl und in Chababien schlich der Rote Tod langsam, aber gnadenlos durch die Lande. Prai­os, Peraine, alle Zwölfe schienen ungerührt ob des Leids der Menschen. Und nach Dragoschs Ende, das Ayla selbst besiegelt hatte, wandten sich die Geschicke keineswegs zum Besseren ... Ein Hauch eisiger Kälte streichelte ihre Wange, nach Frost und Reif schmeckend wie ein Firunswind über der herbstli­chen Steppe, nicht wie eine Brise im Rondra. Eine Gänsehaut prickelte auf Aylas nackten Armen; die Marschallin raffte den Wappenrock enger um die Schultern. Eine Unruhe erfüllte sie; das Wetter, da war sie sich gewiß, benahm sich nicht mehr nur für ihre überspannten Sinne sonderbar: es war auf dem Turm spürbar kälter als noch vor einer Viertelstunde.

Wie um den unheilvollen Spuk zu vertreiben, ball­te sie die Hände so eisern zu Fäusten, daß ihre sehr kurz geschnittenen Nägel – andernfalls ließ sich nicht fechten, schon gar nicht in Handschuhen aus Kette und Stahl – gerötete Furchen in die Ballen bohrten. Aber was einmal in ihr brodelte, ließ sich nicht ein­fach abschütteln wie eine lästige Stubenfliege: In Ari­vor lag Seneschall Dapifer, ihr greiser Mentor, seit zehn Jahren siech danieder; und die yaquirische Kö­nigin befreite sich so begierig von den Lehren der Rondra, wie ein wildes Roß das Zaumzeug abstreift, um ohne die Weisung des Reiters auf seinem Rücken galoppieren zu können. Zu Arivor hatte sich My­thrael, der Walkürer, der Erz-Alveraniar, Geron dem Einhändigen offenbart, auf dem Güldenhelm hielten in den alten Zeiten die Marschälle des Hohebundes Hof – heute zog durch die Gassen der Stadt das lä­sterliche Mietlingspack und spottete des greisen Se­neschalls.

Abermals schauderte Ayla. Eine Kälte wie zur Mitt­firunsnacht umklammerte ihren Leib. Auch die Ringe des Kettenpanzers glitzerten sacht im Reif, der sich darauf gelegt hatte. Als Ayla mit den Fingerkuppen über den Stahl strich, froren sie für einen winzigen Moment fest, fast fühlte sich das Eisen klebrig an. Ir­gend etwas war nicht geheuer an diesem Abend. Ay­la erwog für einen kurzen Augenblick lang, Alarm zu schlagen. Vielleicht war dasseinWerk, den eisigen Winter im Mittsommer plötzlich über die Gefilde Aventuriens zu werfen, die Herzen und Schwertarme der Menschen zu lähmen und ihre Schwerter in den Scheiden festzufrieren? Wennerdas vermochte, dann wehe ... Und warum sollteer,der sich ›Herr Aventu­riens‹ nannte, nicht auch solches zuwege bringen? –

Ayla spürte die nadelspitze Kälte inzwischen nicht nur im Bauch und an den Gliedern, wie sie ihr lang­sam das Mark herabkroch; auch ihr Kopf wog so bit­terkalt und lahm, als habe jemand ein Gewirk aus Eis und Frost um ihren Schädel gewebt, als bohre sich ein eisiger Keil in ihre müden Schläfen und drohe sie zu sprengen.

Andererseits aber wähnte sich Ayla merkwürdig ruhig. Zwar fror sie, doch sie erfror nicht, und wennerhinter alledem steckte, dann wäreseineKälte doch eine boshafte, glaubte sie, die einen sogleich zu totem Eis erstarren ließ.

»Erhabene«, rief da eine ächzende Stimme, die wehklagend klirrte wie ein Schwert, das von einem Eiszapfen abprallt, »erhabene Ayla, so vernimm mei­ne Worte!« Wer spricht? fragte sie bei sich und spähte nach allen Seiten, wurde sich aber zugleich bewußt, daß sie niemanden entdecken würde, da die Stimme in ihrem Kopfe erklang. Schon gewahrte Ayla, wie ein fremder Geist nun den ihren umfing, ihn wärmte und schützte gegen den bitteren Frost; obwohl er doch selbst Herr der grimmen Kälte war. Ihr stockte der Atem, denn ein göttlicher Hauch umwehte ihre Seele. Sie wurde gerufen, auf friedvolle Weise, ins Reich von Eis und Schnee entführt: Ifirns zärtliche Töchter umkosten weich und verspielt ihre Sinne, lockten sie zu freudigem Flockentanz und breiteten eine schmiegsame und warme Decke wider den Frost über sie. Ayla spürte, daß ihrem schläfrigen Geist Schwingen wuchsen, eine Erregung ergriff sie wie zu den heiligsten Schwerttänzen der Rondra, und willig verließ sie ihren Körper und schweifte in die Ferne. »Der Diener Firuns aus dem Kristall begehrt, dir sein Unglück zu offenbaren«, sprach die leise Stimme aus der Ferne. »So folge mir.«

Ayla blickte hinab – winzigklein stand ihr Leib auf dem Bergfried tief unter ihr; kleine Schachteln aus Holz und Zinnober waren die reichen Häuser von Beilunk. Schwanengestaltig flog ihr Geist in den Lüf­ten, die Winde rauschten in ihrem silbernen Gefieder, als sie mit kräftigen Schlägen der Flügel an Höhe und Weite gewann. Ein größerer Schwan von schneewei­ßem Gefieder flog neben ihr dahin. Ayla bewunderte aufrichtig das ebenmäßige Auf und Ab seiner ge­schmeidigen Schwingen, seinen behenden Flug, sei­nen schlanken gebogenen Hals und den scharfen gol­denen Schnabel. Wie ein Ifirnsgeschöpf, so erschien ihr der schöne Vogel.

Über die silberne See von Beilunk nach Festum, das saftige grüne Land zwischen Born und Walsach, das bunte Flickentuch der sewerischen Äcker und Wäl­der, auch über das kalkgestäubte Leichentuch, das die Leute am Born ›Totenmoor‹ heißen, ging der ra­sche Flug dahin, und über den finsteren Tannicht, von den Nordleuten ›Nornja‹ genannt. Endlich er­streckte sich das Land tief unter Ayla eben und flach. Wie das abgezogene Fell eines Karens, dachte sie, von den Nivesenleuten nach alter Sitte vom Leib der Beu­te geschnitten und vom Gekröse gesäubert, gespannt zwischen angespitzte Holzpfähle, damit dasselbe in der sengenden Sommersonne zäh und dürre werde – die Brydja-Steppe. Und wie zwischen den zweidau­mendicken Stöckchen, die das gräuliche, bräunliche Fell nach allen Seiten hin verzurren, spannte sich das unwirtliche weite Land zwischen winzigen festen Pfeilern – denn dort, wo das schier unendliche Gras­land sich zu eisigem, felsigem oder waldigem Grunde wandelte (mittnächtlich grenzen Firuns grimmige, frostige Öde, ostwärts die Klammen und Klüfte des Ehernen Schwerts, nach Mittag die undurchdringli­chen Wälder zwischen Born und Walsach an), waren die Menschen darangegangen, der Steppe einige Fußbreit Acker- und Weidelands abzuringen: Bjal­dorn und Brydaborn, Frigorn und Farlorn, Eestiva und Elvurund hießen sie ihre Weiler. Namen, die von Mut und Götterfurcht, Reif und Frost und einem prasselnden Ofenfeuer kündeten, mehr noch aber von der Kargheit des sandigen Bodens, vom einsa­men Heulen des schneeweißen Wolfes widerklangen, vom Schrei des Karens, das in den schlammigen Mu­ren der Letta-Sümpfe fehlgetreten und qualvoll und langsam hinabgesogen wurde, vom Kreischen der Lämmergeier in den jammernden, pfeifenden Step­penwinden. Ja, Flyrijas, Firuns Atem, der Wind der Steppe, zauste arg am silbernen Gefieder der Schwa­nengestalt, in die Aylas Geist geschlüpft war, pfiff schrill in den hohen Lüften.

»Siehe! O Ayla, Marschallin des Bundes, Schwester vor den Zwölfen, duSchild und Wehr der Zwölfgöttli­chen Lande,siehe, welch Leid uns widerfahren!« wis­perte die schnarrende Stimme, lauter nun und un­gleich näher; der stattliche weiße Schwan sank tiefer in den Wolken, zum kleinen Weiler Bjaldorn hin. Ay­la folgte.

2. Kapitel

Der Reiter im Nornja-Tannicht

Bjaldorn, zum Neumond zwischen Praios und Rondra 1020

Seit die Himmelswölfe, so sagen die Nivesenleute, ob Madas Frevel durch die derischen Gestade strichen und ihre Fänge in Sumus Leib schlugen, um das Erd­reich von unten nach oben zu kehren und Weiden und Wälder zu zerwühlen, sei alle Welt bergig und hügelig, und Flüsse schlängelten sich durch Klam­men und Täler.

Im Rund der weiten Brydja aber hätten die Wölfe mittags – gesättigt und müde nach dem üppigen Mahle, das sie aus Sumus Leib gerissen – die stolzen Wälder und sandigen Hügel, auf denen das Korn golden wogte, mit Schweif und Pfoten rundum nie­dergeworfen, auf daß sie es recht weich und bequem hätten, so wie es desgleichen noch heuer die gemei­nen Waldwölfe im Farnicht halten, daß sie sich um die eigene Achse im Kreise drehen und niederwälzen, was ihnen im Wege wächst, wenn sie sich zur Ruhe betten. Die Himmelswölfe hätten sich in der Brydja für ein Weilchen ächzend zum Schlafe gelegt, und darum sei die Steppe eben und flach wie die Meere Efferds und ohne Peraines Segen. Und nichts denn das schritthohe Messergras, blaßgrünlich die einen Halme, strohgelblich die anderen, ockerfarben die dritten, gewande den bloßen Leib der gefallenen Su­mu; gefleckt, fast scheckig wie just ein Karenfell, erstrecke sich die ganze Steppe.

Am Rande der Brydja, auf der Kuppe eines Hügels, zwang ein hagerer Reiter im schlotternden schwarzen Mantel, die Kapuze tief ins düstere Gesicht gezogen, sein pechschwarzes Roß aus vollem Galopp zum stil­len Stand. So hart riß er am goldverbrämten Zügel­zeug, daß die Stute die Nüstern blähte, erschrocken schnob, aufstieg, sich bäumte. Der nächtliche Reiter aber saß sicher in seinem Sattel, die blutleeren dün­nen Lippen verzerrten sich bloß zu einem hämischen Grinsen. »Aber, meine Mollige, aber ...«, säuselte er. Die Zügel in der Linken, hob er die Rechte, holte weit aus und ließ die Rute herabsausen: Der schmale Zweig zerschnitt pfeifend die Luft, schrill und ge­mein, wie eine Kellerratte kreischt, peitschte beißend die zuckende Weiche der Stute – die gierige Gerte zischte wie eine giftige Sandotter. Das gezähmte Pferd sank zitternd auf die Vorderhufe, warf gepei­nigt das Haupt zur Linken. Suchte wild nach des Rei­ters verletzlicher Hand zu schnappen.

»Hüte dich, du Metze!« fauchte der und verpaßte der Stute einen zweiten Hieb, quer über die feuchten Nüstern. Warmes Blut, dunkelrot wie schwerer Si­kramwein, rann in einem dünnen Bach den Hals des Pferdes hinab, an dem die Muskeln pulsierend her­vortraten. Da beugte er sich hinab und strich mit der Linken – über spindeldürren, knochigen Fingern spannte sich die Haut weißwächsern wie bei einem Skelett – über den bebenden, weichen Leib der Stute, fuhr mit gespreizten Fingern durch das nasse Fell und über die Nüstern und roch schließlich genieße­risch an Blut und Schweiß auf den Fingerspitzen. »So ist es brav, meine Dicke, brav«, wisperte er und strei­chelte mit der Gerte zärtlich die runde, schweißglän­zende Kruppe und den zappelnden Schweif.

Sorgsam spähte der Reiter – von manchen wurde er ›Mengbillar‹ genannt, ein Name, den ihm sein Herr gegeben hatte – in die mondlose Nacht. Die Augen unter dem steifen Kragen aus schwarzer Brabaci-Seide kniff er zusammen, peilte, die magere Hand bedächtig erhoben, suchend mit dem Zeigefinger der Rechten. Zeichnete den steilen Kuppenkamm der fel­sigen Nordwalser Höhen nach, deren sandkahle, schiefersteinerne Gipfel zuweilen silbern im Sternen­licht aufblinkten, fuhr über die Wipfel des tannichten Nornja-Waldes, der finster und rabenschwarz aus den Klammen der Walser-Berge herausquoll, sich die Hänge hinab ins ebene Land ergoß und düster dem Reisenden drohte – doch der spie nur abschätzig aus; er fürchtete Schrate, Wölfe und Trolle nicht ... Fand endlich, nachdem er auf diese Weise den Kopf lang­sam gewandt hatte, der fernen Kimm entlang folgend über das silberschwarze Gras der Brydja hinweg, das im beutelnden Winde auf und ab wogte, weiter ost­wärts, als er vermutet hatte, sein Ziel.

Weit über der Steppe, tief drinnen im Nornja, erhob sich eine Kuppel über die ebene Weite des Landes – aus der Ferne nicht höher als ein halbes Pferdeohr. Funkelnd, einem vielkantig geschliffenen Spiegel aus feinstem und edelstem Eiskristall oder einem eben in der kaiserlichen Münze getriebenen Silberling im Kerzengeflacker gleich, glänzte das Bauwerk durch das Düster der Nacht. Die Kuppel umwehte – teils weil der geschliffene Eiskristall in vielfachen Winkeln den Sternenschein zurückwarf, teils auch weil das Gewölbe von innen heraus strahlte – eine Gloriole silbernen Lichts, das einen zarten Schimmer auf die mächtigen zinnenbewehrten Türme einer alten Burg hauchte, auf vielschritthohe Wälle, steinerne Mauern und Wehren, hölzerne Palisaden und eisenbeschla­gene Tore: die alte Wacht Bjaldorn, die heilige Feste Firuns, die den Hohetempel des Wintergottes sicher barg.

Den Freunden der Zwölfe verhieß das eisige Glimmen des grimmen Gottes frohen Mut. Sündern aber, die im Herzen besudelt waren, dünkte die spie­gelnde Helle allzu unerbittlich, gerade wie nur weni­ge Wandersleute das lohende Glitzern von Eis und Schnee ertragen, wenn Praios Seinen Bannstrahl zor­nig und gerecht darauf wirft. Die Sehkraft der Men­schen erlischt auf kurz oder lang im unbefleckten Schnee, denn das göttliche Wirken Praios‘ und Firuns mag ein Sterblicher, dessen Seele nicht sühnelos und unbefleckt ist, kaum ungeschadet ertragen. Einer sei ›erblindet vom Schnee‹, sagt man, in Wirklichkeit aber blendet der reine Glanz der Götter sein sündiges Herz, denn er ist es nicht wert, solcher Schönheit an­sichtig zu sein. Deswegen wandte Mengbillar, nach­dem er einige Augenblicke lang den Blick starr auf den wundersamen Lichtfleck am Dererund gerichtet und ohnedies genug ausfindig gemacht hatte, die bläßlichen Augen unter einem verächtlichen Zucken der Mundwinkel ab ins Dunkel der Nacht. Er grollte und trieb seinem erschöpften Roß die eisernen Spo­ren tief in die Weichen, daß es ihn südwärts weiter­trage, den Walser-Höhen und näher auf die kristalle­ne Kuppel zu. Rauschend bog sich das Gras zu bei­den Seiten der breiten Hufe. Der eine oder andere Löfflerhase, aus dem Schlafe gerissen, floh aus seiner Grube, schrille Pfiffe ausstoßend; erschreckte Step­penvögel flatterten auf, als sich der dampfende breite Pferdeleib an ihrem Nest vorbei seinen Weg bahnte. Weit klangen die keckernden Rufe durch die Nacht: »Habt acht! Habt acht!« Aber da war niemand, der die Warnung vernahm.

Das seidige Fell der Stute war stumpf geworden während des langen Ritts, der Mengbillar in einem großen Bogen von Notmark (vom Hof des Grafen Uriel, dem er auf Geheiß des Herrn diente) in nördli­cher Richtung durch den Nornja nach Eestiva – wo er einem alten Gefährten, einem Freunde des Betha­niers, begegnet war – und wieder hinab nach Bjal­dorn geführt hatte. Ohne Unterlaß hatte der Reiter das Tier getrieben, über Praiosläufe und Meilen hin, durch holprige, steinige Senken, unwegsame Pfade an den Ufern der nordischen Ströme entlang, quer­feldein über das grasige Weideland, auf dem die Ka­renherden der Nivesenleute äsen, zwischen den dür­ren, kahlen Stämmen des Nornja-Waldes hindurch, durch das schritthohe, messerscharfe Gras der Step­pe. Alle Meile war die Gerte auf des Rosses weiche Flanke zischend herniedergesaust und hatte dasselbe zu immer rascherer, geschwinderer Gangart ge­zwungen.

Vanjuschka, die alte Nachtwächterin, schritt ringsum auf den Wällen der Bjalaburg, des Bjaldorns (denn ›Dorn‹ bezeichnet in der Zunge der Nordleute nichts anderes als ›Burg‹). Die Feste ist oben auf dem steilen Bjalaberg gelegen; das Torhaus, die Kammern des Ba­rons und seiner Sippe, der Bergfried, die hohe Halle, die Stallungen, Gesindehäuser und das Küchenge­wölbe waren hufeisenförmig (in eben dieser Reihen­folge) teils aus Marmelstein, teils aus Eichenbohlen so gefügt worden, daß sich ein umfriedeter Hof nach Westen hin öffnete. Vom oberen Torhaus, dessen Tormaul gegen Mitternacht gähnte, wand sich ein Pfad, gerade breit genug für einen Ochsenkarren, an­derthalbmal um den Bjalaberg hinab zum unteren Torturm, dessen Durchfahrt nach Osten klaffte. Der Weg war stets im Schatten einer hölzernen Palisade geführt, so daß ein kriegerischer Bronnjar, der es sich in den Kopf gesetzt hätte, die Burg zu bestürmen, zumindest zwei, von Firun gar drei Palisaden und Mauern zu überwinden hatte; und von Praios und Ef­ferd schützten überdies die wälzenden Wasser und sumpfigen Läufe der Letta die Bjalaburg.

Vanjuschka schob langsam ein Bein vor das andere und suchte abwechselnd die Füße kreuzweis zu stel­len oder genau voreinander, ohne eine Lücke zu las­sen. Stützte sich, wann immer sie das Gleichgewicht verlor, geschickt an den verwitterten hölzernen Pali­saden und lachte leise schnaufend auf – kalt und langweilig war ihr. Den langen Bogen, eine Waffe aus den Kammern des Barons – von kundiger Hand aus dem biegsamen Holz der jungen Hasel gefertigt, kunstvoll beschnitzt mit zwölf Firunsbären und Schneewölfen, die miteinander balgten, den Griff umwickelt vom weichen Leder des jungen Karens –, hatte sie geschultert, die Sehne hing lose hinab. Hirschfänger und Köcher, in dem vier krähenfedern­geschmückte Pfeile steckten, baumelten am Gürtel. In der rechten Hand hielt Vanjuschka den lärchenhöl­zernen Speer, in der linken schwenkte sie eine Fackel, die – wohl, weil sie winters ein wenig feucht gewor­den war in den Gewölben der Feste und zudem ein recht scharfer Wind ging – flackerte und rußte, so daß Vanjuschka sorgsam achthatte, daß sie der Rauch nicht in der Kehle kratzen und einen keuchenden Husten wecken konnte.

Die Mitternacht zog allmählich näher. Die alte Wächterin gähnte und schlug – um die bösen Geister daran zu hindern, durch den unziemlich aufgesperr­ten Mund in ihren Leib zu fahren – das Zeichen Prai­os‘ vor den Lippen. Sich auf weichen, strohgefütterten Kissen auf der warmen Ofenbank zu rekeln in solch einer düsteren Neumondnacht, eingemummt in die dicke, schwere Decke aus gefüttertem Wolfspelz, die Großväterchen den Norbardenleuten gegen einen Krug von seinem Selbstgebrannten Schrater abge­schwatzt hatte, das wäre fein und behaglich gewesen; ein leckres Krüglein vom Schrater, wohlig mund­warm vom Ofenfeuer, der süß und klebrig Mund und Schlund hinabrönne und die morschen Knochen wärmen würde.

Aus der hohen Halle drangen leise die alten Ge­sänge von Bjalas und Ifirns Tanz hinaus auf den Wall. Die tiefe, volle Stimme des Barons hob sich deutlich von den Stimmen der übrigen Sängerinnen und Sän­ger ab. Dort droben saßen Herr Trautmann von Bjal­dorn, seine Sippe und das Waffen- und Hofgesinde zum Mahle beisammen; die zierliche Maid Liwinja, des Barons Töchterchen, schenkte gewiß gerade schäumendes Bier aus irdenen Krügen in die Becher und Trinkhörner der Burgleute, und Helmjan, der dicke Küchenbursche, schöpfte wie stets schwitzend Grütze und Speck aus dem glänzend polierten Kup­ferkessel. Vanjuschka leckte sich die Lippen und mal­te sich den leckeren Duft der knusprig gebratenen Schwarte aus, während sie, von Unlust geschlagen und leidlich müde, den Wall auf dem Westhang des Burgbergs abmarschierte. Tief unter ihr schlängelte sich die Letta wie eine Pechnatter um den Bjalaberg. Die schwarzen Wasser strömten, langsam und leise gegen den dunklen Stein plätschernd, dem Firuns­meer und der Hafenstadt Paavi in der Brecheisbucht entgegen; wie kleine Perlen auf einem schwarzsam­tenen Band spiegelten sich die Sterne des Himmels in dem Fluß.

Nur ihr eigenes Fackelfeuer und die fernen Gestir­ne warfen einen spärlichen Lichtschimmer auf diese Seite des steilen Bergs. Firun- und rahjawärts, gegen das Eherne Schwert hin, gleißte die eisige Kuppel der Halle Firuns und tauchte die Bjalaburg in ein silber­nes Licht, und fast schien es der alten Vanjuschka – noch waren ihre Augen scharf wie die eines Falken –, daß die Kuppel Praioslauf um Praioslauf ein Quent­chen heller glänzte, funkelte wie der Ifirnsstern in der dunkelsten Nacht; von Süden schimmerte wenigstens hier und da Kerzenschein aus einem der Häuser im Dorf drunten, auch die Kochfeuer des sommerlichen Norbardenlagers und der paar Nivesenleute, die ihre Karene feilhielten, spielten im schwarzen und travia­roten Halbdunkel auf den Wehren.

Vanjuschka wollte gerade auf den südlichen Wällen weiterwandern und im Dorfe nach dem Rechten sehen, als sie meinte, mit dem Augenwinkel eine Silhouette, schwärzer noch als die Nacht, über den Fels vom Fluß heraufhuschen zu sehen. Mit einem Male war sie hell­wach. Gewiß ein götterloser Nivese oder Norbarde, schoß es ihr in den Sinn, der hoffte, geschmiedeten Stahl oder Brannt aus den Kellergewölben der Burg zu stibitzen. Jeden Götterlauf aufs neue gab‘s Ärger mit dem fahrenden Gesindel. Du denkst, bei Nacht sind al­le Füchse grau? grollte sie bei sich. Na warte nur, du Dieb, dir werd‘ ich dein Mütchen schon kühlen!

Vanjuschka gab vor, daß sie nichts bemerkt habe, und setzte ihren Weg unbekümmert fort. Als sie au­ßer Sicht des Eindringlings sein mußte, steckte sie die Fackel in eine eiserne Halterung an der Palisade und schlich im dunklen Schatten des Burgbergs dorthin zurück, wo sie den huschenden Schemen ausgemacht hatte. Tatsächlich – irgend jemand kroch leise den Bjalaberg herauf, nur ab und an verraten durch ein losgetretenes Steinchen, das den Fels hinunterhüpfte und leise in die Letta plumpste. Gebannt und mit an­gehaltenem Atem lauschte Vanjuschka auf das müh­sam verhaltene Keuchen des Schurken. Gleich mußte er auftauchen. Der Fels war steil, o ja, da kam selbst ein geübter Kletterer ins Pusten!

Schon schwang sich der Schatten über die hölzerne Palisade, gewandt wie ein Luchs, von Kopf bis Fuß in einen grauen Wollmantel gehüllt, sicherte hastig nach links und rechts, entspannte sich, als er den Fackelschein weit hinter der steilen Felskante gewahrte, und schickte sich sogleich an, seine Kletterpartie gera­denwegs hinauf zum zweiten Walle fortzusetzen.

Doch da löste sich Vanjuschka aus ihrem Versteck im Schatten. »Heda, mein Freundchen«, fauchte sie, bereit, den Eindringling wie einen Letta-Lachs auf ih­ren Speer zu spießen, »halt, wenn dir dein Leben lieb ist!«

Der Schleicher stieß einen Seufzer aus, der fast wie ein Lachen klang, schnaufte – halb vor Atemnot und halb vor Zorn – und schlug die Kapuze zurück.

Haselnußbraunes Haar, das dort, wo der ferne Fackelschein darauffiel, rötlich aufflammte, wallte glatt kinnlang herab, ein Flaum säumte das eckige Kinn des Jünglings. Zwei flach geschwungene Brauen mündeten in eine Nase, die ein ganz klein wenig zu breit bemessen war auf ihre Länge und so scharf aus dem Gesicht ragte, daß die wie ein Vogelei grün und braun gesprenkelten Augen leicht in grüblerisch an­mutende Höhlen versunken zu sein schienen. Jetzt aber blitzten sie spöttisch.

»Gratuliere, Vanjuschka«, brummte der junge Mann, »da hast du einen guten Fang gemacht. Nicht schlecht, die List mit der Fackel ...«

»Der junge Herr Fjadir, weiß Ifirn!« rief Vanjusch­ka, ließ überrascht den Speer sinken (fast wäre er ih­ren Händen entglitten) und riß die Augen auf: Da streunte der Sohn des Herrn und Erbe der Bjalaburg heimlich wie ein Höriger auf dem Weg zu seiner Ge­liebten bei Nacht durch die Gegend! Rasch aber hatte sich die Nachtwächterin gefaßt, und eine strenge Fal­te stahl sich zwischen ihre gerunzelten Brauen. »Was hast du denn wie ein Schlitzohr so spät auf den Wäl­len verloren, Junge? Hast du was ausgefressen? – Weiß der Vater davon?«

»Ach, der Vater«, zürnte Fjadir. »Der will ja nicht hören. Was sollte ich mich sonst heimlich davonsteh­len? Ausgefressen habe ich nichts. Und warum ich hier nächtens herumschleiche, ist eine lange Ge­schichte: zu lang für eine kühle Neumondnacht, wenn du mich fragst ...«

Aber so einfach ließ Vanjuschka ihren Fang nicht entwischen. »Sprich«, mahnte sie mit gespielter Strenge, »was bedrückt dich? Oder soll ich dem Herrn von deinem Ausflug berichten?« fügte sie mit drohend erhobenem Zeigefinger hinzu, wenn auch ihre leicht scherzhafte Stimme vom Gegenteil künde­te.

»Na gut, wenn du‘s unbedingt wissen willst!« Fja­dir seufzte götterergeben, schlug einen langsamen Schritt zum warmen Licht der Fackel hin an und ver­paßte der alten Burgwächterin einen sachten Hieb mit dem Ellenbogen. »Du gerissene alte Lüchsin! Aber sag‘s nicht dem Vater!« Verschwörerisch blinzelnd leistete Vanjuschka den feierlichen Schwur bei Fi­runsbär und Ifirnsschwan. »Erinnerst du dich an die Norbardin, die im Ingerimmond als erste ihre Waren droben im Burghof feilbot?«

Vanjuschka entsann sich gut, sie hatte eine silberne Brosche für ihren dunkelgrünen Wollmantel erwor­ben, nachdem ihr die alte just durch ein Mißgeschick zerbrochen war – eine Arbeit aus den Bingen der Zwerge von Braschposchkorlosch, wie die beleibte Norbardin näselnd verkündet hatte (und Vanjuschka hatte eigens nochmals nachgefragt, um der Sache auch ganz sicher zu sein), nur um gleich darauf einen unerschwinglichen Preis zu fordern, den herunterzu­handeln eine schweißtreibende Arbeit gewesen war ... »Gewiß hab ich‘s nicht vergessen, Junker!«

»Nun, als ich mir ihre Dolche anschaute und die Schärfe der Klingen prüfte, kam das Mütterchen Libu­schenka« – eine Tante des Barons, die Fjadir und seine Schwester nach dem Tod der Mutter erzogen hatte, wenn der Vater durch seine Weiler ritt und Recht sprach; ein altes Kräuterweiblein, von dem manche munkelten, es stehe mit Satuaria in heimlichem Bunde –, »kaufte einen versilberten Nachttopf, eine ungeheu­re Verschwendung, wie ich finde, auch wenn ihr der Stuhl immer so schwer im Gedärm drückt, daß sie‘s alle Augenblicke unschicklich hinten hinaustrompetet, und ließ sich auch aus der Hand lesen. Die dicke Nor­bardin, ich glaube, ihr Name war Potinka, zierte sich eine Weile, schließlich aber fuhr sie mit ihren fleischi­gen Fingern die faltigen Hände des Mütterchens ent­lang und faselte allerlei unnützes Zeug von Goldsegen und Kinderregen – oder umgekehrt ...

Dann aber sagte sie, daß wir uns hüten sollten in der Nacht, da der Eisbär und das Mal des schändli­chen Mada schliefen und der alte Streit zwischen Rondra und Praios um die Krone der Götter abermals entflamme, da Praios sie schon verloren, Rondra sie aber noch nicht genommen habe. In dieser Nacht sei­en die Götter zu Alveran unaufmerksam, da sie un­tereinander haderten und zürnten, und in dieser Nacht werde ›der Kristall Bjalas zerspringen‹, so sprach sie. Zwar schenke ich den Wahrsagehutzeln und -männlein nicht viel Glauben, gewiß nicht, aber in den Augen der alten Vettel flammte plötzlich so etwas wie echte Furcht auf, und sie sagte mit fast be­schwörender Stimme, daß sie es von Kailäkinnen selbst gehört habe, dem weisen Zauberer und Groß­väterchen der Nivesenleute. Da blickte auch das Müt­terchen Libussa plötzlich ganz ernst. ›Ja, Potschenka‹, wisperte sie, ›jetzt hast wahr gesprochen.‹ Und es läßt sich nicht leugnen: Seitdem die Gerüchte gehen, daß zu Paavi Gold gefunden worden sei, treibt sich aller­lei Pack in den rauhen Gefilden herum, so mag manch einer nach dem Ring von Kristall schielen ...«

Da Vanjuschka schwieg, fuhr Fjadir nach einer Weile mit seiner Schilderung fort: »Ich hab‘s gleich dem Vater erzählt, der aber verbot mir, dem Weißen Mann damit zu kommen – ausgemachter Schwachfug sei‘s, sagte er, womit ich den erhabenen Hohegeweih­ten des Firun nicht bekümmern solle. So hab ich die Weissagung eine Weile vergessen. Sommers ist, weiß Ifirn, auf der Burg gerade genug zu tun, außerdem will ich heuer mit dem Vater durch die Dörfer reiten.

Heute abend aber, als ich zum Himmel blickte, da ging mir auf, daß Praios und Rondra im Zwölfkreis obenauf thronen und doch keiner von beiden am höchsten Flecke und daß Bär und Madamal schlafen – schließlich haben wir Neumond, und Firuns Eisbär taucht erst im Travia über Nornja und Überwals auf.«

Unwillkürlich wanderte Vanjuschkas Blick in den sternklaren Himmel: Fürwahr, am Mondenwechsel zwischen Praios und Rondra krönte keins der beiden Sternbilder, weder Praios‘ Greif noch Rondras Schwert, den Zwölfkreis, wenn man es einmal genau betrachtete. Beide standen sie ungefähr gleichauf.

»Da erwachte meine Sorge aufs neue, ob ich nun wollte oder nicht, immerhin ist der kristallene Ring das heilige Artefakt unseres grimmen Gottes«, sagte er trotzig. Von Firuns Ring ging die schöne Mär, daß sein geschliffener Eiskristall wunderbar den Weg leuchte, wenn ein Geweihter des Wintergottes sich hilflos verirrt habe; auf diese Weise hatte der Ring schon viele Diener des grimmen Gottes wohlbehalten aus dem dichtesten Schneegestöber geführt – eine Gnade der Milden Frau Ifirn, so glaubten viele.

»Aber wiederum verwehrte mir der Vater meinen Wunsch und überhörte mein Bitten, dem Weißen Mann von der Weissagung Kailäkinnens zu berich­ten. So prahlte ich während des Abendmahls lauthals, ich wolle in meiner Fibel die bosparanischen Buch­staben üben.« Fjadir grinste schief und zog eine Gri­masse; jedermann zu Bjaldorn wußte, wie sehr Baron Trautmann wünschte, sein Sohn solle die Lettern des Bosparano und die schlaue Kunst des Lesens erler­nen; jedermann war aber auch bekannt, daß der ein­zige Buchstabe, auf den Fjadir sich verstand, das F war, das er einem aufgeblasenen Mietling, dem die Goldgier aus den Augen geblitzt und der auf dem Weg nach Paävi um Gastung gebeten hatte, übermü­tig in den Wanst ritzte, als derselbe in der hohen Hal­le allzusehr den Mund vollnahm und Bjaldorn als ›langweiliger wie einen Karenfladen‹ beschimpft hat­te ...

»So zog ich mich auf meine Kammer zurück und kletterte über die Wälle hinab zum Tempel. Der Wei­ße Mann war recht freundlich, gar nicht so grimmig wie jüngst zum Mittpraiostag, und er sagte mir begü­tigend – soweit der Erhabene mit seiner eisigen, schnarrenden Stimme überhaupt begütigend zu spre­chen vermag –, der kristallene Ring sei wohl verbor­gen und daß ich mir keine Sorgen machen solle; er zeigte ihn mir gar in seinem Schatzgewölbe. Der wunderbare Kristall gleißte rein und ungetrübt wie das Eis des ersten Winters ...«

Vanjuschka gewahrte, wie der junge Mann ehr­fürchtig das Zeichen Firuns schlug und leise ein Ge­bet murmelte. »So kehrte ich zurück und traf dich oder vielmehr: Du trafst mich ... Das also ist meine

Geschichte ...«

Beide lachten kurz auf.

Derweil Fjadir erzählt hatte, waren er und Van­juschka langsam den gewunden Pfad hinaufgewan­delt und befanden sich nun im Osten des Bjalabergs, unmittelbar unter der Großen Halle, auf einer Höhe mit dem funkelnden Tempel Firuns.

»Ja«, seufzte Vanjuschka, »so ist der Baron: ein klu­ger Mann, der auf die Ahnungen der alten Völker nicht viel gibt und nur das glaubt, was er mit eigenen Augen sieht oder was die Priester verkünden.« Van­juschka legte Fjadir aufmunternd den Arm um die Schultern, die breiter als die eines Jünglings, aber noch nicht die eines erfahrenen Kriegers waren. »Ich glaube, du hast recht daran getan, den alten Erhabe­nen zu warnen.« Sie lächelte. »Ich werde dem Vater also nichts erzählen – vorausgesetzt, du gehst jetzt augenblicklich zu Bett – wo ein Knäblein deines Al­ters zweifelsohne längst gut behütet schlummern sollte ...«