Du dachtest, du kennst die Welt... - Wissensbert - E-Book + Hörbuch

Du dachtest, du kennst die Welt... E-Book und Hörbuch

Wissensbert

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Beschreibung

Im Zeitalter der sozialen Medien und der unglaublichen Informationsflut glauben wir, das meiste schon gesehen zu haben. Glauben wir … doch dem ist nicht so. Die Welt ist voller faszinierender Dinge, von denen kaum jemand je gehört hat. Der beliebte Science-Influencer Wissensbert, der auf TikTok, YouTube und Instagram einem Millionenpublikum Wissensthemen anschaulich näherbringt, hat die überraschendsten, faszinierendsten und unglaublichsten Phänomene zusammengetragen: spannendes Wissen aus der heutigen Wissenschaft, aber auch erstaunliche Funde aus den Tiefen vergessener Archive. Vom Jahr ohne Sommer 1816 bis zum Sterben unserer Sonne in acht Milliarden Jahren begibt sich der Leser auf eine Zeitreise durch die Kontinente der Erde, zum Mond, dem Sonnensystem, bis in die Tiefen des Universums und entdeckt den wahnsinnigen Kenntnisstand der aktuellen Forschung, die unglaubliche Flora und Fauna unseres Planeten, Technik, die von Magie kaum zu unterscheiden ist, und Ereignisse, die uns eindrucksvoll vor Augen führen, wie zerbrechlich der Ist-Zustand unserer Erde ist. Das komplett farbig bebilderte Buch besticht durch eine sensationelle Mischung aus fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen und packendem Storytelling.

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Seitenzahl: 273

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Zeit:6 Std. 41 min

Sprecher:Sebastian Pappenberger

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Wissensbert

Du dachtest, du kennst die Welt …

Science Facts mit Mindblow-Garantie

Wissensbert

Du dachtest, du kennst die Welt …

Science Facts mit Mindblow-Garantie

Originalausgabe

2. Auflage 2023

© 2023 by Yes Publishing – Pascale Breitenstein & Oliver Kuhn GbR

Türkenstraße 89, 80799 München

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Autoren: Robert Döring, unterstützt durch Thomas Bauer und Leonhard Döring

Redaktion: Stephanie Kaiser-Dauer

Umschlaggestaltung: Ivan Kurylenko (hortasar covers)

Umschlagabbildung: SusansArt/99designs

Layout und Satz: Müjde Puzziferri, MP Medien, München

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-96905-234-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96905-235-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96905-236-5

Inhalt

Vorwort

Die Existenz der Menschheit ist evolutionsbiologisch eigentlich unmöglich

Dieses Ereignis hat uns beinahe ins Mittelalter katapultiert

Um ein Haar hätte diese Maschine Frankreich blamiert

Diese Lebensmittel machen deinen Schädel löchrig

Wenn du dieses Geräusch hörst, schwimm um dein Leben!

Diese Monsterwellen überragen sogar Wolkenkratzer

Dieser Mann wurde von einem Teilchenbeschleuniger getroffen – doch was dann geschah, stellte Mediziner vor ein Rätsel

Diese Insekten geben dir einen Vorgeschmack auf die Hölle

Dieser Text ist der Schlüssel zu mehreren Hundert Millionen Euro

Die komplexeste Maschine, die die Menschheit je gebaut hat

Ein kleines Detail machte diesen Krieg zur Sensation

Mit diesem gigantischen »Flugzeug« hat die Sowjetunion den USA einen riesigen Schrecken eingejagt

Diese Science-Fiction-Waffe wurde in den letzten Jahren Realität

Das blüht uns voraussichtlich im Jahr 2034

Der Tag, an dem der gigantischste Staudamm der Welt brach

Wie du die mysteriöseste aller Dimensionen kontrollierst

Das passiert, wenn das Blut der Erde kocht

Hilfe, wir müssen von der Erde fliehen – aber womit?

Was, wenn alle Menschen der Welt so leben würden?

So erstickten Tausende Londoner in nur vier Tagen

Wie Quantenphysik unsere Science-Fiction-Träume erfüllt

Diese unscheinbaren Tiere solltest du niemals unterschätzen!

Das ist der gefährlichste Asteroid dieses Jahrhunderts – warte, WAS?!

Dieser schwimmende Koloss stellt alles in den Schatten

Darum hast du vielleicht zwei Persönlichkeiten und weißt es nicht

Darum werden wir möglicherweise NIEMALS mit Aliens in Kontakt treten

Wird diese eigenartige Technologie die Schifffahrt revolutionieren?

So verdient ein Land mit organisierter Kriminalität weltweit Milliarden

So leichtfertig setzten die USA die Zukunft der Menschheit aufs Spiel

Dieses Teilchen kann uns aus heiterem Himmel treffen

Einen Besuch in diesem Freizeitpark überlebst du vielleicht nicht

Selbst eine hoch entwickelte Spezies könnte dieses Ereignis nicht abwenden

Unterschätzen wir diese Seite des Klimawandels?

Das wird dir vielleicht eines Tages auf dem Weg ins Jenseits passieren!

Dieser Einstein-Effekt ermöglicht uns Unmögliches, unter einer Bedingung!

Danksagung

Quellen

Bildnachweis

Vorwort

Wir leben in einer Zeit, in der wir verlernt haben, aufmerksam zu sein. Werbung, Nachrichten, Videos, Gaming, Messenger: Eine noch nie da gewesene Sintflut von Reizen überschwemmt tagtäglich unser Gehirn. Belohnungszentrum, Schutzinstinkt, die Angst, etwas zu verpassen. Die psychologische Kriegsführung der Marketingabteilungen kennt die Triggerpunkte, die deine Neuronen feuern lassen und dich emotional für die Absenderbotschaft öffnen, bestens. Wir denken, wir sind noch Herr der Lage, doch das sind wir nicht. Wir sind abgelenkt. Dabei ist deine Aufmerksamkeit eines deiner wertvollsten und mächtigsten Instrumente. Sie allein entscheidet maßgeblich über deine Zukunft, also überlege stets weise, worauf du sie lenkst.

Ich habe dieses Buch geschrieben, um mit dir gemeinsam einen Schritt zurückzugehen und das große Gesamtbild zu betrachten. Abseits der schnellen Reizbefriedigung gibt es um uns herum unfassbar viele spannende Geheimnisse zu entdecken, von denen man leider im Alltag nichts mitbekommt. Natur, Wissenschaft, Technik, Weltall: Auf unserer Reise quer durch alle Themengebiete blicken wir bis an den Tellerrand und darüber hinaus, denn eines kann ich dir versprechen: Du dachtest, du kennst die Welt ...

Die Existenz der Menschheit ist evolutionsbiologisch eigentlich unmöglich

»Komm, wir packen zusammen!« Donald sortiert seine Werkzeuge und wischt sich dabei die Schweißperlen von der Stirn. Auch an diesem Novembermorgen im Jahr 1974 beginnt die sengende Tageshitze in Hadar in den äthiopischen Badlands bereits langsam zu drücken. »Ja, ab ins Camp«, ruft sein Student Tom und lädt sein Equipment in den Jeep. Vor dem Einsteigen wirft Donald nochmal einen Blick über seine Schulter und hält augenblicklich inne. »Was ist das denn?« Im nahe gelegenen Geröllhang unterhalb einer Abrisskante erblickt er Knochenfragmente. »Tom, schau dir das mal an!« Als sich die beiden nähern, kommen sie aus dem Erstaunen kaum heraus. »Das Stück eines Arms, ein Ellbogen vielleicht?«, bricht es aus Tom heraus. »Und guck, guck! Hier, eine Beckenschaufel!«, setzt Donald nach. Über den gesamten Hang verteilt liegen im frisch herausgebrochenen Gestein unzählige gut erhaltene Fragmente eines Skeletts. Eines Menschenskeletts? Donald Johanson und Tom Gray sind vor Aufregung völlig benommen. Worauf auch immer sie gestoßen sein mögen: Ein derart großer Fund ist eine absolute Sensation.

Unverzüglich rasen die beiden Paläoanthropologen zurück ins Camp und machen durch wildes Hupen bereits aus der Ferne klar, dass etwas Besonderes passiert ist. Den herbeieilenden Kollegen eröffnet Tom euphorisch: »Wir haben das ganze verdammte Ding gefunden!« Begeistert und aufgewühlt kehrt das gesamte Forscherteam zurück zur Fundstelle. In den nächsten drei Wochen sichert die Gruppe mehrere Hundert Knochenfragmente.

Dr. Jill Biden zu Besuch im Äthiopischen Nationalmuseum. Vor ihr: die Knochenfragmente von Lucy

Am Ende lassen sich etwa 40 Prozent eines zusammenhängenden Skeletts rekonstruieren. An jenem Abend aber wird erst mal gefeiert. Ausgelassen tanzt man zum Beatles-Song »Lucy in the Sky with Diamonds« – und so setzt sich für das Fossil AL 288-1 ein passender Trivialname durch: »Lucy«.

Wie bedeutsam dieser Fund wirklich sein sollte, ahnt allerdings zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Bei der Laboranalyse in den Folgejahren wird nämlich klar: Lucy lässt sich keiner bis zu diesem Zeitpunkt bekannten Kategorie zuordnen. Das 3,2 Millionen Jahre alte Skelett weist deutliche Unterschiede zu dem des schon 1924 entdeckten Vormenschen Australopithecus africanus auf, dessen Alter ebenfalls auf 2,5 bis 3 Millionen geschätzt wird. 1978, also 4 Jahre nach dem Fund, ist man sich dann sicher: Donald Johanson und Tom Gray haben eine neue Art entdeckt! Zu Ehren des Fundorts Hadar im äthiopischen Afar-Dreieck tauft Donald sie Australopithecus afarensis. Und Lucys extrem gut erhaltenes Skelett ist der endgültige Beweis dafür, dass unsere Vorfahren weit früher aufrecht auf zwei Beinen gingen als bisher angenommen. Zwar ist Lucy evolutionär ein eigentlich gewöhnlicher Affe, der aber durch den aufrechten Gang bereits erste menschliche Züge aufweist. Eine weltweite Sensation.

Hatte man mit dem Australopithecus afarensis endlich das Bindeglied zwischen Affe und Mensch entdeckt? Eine schwierige Frage, denn woran genau macht man den Übergang fest? Am aufrechten Gang? Lange Zeit hält sich die Hypothese, der aufrechte Gang sei entstanden, als sich vormals in dichten Tropenwäldern lebende Ur-Affen an die allmähliche Savannenbildung anpassten. Tatsächlich hatte im Laufe mehrerer Millionen Jahre auf dem afrikanischen Kontinent der Abstand von Baum zu Baum immer weiter zugenommen und ein dauerhaftes Leben am Boden hatte sich wohl als deutlich vorteilhafter erwiesen als ein weiteres Verharren in den Wipfeln. Doch diese Theorie wird 2009 widerlegt, als man in der Fachzeitschrift Science einen weiteren Sensationsfund präsentiert: das Skelett von Ardipithecus ramidus, kurz »Ardi«, ebenfalls aus der Gattung Australopithecus. Es ist noch besser erhalten, noch vollständiger und noch älter als das von Lucy. Geschätztes Alter: 4,4 Millionen Jahre. Nicht nur die Knochenfragmente, auch der Fundort erlaubte phänomenale Rückschlüsse auf Ardis Leben. Ein kürzeres Darmbein und eine Kurve in der unteren Wirbelsäule wiesen auch bei Ardi anatomisch auf einen aufrechten Gang hin und ein Fußknochen Namens Os peroneum sorgte für mehr Stabilität im Mittelfuß – das Ganze in einer wahrscheinlich waldähnlichen Umgebung, wie die nahe gelegenen Überreste von Tieren offenbarten. Waldähnliche Umgebung und aufrechtes Gehen? Damit war die Savannen-Hypothese endgültig vom Tisch. Ein weiteres markantes Detail an Ardis Skelett stützt die bis heute gängigste Vermutung: Der Fuß hatte nur vier in einer Linie stehende Zehen. Der fünfte, also der große Zeh, war wie beim Affen typisch nach innen gerichtet – opponierbar –, was es Ardi ermöglichte, mit den Füßen zu greifen. Er konnte sich also gut in Bäumen bewegen, aber auch zügig kurze Strecken am Boden überwinden, eine Fähigkeit, die dem Australopithecus ramidus im Verlauf der späteren Savannisierung das Überleben sicherte. Andere Affenarten, die sich nicht so gut am Boden bewegen und keine frei gewordenen Arme für andere Aufgaben nutzen konnten, starben mit der Zeit aus.

In dem sich langsam lichtenden Wald hatte der Australopithecus ramidus durch das aufrechte Gehen einen Überlebensvorteil.

Der aufrechte Gang kann es also nicht sein, der den Übergang vom Affen zum Menschen markiert. Dazu weisen die Australopithecen noch zu viele andere affenartige Merkmale auf. Gleichzeitig entwickelt sich jedoch langsam eine zweite und wahrscheinlich noch bedeutendere Eigenschaft: Intelligenz. Fand man schon in Ardis Gebiss ungewöhnlich kleine Eckzähne, die auf ein fortgeschrittenes Sozialverhalten dieser Spezies hindeuten, entdeckte man 2010 3,4 Millionen Jahre alte Schnittspuren in Knochen und 2015 3,3 Millionen Jahre alte ultraprimitive Steinbearbeitungen. Relikte, die möglicherweise für einen ersten Werkzeuggebrauch oder gar erste Handwerksversuche während der Australopithecen-Ära sprechen. Interessant, denn eine 3D-Analyse des rekonstruierten Schädels von Lucy, der ungefähr aus derselben Zeit stammt, ergab nur ein sehr geringes Gehirngewicht von gerade einmal 375 bis 500 Gramm – ein Wert, auf den übrigens auch heutige Menschenaffen wie Gorilla, Orang-Utan oder Schimpanse kommen. Man sieht aber klar: Irgendetwas scheint in dieser Ära bereits zu passieren, und was dann geschieht, stellt Evolutionsbiologen bis heute vor eines der größten Rätsel der Menschheitsgeschichte.

Entlang des Großen Afrikanischen Grabens spaltet sich die Somaliaplatte mit einer Geschwindigkeit von 45 Millimetern pro Jahr von der Afrikanischen Platte ab und wird in einigen Millionen Jahren eine eigene Landmasse bilden.

Denn das Gehirngewicht einiger Primaten innerhalb des Großen Afrikanischen Grabens – des Tals entlang der 6000 Kilometer langen Linie im Osten Afrikas, die seit etwa 35 Millionen Jahren die Somaliaplatte von der Afrikanischen Platte trennt und aus dem auch Lucy stammt – beginnt plötzlich massiv zu wachsen. Waren es bei Lucy wie eben erwähnt noch höchstens 500 Gramm, geht aus den Australopithecinen vor 2,5 Millionen Jahren eine neue Spezies hervor, die bereits eine Hirnmasse von etwa 750 Gramm besitzt und nach derzeitigem Forschungsstand die tatsächliche Grenze von Affe zu Mensch markiert: der Homo rudolfensis, der erste Vertreter des Frühmenschen. Zusammen mit dem sich parallel entwickelnden Homo habilis – die Abgrenzung ist selbst für Paläoanthropologen nicht immer einfach – gelingt es diesem erstmals, Steinwerkzeuge herzustellen und auch zu benutzen. Forscher erklären diesen Sprung vor allem mit der Vergrößerung des Neokortex, eines Teils der Großhirnrinde, der höhere kognitive Fähigkeiten wie Denken oder Sprache ermöglicht.

Doch es geht weiter: Vor 2 Millionen Jahren kommt dann der Homo erectus zum Vorschein. Ob dieser nun ein Nachfahre des Homo rudolfensis oder aber des Homo habilis ist, auch darüber ist sich die Wissenschaft nach wie vor nicht einig. Tatsache ist: Der Homo erectus bewegt sich als erste Frühmenschenspezies so aufrecht wie der heutige moderne Mensch und er beginnt, das Feuer zu nutzen und sich aus der afrikanischen Riftzone heraus global auszubreiten. Sein Gehirn wiegt bereits 1000 Gramm. 1,4 Millionen Jahre später entwickelt er sich weiter zum Homo heidelbergensis. Sehen manche in Letzterem nur eine ausgereifte Homo-erectus-Art, die in Europa lebte, beträgt sein Hirnvolumen bereits 1200 und das des wiederum aus ihm hervorgehenden Neandertalers sogar 1450 Gramm. Damit sind diese sehr robust und stämmig gebauten Individuen schon in der Lage, Birkenpech als Kleber für Pfeilspitzen zu nutzen, intelligente Jagdstrategien zu entwickeln und als Ausdruck ihrer Erlebnisse Bilder an Höhlenwände zu malen.

Schädelvergleich (v. l. n. r.): Homo sapiens, Homo neanderthalensis, Homo erectus, Australopithecus africanus

Vor etwa 300 000 Jahren geht jedoch noch eine weitere Spezies aus dem Homo erectus hervor, die später die bedeutendste Rolle auf unserem Planeten übernehmen und die absolute, dauerhafte Spitze der Nahrungskette darstellen wird: der Homo sapiens. Er ist dem Neandertaler zwar kognitiv nochmal etwas überlegen, aber deutlich zierlicher gebaut. Während einer mehrere Jahrtausende anhaltenden Koexistenz kommt es immer wieder zu Vermischungen beider Arten, bis sich der Homo sapiens vor 30 000 Jahren schließlich als alleinige Krone der Schöpfung durchsetzt. Unsere heutige Gehirnmasse beträgt im Schnitt 1473 Gramm.

Wahnsinn! Innerhalb des vergleichsweise kurzen Zeitraums von nur 2,4 Millionen Jahren hat sich das Gewicht und damit auch das Volumen des menschlichen Gehirns verdreifacht. Ein Prozess, der nirgendwo anders je beobachtet werden konnte und dessen Auslöser bis heute nicht plausibel erklärt werden kann. Anpassung, heißt es. Okay, aber woran? Und warum sind dann die heutigen Savannen-Primaten kein bisschen intelligenter als die Regenwald-Primaten? Was ist da passiert? Dass sich Lebewesen im Laufe der Zeit verändern, größer oder kleiner werden, andere Nahrung oder Lebensräume bevorzugen, ist normal. Ein derartig explosiver Massezuwachs des Gehirns aber ganz und gar nicht! Dazu kommt, dass sich die Körpergröße des Homo sapiens nicht weiterentwickelt hat. Das Gehirn ist also deutlich überproportional zum Körper gewachsen. Ungewöhnlich, denn ein größeres Gehirn spricht eigentlich nicht für eine höhere Intelligenz, sondern einfach für ein größeres Lebewesen.

Bei uns Menschen scheint also alles irgendwie etwas kurios gelaufen zu sein. Und so sitzen wir hier mit unserem extrem großen Neokortex in einer hochtechnologisierten Welt, führen Kriege, laden Freunde zum Kaffeetrinken ein und zerbrechen uns unseren Kopf darüber, wie und warum wir entstanden sind. Auch heute noch gibt es in der Paläoanthropologie sehr sehr viel zu erforschen. Erst 2019 erschütterte ein nicht ins Schema passender Fund die Welt, als ein Forscherteam im deutschen Allgäu auf ein 11,62 Millionen Jahre altes Affenskelett stieß, das ebenfalls bereits Anzeichen des Zweibeingangs aufwies. Eine evolutionäre Sackgasse, oder werden wir unsere Evolutionsgeschichte bald infrage stellen müssen?

Dieses Ereignis hat uns beinahe ins Mittelalter katapultiert

Carringtons Sternwarte

Wir schreiben den Morgen des 1. September 1859 in Redhill, einem kleinen Vorort südlich von London. Wie schon die letzten sechs Jahre sitzt Richard Christopher Carrington auch heute in seiner kleinen, selbstgebauten Sternwarte und starrt durch ein Teleskop mit speziellen Filtern in die Sonne. Trotz seines jungen Alters von 33 Jahren ist Carrington bereits ein renommierter Sonnenforscher. Zwei Jahre zuvor hat er den wegweisenden Redhill Catalogue veröffentlicht, in dem er die durchschnittlichen Positionen von 3735 Sternen über einen Zeitraum von drei Jahren dokumentiert hat.

Doch was er an diesem Tag sieht, ist absolut außergewöhnlich. Ungläubig zieht er den Kopf zurück, reibt sich kurz die Augen, reinigt das Okular und wirft einen erneuten Blick durch das Teleskop. Nein, das war keine Wimper in seinem Auge und auch kein Schmutzfleck auf dem Teleskop – was er hier sieht, sind riesige, dunkle Sonnenflecken! Sofort bringt er seine Beobachtungen zu Papier.

Noch während er zeichnet, beginnen die dunklen Flecken plötzlich weiß aufzublitzen. »So etwas habe ich ja noch nie gesehen!«, ruft Carrington, springt auf und eilt zu seinem wissenschaftlichen Assistenten, um seine spektakuläre Beobachtung mit ihm zu teilen. Als sie wieder zum Teleskop zurückkehren, ist es jedoch bereits zu spät, übrig ist nur noch ein schwaches Glühen. Carrington wird stutzig: »Könnte das etwas mit den mysteriösen Vorkommnissen der letzten Tage zu tun haben?‹‹

Richard Carringtons Originalaufzeichnungen der Sonnenflecken vom 1. September 1859

So oder so ähnlich könnte ein historischer Roman über das »Carrington-Ereignis« beginnen – den größten jemals beobachteten Sonnensturm. Zu dem Zeitpunkt, als Carrington diese Lichtblitze sah, hatten kleinere Stürme die Menschen rund um den Globus bereits tagelang in Aufruhr versetzt: Vielerorts brachten sie Kompassnadeln zum Rotieren, technische Geräte zum Brennen und den Nachthimmel so hell zum Leuchten, dass man sogar nachts ein Buch lesen konnte. Mitte des 19. Jahrhunderts konnte man sich natürlich noch nicht erklären, was genau da passierte. Heute, nach jahrhundertelanger und mittlerweile satellitengestützter Sonnenforschung, wissen wir zum Glück schon wesentlich mehr.

NASA-Aufnahme eines gigantischen Sonnenflecks, der am 23. Oktober 2014 einen Durchmesser von 128 747 Kilometern erreichte

Doch was genau hat Carrington durch sein Teleskop gesehen? Anders als man auf den ersten Blick vielleicht vermutet, handelt es sich bei Sonnenflecken nicht um irgendwelche Objekte auf der Oberfläche. Die Oberfläche der Sonne besteht nämlich ausschließlich aus heißen Gasen, die sich aber aufgrund ihrer ständigen Fluktuation nicht einheitlich bewegen: Während die Polregionen 30 Tage für einen Umlauf benötigen, geschieht das am Äquator bereits in 25 Tagen. Durch diese uneinheitliche Rotation verzerrt sie ständig ihr eigenes Magnetfeld. An Orten, an denen das Magnetfeld nun besonders verzerrt ist, kommt es dabei stellenweise zum Herausbrechen von Magnetfeldlinien. Dadurch wird der heiße Materiezufluss aus dem Sonneninneren gestört und der Wärmenachschub fehlt: Am Ein- und Austrittsort der Magnetfeldlinie entsteht jeweils ein Sonnenfleck. Die Flecken bestehen also wie der Rest des Sterns aus ionisiertem Gas (Plasma), sind jedoch im Vergleich zu den umliegenden Bereichen bis zu 1500 Grad Celsius kühler und daher dunkler.

Magnetfeldlinien aus dem Inneren ploppen heraus und bilden zwei Sonnenflecken.

Was am 1. September 1859 geschah, war eine große Ansammlung solcher Sonnenflecken. Das Magnetfeld der Sonne muss folglich massiv gestört gewesen sein. Aber was genau führte zu den Lichtblitzen, die Carrington beobachtete?

Sicher hast du schon einmal zwei Magnete mit dem gleichen Pol zueinander gelegt. Vermutlich hast du dabei nicht nur gesehen, dass sie sich abstoßen, sondern auch, dass sie sich manchmal blitzschnell drehen, um sich miteinander zu verbinden. Etwas Ähnliches passiert, wenn mehrere solcher Sonnenflecken in unmittelbarer Nähe zueinander auftreten und ihre Magnetfeldlinien aufeinandertreffen: Sie verbinden sich und die magnetischen Verspannungen auf der Sonnenoberfläche bauen sich schlagartig ab. Dadurch wird das an den Feldlinien anliegende Plasma abgestoßen und mit einer Geschwindigkeit von bis zu Tausenden Kilometern pro Sekunde – man beachte: pro Sekunde! – von der Sonne weggeschleudert. Dabei kommt es zu einer gigantischen Eruption an Sonnenmasse, die alle terrestrischen Vulkane um einige Größenordnungen übersteigt: dem koronalen Massenauswurf.

Unsere Erde (links unten) im Größenvergleich zu einem koronalen Massenauswurf

Carrington wurde also zufällig Zeuge eines gigantischen koronalen Massenauswurfs. Was er aber nicht sah: Ab diesem Moment war die dabei abgestoßene Teilchenwolke mit einer unglaublichen Geschwindigkeit von über 2000 Kilometern pro Sekunde auf direktem Kurs in Richtung Erde unterwegs und sollte ungefähr 17,5 Stunden später eintreffen. Ein Grund zur Panik?

Trifft solch eine Schockfront aus geladenen Teilchen auf das Magnetfeld der Erde, kommt es zu sogenannten Sonnenstürmen, einem grundsätzlich harmlosen Phänomen. Doch mit steigender Intensität können starke Sonnenstürme auch zu besorgniserregenden Ereignissen führen.

Zunächst einmal ungefährlich und wunderschön ist das Auftreten von Polarlichtern außerhalb der Polarregion. Sie werden sichtbar, da die geladenen Teilchen der ankommenden Schockfront die Teilchen in der oberen Erdatmosphäre anregen. Je nach Art des angeregten Atoms leuchten sie grün und rot (Sauerstoff) oder bei noch höheren Intensitäten auch violett bis blau (Stickstoff). Während des Carrington-Ereignisses war der Sonnensturm derart stark, dass Polarlichter sogar über Kuba, Italien und Hawaii zu sehen waren.

Schon interessanter wird es, wenn wir über technische Geräte sprechen. Auf der Hand liegt zunächst, dass ein gestörtes Magnetfeld Kompassnadeln unbrauchbar macht. Das ist aber nur der Anfang! Durch das sich verändernde Magnetfeld werden auch Elektronen in elektrisch leitenden Materialien verschoben, wodurch Spannung entsteht. Es kann also zu unvorhergesehenen Stromflüssen kommen! Eine sehr große Angriffsfläche bieten hier vor allem Überlandleitungen von Stromnetzen, weshalb es bei stärkeren Sonnenstürmen durchaus zu Schäden an der Leistungselektronik der Stromversorgung – und damit auch zu Stromausfällen – kommen kann.

Polarlichter gehören zu den harmloseren Folgen einer Sonneneruption.

In den 1850er-Jahren war das kein großes Thema, das Stromnetz entstand erst einige Jahrzehnte später. Was es aber bereits gab, waren etliche Kilometer lange Telegrafenleitungen, an deren Enden sich oft relativ kleine, empfindliche Sende- und Empfangsstationen befanden. Und so kam es, dass die durch das Carrington-Ereignis induzierte elektrische Spannung mancherorts stark genug war, um in den Empfangsgeräten der Telegrafenleitung Funken zu verursachen. Und als wäre das nicht schon genug, verschlimmerte ein einfaches Detail das Ganze zusätzlich: In diesen Telegrafiegeräten befand sich nämlich oft ein leicht entzündlicher Papierstreifen zum Mitschreiben, weshalb einige dieser Geräte sogar in Flammen aufgingen.

So sah ein Telegrafiegerät aus. Beachte den heraushängenden Papierstreifen.

Auch heute noch kommt es regelmäßig zu Sonnenstürmen, von denen jedoch nur die wenigsten nennenswerte Probleme verursachen. Da unsere Welt aber mittlerweile hochtechnologisiert ist, würde uns ein derart kraftvoller Sonnensturm wie das Carrington-Ereignis zurück ins Mittelalter schicken. Denn neben sofortigen großflächigen Stromausfällen würden auch alle anderen elektronischen Systeme versagen. Mobiltelefone, Internet, neuere Autos, selbst bargeldloses Bezahlen wäre nicht mehr möglich, da sowohl Bezahlterminal und Kommunikationsweg als auch die Empfängerstation der Bank offline wären. Deinen morgendlichen Tee müsstest du dir über offener Flamme kochen. Und das auch nur, wenn du stilles Wasser in Flaschen vorrätig hättest. Wasserhahn, Klospülung und Dusche würden genauso wenig funktionieren wie Kurbelradios, die im Falle eines klassischen Stromausfalls zumindest noch ein geringes Maß an Nachrichtenfluss böten. Besonders heftig träfe es aber das öffentliche Leben: Züge würden stehen bleiben, elektrisch betriebene Türen würden sich nicht mehr öffnen und selbst satellitengestützte Kommunikation wäre nicht mehr möglich, da ein Großteil der im Erdorbit vorhandenen Flugkörper durch die Teilchenstrahlung zerstört würde. Sicherheitskräfte wie Polizei und Militär hätten bereits unmittelbar nach der Katastrophe massive Schwierigkeiten, Recht und Ordnung durchzusetzen, denn ihre Mannschaftswagen und auch ihr Funkverkehr wären lahmgelegt. Es käme aufgrund der chaotischen Zustände zu Angst und Panik und rasch zu ersten Plünderungen. Patienten in Krankenhäusern, die auf medizinische Versorgung angewiesen sind, träfe es als Erstes, denn die elektronischen Bauteile unzureichend abgeschirmter Notstromaggregate wären geschmolzen und funktionslos.

Bei einem Sonnensturm in der Dimension des Carrington-Ereignisses würden Großstädte wie New York für einige Monate im Dunkeln versinken.

Dass wir hier wirklich nicht nur von kleinen Unannehmlichkeiten sprechen, beweist die Risikoeinschätzung der U. S. Army: Für sie stehen die Auswirkungen eines starken Sonnensturms auf derselben Stufe wie der Militärangriff einer feindlichen Großmacht! Die Schäden würden laut Schätzungen in die Billionen Euro gehen und es würde Jahre dauern, sie vollständig zu beheben.

Zumindest ein wenig Abhilfe könnte hier ein Frühwarnsystem aus Dutzenden Sonnenteleskopen schaffen, die auf der Basis ihrer Beobachtungsdaten solare Magnetfeldveränderungen vorhersagen und uns sogar warnen könnten, noch bevor ein gefährlicher koronaler Massenauswurf Kurs auf unsere Erde nähme. Dadurch bliebe den betroffenen Gebieten etwas mehr Vorbereitungszeit, um wenigstens das soziale Chaos abzumildern.

Der koronale Massenauswurf am 23. Juli 2012 hätte beinahe zu einem zweiten Carrington-Ereignis geführt. Der Sonnenkörper ist geschwärzt, um den Kontrast zu erhöhen.

Diese Überlegung ist gar nicht so weit hergeholt, denn tatsächlich: Am 23. Juli 2012 verfehlte ein solarer Supersturm, dessen Stärke ungefähr jener des Carrington-Ereignisses entsprach, nur haarscharf unseren Planeten – die Forscher der NASA veröffentlichten die Analysen dazu aber erst 2 Jahre später, im Jahr 2014. Und du selbst hättest davon vermutlich nie etwas davon mitbekommen, hättest du dieses Buch nicht gelesen.

Was Richard Carrington bereits in den 1850er-Jahren beobachten und zum Teil sogar richtig deuten konnte, lässt mich immer wieder ehrfürchtig werden vor den Forschern dieser Ära. Mit nur 26 Jahren baute Carrington ganz aus eigenen Mitteln – und nebenbei gesagt: ohne Bestellmöglichkeit im Internet – seine eigene Sternwarte (siehe Anfangsbild). Carrington erfüllte seine Rolle als Sonnenforscher mit Leib und Seele, denn ironischerweise war er auch ein impulsiver Hitzkopf: Wegen seiner aufbrausenden und wohl manchmal auch unbesonnenen Art erteilten ihm mehrere Universitäten in England eine Absage, als er sich bei ihnen als Wissenschaftler bewarb. Seine Reaktion? Die einzige, die eines echten Sonnenforschers würdig ist: mit heißem Gemüt ein paar Brandbriefe voller Beschwerden versenden – die allerdings allesamt nichts halfen. Dennoch erlangte er Berühmtheit in der Astronomie.

Übrigens: Dass eine Sonneneruption unsere Erde eines Tages zerstören oder wenigstens uns Menschen schaden könnte, schließt die NASA zum jetzigen Zeitpunkt aus.

Um ein Haar hätte diese Maschine Frankreich blamiert

Ohrenbetäubendes Donnern. Paul duckt sich und wenige Sekunden später explodiert das abgefeuerte Geschoss hinter der feindlichen Linie. »Allez! Allez!«, ertönt es hinter ihm. Adjutant Roussel ruft zur Offensive. Paul stößt sich vom matschigen Boden ab und rennt los. Reizüberflutung. Lärm und Adrenalin lassen alles in Zeitlupe erscheinen, doch plötzlich sieht er im etwa 80 Meter entfernten Schützengraben eine schemenhafte Bewegung. Ein feindlicher Soldat setzt an und feuert. Aus dem Augenwinkel sieht Paul, wie ein Kamerad stolpert und fällt. Paul und die anderen rennen weiter. Anvisieren, ein paar vorsichtige Schritte, Luft anhalten, Abzug! Im Schutz des Deckungsfeuers schaffen es die französischen Verteidiger tatsächlich, die deutsche Stellung zurückzuerobern und die Invasoren zurückzudrängen.

Zwei feindliche Schützengräben an der Westfront nahe dem französischen Tilloloy

Es ist der 9. September 1914. Die Schlacht an der Marne markiert an diesem Tag den ersten Wendepunkt des Ersten Weltkriegs. Der vom Deutschen Kaiserreich ausgetüftelte Schlieffen-Plan, mit dem Frankreich innerhalb kürzester Zeit besiegt werden sollte, um die Truppen dann möglichst schnell an die Ostfront gegen Russland verschieben zu können, ist gescheitert. In der Folge bildet sich eine 750 Kilometer lange Front von der Nordsee bis in die Schweiz, die bis auf minimalste Landgewinne nahezu erstarrt. Übersät mit vielen tiefen Schützengräben fragt sich Frankreich: Wie erobern wir unser Land zurück?

Vor allem einer stellt sich diese Frage: der Ingenieur Louis Boirault. Schnell ist klar, dass die größte Herausforderung dieses Krieges genau die langwierigen Grabenkämpfe sind, die heute als Hauptmerkmal des Ersten Weltkriegs gelten. Mit zahlreichen Opfern, aber meist ohne jeglichen Fortschritt.

Was gäbe es also für eine Möglichkeit, das unwegsame Schlachtfeld zu überwinden und tief in die feindlichen Stellungen vorzudringen? Eisenbahnen erweisen sich schnell als ungeeignet, zu absurd ist die Überlegung, ein mobiles Gleisnetz zu verlegen. Und die neuartigen Automobile sind zwar durchaus hilfreich für die Kriegslogistik im Hintergrund, aber für taktische Manöver an der Front nicht zu gebrauchen.

Louis Boirault entwirft also eine eigene Maschine. Im Dezember 1914 präsentiert er dem französischen Kriegsministerium seinen Plan für eine 4 Meter hohe und 8 Meter lange Konstruktion: das Appareil Boirault. Sie soll aus einem riesigen Metallrahmen bestehen, der sich um ein motorisiertes Zentrum dreht und so fortlaufend Gleise »generiert«. Die Idee kommt der ratlosen Regierung gelegen und so stimmt man dem Bau eines Prototyps zu.

Das Appareil Boirault aus dem Jahr 1914

Ein paar Monate später ist es so weit: Mit zwei Männern besetzt überwindet das 80 PS starke Appareil Boirault tatsächlich Gräben von mehreren Metern Länge, Stacheldrahtsperren und einen 5 Meter breiten Trichter. Grundsätzlich also ein Erfolg.

Die Boirault-Maschine überwindet erfolgreich ein Stacheldrahthindernis.

Die Tests zeigen jedoch klar: Die Maschine ist mit ihren 30 Tonnen Gewicht erstens sehr schwer und zweitens sehr träge. Selbst auf ebener Strecke erreicht sie gerade mal eine Höchstgeschwindigkeit von 3 Kilometern pro Stunde und wegen des großen Einzelrahmens lässt sie sich nicht lenken – ein zusätzlicher Hubmechanismus ist nötig. Deshalb – und weil die Maschine schon von Weitem nicht nur hörbar, sondern auch gut sichtbar ist – ist das Appareil Boirault absolut frontuntauglich. Man legt das Konzept auf Eis und verleiht ihm sogar den Spitznamen »Diplodocus militaris«, angelehnt an die Sauropoden, die ähnlich langsam unterwegs waren.

Louis Boirault gibt sich mit dieser Niederlage nicht zufrieden. Er sieht weiterhin großes Potenzial in seiner Erfindung und tüftelt an einer zweiten Version. Was er aber nicht weiß: Der französische Waffenhersteller Schneider verfolgt ähnliche Pläne und hat in der Zwischenzeit die innovativen Raupentraktoren der amerikanischen Holt Company näher untersucht. Deren patentierte Gleisketten mit ihrem eleganten Differenzialgetriebe sind deutlich schneller, leichter und wendiger als die des Appareil Boirault. Ab Mai 1915 fließt das amerikanische Konzept in die Entwicklung des ersten französischen Panzers namens Schneider CA1 ein.

Der erste französische Panzer Schneider CA1

Louis setzt daraufhin alles auf eine Karte. Am 17. August 1916 präsentiert er sein im Vergleich zum Vorgänger deutlich kompakteres und leichteres Appareil Boirault V2. Sechs Metallplattensegmente bieten der Fahrerkabine in der Mitte zusätzlichen Schutz und auch die Lenkung ist neu: Mit einem Wendekreis von 100 Metern bietet die Maschine nun zumindest ein gewisses Maß an Manövrierfähigkeit. Doch so richtig zufrieden ist das Militär nicht. Der zuständige General Gouraud stellt fest, die Maschine mache zwar alles Überrollte dem Erdboden gleich, sei aber insgesamt alles andere als überzeugend: Denn selbst auf ebenem Gelände bringt es das Appareil Boirault V2 nur noch auf ein Tempo von einem einzigen Kilometer pro Stunde. Das Projekt Appareil Boirault ist endgültig gescheitert.

Da die parallele Entwicklung des Schneider-Panzers unterdessen weiter Fahrt aufnahm und die ersten Prototypen als deutlich vielversprechender galten, wurden bereits im Frühjahr 1916 400 kriegsfähige Einheiten bestellt, sodass der Schneider CA1 schließlich als erster französischer Panzer in die Geschichte einging. Die große Begeisterung hielt aber nicht lange an, denn auf den Schlachtfeldern erwiesen sich die neuen Maschinen nicht unbedingt als bahnbrechend: Innentemperaturen von 50 Grad Celsius, betäubender Lärm und hohe Kohlenmonoxid- und Feinstaubkonzentrationen ließen viele eingesetzte Besatzungsmitglieder das Bewusstsein verlieren. Erst gegen Ende des Ersten Weltkriegs gewannen weiterentwickelte Panzer zunehmend an Bedeutung, wodurch die Alliierten letztlich den Sieg über das Deutsche Kaiserreich erringen konnten.

Louis Boirault ging also nicht als glorreicher Erfinder in die Geschichte ein. Doch er musste aufgrund seiner Arbeit auch nicht an die Front. Das war vielleicht doch kein so schlechter Deal – so entging er immerhin einem Krieg, der 17 Millionen Menschenleben forderte. Wäre Frankreich wirklich mit der Boirault-Maschine auf einem Schlachtfeld aufgetaucht, wer weiß, wie der Erste Weltkrieg geendet hätte. Vielleicht durch einen schnellen Sieg der Franzosen, da die Deutschen vor Lachen sofort kapituliert hätten.

Auch Appareil Boirault V2 konnte nicht überzeugen.

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Wir schreiben den 20. Dezember 1898. Wie in den vergangenen Monaten schon so oft, sitzen Pierre und seine Frau Marie auch an diesem kalten, verschneiten Wintertag zusammen in ihrem kleinen Labor an der École normale supérieure in Paris, einer Universität, die bis heute zu den angesehensten der Welt zählt. Auf dem Labortisch vor ihnen steht eine winzig kleine Probe einer bisher unbekannten Substanz, zu deren Extraktion über 1000 Kilogramm uranhaltige Erze aus einer Silbermine im tschechischen Jáchymov verwertet werden mussten. Doch all der Aufwand und die Mühen, die sie in den letzten Monaten in die Herstellung der Probe und deren Untersuchung gesteckt haben, scheinen sich gelohnt zu haben. Die Ergebnisse der Spektralanalysen beseitigen jeden Zweifel: Was da vor ihnen liegt, muss ein neues, bisher gänzlich unbekanntes Element sein. Marie wendet sich von dem kleinen Behälter ab, greift nach ihrem Kugelschreiber und beugt sich über ihr Forschungstagebuch, das sie immer griffbereit neben sich auf dem Tisch liegen hat. »Radium« schreibt sie hinein und gibt damit dem bislang namenlosen Stoff einen Namen, der auf seine starke radioaktive Strahlung anspielt.

Radium entsteht in winzigen Mengen beim natürlichen Zerfall von Uran. Hier abgebildet: Uranerz mit Uraninit (schwarz), auch Pechblende genannt

Was das Forscherpaar Curie allerdings noch nicht weiß: Die Entzündungen an den Fingerspitzen von Maries Hand, mit der sie gerade den Stift hielt, sind nicht nur irgendwelche Hautreizungen, sondern erste Vorboten der einsetzenden Strahlenkrankheit, die bereits beginnt, ihren Körper zu zersetzen, und schon bald ihr Todesurteil sein wird ...

Zu dieser Zeit tragen Forscher – die Curies eingeschlossen – noch keinen speziellen Schutz, wenn sie mit radioaktiven Substanzen hantieren. Warum auch? Erst 2 Jahre zuvor hatte der Forscherkollege der Curies, Antoine Henri Becquerel, diese neuartige und mysteriöse Art Strahlung überhaupt erstmals nachgewiesen. Niemand, absolut niemand, nicht einmal der intelligenteste Kopf hätte zu dieser Zeit erahnen können, welch heftige Probleme Radioaktivität und langfristige Strahlenbelastung hervorrufen würde.

Im Gegenteil – denn nur 3 Jahre nach Entdeckung des Radiums führt ein verhängnisvolles Ereignis die Menschheit auf eine komplett falsche Fährte: Pierre Curie beobachtet 1901, dass Radium in der Lage ist, Krebszellen abzutöten – ein scheinbar positiver Effekt von radioaktiver Strahlung. Die Nachricht schlägt ein wie eine Bombe und sorgt bei Forschern und Medizinern für große Euphorie. Man versucht daraufhin eifrig, das Potenzial der Anwendung von Radium in der Krebstherapie auszuloten, und neben radiumhaltigen Salben entstehen auch Ansätze wie die sogenannte »Curie-Therapie«, bei der Radium direkt in Tumore injiziert wird.

Pierre und Marie Curie in ihrem Labor

Auch fernab der Wissenschaft und Schulmedizin wird durch diese Entdeckung ein regelrechter, von blindem Optimismus getriebener Hype um radioaktive Stoffe losgetreten. Die Hoffnung macht sich breit, dass es sich dabei um ein Wunderheilmittel handeln könnte, das neue Lebensenergie verleiht, und viele Geschäftsleute wittern Profit. Was dann in den 1920er- und 1930er-Jahren geschieht, ist aus heutiger Sicht absolut unvorstellbar: Aus »Radioaktivität« wird eine attraktive Produkteigenschaft, ein echtes Alleinstellungsmerkmal.

Der Radium Ore Revigator

Erster Einsatzbereich: Trinkwasseroptimierung – beispielsweise mit dem »Radium Ore Revigator«, einem Wasserspender aus uran- und radiumhaltigem Erz. Beim radioaktiven Zerfall des Topfmaterials wurde das ebenfalls strahlende Element Radon freigesetzt, das sich im Wasser ansammelte. Laut Hersteller sollte man mindestens acht Gläser radioaktives Wasser am Tag trinken, um den größten gesundheitlichen Nutzen zu erzielen.

Strahlendes Lächeln mit der radioaktiven Doramad Zahncreme

Für gesundheitsbewusste Schokoliebhaber gab es die Burkbraun Radium Schokolade, produziert mit radiumversetztem Wasser. Laut Werbebroschüre konnte man damit seinen Körper effektiv von innen heraus verjüngen: »Das Geheimnis ihrer rasch durchgreifenden Wirkung beruht darauf, dass das Radium aus dieser Edelschokolade ohne Verzug in die Blutbahn und so in alle Organe, ins Zentralnervensystem, in die Drüsen, in die Nerven bis in die letzten Verästelungen und Zellen gelangt.« Wohl bekomm’s!

Der Trend machte auch vor Pflegeprodukten keinen Halt: So versprach die Berliner Auergesellschaft den Anwendern ihrer thoriumhaltigen Doramad Zahnpasta »neue Lebensenergie« für die Zellen im Mund – und das auch noch mit »neuartigem, angenehmem, mildem und erfrischendem Geschmack«.

Gesichtspuder mit Radium von Tho-Radia

Für leuchtende Haut im wahrsten Sinne des Wortes sollten Produkte des französischen Unternehmens Tho-Radia sorgen, das noch bis 1937 Hautcremes und Seifen mit Radium und Thorium anbot. Um Vertrauen zu erwecken, warb die Marke mit dem Slogan »Nach der Rezeptur von Dr. Alfred Curie«. Letzterer hatte allerdings bis auf seinen Nachnamen rein gar nichts mit Marie und Pierre Curie und deren Arbeit gemein.