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Kristen Lepionka

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Beschreibung

Vor 15 Jahren wurde Brad Stockton zum Tode verurteilt. Er soll seine Freundin Sarah, ein hübsches blondes Mädchen, entführt und ihre Eltern getötet haben. Nun schwört Brads Schwester, Sarah vor Kurzem gesehen zu haben. Sie engagiert Roxane Weary, und obwohl die junge Privatermittlerin den Fall für aussichtslos hält, nimmt sie ihn aus Geldnot an. Als man Roxane aber von ihren Ermittlungen abbringen will, verbeißt sie sich – und stößt tatsächlich auf weitere hübsche blonde Mädchen, die spurlos verschwanden. Doch je tiefer Roxane gräbt, umso gefährlicher wird es: für sie selbst, für die vermissten Frauen und für Brad, dessen Zeit abläuft …

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Buch

Vor 15 Jahren wurde Brad Stockton zum Tode verurteilt. Er soll seine Freundin Sarah, ein hübsches blondes Mädchen, entführt und ihre Eltern getötet haben. Nun schwört Brads Schwester, Sarah vor Kurzem gesehen zu haben. Sie engagiert Roxane Weary, und obwohl die junge Privatermittlerin den Fall für aussichtslos hält, nimmt sie ihn aus Geldnot an. Als man Roxane aber von ihren Ermittlungen abbringen will, verbeißt sie sich – und stößt tatsächlich auf weitere hübsche blonde Mädchen, die spurlos verschwanden. Doch je tiefer Roxane gräbt, umso gefährlicher wird es: für sie selbst, für die vermissten Frauen und für Brad, dessen Zeit abläuft …

Autorin

Wer Kristen Lepionka in ihren Jugendjahren suchte, fand sie wahrscheinlich in der Bibliothek hinter einem großen Stapel Krimis. Als Erwachsene ist sie in Polizeiwagen mitgefahren und hat gelernt, wie man Schlösser knackt – natürlich stets im Dienste der Spannungsliteratur. Sie lebt in Ohio, USA.

Kristen Lepionka

Du findest sie nicht

Kriminalroman

Deutsch von

Verena Kilchling

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Last Place You Look« bei St. Martin’s Press, New York.
Copyright © 2017 der Originalausgabe by Kristen Lepionka All rights reserved. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt. Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: Getty Images/Artem Vorobiev Redaktion: Alexander Groß An · Herstellung: ik Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN: 978-3-641-22028-0V002www.goldmann-verlag.de
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Für meine Eltern,

die sich meine endlosen Geschichten

angehört haben

* * *

Niemand ist je für immer verloren.

Amanda Palmer

EINS

»Matt hat gesagt, dass Sie Dinge finden. Dass das Ihr Beruf ist«, erklärte die Frau am Telefon.

Ich lag auf dem Teppich unter meinem Schreibtisch. Ans Telefon war ich nur gegangen, damit das schrille Klingeln aufhörte. Das Innere meines Mundes schmeckte nach Schlagsahne und Whiskey, und mein Kopf dröhnte bei jedem Atemzug, aber wenigstens war ich allein und befand mich in meiner eigenen Wohnung. »Das ist richtig«, antwortete ich.

»Was für Dinge?« Ihr Tonfall war misstrauisch, als sei es ihr oberstes Ziel, als falsch zu entlarven, was auch immer ihr mein ältester Bruder über mich erzählt hatte.

»Gegenstände. Personen. Antworten. Was eben gefunden werden soll.«

»Können Sie das gut?«

Ich hatte in den letzten neun Monaten kaum gearbeitet und auch jetzt eigentlich keine Lust, wieder damit anzufangen. Mein Kontostand war anderer Ansicht. »Ja. Matt mag mich nicht besonders, Sie können es also als Vertrauensbeweis werten, dass er Ihnen überhaupt meine Nummer gegeben hat.«

Das war alles an Eigenwerbung, was ich zustande brachte. Illusionen halfen in der Detektivbranche niemandem weiter – weder den Klienten noch mir.

Die Frau lachte. »Er hat mir prophezeit, dass Sie das sagen würden. Also, können Sie mir helfen?«

Ich dachte darüber nach. Wenn man etwas verloren hat, geben einem die Leute oft die absurdesten Ratschläge: Gehen Sie noch einmal denselben Weg zurück. Beten Sie zum heiligen Antonius. Versuchen Sie sich zu erinnern, wo Sie den Gegenstand zuletzt gesehen haben. Bei den Dingen, die wirklich wichtig sind, nützt das alles nichts, denn die hat man normalerweise direkt vor der Nase, ohne es zu merken. Man findet sie nicht, indem man nach ihnen sucht, sondern indem man sich alles andere anschaut. »Was wollen Sie denn wiederfinden?«, fragte ich schließlich.

»Die Frau, die meinen Bruder vor der Todesstrafe bewahren kann.«

Neunzig Minuten später saßen wir im Wohnzimmer meiner Wohnung, das gleichzeitig als improvisiertes Detektivbüro diente. Drei Tassen grüner Tee mit Minze hatten mich so weit gestärkt, dass ich eine einzelne eingeschaltete Lampe ertrug, auch wenn ich es vorzog, in dem am weitesten von ihr entfernten Sessel zu sitzen. Aus dem nach Westen weisenden Fenster unterhalb der Zimmerdecke fiel das Licht des Montagmittags herein, aber die Jalousien der übrigen Fenster hatte ich fest verschlossen gelassen. Falls meiner neuen Klientin die höhlenähnliche Atmosphäre merkwürdig vorkam, ließ sie es sich nicht anmerken.

»Bis zu jenem Abend«, berichtete Danielle Stockton, »hatte ich sie fünfzehn Jahre nicht mehr gesehen. Niemand hat sie in dieser Zeit gesehen.«

Danielle war eine hübsche, gepflegte Frau um die dreißig in königsblauem Cardigan und Jeans. Ihre Haare waren zu einem straffen Knoten gebunden, und um ihren schlanken Hals hatte sie kunstvoll ein Halstuch mit Leopardenmuster drapiert. Bis auf den dunkelroten Lippenstift war sie ungeschminkt. Sie arbeite bei American Electric Power, hatte sie mir eingangs erzählt, und sei während ihrer Mittagspause hergekommen. »Sarah Cook«, fügte Danielle nun hinzu. »So heißt sie. Eine Weiße. Mein Bruder und sie waren damals ein Paar. Das sei sein Motiv, haben sie behauptet: dass ihre nette weiße Familie ihn abgelehnt habe.«

Sie, das waren die Vertreter der Staatsanwaltschaft im Prozess gegen ihren älteren Bruder, über den sie mich gerade in Kenntnis gesetzt hatte. Vor fünfzehn Jahren war Bradford Stockton mit knapp zwanzig des Mordes an den Eltern seiner Freundin für schuldig befunden worden. Schuldig, die beiden in ihrem Wohnzimmer mit einem Kershaw-Klappmesser erstochen zu haben, das die Polizei, in ein T-Shirt von Sarah gewickelt, im Kofferraum seines Toyota Kombi gefunden hatte. Die siebzehnjährige Sarah wiederum war in jener Nacht verschwunden. Die Anklage unterstellte, Brad habe sie ebenfalls umgebracht und ihre Leiche irgendwo verscharrt.

Die Verteidigung setzte sich nicht besonders vehement gegen die Anschuldigungen zur Wehr und ignorierte die auf der Hand liegende Alternativtheorie bezüglich des Tathergangs: dass die nicht anwesende Sarah die Morde begangen hatte und anschließend abgehauen war. Zu dem Zeitpunkt, als Elaine und Garrett Cook umgebracht worden waren, hatte Brad gerade seine Schicht in einem Subway-Schnellrestaurant beendet und behauptete, er habe in seinem Auto auf dem Parkplatz gesessen und auf Sarah gewartet. Sie war früher am Abend im Restaurant gewesen – was Brads Kollegen bestätigten –, und das Paar hatte ausgemacht, zusammen ins Kino zu gehen, wenn Brad mit der Arbeit fertig war. Aber Sarah erschien nicht, und als Brad zu den Cooks fuhr, um nachzusehen, ob sie zu Hause steckte, war die Polizei bereits vor Ort und sein Leben vorbei. Er wurde des zweifachen Mordes für schuldig erklärt und wartete seither auf die Vollstreckung seines Todesurteils.

»Sie sieht immer noch genauso aus«, sagte Danielle.

Sie hatte mir eine Heftmappe mit Zeitungsausschnitten und Fotos mitgebracht, ein düsteres Sammelalbum rund um die fatale Situation ihres älteren Bruders. Von der aufgeschlagenen Seite auf dem Wohnzimmertisch lächelte besagte Sarah von einem Jahrbuchfoto zu mir empor. Sie wirkte wie eine typische Pfadfinderin – honigblonde Haare, stumpf geschnittener Pony, blasse Sommersprossen auf der Nase.

»Ich meine, sie sah natürlich nicht mehr aus wie siebzehn«, fuhr Danielle zwischen zwei Schluck Tee fort. »Und sie hat seither zugenommen. Aber sie war es auf jeden Fall, daran habe ich keinerlei Zweifel. Kenny hat sie auch gesehen – Kenny Brayfield, ein alter Schulfreund von Brad.«

Ich hob die Augenbrauen. Das war die verrückteste Geschichte, die ich seit Langem gehört hatte. »Und wann war das?«

»Vor zehn Tagen, am zweiten November. Ungefähr um halb acht. Kenny und ich waren zum Abendessen in der Taverna Athena verabredet. Wir sind beide gerade dort angekommen, als ich zufällig über die Straße sah. Und dort habe ich sie entdeckt, wie sie eben aus der Tankstelle gegenüber trat. Ich rannte sofort los, aber der Verkehr versperrte mir die Sicht. Als ich endlich auf der anderen Straßenseite ankam, war sie verschwunden. Wahrscheinlich mit einem Auto weggefahren.«

»Haben Sie irgendeine Ahnung, mit was für einem?«

Danielles Mund zuckte. »Die Kreuzung ist ziemlich stark befahren. Es waren so viele Fahrzeuge unterwegs.«

Ich malte einen Aufzählungspunkt in mein Notizbuch, schrieb aber nichts dahinter. Abgesehen von dem blauen Punkt war die Seite bislang leer. »Erinnern Sie sich noch an einige davon?«

»Na ja«, antwortete Danielle, »ich habe einen roten Viertürer davonfahren sehen, als ich drüben ankam. Und einen grünen Pick-up oder so was, einen von diesen neuen, großen. Und einen Motorradfahrer. Aber es war schon dunkel, und ich habe nach ihr Ausschau gehalten, nicht nach irgendwelchen Autos. Daher kann ich es leider nicht mit Sicherheit sagen.«

»Was hatte sie an?«

»Einen Mantel. Einen langen Wollmantel. Glaube ich.«

Bei den wenigen Informationen, die sie mir zu der Begegnung liefern konnte, war sie sich zu allem Überfluss auch noch unsicher. Ich schrieb: rote Limousine, großer grüner Pick-up, langer Wollmantel. »Aber Sie sind sich sicher, dass sie es war?«

»Absolut sicher«, bestätigte Danielle.

Ich erwiderte nichts, blätterte nur schweigend durch die Heftmappe. Es kam mir unwahrscheinlich vor, dass Sarah so leicht zu erkennen gewesen wäre – fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit, und Danielle hatte sie nur für einen Sekundenbruchteil gesehen, noch dazu im Dunkeln. Außerdem: Wo sollte sie die ganze Zeit gesteckt haben?

Ich musterte Danielle, die mir auf einem Stuhl gegenübersaß. Wir hatten uns zwar gerade erst kennengelernt, aber sie machte einen sachlichen, intelligenten Eindruck auf mich. Vielleicht war es also doch nicht unmöglich.

»Angenommen, ich schaffe es, sie zu finden«, begann ich.

Danielle nickte.

»Was glauben Sie, wird dann passieren? Inwiefern kann sie Ihnen helfen? Und woher wollen Sie wissen, dass sie das überhaupt möchte?«

Meine neue Klientin schwieg einen Moment lang. Dann fragte sie: »Glauben Sie an Gott, Roxane?«

Ich lächelte. »Kein Kommentar.«

Danielle lächelte ebenfalls. »Na ja«, sagte sie. »Brad ist unschuldig, okay? Ich glaube ihm zu hundert Prozent, wenn er sagt, dass er es nicht getan hat. Er würde nie jemandem etwas antun. Er ist ein guter Mensch – nicht perfekt, aber wer ist das schon? Mein Bruder hat diese Morde nicht begangen.«

Ich merkte ihr an, dass sie das wirklich glaubte. Aber ihre Frage bezüglich Gott bewies, dass Glaube generell etwas war, was ihr leichtfiel. »Was hat das alles mit Gott zu tun?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht, was sich wirklich abgespielt hat oder wo sie gewesen ist«, erklärte Danielle. »Die Polizei hat versucht, sie zu finden, der von Brads Anwalt eingesetzte Detektiv hat versucht, sie zu finden – vergeblich, sie war spurlos verschwunden. Und dann, all die Jahre später, zwei Tage nachdem Brads Hinrichtungstermin festgesetzt wird, sehe ich sie plötzlich auf der anderen Straßenseite? Dafür muss es doch einen Grund geben.«

Ich hob die Augenbrauen. Das wichtigste Detail erwähnte sie ganz nebenbei. »Und wie lautet das Datum?«, fragte ich.

»Zwanzigster Januar.« Sie umklammerte ihren Becher mit beiden Händen.

Bis dahin waren es kaum mehr als zwei Monate. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, selbst vor einem solchen Abgrund zu stehen, und rutschte unbehaglich auf meinem Sessel herum. »Könnte sie es getan haben?«, fragte ich. »Ihre eigenen Eltern umgebracht haben, meine ich?«

Danielle presste die Lippen zusammen. »Darüber habe ich unendlich viel nachgedacht. Brad hat sich damals aufgeführt, als wäre das völlig ausgeschlossen – er ließ nicht einmal zu, dass sein Anwalt das Thema beim Prozess zur Sprache brachte.«

»Das nennt sich dann wohl Liebe.«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Aber was ist mit Ihnen? Was denken Sie?«

»Ich war nicht eng mit ihr befreundet, aber wir waren im selben Jahrgang, daher kannte ich sie«, sagte Danielle. »Sie war ein nettes, quirliges Mädchen. Ihre Familie war religiös, ziemlich puritanisch, und sie war eine Frühentwicklerin, Sie wissen schon – verrückt nach Jungs. Auf der Highschool hat sie gern geschrieben. Selbst verfasste Texte, Slam-Poetry. So haben sie und Brad sich kennengelernt, er schreibt nämlich auch. Wie ihr Verhältnis zu ihrer Familie war, habe ich nicht mitgekriegt, nur, wie sie sich bei uns zu Hause verhalten hat. Aber ich hatte das Gefühl, dass ihre Familie von ihrer Beziehung mit Brad nicht gerade begeistert war.«

Ich dachte daran, was Danielle zu Beginn unseres Gesprächs gesagt hatte: nette weiße Familie. »Nicht begeistert, weil Brad älter war oder weil er schwarz war?«, fragte ich und fügte dann hinzu: »Oder weil er Dichter war?«

Danielle lächelte matt. »Alle drei Gründe? Ich weiß auch nicht. Ich habe sie in unserem Keller miteinander reden hören, ungefähr eine Woche, bevor es passiert ist. Brad und Sarah. Es gab da so einen regionalen Poetry-Slam in Michigan, zu dem sie beide wollten. Sarah erzählte, dass ihre Eltern sie nicht mit ihm hinfahren lassen wollten, dass sie jedoch mit jemand anderem fahren und ihn dann dort treffen könne. Weiter ging die Ablehnung ihrer Eltern nicht, soweit ich weiß. Sie haben ihr nie wirklich verboten, ihn zu treffen. Aber dann sagte die Schwester von Mrs Cook beim Prozess aus, die Cooks hätten ein sehr schwieriges Verhältnis zu Brad gehabt, hätten sogar Angst vor ihm gehabt. Sie ist übrigens auch da drin. Ganz hinten.«

Ich blätterte zur letzten Seite der Heftmappe. Stockton der Belmont-Morde überführt. Ein körniges Foto einer attraktiven Frau im Tweed-Jackett, die in einem Gerichtssaal weinte und ein zerknülltes Taschentuch in der halb zum Gesicht gehobenen Hand hielt. Die Bildunterschrift lautete: »Gerechtigkeit für meine große Schwester« – Elizabeth Troyan überwältigt vom Urteil. Wenn Sarah damals siebzehn gewesen war, hieß das, dass das Gleiche für Danielle galt. Ich versuchte mir eine jüngere Version von ihr vorzustellen, wie sie sorgsam die nun vor mir liegenden Zeitungsartikel ausschnitt, sie in Klarsichthüllen schob und ihr gesamtes Erwachsenenleben mit sich herumtrug.

»Diese Frau kannte Brad gar nicht persönlich«, sagte Danielle kopfschüttelnd. »Während des Prozesses wurde ein Bild von meinem Bruder gezeichnet, das einfach nicht stimmte.«

»Und Sie glauben, dass Sarah diesbezüglich helfen könnte. Dass sie ihn in letzter Minute ins rechte Licht rücken könnte.«

»Ja.«

Ich klappte die Heftmappe zu. »Sie müssen aber auch mit der Möglichkeit rechnen, dass sie das nicht will.«

»Ich weiß.«

»Dass sie vielleicht ihre Gründe dafür hatte, nicht in Belmont zu bleiben, wie auch immer diese ausgesehen haben mögen.«

»Ich weiß.«

»Oder dass Ihnen nicht gefällt, was ich für Sie herausfinde.« Ich hielt es für unnötig, diese Aussage näher zu präzisieren: dass Sarah womöglich tot war und Danielles Bruder schuldig. Oder dass ich vielleicht überhaupt nichts herausfinden würde.

»Das meinte Brads neuer Anwalt auch: dass ich lieber mein Leben weiterleben soll, weil nichts Gutes dabei herauskommt, wenn man solche Sachen wieder ausgräbt.« Danielle zuckte mit den Schultern. »Er hat den Fall von seinem Onkel geerbt. Ihm ist das alles egal.«

Ich hob unwillkürlich die Augenbrauen. Jeder, ob unschuldig oder nicht, verdiente zumindest einen Anwalt, der den Angehörigen nicht sagte, sie sollten ihr Leben weiterleben. »Klingt, als bräuchten Sie keinen Detektiv, sondern einen neuen Anwalt«, sagte ich. »Ich kann Ihnen ein paar Namen nennen, wenn Sie wollen.«

Danielle schüttelte den Kopf. »Ich will Sarah finden. Matt hat mich vorgewarnt, dass Sie versuchen würden, mir die Sache auszureden.« Sie grinste. »Er meinte, dass Sie so das Vertrauen der Leute gewinnen.«

Sie hatte mich ertappt. Beinahe hätte ich gelacht. »Was hat er Ihnen noch erzählt?«

»Dass Sie sehr zielstrebig sind. Und klug.« Sie hielt inne, als wüsste sie nicht, ob sie mir die ganze Wahrheit verraten sollte. Ich nickte, und sie fuhr fort: »Und dass Sie ziemlich am Ende sind, seit Ihr Vater gestorben ist. Aber dass Ihnen trotzdem nichts entgeht.«

Ich trank meinen Tee leer und stellte meinen Becher auf dem Wohnzimmertisch ab. Es stimmte, was ich ihr gesagt hatte: dass mein Bruder mich nicht besonders mochte. Er kannte mich trotzdem verdammt gut. »Also, wollen Sie es immer noch durchziehen?«

»Ja«, antwortete Danielle. Sie griff in ihre Handtasche und zog ihr Scheckbuch hervor. Mein Bankkonto würde begeistert sein.

ZWEI

Es war nach ein Uhr mittags, als Danielle ging. Ich blieb noch eine Weile im Sessel sitzen und blätterte durch ihre Heftmappe, wobei ich bei der Beschreibung der Mordwaffe hängen blieb. Acht Zentimeter lange Klinge, erhältlich in jedem Geschäft für Jagdbedarf. Ich brauchte keine Fotos vom Tatort, um zu wissen, dass diese Morde brutal gewesen und Garrett und Elaine Cook nicht schnell gestorben waren. Ich versuchte mir ihre siebzehnjährige Tochter als Täterin vorzustellen, aber mein Kopf schmerzte noch zu sehr von letzter Nacht, um mir überhaupt irgendetwas vorzustellen. Außerdem war das blutige Messer in Brads Kofferraum gefunden worden, eingewickelt in Sarahs T-Shirt.

Das war ziemlich überzeugend.

Vermutlich war er schuldig.

Danielle hatte mich jedoch nicht engagiert, damit ich ihr meine Meinung zu dem Fall sagte. Vielmehr hatte sie mir einen Scheck über zweitausendfünfhundert Gründe ausgestellt, von Brads Unschuld auszugehen.

Ich schluckte noch zwei Aspirin und rief Kenny Brayfield unter der Nummer an, die Danielle mir gegeben hatte. Er war zu beschäftigt, um mich sofort zu treffen, schlug jedoch vor, dass ich am späteren Nachmittag im Büro seiner Eventmarketing- und Promotion-Agentur vorbeikommen sollte. Dann telefonierte ich mit Brads neuem Anwalt, der mir nicht viel zu bieten hatte, bis auf die Kontaktdaten des Privatdetektivs, der seinem Vorgänger damals beim Prozess geholfen hatte. Bei ihm versuchte ich es als Nächstes.

»Ja?«, meldete sich eine alt klingende, schroffe Stimme nach dem dritten Klingeln.

»Peter Novotny?«, fragte ich.

»Vielleicht. Wer ist denn da?«

»Mein Name ist Roxane Weary. Sie hatten vor langer Zeit mit einem Fall zu tun. Brad Stockton?«

»Ach, das«, knurrte er. »Hören Sie, ich bin im Ruhestand und werde keinem Geist mehr in ganz Ohio hinterherjagen. Sekunde mal, sagten Sie Weary? Irgendeine Verbindung zu Frank Weary?«

Es war neun Monate her, dass mein Vater gestorben war, aber sein Tod fühlte sich immer noch an wie ein Schlag in die Magengrube. »Ich bin seine Tochter.«

»Scheiße noch eins«, sagte Peter Novotny. Der knurrige Unterton war verschwunden. »Großartiger Mann. Was für eine gottverdammte Schande … Natürlich können wir uns unterhalten, Schätzchen. Bist du ein Whiskey-Fan wie dein alter Herr?«

»Bin ich.«

»Gut, ich warte nämlich schon den ganzen Nachmittag darauf, dass eine schöne Frau diese Bar betritt und sich neben mich setzt«, erklärte Novotny.

»Na, dann viel Glück«, erwiderte ich. »Ich würde mich trotzdem gern mit Ihnen unterhalten. Wo können wir uns treffen?«

»Auch wenn du alt und hässlich sein solltest – Frank Wearys Kind gebe ich auf jeden Fall einen Drink aus.«

Ich kniff für eine Sekunde die Augen zu und beschloss dann, das Spielchen mitzuspielen. »Nur einen?«, fragte ich, und der alte Mann lachte.

»Ich mag dich jetzt schon.«

Ich fuhr auf die East Side und fand Peter Novotny an der Bar des Wing’s vor, eines China-Restaurants, das absurderweise die beste Whiskey-Auswahl von ganz Columbus zu bieten hatte. Im Restaurant war es schummrig und warm, und die Bar wurde von tiefen Sitznischen aus rotem Kunstleder flankiert. Novotny war der einzige Gast. Er musste auf die achtzig zugehen, ein alter Mann mit vollem schlohweißem Haar und markantem Gesicht, dem man ansah, was für ein Herzensbrecher er vermutlich einmal gewesen war. Ich marschierte zur Bar, setzte mich neben ihn und säuselte mit meiner besten Marilyn-Monroe-Stimme: »Sitzt hier schon jemand?«

Er drehte sich ruckartig um, musterte mich und grinste dann breit. »Es werden also doch noch Träume wahr.« Er streckte die Hand aus, und ich schüttelte sie, während er mich noch eingehender unter die Lupe nahm. Ich war ganz sicher kein wahr gewordener Traum, aber alt und hässlich war ich auch nicht. »Wirklich schön, dich kennenzulernen, Roxane.« Er schob mir ein Glas hin; offenbar war er einer dieser alten Männer, die für alle mitbestellen. »Es sind keine K.o.-Tropfen drin, keine Sorge.«

»Das ist nicht lustig«, erwiderte ich, und er lachte.

»Ich wette mit dir um zehn Mäuse, dass du nicht errätst, welcher Whiskey das ist.«

Ich schwenkte die bernsteinfarbene Flüssigkeit im Glas und nahm einen Schluck. »Weich und samtig. Scotch. Leicht. Torfig und ein bisschen salzig.« Ich nahm noch einen Schluck. »Ich tippe auf irgendwas aus den West Highlands. Orban vierzehn Jahre?«

»Scheiße, Süße, du bist wirklich Franks Tochter.« Novotny öffnete seinen Geldbeutel und klatschte einen Zehner auf die glänzende Theke.

»Sie wollten nur, dass ich in Ihrer Anwesenheit Wörter wie ›samtig‹ in den Mund nehme, Sie Lüstling«, sagte ich und wies dann mit dem Kinn Richtung Bar. »Außerdem steht die Flasche direkt dort drüben.« Ich leerte mein Glas in einem Zug, und er fiel fast vom Stuhl vor Lachen.

Ich bestellte noch einen Whiskey, und wir gerieten ins Plaudern. Peter Novotny war vor Jahren Polizist gewesen, daher kannte er meinen Vater. Nach dreißig Dienstjahren war er in Rente gegangen und hatte sich als Privatermittler selbstständig gemacht. Inzwischen war er wirklich im Ruhestand, bis auf den gelegentlichen Faktencheck für die Kanzlei, die Brad Stockton vor Gericht vertreten hatte. »Aber der Fall war Mist. Dieses Mädchen, diese Sarah? Unauffindbar. Ob sie diesem Stockton-Jungen nun hätte helfen können oder nicht, sie wäre doch die offensichtliche Verteidigungsstrategie gewesen, oder etwa nicht? Wenn ihr Verschwinden nicht berechtigte Zweifel an seiner Schuld aufwarf, was dann? Aber nein, er wollte kein einziges schlechtes Wort über seine heißgeliebte Sarah hören. Weißt du was? Meiner Erfahrung nach sind es die Unschuldigen, die sich am wenigsten entgegenkommend zeigen.«

»Wirklich?«, sagte ich.

»Ich bin kein Anwalt«, erklärte er, »und auch kein Hellseher. Trotzdem. Ich hätte den Fall nicht der Staatsanwaltschaft überlassen, ohne ein wenig tiefer zu graben. Klar, da war das Messer, und es war eingewickelt in Sarahs Jacke oder T-Shirt oder so was. Aber ihr Blut war nicht drauf. Das von ihren Eltern schon, ihres nicht. Nicht auf dem Messer und nicht auf dem Shirt. Wie kriegt man denn so was hin? Und es war auch sonst nirgendwo Blut in Stocktons Auto oder bei ihm zu Hause. Bei so einem Mord hätte es doch eine ziemliche Sauerei geben müssen.«

»Seine eigenen Klamotten muss er also beseitigt haben.«

»So ist es«, sagte Novotny. »Aber warum dann nicht auch gleich das Messer? Das kam mir einfach alles verdammt eigenartig vor.«

»Sind Sie ihm je begegnet?«

»Oh ja«, antwortete Novotny. »Oft sogar. Netter Junge. Er hatte diese langen Wimpern, bei denen man dachte: Kein Wunder, dass das Cook-Mädchen verrückt nach ihm war. Höflich war er auch, ein Mann der leisen Töne. Allerdings muss er trotzdem ziemlich dumm gewesen sein, denn er kapierte nicht, was Sache war. Wie oft erlebt man einen schwarzen Jungen, der glaubt, er hätte eine Chance gegen das System? Er war richtig schockiert, als das Urteil verlesen wurde, das weiß ich noch. Hat versucht, sich zu erhängen. Aber er war zu groß.«

Das muss in so einer Situation die ultimative Enttäuschung sein, dachte ich: es nicht einmal zu schaffen, allem ein Ende zu setzen. »Sie haben ihm damals also geglaubt«, sagte ich.

Novotny leerte sein Glas. »Keine Ahnung. Ich erzähle dir nur meine Beobachtungen. Ein Schuldiger kann dir die Haarfarbe der Kassiererin nennen, die ihm zum Tatzeitpunkt angeblich Zigaretten verkauft hat, nicht wahr? Ein Unschuldiger, einer, der wirklich Zigaretten gekauft hat, während der Mord begangen wurde – der erinnert sich doch kaum noch an den Kauf, bis er nach dem Kassenzettel in seiner Hosentasche gefragt wird. Der Stockton-Junge konnte kaum etwas vorbringen, um sich zu verteidigen. Kein Alibi, keine Ahnung, wer ein blutiges Messer in sein Auto gelegt haben könnte, nichts, was ihm hätte weiterhelfen können.« Novotny hielt inne und sah mich an. »Ich an seiner Stelle hätte angefangen, Geschichten zu erfinden, um die Lücken zu füllen. Aber er nicht. Wie gesagt: schön dumm. Er wollte nur immer wieder wissen, ob wir Sarah schon gefunden hätten, als könnte sie ihm helfen, aus der ganzen Sache schlau zu werden.«

Novotny wirkte nicht wie jemand, der leichthin die Unschuld eines Angeklagten propagierte. Das taten Polizisten nie. »Was glauben Sie, was mit ihr passiert ist?«

»Ich habe nicht den leisesten Schimmer«, antwortete Novotny. »Nichts von ihren persönlichen Gegenständen fehlte. Es fand sich keine heimlich getroffene Verabredung in ihren E-Mails. Damals hatte noch nicht jeder ein Handy, diesbezüglich war also auch nichts zu holen. Keine Umsätze auf ihrem Sparkonto. Wahrscheinlich ist sie tot, anders kann ich es mir nicht erklären. Wie hätte sie sonst so einfach spurlos verschwinden können?«

»Die Eine-Million-Dollar-Frage«, sagte ich.

Er schüttelte den Kopf, und seine Miene verdüsterte sich. »Das war einer dieser Fälle, die dich nie wieder loslassen. Die von vorne bis hinten keinen Sinn ergeben. Es muss alles mit irgendeinem großen Geheimnis zu tun haben, eine andere Erklärung finde ich nicht. Die Cooks waren nette Leute, langweilige Bürojobs, keine bekannten Feinde. Und wir haben Brads Aussage, dass das mit ihm und Sarah die große Liebe war. Andererseits ist da die Aussage von Elaines Schwester, die behauptete, Sarah hätte panische Angst vor Brad gehabt. Sarah ist nicht hier, um die Sache für uns zu klären, also richtet man irgendwann den Blick auf sie. Vielleicht war sie es ja doch. Aber in diesem Fall hätte sie sowohl auf ihre Eltern als auch auf Brad einen gewaltigen Hass haben müssen, und dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte.«

»Sie ist also verschwunden, und ihre Eltern sind tot. Ende der Geschichte?«, fragte ich.

»Tja …«, sagte Novotny. »Du hast bestimmt auf neue Erkenntnisse gehofft, aber ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, Mädchen. Mehr habe ich nicht. Ein zweifelsfrei aufgeklärter Fall war das nicht, weit davon entfernt. Andererseits würde dir Danielle Stockton wahrscheinlich erzählen, sie hätte Jesus Christus persönlich gesehen, wenn sie glauben würde, dass ihr Bruder dadurch freikäme«, fügte er kopfschüttelnd hinzu. »Du vergeudest deine Zeit.«

»Die Hinrichtung ist in zwei Monaten«, sagte ich. »Ich denke, es ist ihr einfach wichtig, vorher alles versucht zu haben, und das ist doch auch verständlich. Also: Was, wenn ich Brad Stockton im Gefängnis besuchen will?«

»Dann musst du ein Formular ausfüllen und warten, bis sie dich auf die Liste der genehmigten Besucher setzen, wie jeder andere auch. Ich glaube, das ist Formular DRC zwanzig-neunzig-sechs.«

»Wollen Sie damit etwa andeuten, dass ich wie alle anderen bin?«, fragte ich.

Er schmunzelte. »Also gut, nein. Als Privatdetektivin mit Lizenz bist du – Moment mal, du hast doch eine Lizenz, oder?«

»Petey, wofür halten Sie mich? Natürlich habe ich eine.«

»Gut, dann bist du berechtigt, einen dienstlichen Besuchsantrag zu stellen, vorausgesetzt, du hast ein Schreiben vom Prozessbevollmächtigten.«

»Ist das was, wobei Sie mir behilflich sein könnten?«, fragte ich. »Ich bin nämlich ungeduldig.«

Novotny grinste. »Ja, geht klar, ich kann die Kanzlei anrufen.« Er sah mich lange an. »Was hat dein Daddy davon gehalten, dass du Detektivin wirst?«

»Er fand auch, dass ich nur meine Zeit vergeude«, antwortete ich. »Seiner Ansicht nach hätte ich lieber Zahnhygienikerin werden sollen.«

Novotny lachte. »Einen besseren Mann als Frank gab’s nicht«, sagte er, obwohl die Anekdote, die ich ihm gerade erzählt hatte, nicht gerade einen Glanzmoment meines Vaters darstellte. So wie die wenigsten meiner Anekdoten. »Sie haben den Kerl erwischt, oder? Den Kerl, der ihn erschossen hat?«

»Noch am Tatort unschädlich gemacht«, bestätigte ich.

Novotny nickte. »Gut, gut. Das ist bestimmt eine Erleichterung.«

Ich nickte, auch wenn das nicht stimmte, nicht wirklich. Ich dachte nicht gern an ihn – den Zwanzigjährigen, den mein Vater quer über den Spielplatz einer Sozialsiedlung verfolgt hatte, den Zwanzigjährigen, der sich umgedreht und dreimal geschossen hatte, bevor Frank auch nur seine Waffe aus dem Holster ziehen konnte. Der Partner meines Vaters hatte zurückgeschossen und den Kerl mit einer Kugel in die Brust niedergestreckt, aber da war es bereits zu spät gewesen. Die Kugel aus der Waffe von Franks Partner hatte die Zeit auch nicht zurückdrehen können. Nichts von alldem war eine Erleichterung. »Danke für den Drink«, sagte ich und gab Novotny meine Karte. »Die Drinks.«

»Jederzeit, Schätzchen. Ich hoffe, du hast mehr Glück bei Brad als ich damals.«

»Zehn Dollar, dass es so ist«, erwiderte ich.

Wir gaben uns die Hand darauf.

Mein Vater hatte immer einen Drink in der Hand gehabt. Er hatte zu ihm gehört wie seine breiten Schultern, seine aufbrausende Art oder seine eisblauen Augen. Dieser Drink intensivierte jeden guten und jeden schlechten Moment seines Lebens. Er war wie ein Vergrößerungsglas, unter das sich Frank begab, ein Vergrößerungsglas, das die Wahrheit über ihn offenbarte. Es war das Einzige, was wir gemeinsam hatten, das Einzige, worin wir uns jemals einig gewesen waren.

Ich hatte Frank drei Wochen vor seinem Tod das letzte Mal gesehen. Wir aßen einmal im Monat zusammen zu Abend, meine Brüder, meine Eltern und ich. Ich weiß nicht mehr, was es zu essen gab oder worüber wir uns unterhielten. Wahrscheinlich nichts Tiefschürfendes, denn trotz unserer monatlichen Zusammenkünfte standen wir uns nicht besonders nahe. Ich erinnere mich nur noch an das Letzte, was mein Vater zu mir sagte. Das war nach dem Essen. Er packte meinen Arm, als ich an seinem Stuhl vorbei das Haus verlassen wollte.

»Du bist doch noch ganz okay geworden«, sagte er. Es klang nicht liebevoll. Es klang wie eine Anschuldigung. Frank war seit achtunddreißig Jahren Polizist. Alles, was er sagte, klang wie eine Anschuldigung. »Mehr wie ich. Ich hatte schon Angst, du würdest so werden wie deine Mutter.«

Andrew und Matt waren klugerweise bereits gegangen. Meine Mutter saß auf dem Sofa und blickte nicht von ihrer Zeitschrift auf. »Lass mich los«, bat ich.

»Sie ist nett,das würden die Leute über sie sagen. Aber du …« Er sah mich an, mit blutunterlaufenen, whiskey-wilden Augen. Dabei hielt er immer noch meinen Arm fest. In der anderen Hand hatte er ein Kristallglas, leer bis auf den Eiswürfel, der kaum die Chance gehabt hatte zu schmelzen. »Weißt du, eigentlich könntest du manchmal ein bisschen netter sein. Du bist ein Mädchen, du musst nett sein. Aber verdammt noch mal nicht zu nett. So solltest du sein: nett, aber verdammt noch mal nicht zu nett.«

Ich riss meinen Arm los. »Gute Nacht, Mom«, sagte ich.

»Fahr vorsichtig«, erwiderte meine Mutter und ignorierte die angespannte Stimmung, wie üblich.

Ich ging, ohne noch etwas zu sagen, fuhr auf dem Heimweg zu schnell und rief Andrew an, sobald ich das Haus betreten hatte, um ihm davon zu erzählen.

»Du bist immer so überrascht, wenn er sich mal wieder beschissen benimmt«, sagte er. »Roxane, das ist Dad. Er wird sich immer beschissen benehmen. Mehr ist an der Sache nicht dran.«

»Ja«, gab ich ihm recht. Aber ich hatte das eigenartige Gefühl, dass da eben doch noch mehr dahintersteckte.

DREI

Sei nett, aber verdammt noch mal nicht zu nett. Ich spulte unser letztes Gespräch noch einmal in Gedanken ab, während ich zu Kenny Brayfield fuhr. Näher als mit diesem Ratschlag war ich väterlicher Weisheit nie gekommen. Es hatte zu viel Uneinigkeit zwischen uns gegeben, wegen meiner Arbeit, wegen seiner Affären, wegen der Männer und Frauen, die ich mit nach Hause brachte. Von Frieden keine Spur. Keiner von uns beiden entschuldigte sich je, zumal wir ohnehin nicht daran interessiert waren, uns gegenseitig zu verzeihen, nicht voll und ganz, nicht zum damaligen Zeitpunkt. Ich hatte geglaubt, bezüglich meines Vaters noch nicht zu einer Entscheidung gelangen zu müssen, hatte geglaubt, die Vergangenheit werde in der Langzeitbilanz nicht mehr ins Gewicht fallen, wenn nur genügend Zeit verstrich – wie eine uneinbringliche Forderung oder ein Strafzettel für zu schnelles Fahren. Ich hatte es einfach aussitzen wollen, hatte geglaubt, mir bliebe noch Zeit. Aber mir war keine Zeit geblieben, und was mich am meisten quälte, war, dass mein Vater gesagt hatte, ich sei wie er, und dass er recht damit gehabt hatte.

Ich vertagte meine düsteren Gedanken auf später und parkte meinen Wagen. Next Level Promotions befand sich in einem Backsteinquader im Brewery District am Südende der Innenstadt. Es war eins dieser billigen modernen Büros mit Glaswänden, freiliegenden Lüftungsrohren und nachgemachten Herman-Miller-Möbeln. Fünf junge, gut aussehende Mitarbeiterinnen knieten auf einem weißen Plüschteppich und legten T-Shirts mit dem Logo einer neuen Wodka-Marke zusammen. Aus den Lautsprechern eines iPhones plärrte ein Radiohead-Song. Zumindest die Musikauswahl fand meine Zustimmung. Eine der jungen Frauen blickte zu mir auf und verzog den rot geschminkten Mund. Vermutlich sah ich nicht genug nach einer potenziellen Kundin aus, um einen freundlichen Empfang zu verdienen. »Kann ich … Ihnen helfen?«, fragte sie.

»Ich möchte zu Kenny Brayfield«, teilte ich ihr mit, bemüht, die lauten Bässe zu übertönen. Ich zog eine Visitenkarte aus der Tasche meiner Lederjacke und reichte sie ihr. »Er weiß, dass ich komme.«

»Ich kümmere mich darum.« Sie nahm meine Karte, stand auf und schlüpfte in ihre hochhackigen Lacklederpumps. Erst jetzt fiel mir auf, dass die vier anderen Mitarbeiterinnen auf dem weißen Teppich ebenfalls ihre Schuhe ausgezogen hatten.

»Darf ich über den Teppich, oder muss ich außen herum?«, fragte ich die anderen, während sie den polierten Betonboden des Flurs hinunterklapperte.

Niemand sagte etwas. Kurz darauf kehrte das Eine-Frau-Empfangskomitee zurück und zeigte hinter sich in den Flur. »Sie können zu ihm.« Die junge Frau klang enttäuscht darüber, dass sie mich nicht hinauswerfen durfte.

Ich machte mir nicht die Mühe, ihr zu danken, und umrundete die Teppichkante. Nachdem ich im Flur um eine Ecke gebogen war, kam ich an drei leeren Büros und einer kleinen Küche vorbei, in der sich Wodka-Kisten auf einem Tisch stapelten. Am Ende des Flurs fand ich Kenny in einem großen Büro hinter einem auffallend aufgeräumten Schreibtisch. Er war mager und trug einen Kapuzenpullover und schmutzige Chucks. Seine mittelbraunen Haare waren an den Seiten kurz geschoren und oben etwas länger, und an einem Ohrläppchen funkelte ein Diamant-Ohrstecker. Er sah aus wie jemand, den das Sicherheitspersonal eines Einkaufszentrums als potenziellen Ladendieb einstufen würde. Aber ihm gehörte dieser Laden, wer war ich also, mir ein Urteil zu erlauben? Als er mich sah, stand er auf und begrüßte mich mit einem breiten Lächeln.

»Sie sind also die Detektivin.« Er schüttelte mir übertrieben fest die Hand. »Wow. Also echt, wow. Wie crazy ist das denn?«

»Ziemlich crazy«, sagte ich, während ich mich setzte. Hinter seinem Schreibtisch befand sich ein großes Fenster, durch das ich den bräunlich grünen Scioto River und dahinter die Skyline der Innenstadt von Columbus sehen konnte.

»Darf ich Ihnen einen Drink anbieten?« Er setzte sich und griff nach einer Wodkaflasche mit demselben Logo wie auf den T-Shirts. In der klaren Flüssigkeit trieben Blattgold-Flocken wie Fischfutter. »Von einem Kunden, für den wir Promotion machen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Edelmetall zu schlucken ist nicht wirklich mein Ding«, sagte ich, und er lachte. »Also, Sarah Cook.«

»Sarah Cook.« Er lehnte sich zurück und balancierte auf der Stuhlkante.

»Konnten Sie sich die betreffende Person genau anschauen?«, fragte ich.

Er wartete länger als nötig mit seiner Antwort. »Ja, konnte ich.«

»Und?«

»Und …« Er hielt erneut inne. Ich war gerade dabei gewesen, mein Notizbuch aus der Tasche zu ziehen, stoppte meine Bewegung jedoch, um ihn anzustarren, bis er endlich etwas sagte. »Ich will Danielle nicht die Tour vermasseln.«

Eine ziemlich seltsame Aussage, fand ich. »War es Sarah oder nicht?«

»Wie ich neulich schon zu Danielle gesagt habe: Für mich sah sie aus wie jede andere Frau.«

Diesen Teil hatte mir meine Klientin verschwiegen. »Sie glauben also nicht, dass sie es war.«

Kenny federte auf seinem Stuhl auf und ab. »Danielle ist fix und fertig, wegen dem Datum, dem Hinrichtungsdatum. Ich meine, ich auch. Echt verrückt, dass das schon so bald ist. Deshalb verstehe ich sie natürlich. Sie will einfach tun, was sie kann. Und diese Frau, die wir gesehen haben, kam mir auch irgendwie bekannt vor, aber Belmont ist ein kleines Nest. Hier hat man viele Leute schon mal irgendwo gesehen. Trotzdem, Sarah hätte ich bestimmt erkannt. Es hieß doch immer, sie wäre tot. Wie soll sie es also gewesen sein?«

»Wie gut kannten Sie sie denn?«

»Ziemlich gut. Sie war ein echt liebes Mädchen, hatte einen guten Einfluss auf Brad.«

Ich rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl herum. Er war unbequem, offenbar dazu da, allzu lange Gespräche mit dem Chef zu vereiteln. »Was meinen Sie damit?«

»Ach, wir sind damals ab und zu in Schwierigkeiten geraten, Brad und ich. Dumme Geschichten, Kinderkram. Sie wissen doch, wie es ist: gelangweilte Jugendliche in der Vorstadt. Als Brad anfing, mit Sarah abzuhängen, ist er ruhiger geworden. Aber das ist Schnee von gestern. Glauben Sie mir: Wenn in meinen Augen auch nur die leiseste Chance bestehen würde, dass diese Frau Sarah war, hätte ich Sie selbst engagiert. Brad gehört nicht ins Gefängnis.«

Ich nickte. Er war schon der Dritte, der für Brad Stocktons Unschuld stimmte. »Wenn Brad es also nicht getan hat«, begann ich, »wer dann? Sie kannten Sarah – glauben Sie, sie wäre dazu in der Lage gewesen?«

Kenny setzte sich gerade hin und stützte die Ellbogen auf. »Sie hat ehrenamtlich bei der Essensausgabe für Bedürftige gearbeitet und so was alles. Sie war ein guter Mensch. Und sie hat sich erstaunlich gut mit ihren Eltern verstanden, im Gegensatz zu so ziemlich jedem anderen, den ich damals kannte.« Er goss schwungvoll Wodka in ein Glas, trank es hastig aus und verzog das Gesicht, als hätte er sich das Trinken aus einem Film abgeschaut. »Die Antwort lautet also entweder: auf gar keinen Fall – oder niemand kannte sie wirklich.«

Frustriert fuhr ich nach Hause. Danielle hatte bequemerweise unterschlagen, dass der zweite Zeuge, der Sarah angeblich ebenfalls gesehen hatte, nicht ihrer Meinung war, was der ganzen Sache einen gewissen Beigeschmack verlieh. Aber es war ihr Geld, daher konnte sie mich natürlich anlügen, wenn ihr danach war. Ich setzte mich an den Schreibtisch und durchsuchte einige Datenbanken, um zu überprüfen, ob Sarah Cooks fünfzehnjährige Abwesenheit elektronische Spuren hinterlassen hatte, was natürlich nicht der Fall war. Immerhin wartete ein Fax mit dem Briefkopf der Kanzlei Donovan & Calvert auf mich, ein Schreiben, das mich autorisierte, in dienstlicher Funktion die Chillicothe Correctional Institution aufzusuchen. Peter Novotny war schnell. Das gefiel mir.

Ich klappte den Laptop zu und starrte lange an die Wand meines Büros. Die vorherige Mieterin hatte jeden Raum in einer anderen gewagten Farbe gestrichen: ein dunkles, glänzendes Blaugrün im Arbeitszimmer, ein bräunliches Orange im Wohnzimmer, Aubergine im Schlafzimmer, Knallgelb im Bad, schokoladenbraune Wände und rote Einbauschränke in der Küche, Kornblumenblau im Flur, der sich über die gesamte Länge der Wohnung zog. Vor meinem Einzug hatte ich den Vermieter gebeten, den Farbenwahn weiß zu überstreichen – vergeblich. Mit der Zeit hatte ich mich daran gewöhnt und es irgendwann überhaupt nicht mehr wahrgenommen. Nur manchmal fühlte ich mich aufs Neue davon erschlagen.

Ich stand auf und schob das Fenster einen Spalt auf. Es war kalt draußen, aber die uralten überaktiven Heizkörper des Gebäudes zischten und gurgelten Tag und Nacht unkontrolliert vor sich hin, wodurch die Temperatur in meiner Wohnung in tropische Höhen stieg. Deshalb waren in fast jedem Zimmer die Fenster einen Spaltbreit geöffnet, selbst im tiefsten Winter. Doch die Hitze war nicht der Grund dafür, dass ich das Gefühl hatte, keine Luft zu bekommen. Es näherten sich die Abendstunden, in denen sich die Wohnung jeden Tag wie ein Grab anfühlte. Durch das Fliegengitter des Fensters hörte ich jemanden in der Gasse hinter dem Haus klappernd einen Sack Aludosen hinter sich herziehen. »Alle hatten sie ihre ausdruckslosen Gesichter aufgesetzt«, hörte ich eine Männerstimme murmeln, »wie von Jesus Christus prophezeit.«

Ich zog meine Jacke wieder an und schnappte mir meine Schlüssel.

In der Lobby des Westin Hotels in der Innenstadt bestimmten Marmorböden und barock wirkende Polstermöbel das Bild, und der Portier begrüßte mich mit einem vertrauten Nicken, als ich an ihm vorbeimarschierte und nach rechts zur Bar abbog. Für einen Montagabend nach acht Uhr war sie halbwegs gut besucht: Grüppchen von Geschäftsmännern mit gelockerten Krawatten an den Tischen sowie ein angespannt wirkendes Pärchen, das entweder gerade ein Blind Date hatte oder dabei war, sich zu trennen. An der Theke saß hingegen nur eine Person, und ich setzte mich ans andere Ende. Andrew entdeckte mich im Spiegel hinter den Spirituosen und grinste breit.

Mein Bruder hatte inzwischen in so ziemlich jedem Hotel in Columbus als Barkeeper gearbeitet. Ein guter Arbeitsplatz, wenn man nebenher ein wenig dealte, denn die Hotelbar war der erste Ort, an dem Auswärtige ihr Glück versuchten, wenn sie in Partystimmung waren. Und manchmal auch Einheimische. Er mixte zwei Drinks zu Ende und übergab sie einer Kellnerin, die sie zu dem kurz vor der Trennung stehenden Pärchen brachte.

»Hast du schon unsere tolle neue Herbstliche Cocktail-Karte begutachtet?«, fragte Andrew sarkastisch, als er sich zu mir umdrehte. Er war siebenunddreißig, drei Jahre älter als ich. Wir hatten die gleichen blaugrauen Augen, die gleichen dunkelbraunen Haare. Meine gingen mir bis knapp über die Schultern, die meines Bruders berührten fransig seinen Kragen. Unter den Manschetten seines Hemds kamen seine Tätowierungen zum Vorschein. Er schob eine schmale elfenbeinfarbene Karte in meine Richtung. »Wenn ich noch einen einzigen heißen Apfelmostini machen muss, bringe ich mich um.«

Ich spähte im Halbdunkel auf die Getränkekarte. »Für mich bitte einen Winter in Paris.«

Andrew knallte zwei Schnapsgläser auf die Theke und füllte beide mit Whiskey. »Nein«, sagte er.

»So schlecht klingt der doch gar nicht! Saint-Germain und Champagner? Vielleicht ist mir heute mal nach stilvoller Eleganz.«

»Ist dir nicht.« Er schob mir eins der Schnapsgläser hin und hielt seines hoch. »Echte Freunde lassen ihre Schwestern keine von Social-Media-Praktikanten erfundenen Cocktails bestellen.«

Ich stieß mein Glas gegen seins, und wir tranken. »Hat Matt eigentlich eine Freundin?«, fragte ich.

Andrew zuckte mit den Schultern. »Als ob er mir das erzählen würde. Warum?«

»Weil er mir eine Klientin geschickt hat«, antwortete ich. »Und da dachte ich mir, das ist vielleicht jemand, den er beeindrucken will.«

»Und?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich der Herausforderung, jemanden zu beeindrucken, gewachsen bin.«

»Du bist der schlaueste Mensch, den ich kenne.«

»Oje, dann musst du wirklich mehr Leute kennenlernen.«

»Bist du immer so, wenn dir nach Eleganz ist? Also, ich denke«, fuhr er leiser fort, während er unsere Gläser nachfüllte, »dass du nach Dads Tod einfach keine Lust hast, dein bisheriges Leben wieder aufzunehmen.«

Ich antwortete ihm nicht sofort. Dann widersprach ich: »Das ist nicht wahr.«

»Ist es wohl.«

»Warum?«

»Du hast Angst davor. Weil es bedeuten würde, dass du so weit über seinen Verlust hinweg bist, wie du je darüber hinweg sein wirst.«

Ich trank hastig meinen zweiten Whiskey und dachte über Andrews Einschätzung nach. Keiner von uns hatte ein gutes Verhältnis zu Frank gehabt, was die Sache leider kein bisschen leichter machte. Vielleicht machte es sie sogar noch schwerer. »Du nicht auch?«, fragte ich dann.

»Roxane, ich mache mir verdammt noch mal in die Hose vor Angst.«

VIER

Um elf Uhr am nächsten Vormittag machte ich mich auf den Weg zur Haftanstalt in Chillicothe, die eine Stunde südlich von Columbus lag. Ich wollte Brads Version der Geschichte hören, in der Hoffnung, dass er sein mangelndes Entgegenkommen nach fünfzehn Jahren hinter Gittern noch einmal überdachte. Auf der Fahrt dorthin fiel mein Blick auf die Ausfahrt nach Belmont, und ich beschloss, einen kurzen Umweg zu machen. Belmont war einer der am weitesten vom Zentrum entfernten Vororte südöstlich der Stadt. Dem Schild nach zu urteilen, das mich beim Abbiegen vom Highway begrüßte, war es außerdem die Wildblumen-Hauptstadt Ohios. Ich hatte mein ganzes Leben in diesem Bundesstaat verbracht, und dies war das erste Mal, dass ich von einer Wildblumen-Hauptstadt hörte. Es sah nicht so aus, als hätte Belmont ansonsten viel zu bieten, worauf es stolz sein konnte: eine typische wuchernde Siebzigerjahre-Siedlung mit Einfamilienhäusern im Ranch-Stil und Sackgassen mit Wendekreis. Die äußere Ringautobahn von Columbus teilte den Ort in zwei Teile – alles östlich der Autobahn bildete die gute Seite, alles westlich die schlechte. Auf der East Side befanden sich die größeren Häuser, die Highschool, ein paar dichter gebaute Häuserblocks, die als Ortszentrum fungierten, ein Einkaufszentrum mit dem Namen Shops at Wildflower Glade und eine Reihe halbwegs netter Hotels und Restaurantketten. Auf der West Side gab es einen Skate-Park, einen Bahnübergang und eine Paketsortieranlage von UPS. Nirgendwo waren Wildblumen zu sehen, aber es war ja auch November.

Die Tankstelle, an der Sarah gesichtet worden war, befand sich an der Clover Road, der Hauptgeschäftsstraße. Ich parkte, ging hinein und fragte den Jungen an der Kasse, ob die Überwachungskameras funktionierten.

»Welche Kameras?«, fragte er.

Ich zeigte sie ihm. Es waren vier Kameras in Sichtweite installiert: jeweils eine in den beiden hinteren Ecken des Verkaufsraums, eine über der Tür und eine hinter dem Verkaufstresen.

»Oh«, erwiderte er. Er wirkte peinlich berührt, als wäre ihm der Gedanke, dass jede seiner Bewegungen auf Film gebannt werden könnte, noch nie gekommen.

»Ja«, sagte ich. »Also, funktionieren die?«

»Moment.« Er verschwand durch eine Tür, auf der Privat stand, und tauchte kurz danach wieder auf. »Ja«, antwortete er, »sie funktionieren.«

»Meinst du, ich könnte einen Blick auf das gefilmte Material werfen?«, fragte ich.

Er ging wieder durch die Tür. Als sie sich erneut öffnete, hatte er eine junge Frau im Schlepptau. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Hallo«, sagte ich. »Ich hatte gehofft, einen Blick auf Ihre Überwachungskameras werfen zu dürfen.«

Beide starrten mich an. Ich schätzte sie auf achtzehn oder neunzehn Jahre. Nachdem ich meine Lizenz hervorgezogen hatte, erklärte ich, wer ich war und was ich wollte. »Es geht nur um einen Tag, vor ungefähr zwei Wochen. Ich suche eine Frau, die hier war, und da dachte ich, dass sie vielleicht auf euren Kameras ist und man eventuell erkennt, ob sie mit jemandem zusammen war.«

»Sind Sie ’n Cop?«, fragte der Junge.

»Sie ist kein Cop«, korrigierte ihn das Mädchen schnell.

Ich setzte das respekteinflößendste Lächeln auf, das ich zustande brachte. »Aber ich arbeite eng mit den Cops zusammen.«

»Sie hat ’ne Dienstmarke.« Der Blick des Jungen schoss zu meiner Lizenz auf dem Tresen.

»Das ist keine Dienstmarke.«

»Sollen wir Dave anrufen?«

»Nein«, sagte das Mädchen.

»Ist Dave der Geschäftsführer?«, fragte ich. »Könnte ich dann vielleicht direkt mit ihm reden?«

Ich erntete bestürzte Blicke. Offenbar wollte keiner von beiden, dass dieser Dave mit hineingezogen wurde.

»Haben Sie ein Foto von ihr oder so was?«, fragte der Junge. »Mit einem Foto könnten wir wahrscheinlich nachschauen gehen.«

Ich tippte frustriert mit den Fingernägeln auf den Tresen. Ein Foto hatte ich nicht vorzuweisen, es sei denn, ich griff auf Sarahs altes Jahrbuchfoto zurück, das einen Abgleich mit der heutigen Sarah naturgemäß erschweren würde. »Na ja«, erwiderte ich, »ich hatte eigentlich gehofft, dass eure Überwachungskameras mir ein Bild von ihr liefern würden.«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Wir dürfen ausnahmslos niemanden nach hinten lassen.«

Ich insistierte nicht. Stattdessen kaufte ich mir einen Becher Tee zum Mitnehmen, setzte mich ins Auto und dachte nach. Jemanden aufzuspüren, der seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen worden war, brachte viele Herausforderungen mit sich, aber am schwersten wog die Tatsache, dass ich kein Foto zum Herumzeigen hatte. Also rief ich Catherine Walsh in ihrem Atelier an, das sich bei ihr zu Hause befand. Ihr Mann ging ans Telefon. Mein erster Impuls war, gleich wieder aufzulegen, bis mir einfiel, dass ich zur Abwechslung geschäftlich anrief. »Kann ich bitte mit Catherine sprechen?« Ich versuchte, höflich und kunstaffin zu klingen.

Ihr Mann knallte den Hörer auf den Tisch, und kurz darauf war Catherine am Apparat.

»Ist da Catherine Walsh, die weltberühmte Kunstdozentin und Malerin?«, fragte ich mit meiner höflichen, kunstaffinen Stimme. »Ich habe nämlich ein dringendes Geschäft mit ihr zu besprechen.«

Catherine seufzte. »Roxane, wir haben Anruferkennung.«

Sie klang nicht gerade glücklich, von mir zu hören.

»Bist du nicht neugierig auf das dringende Geschäft?«, fragte ich.

»Ich bin gerade mittendrin in einer wichtigen Sache.« Als da wäre: ihr Leben. »Oder ist es wirklich geschäftlich?«

»Ich brauche eine Phantombild-Zeichnerin«, antwortete ich.

»Tatsächlich.«

»Meine Klientin scheut keine Kosten.«

»Und wen würde ich zeichnen?«

Ich setzte sie kurz über Sarah Cook ins Bild.

»Ich weiß nicht …«, sträubte sich Catherine, aber ihr Tonfall erwärmte sich um eine Nuance. »Klingt interessant. Ich weiß trotzdem nicht, ob das jetzt gerade so eine gute Idee wäre.«

»Ich kann meiner Klientin einfach deine Kontaktdaten geben und ihr sagen, dass sie dich anrufen soll«, schlug ich vor. »Dann kannst du alles direkt mit ihr arrangieren. Du müsstest mich nicht einmal treffen. So ist es wahrscheinlich einfacher, wenn auch nicht so amüsant.«

»Fürwahr«, stimmte mir Catherine zu. »Gut, okay.«

»Ich sage Danielle, dass sie sich bei dir melden soll.«

»Okay.«

Keine von uns fügte noch etwas hinzu, aber es legte auch keine auf.

Schließlich fragte Catherine: »Sonst noch was?«

Ich hatte sie seit der Beerdigung meines Vaters nicht mehr gesehen. Ihr Kommen hatte mich überrascht, hatte sie doch im letzten Herbst beschlossen, zu ihrem Mann zurückzukehren. Ich war ebenfalls zu verschiedenen Männern und Frauen »zurückgekehrt«, und jetzt schwebte das Gefühl von etwas Angefangenem, nicht Beendetem zwischen uns. »Nein«, antwortete ich. »Danke.«

Nachdem wir aufgelegt hatten, rief ich Danielle an und hinterließ ihr eine Sprachnachricht mit den entsprechenden Anweisungen. Dann fuhr ich die Route 23 entlang und ließ Elliott Smith auf der Stereoanlage meines Autos laufen, eines alten blauen Mercedes 300D, der fünf Jahre älter war als ich. Er war vor einigen Jahren per Tauschgeschäft in meinen Besitz gelangt, weil ein Gebrauchtwagenhändler Hilfe beim Aufspüren eines Autoteile-Diebs und ich ein neues Auto gebraucht hatte. Der Vorbesitzer hatte offenbar gut auf sein Fahrzeug achtgegeben – es hatte erst sechzigtausend Kilometer auf dem Tacho, als ich es bekam. Inzwischen waren es über hundertfünfzigtausend. Der altmodische Kilometerzähler zeigte nur drei Ziffern an, sodass es aussah, als wären es bloß hundertfünfzig. Der Mercedes fuhr, wie ein Auto fahren sollte, gleichmäßig, schnell und solide. Ich liebte mein Auto und verbrachte mehr Zeit darin als in meiner Wohnung.

Die Chillicothe Correctional Institution befand sich in der Nähe des Scioto River auf einem Areal, das man auch für ein kleines geisteswissenschaftliches College hätte halten können, wären da nicht Stacheldraht, Wachtürme, Metalldetektoren und Sicherheitsschleusen gewesen. Mein Schreiben von Donovan & Calvert ersparte mir einen Teil des üblichen Verwaltungsaufwands, aber das Gefängnissystem war immer noch eine Bürokratie, und so musste ich eine gute Stunde in einem beige gestrichenen Raum warten, in dem man sich fühlte wie im einsamsten Busbahnhof-Wartesaal der Welt.

Endlich wurde ich in einen engen, von Plexiglas-Kabinen gesäumten Flur geführt, wo ich auf einem wackeligen Metallstuhl erneut warten musste. Es roch nach Desinfektionsmittel, Keller und Schmierfett. Ein Wächter führte auf der anderen Seite der Plexiglasscheibe Bradford Stockton zu mir. Er setzte sich und runzelte die Stirn.

Der freundliche Junge mit den langen Wimpern von den Fotos aus Danielles Heftmappe war verschwunden. Brad war inzwischen vierunddreißig, ein großer, schlanker, ernster Mann. Seine orange Gefängniskluft hob sich leuchtend von seiner glatten, dunklen Haut ab. Sein kantiges Gesicht war immer noch attraktiv, hatte inzwischen aber auch einen etwas verbitterten Zug an sich.

Ich griff nach dem schmuddeligen Telefonhörer an der Glasscheibe und wartete darauf, dass Brad das Gleiche tat. Seine Bewegungen waren langsam und fließend, als hätten wir alle Zeit der Welt.

»Wer sind Sie?«, fragte er.

»Roxane Weary. Ihre Schwester hat mich engagiert …«

»Was ist denn mit dem anderen Kerl passiert?«

»Novotny?«, fragte ich.

Brad nickte.

»Der ist in Rente.«

»Dani zahlt jetzt also den Anwalt und Sie?«

Angesichts seiner prekären Situation mutete es seltsam an, dass er sich um so etwas Gedanken machte. »Ja, ich denke schon.«

»Wie viel?« Er kauerte tief in seinem Stuhl. »Wie viel bezahlt sie Ihnen?«

»Das fragen Sie sie besser selbst«, erwiderte ich.

Er starrte mich böse an. »Wo hat sie Sie überhaupt ausgegraben? Sie sehen nämlich ein bisschen … na ja, ich weiß auch nicht. Sie sehen aus, als würde es Ihnen auch nicht viel besser gehen als mir.«

»Oh, vielen Dank«, sagte ich, klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter und verschränkte die Arme vor der Brust. Es war kalt im Gefängnis, als wäre das Thermostat auf knapp zehn Grad eingestellt.

»Sind Sie hier, um herauszufinden, ob ich es getan habe? Ob Sie mir anmerken, ob ich lüge oder nicht?«

Ich ignorierte sein wenig entgegenkommendes Verhalten. »Hat Ihre Schwester Ihnen erzählt, dass sie Sarah gesehen hat?«

Brad nickte kaum merklich. »Das behauptet sie zumindest.«

»Sie glauben ihr nicht?«

»Sie will, dass alles wieder gut wird«, antwortete er. »Sie gibt sich die größte Mühe. Von mir aus kann sie denken, was sie will, wenn sie sich dadurch besser fühlt. Ich muss mich deshalb noch lange nicht besser fühlen.«

»Sie glauben also nicht, dass ich Ihnen helfen kann.«

»Nichts gegen Sie persönlich, Lady, aber nein, das glaube ich nicht.«

Ich konnte es ihm nicht verübeln. Fünfzehn Jahre, in denen unbekannte Menschen zu ihm kamen und versuchten, ihm zu helfen, hatten Brad Stockton rein gar nichts gebracht. Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob er das mit dem Nichts gegen Sie persönlich ernst meinte. Ich wollte unbedingt seine Version der Geschichte hören, doch wenn er hier saß und mich beleidigte, würde ich ganz sicher nicht darum betteln. »Es liegt an Ihnen«, sagte ich. »Das Datum wurde festgesetzt, Sie sind so gut wie tot, Brad. Ihre Schwester möchte zumindest das Gefühl haben, alles in ihrer Macht Stehende getan zu haben. Denn Sie mögen zwar bald nicht mehr da sein, aber sie muss den Rest ihres Lebens damit klarkommen. Sie reden also entweder mit mir, oder Sie lassen es bleiben. Ich tue das hier für Ihre Schwester, nicht für Sie. Und ich werde ohnehin bezahlt, ob Sie nun mit mir sprechen oder nicht.«

Er wirkte ein wenig verdutzt und sagte eine Weile nichts mehr, als versuchte er, zu einem Urteil über mich zu gelangen. Dann setzte er sich eine Spur gerader hin und zog die Augenbrauen zusammen.

»Okay«, begann ich. »Wo, glauben Sie, befindet sich Sarah?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich weiß, dass Sie es nicht wissen, Brad. Aber helfen Sie mir ein bisschen. Mutmaßen Sie.«

»Ihnen helfen?« Er seufzte schwer, bevor er antwortete: »Ich denke, sie ist fort.«

»Fort?«, wiederholte ich.

»Von uns gegangen. Ich habe lange gebraucht, bis ich mich damit abgefunden hatte, dass sie nicht mehr zurückkommen würde. Weil das hieß, dass sie tot sein musste. Sarah würde mich niemals hier alleinlassen, schon gar nicht mit dem, was mich erwartet.« Er seufzte, ein kurzer, heftiger Luftausstoß durchs Telefon. »Ich will nicht über Sarah reden. Was hilft es denn, wenn ich über sie rede?«

»Das lassen Sie meine Sorge sein. Es geht nur darum, dass Sie mir ein paar Fragen beantworten. Etwas Leichteres machen Sie hier den ganzen Tag nicht.«

Er schüttelte den Kopf, zuckte nach einer Weile aber doch mit den Schultern.

»Sind Sie je ihren Eltern begegnet?«

»Ein paarmal.«

»Und?«

Wieder ein Schulterzucken. »Sie waren, ich weiß auch nicht … nett. Höflich zu mir. Deshalb war es ja so ein Schock, was Mrs Cooks Schwester beim Prozess gesagt hat. Dass die beiden angeblich Angst vor mir hatten. Wir haben einmal sogar zusammen Scrabble gespielt.« Er seufzte. »Aber man weiß wahrscheinlich nie, wie die Leute über einen urteilen, wenn man nicht dabei ist. Meine Mom meinte immer: ›Was die Leute hinter deinem Rücken über dich sagen, hatdich nichts anzugehen.‹«

Es sei denn, es brachte einen in die Todeszelle. »Glauben Sie, Mrs Cook hat diese Dinge wirklich gesagt?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, antwortete Brad.

»Ich habe gestern mit Kenny Brayfield gesprochen«, sagte ich. »Er hat mir erzählt, dass Sie früher manchmal zusammen Blödsinn gemacht haben. Die Art von Blödsinn, die anderen Leuten Angst einjagt?«

Er zuckte mit den Schultern. »Vandalismus, was weiß ich. Kenny hat damals auf dem Schulgelände Gras verkauft. Typisch, dass er Ihnen mit diesem Mist kommt – der Typ wäre immer noch gern ein Gangster. Aber seine Eltern sind stinkreich. Er hat nie für irgendwas Ärger bekommen.«

Wir kamen vom Thema ab. »Erzählen Sie mir, was an dem Tag passiert ist, als Sie Sarah zum letzten Mal gesehen haben.«

Er stieß einen langen Atemzug aus. »Ich möchte lieber nicht daran denken. Es zerreißt mich jedes Mal innerlich.« Er fing wieder an, ungehalten den Kopf zu schütteln. »Glauben Sie wirklich, dass ausgerechnet Sie etwas fertigbringen, was fünfzehn Jahre lang niemand geschafft hat? Dass Sie etwas beweisen können, was noch nie jemand bewiesen hat? Sie tun so, als wäre es total einfach für mich, hier zu sitzen und mit Ihnen zu plaudern, aber das ist es nicht. Vielleicht ist dieses Gespräch hiermit beendet. Ich will sowieso nicht, dass meine Schwester noch mehr Geld ausgibt.«

»Sie wollen nicht, dass sie Geld dafür ausgibt, Sie vor der Hinrichtung zu bewahren?«, fragte ich. »Klingt nicht wie die Aussage eines Unschuldigen.«

Er zuckte merklich zusammen. »Sie können mich mal.« Er beugte sich ruckartig vor und stieß mit dem Zeigefinger in meine Richtung. »Sie wissen gar nichts über mich oder meine Schwester.«

»Brad, ich bin auf Ihrer Seite.«

»Glauben Sie, es hilft mir jetzt noch was, wenn jemand auf meiner Seite ist?«, fragte er.

Die Frage war nicht ganz unberechtigt.

»Hören Sie, als ich hierherkam, war ich unglaublich deprimiert«, fuhr er fort. »Jeder hat behauptet, ich hätte diese schrecklichen Dinge getan, die ich nicht getan hatte, und dieser Zustand war nicht vorübergehend, sondern dauerhaft. Ich habe damals versucht, eine … eine Schlinge zu knüpfen, aus meinem Bettlaken. Weil es sinnlos ist, hier zu sitzen und zu warten.« Er blickte zur Decke. »Aber es ging nicht – ich meine, ich habe es offenbar nicht richtig hingekriegt, was weiß ich, wie man aus Bettlaken einen Galgen macht. Sie haben mich dann auf die Krankenstation gebracht und mit Lithium vollgepumpt, ich konnte nur noch die Decke anstarren. Als ich danach zurück in meine Zelle kam, dachte ich: Okay, das alles hier passiert wirklich. Wie in diesem Kinderlied, dem Lied über die Bärenjagd.«

Ich wusste, welches Lied er meinte. »Du kannst nicht darüber hinweg«, zitierte ich. »Du kannst nicht darunter hindurch.«

»Du kannst nicht außen herum«, fuhr Brad fort und lächelte schwach. »Du musst mitten hindurch.«

Wieder blickten wir uns lange schweigend an.

»Ich habe dann jedes einzelne Wort von jedem Rechtsdokument über meinen Fall gelesen, das ich in die Finger bekam. Ich habe juristische Fachbücher gewälzt, mich in dieser Uni eingeschrieben, bei der man die Unterlagen zugeschickt bekommt und seinen College-Abschluss machen kann. Ein Fernstudium. Ich habe ungefähr tausend Gedichte geschrieben, Briefe an die Anwälte, die Polizei, an jeden, der mir eingefallen ist. Habe versucht, mich zu beschäftigen, wie es so schön heißt. Beschäftigen, beschäftigen, beschäftigen, kämpfen, kämpfen, kämpfen.« Er kniff sich in den Nasenrücken. »Gebracht hat es mir einen Scheiß. Es gibt kein mitten hindurch. Hindurch heißt, dass ich tot bin. Und daran kann kein Beschäftigen oder Kämpfen etwas ändern.« Er zuckte mit den Schultern. »Das einzige wirkliche Hindurch besteht darin, es zu akzeptieren. Sonst zerreißt es mich wieder so wie am Anfang, und zwar jeden einzelnen Tag.«

Ich wollte gerne glauben, dass ich für einen Unschuldigen arbeitete. Und ich wollte glauben, dass ich selbst jede Minute gekämpft hätte, wenn man mir irrtümlich ein Verbrechen vorgeworfen hätte. Aber seine Worte besaßen eine traurige Art von Weisheit. »Also gut«, sagte ich. »Vergessen Sie all die anderen Fragen, vergessen Sie jede andere Person, die versucht hat, Ihnen zu helfen oder Sie zu verletzen oder was auch immer. Niemand weiß so viel über diesen Fall wie Sie, hab ich recht?«

»Ja, ich schätze schon.«

»Dann lassen Sie uns noch mal ganz von vorn anfangen. Informieren Sie mich über Ihren Fall. Tun Sie so, als wüsste ich gar nichts.«

Er schien endlich zu akzeptieren, dass ich nicht einfach wieder verschwinden würde. »Es war ein Donnerstag«, begann er. »Ich habe bis neun Uhr abends im Subway gearbeitet. Sarah kam nach der Schule vorbei, es war nur ein Katzensprung mit dem Fahrrad. Das war ungefähr um halb vier. Ich nahm mein Mittagessen mit raus, und wir setzten uns ins Auto und redeten. Wir nahmen uns vor, später ins Kino zu gehen – das Kino ist im selben Einkaufszentrum wie das Subway. Sie wollte zum Abendessen nach Hause und danach wiederkommen. Und das war’s. Sie stieg wieder auf ihr Fahrrad, und ich ging zurück ins Restaurant.«

»Und was war nach Schichtende?«

»Da habe ich gewartet, im Auto«, antwortete er. »Ich habe ewig gewartet, weil ich dachte, dass sie sich vielleicht nur verspätet hat. Ich habe von einer Telefonzelle auf dem Parkplatz bei ihr zu Hause angerufen, aber es ging niemand dran. Da war es wahrscheinlich gegen halb elf. Danach bin ich zum Haus ihrer Eltern gefahren, und da standen überall Krankenwagen und Polizeiautos, es war das totale Chaos. Niemand wollte mir sagen, was passiert war. Ich wurde gebeten, mit aufs Revier zu kommen, es hieß, ich könne gehen, wann immer ich wollte, aber so hat es sich nicht angefühlt.«

»Wie lange waren Sie auf dem Revier?«

»Die Befragung ging Stunden, ich meine, buchstäblich Stunden. Die Polizisten wollten mir immer noch nicht verraten, was genau passiert war. Ich dachte, dass Sarah