Du hast ein dunkles Lied mit meinem Blut geschrieben - Virginie Brac - E-Book

Du hast ein dunkles Lied mit meinem Blut geschrieben E-Book

Virginie Brac

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn Schuld nicht verjährt … Véra Cabral arbeitet als Notfallpsychiaterin, und in ihrem Leben ist mal wieder allerhand los. Ständig hat sie Stress mit der Familie und den Kollegen aus dem Krankenhaus. Dann wird Véra zu einem wirklich gefährlichen Einsatz gerufen: In einem Frauengefängnis wurde eine Wärterin ermordet. Die Delinquentin hat sich in einer Zelle verbarrikadiert und hält ein kleines Baby in ihrer Gewalt. Eine Verzweiflungstat? Véra ist mehr als skeptisch. ln wenigen Tagen wäre die junge Frau nämlich entlassen worden …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 313

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Virginie Brac

Du hast ein dunkles Lied mit meinem Blut geschrieben

Véra Cabrals zweiter Fall

Aus dem Französischen von Karolina Fell

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

WENN SCHULD NICHT VERJÄHRT …

 

Véra Cabral arbeitet als Notfallpsychiaterin, und in ihrem Leben ist mal wieder allerhand los. Ständig hat sie Stress mit der Familie und den Kollegen aus dem Krankenhaus. Dann wird Véra zu einem wirklich gefährlichen Einsatz gerufen: In einem Frauengefängnis wurde eine Wärterin ermordet. Die Delinquentin hat sich in einer Zelle verbarrikadiert und hält ein kleines Baby in ihrer Gewalt. Eine Verzweiflungstat? Véra ist mehr als skeptisch. ln wenigen Tagen wäre die junge Frau nämlich entlassen worden …

Über Virginie Brac

Virginie Brac ist eine der renommiertesten französischen Kriminalautorinnen. Im Jahr 2004 wurde sie für ihr Werk mit dem Grand Prix de Littérature Policière ausgezeichnet. Im Rowohlt Verlag ist bereits erschienen: «In den Nächten brütet still der Tod. Ein Fall für Véra Cabral».

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel

1

NORMALERWEISE sollte ich ganz woanders sein. Normalerweise, das heißt, wenn die französische Psychiatrie nicht gerade total den Bach runterginge, sollte ich auf dem Weg zu einer schicken Party in einer Villa am Park von Saint-Cloud sein. Und warum bin ich es nicht? Warum leben Notfallpsychiater nicht in Saus und Braus? Weil es den Leuten immer schlechter geht. Nicht bloß den Psychiatern, allen anderen auch.

Die Lampions auf dem Fest verlöschen einer nach dem anderen, während ich mit unserer Einsatzkoordinatorin Sheila, die mich per Funk im Auto angerufen hat, harte Verhandlungen führe.

«Warum ich? Haben die keinen Psychiater in Fleury?»

«Er sagt, er braucht Hilfe.»

«Wir alle brauchen Hilfe. Außerdem habe ich keinen Bereitschaftsdienst. Ruf die anderen an.»

Ich erzähle ihr nicht, dass ich auf die tolle Idee gekommen bin, zu dieser Einladung meine geschiedene Schwester mitzunehmen, die jetzt neben mir im Auto sitzt. Was soll ich bloß mit ihr machen? Sie von der Stadtautobahn aus zurücktrampen lassen? Oder soll sie lieber den ganzen Abend lang auf dem Gefängnisparkplatz im Auto rumsitzen?

Samstagabend, Porte de Vincennes. Die Autos schieben sich dicht an dicht voran, die Straßenlaternen recken sich dem malvenfarbenen Himmel entgegen, als witterten sie eine verheißungsvolle Nacht. Ich höre, wie sich Sheila mit Christian rumzankt, dem neuen Psychiater in unserem Team. Sie hat ihn mitten in einem Einsatz erwischt, was seinem genervten Flüstern sehr gut anzuhören ist.

«Unmöglich. Ich hab grade einen Selbstmordversuch am Hals, ich kann hier nicht weg.»

«Es ist aber ein Code 10», beharrt Sheila.

 

«Ehrlich, Sheila. Ich habe hier beide Hände voll zu tun.»

Er unterbricht den Funkkontakt. Der Selbstmordversuch macht ihm größere Sorgen als Sheilas gute Laune. Das ist äußerst leichtsinnig von ihm. Obwohl Sheila auf der untersten Sprosse der Leiter steht, verfügt sie über Mittel und Wege, uns das Leben zur Hölle zu machen. Als Telefonistin, die unsere Einsätze koordiniert, hat sie die Macht, uns spät in der Nacht weit weg und zu den richtig gemeinen Fällen zu schicken.

Nach ihrer Niederlage gegen Christian ermahnt sie mich.

«Das ist dein Fall, Véra. Geiselnahme in der Frauenabteilung. Sie warten schon auf dich.»

Ich gebe auf. Ich weiß schließlich, was ein Code 10 bedeutet. Ich wende mich zu Rosemarie, die als gute Gewerkschaftlerin entsetzt die Augen aufreißt.

«So was lässt du mit dir machen?»

«In Frankreich gibt es eben nicht genügend Psychiater. Dafür kann niemand etwas.»

«Was ihr braucht, sind ein paar Identifikationsfiguren. Ein paar Psychiater, die der nächsten Generation Lust darauf machen, diesen Beruf zu ergreifen.»

Im Klartext: keine solchen Kriecher wie mich.

Wir kommen an die Porte d’Italie, und während ich von der Stadtautobahn herunterfahre, erkläre ich: «Ich setze dich bei einem Taxenstand ab.»

«O nein! Ich kenne überhaupt niemanden bei den Markovitchs! Schließlich warst du diejenige, die gesagt hat, dass ich mitkommen soll!»

«Du hast mich doch darum angefleht.»

«Stimmt genau! Ich gehe nie aus! Wie soll ich da jemanden kennenlernen?»

Ich hole tief Luft. Ich kann mich jetzt nicht mit ihr streiten, auch wenn sie noch so große Lust darauf hat. Ich bin mit meinen Gedanken schon längst woanders.

«Hör mal», sage ich und bemühe mich um einen beschwichtigenden Ton, «tu mir den Gefallen und geh hin. Hugo wird garantiert total wütend sein, also sag ihm, dass ich nachkomme, sobald ich dort fertig bin.»

Fleury-Mérogis, seine Freuden, seine Leiden, die immense Ausdehnung seiner Strafvollzugsanstalt. Von außen erkenne ich die düstere Erscheinung wieder, die ich schon hundertmal im Fernsehen gesehen habe, die Betonklötze, die Mauern, die Wachtürme, die Sicherheitszäune zwischen den Gebäuden, all das in ein dämmriges Licht getaucht, das die Schattenzonen noch tiefer und dunkler wirken lässt.

Ich habe den Parkplatz kaum erreicht, als mir schon zwei uniformierte Gestalten bedeuten, das Auto abzustellen. Andere kreisen mich ein, um meine Personalien zu überprüfen. Wir wechseln mit gedämpfter Stimme ein paar kurze Sätze, dann werde ich in das Gefängnis eskortiert. Überall herrscht Stille, nur unterbrochen von einem gelegentlichen Schrei aus dem Inneren des Gebäudes oder von einem Ruf, den der Wind bis zu uns herüberträgt.

«Auf dieser Seite hier liegt die Männerabteilung», erklärt der Polizist, der mich begleitet. «Sie haben keine Ahnung, was hier los ist, andernfalls würden sie die Gelegenheit nutzen und ein richtiges Chaos veranstalten. So haben wir noch eine Chance, dass alles glattgeht.»

Wir laufen durch endlose Gänge. Die Türen öffnen und schließen sich wie Schleusen, kein Wort fällt, nichts von dem, was sich zurzeit im Frauentrakt abspielt, soll nach außen dringen.

Plötzlich verändert sich die Atmosphäre. Die inhaftierten Frauen sind wach und lauschen hinter ihren geschlossenen Zellentüren auf jeden Laut. Sie warten, sie lauern. Zwei Wärterinnen in marineblauen Röcken übernehmen mich und begleiten mich weiter bis zur Sporthalle, wo mich das übliche Aufgebot an Sicherheitskräften erwartet. Alle schweigen, sind extrem angespannt und achten auf das leiseste Geräusch.

Der Leiter des Einsatzkommandos stellt mir Dr. Ballisti vor, den Psychiater der Haftanstalt. Für einen Mann von kaum fünfzig Jahren wirkt dieser Dr. Ballisti ziemlich verbraucht. Er ist unheimlich dick, doch es sind nicht die Pfunde eines lebenslustigen Bonvivants, die er mit sich herumschleppt, sondern die eines gestressten Mannes, der seinen Körper vernachlässigt. Seine blasse Haut und seine müden Augen hinter den kleinen runden Brillengläsern lassen persönliche Katastrophen ahnen, die er offensichtlich zu vergessen sucht, indem er sich von seiner Arbeit total aufreiben lässt.

Ohne lange Vorreden fängt er mit seinen Erklärungen an.

«Es ist alles ganz schnell gegangen, als gerade die Zellen abgeschlossen und die Schlafmittel verteilt wurden. Die Insassin hat eine Aufseherin, die sie gut kannte, unter einem Vorwand in ihre Zelle gelockt. Dann hat sie ihr die Schlüssel abgenommen und sich mit ihr und dem Baby ihrer Zellengenossin, die noch nicht von der Dusche zurückgekommen war, eingeschlossen. In Anbetracht dieses präzisen Vorgehens kann man mit Bestimmtheit von einer geplanten Sache ausgehen.»

«Und niemand hat etwas gesehen?»

«Die anderen Aufseherinnen waren damit beschäftigt, die letzten Insassinnen in ihre Zellen zu bringen.»

«Ist sie bewaffnet?»

«Sie hat die Pistole der Aufseherin, die sie als Geisel genommen hat, und eine Rasierklinge. Es ist bisher kein Schuss gefallen. Sie droht damit, das Baby zu erdrosseln, wenn wir versuchen, in die Zelle einzudringen.»

«Wie alt ist das Baby?»

«Neun Monate. Es hat zuerst viel geweint, aber nachdem wir ein Fläschchen hineingereicht haben, ist es scheinbar eingeschlafen. Jedenfalls hoffe ich, dass es schläft …»

Ich auch. Wir kennen alle beide die mögliche Alternative, nämlich dass es tot ist.

«Und die Aufseherin?»

«Sie hat geschrien, um ihre Kolleginnen zu alarmieren, aber da war es schon zu spät. Was seitdem in der Zelle vorgefallen ist, wissen wir nicht. Wir haben keinerlei Geräusche mehr gehört.»

Auch das lässt nichts Gutes ahnen.

Es ist zwanzig vor acht. Seit der Geiselnahme ist etwas mehr als eine Stunde vergangen, und die Situation lässt schon sämtliche Anzeichen einer psychologischen Blockade erkennen. Dafür gibt es mehrere Hinweise. Die Stille auf der anderen Seite der Zellentür zum Beispiel, und auch die Tatsache, dass die Insassin keinerlei Forderungen gestellt hat, deutet auf eine sich anbahnende Tragödie hin. Ich bin genauso pessimistisch wie Dr. Ballisti, aber schließlich soll ich ihm Mut machen, also frage ich nur: «Und sie hat überhaupt nicht gesagt, was sie will?»

«Doch. Dass man sie in Ruhe lässt.»

«Das war alles?»

«Sonst hat sie nichts weiter gesagt, als wir sie durch die Tür befragt haben. Sie hat uns den Eindruck vermittelt, als würden wir sie belästigen. Das ist schon reichlich seltsam. Als ob sie das Gefängnis ausgeblendet hätte. Ich dachte sofort, sie bringt das Baby ohne zu zögern um, falls wir Gewalt anwenden.»

«Ich verstehe. Kennen Sie sie aus Ihrer Sprechstunde?»

Er schüttelt betrübt den Kopf.

«Ich weiß nur, dass sie Giselle Leguerche heißt. Sie ist nie zu mir gekommen, hat sich immer vollkommen unauffällig verhalten und nie um Schlafmittel oder Beruhigungsmittel gebeten. Ich habe keine Akte von ihr, gar nichts. Für mich hat sie nicht existiert.»

Ballisti macht sich Vorwürfe, Vorwürfe, weil sie ihm durchgerutscht ist. Auch wenn täglich fünfzig Häftlinge zu ihm kommen, also viel zu viele, auch wenn er das ganze Gefängnis am Hals hat, auch wenn er nicht alles voraussehen kann, er macht sich trotzdem Vorwürfe.

«Und der Arzt?»

«Sie war sechs Monate nach ihrer Inhaftierung wegen Amenorrhö bei ihm, aber er hat keine Behandlung angefangen.»

Natürlich. Wenn man alle Frauen behandeln würde, deren Regel im Gefängnis ausbleibt, hätte man viel zu tun. Neben Haarausfall und Schlafstörungen ist das noch der geringste Preis, den sie zahlen müssen. Für den Arzt war das nichts Besonderes, und Giselle Leguerche ist kein zweites Mal zu ihm gekommen.

Ich erkundige mich, weshalb sie in Haft ist.

«Sie hat im Büro eine Kollegin umgebracht. Sie ist seit zehn Jahren hier.»

«Keine strafmildernden Umstände?»

«Soweit ich weiß, nicht. Das Opfer war ihre beste Freundin, und sie hat niemals eine Erklärung dazu abgegeben, warum sie die Tat begangen hat. Kein Mensch hat verstanden, was zwischen den beiden vorgefallen ist. Sie hat sich von Anfang an sehr gut an das Gefängnisleben angepasst, sodass ihr Strafmaß gemindert wurde und sie vorzeitig aus der Haft entlassen werden sollte. Und das Seltsamste an der Sache», fügt er entmutigt hinzu, «nächste Woche wäre sie entlassen worden.»

Das wird ja immer besser. Eine verurteilte Mörderin kommt ein paar Tage vor ihrer Freilassung auf die Idee, sich vor den Augen von hundert Zeugen einen Rückfall zu leisten.

Der Einsatzleiter, der sich seit einer guten Viertelstunde geduldet hat, unterbricht unser Zwiegespräch.

«Und? Wie gehen wir vor?»

Ich mache den einzigen Vorschlag, der mir durchführbar erscheint.

«Ich versuche, mit ihr zu reden …»

«Und wenn Sie das nicht schaffen, breche ich die Tür auf», erklärt er.

«Das machen Sie nicht!», dröhnt Ballisti.

Seine Stimme hallt in der Stille nach. Alle Blicke richten sich auf uns. Er spricht wieder leiser.

«Sie wartet doch bloß darauf, dass Sie die Tür aufbrechen! Dann hat sie endlich eine Rechtfertigung dafür, das Baby umzubringen. Und daran sind dann Sie schuld!»

«Wenn Sie mich fragen, ist das Baby schon längst tot», erklärt der Einsatzleiter mit unverhohlener Geringschätzung.

Er hält Psychiater für absolut nutzlos, und Ballisti mit seinem hoffnungslosen Blick und seinem Übergewicht wird an dieser Meinung bestimmt nichts ändern.

«Es ist nicht tot», hält Ballisti dagegen. «Sie wartet ab. Sie wartet auf unsere Reaktion, bevor sie ihre Drohung in die Tat umsetzt. Das ist wie mit einer Zeitbombe: Sie braucht einen Auslöser.»

Ballistis Problem ist, dass er hier schon alles gesehen und alles gehört hat. Er schlägt sich mit dem Mut der Verzweiflung, ohne an den Erfolg zu glauben. Das spürt der Einsatzleiter und fühlt sich davon in seiner Entschlossenheit, Gewalt anzuwenden, nur noch bestärkt.

«Doktor Cabral», drängt er mich, «wir brauchen eine schnelle Lösung. Wenn sich das Gerücht verbreitet, dass hier im Gefängnis eine Geiselnahme läuft, riskieren wir einen Aufstand …»

Also gut. Ich glaube, ich weiß inzwischen über die wichtigsten Fakten Bescheid.

«Führen Sie mich zu der Zelle», fordere ich den Einsatzleiter auf.

«Wollen Sie nicht Ihren Regenmantel ausziehen?»

Ich mustere ihn, als hätte er mir ein unsittliches Angebot gemacht.

«Danke. Ich fühle mich darin sehr wohl.»

Es muss ja schließlich niemand wissen, dass ich in einem anderen Leben gerade in einem ziemlich kurzen schwarzen Kleid mit einem Ausschnitt bis zum Bauchnabel auf dem Weg zu einer Party war.

Der Einsatzleiter führt mich durch die Reihe bewaffneter Männer, die bereit zum Eingreifen auf dem Gang warten. Er gibt ihnen ein Zeichen, sich zurückzuziehen. Hinter den Zellentüren spüre ich die Anwesenheit der Häftlinge, die mit den Ohren an den Türen lauschen. Nun kommt der Einstieg in das Gespräch, und das ist immer der heikelste Moment. Ich muss nur noch anklopfen.

«Viel Glück», murmelt Ballisti und legt mir kurz die Hand auf die Schulter.

Ich werfe ihm einen dankbaren Blick zu und setze mich in Bewegung.

 

Ich stehe mitten im Gang allein vor der Zellentür.

«Giselle Leguerche? Ich bin Doktor Cabral. Würden Sie mir die Tür öffnen? Ich möchte gern mit Ihnen sprechen …»

Im Psychiatrischen Kriseninterventionszentrum, in dem ich angestellt bin, arbeiten wir nach der Regel, uns klar und eindeutig vorzustellen: Wir sagen ohne Umschweife, wer wir sind und was wir wollen. Normalerweise funktioniert das am besten. Aber heute nicht.

Geduldig setze ich erneut an.

«Madame Leguerche? Bitte, ich würde gern zu Ihnen hineinkommen, um mit Ihnen zu sprechen …»

Das Guckloch auf Augenhöhe ist geöffnet, doch sie hat es von der anderen Seite verhängt. Ich rede gut zehn Minuten, bis mich endlich eine raue, aggressive Stimme unterbricht.

«Verdammt, wie lange wollen Sie mir denn eigentlich noch auf die Nerven fallen?»

«Bis Sie mich hineinlassen.»

«Und warum willst du rein, du blöde Schlampe?»

Jetzt komme ich ohne Umschweife zur Sache.

«Ich will verstehen, was du willst … Ich kann nicht durch die Tür mit dir reden … Wenn es etwas Persönliches ist, sollten wir uns besser in Ruhe unterhalten …»

«Das ist vollkommen überflüssig! Es ist nichts Persönliches!»

«Jetzt hör schon auf, Giselle … Du machst das alles doch nicht bloß zum Spaß …»

«Was weißt du schon? Wer bist du überhaupt?»

«Ich bin Psychiaterin. Ich versuche, dich zu verstehen. Aber nicht so, vom Flur aus.»

«Und was machen die Bullen?»

«Sie hören zu.»

«Also ist das eine Falle? Ich warne euch: Wenn das eine Falle ist, murkse ich den kleinen Scheißer ab!»

Aber so schnell lasse ich mich nicht entmutigen.

«Jetzt hör mal, du lässt mich rein, erzählst mir, was mit dir los ist, danach gehe ich wieder, erkläre ihnen alles, und dann sehen wir, was wir tun können … Was hältst du davon?»

Ich bin mit dem Satz noch nicht fertig, als sie die Tür öffnet. Dabei achtet sie darauf, in Deckung zu bleiben. Reflexartig schlüpfe ich in das Innere der Zelle, als die Tür auch schon wieder hinter mir zuschlägt.

Eine große Frau von rund vierzig Jahren steht vor mir.

«Meine Fresse, du bist verflucht hartnäckig», stellt sie fest.

 

Zuerst nehme ich nur ihre Brüste wahr, schwere Brüste mit großen Warzenhöfen, die unter den viel zu kurzen Seitenteilen eines blauen Uniformhemdes schaukeln. Schon seltsam, was für eine hypnotische Wirkung Brüste haben. Es dauert ein oder zwei Sekunden, bevor mir bewusst wird, dass Giselle Leguerche die Uniform der Aufseherin übergezogen hat, deren Leiche vor meinen Füßen liegt. Sie konnte weder das Hemd noch den Rock schließen, dessen Nähte zu platzen drohen. Soweit ich erkennen kann, trägt sie nichts darunter. Sie verströmt die sexuelle Anziehungskraft einer prähistorischen Venus.

Davon abgesehen hatte Ballisti recht. Giselle Leguerche hat die Pistole der Aufseherin nicht benutzt. Sie hat es auf die blutige Art gemacht.

«Hast du ’ne Kippe?», fragt sie.

Ich schüttle den Kopf. Zwischen den Pritschen, die an die Wand geschraubt sind, der Toilette, dem Kinderbettchen, den Fotos an den Wänden, den Behältern mit Kaffee, Milch, Zucker, den Fläschchen, den Windelpaketen, die sorgfältig an den Wänden entlang gestapelt sind, ist kein Quadratzentimeter freier Raum. Eine kleine, vergitterte Fensterluke sorgt für die Belüftung.

«Tut mir leid. Ich rauche nicht.»

«Ich hätte jetzt echt Bock, eine zu rauchen, aber die Kippen hat meine Zellenkollegin. Sie hat ein Kind und raucht, kannst du dir das vorstellen? Reines Pack hier, kann ich dir sagen … Als ich schwanger war, habe ich damit aufgehört.»

Ich antworte nicht, denn gerade habe ich bemerkt, dass sie eine Schnur um den Hals des Babys geschlungen hat, das in seinem Bettchen schläft. Das andere Ende der Schnur ist um ihr Handgelenk geknotet. Jedes Mal, wenn sie sich bewegt, zieht sich die Schlinge zusammen. Falls die Polizei einen Vorstoß wagt, reicht ein kräftiger Ruck aus der Entfernung, und sie hat das Kind erdrosselt.

Haarsträhnen hängen ihr ins Gesicht, dicke, braune Strähnen mit etwas Weiß darin, hinter denen sie mich aufmerksam beobachtet. Ihre Züge sind in den Gefängnisjahren hart geworden, ihre Backenknochen stehen vor, ihre Wangen sind eingefallen, es sieht aus, als wäre ihr Gesicht aus Stein gemeißelt. Alles an ihr erinnert an diese Bronzestatuen, die im Kommunismus so beliebt waren. Alles, bis auf die braunen Augen mit den goldenen Sprenkeln darin. Ich verstehe, warum sie mich hereingelassen hat. Sie muss sich mit ihrer Leiche schwer gelangweilt haben.

Ich frage sie: «Und wo ist denn dein Kind?»

«Tot. Mein Vater hat es umgebracht. Kannst du dir so was vorstellen? Er hat meinen Sohn umgebracht, und kein Mensch hat ihn dafür zur Verantwortung gezogen. Ich habe meine Kollegin umgebracht und zehn Jahre gekriegt. Es trifft eben immer dieselben.»

«Und die Aufseherin?»

Schulterzucken.

«Keine Ahnung. Eigentlich war sie sogar ganz nett.»

Ich sehe hinunter auf die zähe, dunkle Flüssigkeit, die langsam auf Hals und Schultern der Leiche gerinnt. Irgendetwas hier entgeht mir völlig, aber darum kann ich mich jetzt nicht kümmern. Ich steige über den Körper hinweg, passe dabei auf, dass ich nicht in die Blutlache trete, und setze mich auf eine der Pritschen.

«Und jetzt?»

Sie steht in ihrer vollen Größe über mir.

«Was, und jetzt?»

«Was willst du? Was sollen wir machen?»

«Bist du wirklich Ärztin?», fragt sie mich zweifelnd. «Du kommst mir verdammt nochmal überhaupt nicht so vor.»

«Willst du raus oder hier drinbleiben?»

«Und wenn mir das egal wäre?»

Ich denke einen Moment darüber nach, bevor ich antworte: «In dem Fall wäre es besser, du gehst raus. Die Tote fängt langsam an zu stinken. Du würdest es mit ihr zusammen nicht mehr lange aushalten.»

Sie gleitet an dem Bettchen entlang. Mit angehaltenem Atem beobachte ich, wie sich die Schnur zwischen ihrem Handgelenk und dem Baby spannt. Das Kind bewegt sich leicht, wacht aber nicht auf. Im tiefen Säuglingsschlaf bemerkt es nicht, dass es ein bisschen weniger Luft bekommt.

Nur nichts überstürzen. So tun, als ob man alle Zeit der Welt hätte. Als ob nach diesem Leben noch viele andere kämen und man die freie Wahl hätte.

«Glaubst du, dass sie mich woandershin verlegen?», fragt sie.

«Ich weiß nicht. Warum?»

«Hast du’s immer noch nicht kapiert? Da hast du ewig an der Uni studiert und immer noch nicht kapiert, was los ist? Draußen warten sie auf mich.»

«Wer?»

«Wegen meinem Sohn. Das ist es, was ich nicht packe. Diese Lügenmärchen. Immer nur Lügen, im Radio, im Fernsehen, überall …»

Ihre Goldaugen sehen mich flehentlich an. Sie streichelt unbewusst ihre Brüste. Ich ahne, dass sie auch nicht mehr als ich von dem versteht, was in ihr vorgeht. Sie ist so orientierungslos, dass sie sich selbst zum Rätsel wird.

Sie lacht traurig auf.

«Hast du gesehen, was ich gemacht habe? Ich hab’s wieder getan. Sie haben mir zehn Jahre aufgebrummt, weil sie gedacht haben, dann begreife ich es, aber ich habe nichts begriffen. Ich kann hier nicht raus. Ich bin ein Niemand. Ein Tier.»

«Das glaube ich nicht.»

«Und sagst du ihnen das auch?»

«Ich soll ihnen sagen, dass du kein Tier bist? Das mache ich. Ich verspreche dir, dass ich es mache.»

«Ja, sicher. Jetzt bin ich am Arsch, aber früher war ich mal wer. Bevor er mir das angetan hat …»

«Von wem redest du? Was hat man dir angetan?»

Schweigen. Ich bin im Begriff, die Frage zu wiederholen, als sie erklärt: «Ich habe meinen Sohn nicht umgebracht. Und pass auf, das soll keine Ausrede sein, ich hätte es sonst nämlich selber getan. Er hat mich einfach zu sehr angeekelt. Du kennst mich ja inzwischen und weißt, wozu ich fähig bin.»

Ich fluche auf Ballisti und seine lückenhaften Informationen. Warum hat er mir von diesem Drama nichts erzählt? Diese Frau würde sich zu einer Behandlung bereit erklären, wenn man sich die Mühe machte. Das Problem ist nur, dass es niemanden gibt, der sich um einen Fall wie ihren kümmern könnte. So etwas ist nicht vorgesehen.

Ich versuche ihr zuzulächeln.

«Giselle, du musst niemanden umbringen, um leben zu können. Ich höre dir zu. Ich respektiere dich.»

Sie wirft mir einen erstaunten, zweifelnden Blick zu. Und dann sagt sie ganz leise: «Ja, du vielleicht.»

Ich stehe auf.

«Also los, komm», sage ich sanft. «Wir müssen hier raus.»

Ein schneller Schnitt mit der Rasierklinge, und sie hat die Schnur durchtrennt. Ich klopfe an die Tür, um anzukündigen, dass wir herauskommen. Ohne noch einmal auf den leblosen Körper der Aufseherin zu blicken, folgt sie mir auf den Gang.

2

TROTZ Ballistis Einspruch bin ich direkt nach dem Einsatz aus Fleury weg. Schließlich kann man nicht von mir erwarten, dass ich ewig vor Ort bleibe, und ebenso wenig, dass ich für alle Probleme eine Lösung parat habe. Und so manches Problem in Fleury hat mit Psychiatrie nicht das Geringste zu tun, sondern eher mit den Haftbedingungen in unserem schönen Land. Und was ich dort davon gesehen hatte, erschien mir unverantwortlich. Deswegen habe ich mich so schnell wie möglich verzogen und dabei noch Schuldgefühle bekommen, weil ich ein interessantes Leben, einen Mann an meiner Seite und auch sonst ein Mordsglück habe.

Wenig später finde ich mich mitten im Trubel der Party wieder, die Hugos Eltern aus Anlass ihres hundertsten Hochzeitstages feiern. Das war die falsche Entscheidung. Ich wäre besser ins Kriseninterventionszentrum zurück, hätte meinen Einsatzbericht geschrieben und mit einem anderen Psychiater den Fall durchgesprochen. Die tote Aufseherin in Unterhose und BH, die zähe schwarze Flüssigkeit auf ihrer Brust und ihre durchschnittene Kehle gehen mir nicht aus dem Kopf. Es ist dringend davon abzuraten, übergangslos von einer ermordeten Frau in die Gesellschaft schöner Mädchen in Abendkleidern zu wechseln, die auf den schimmernden Holzböden der Markovitchs anmutig ihre Kreise ziehen. Nicht aus moralischen Gründen, sondern weil der Tod die Überlebenden nie so einfach loslässt.

Während ich die Tanzenden anstarre, ohne sie wahrzunehmen, erscheint mir alles vollkommen unwirklich. Die Gesichter sind Masken, jedes Lächeln ist erstarrt. Ich erkenne einen Assistenzarzt vom Saint-Guy, mit dem Hugo gelegentlich Billard spielt. Er winkt mir zu, aber ich bringe kein Lächeln zustande. Hugo tanzt ebenfalls. Seine Tanzpartnerin ist eine klassische Schönheit, die mir vorkommt wie eine Barbie-Version von Giselle Leguerche. Doch ich kenne sie sehr gut. Es ist Sarah, eine meiner besten Freundinnen. Sie ruft mir etwas zu, und ich erkenne ganz genau die Wangenknochen von Giselle Leguerche wieder, das Dekolleté mit den gleichen schweren Brüsten. So hätte mir Giselle in dieser anderen Welt wiederbegegnen können, geschminkt und parfümiert, um sich aus der Entfernung über mich lustig zu machen. Ich wende mich ab, als hätte ich sie nicht gesehen.

 

Noch immer wird bei Markovitchs getanzt. Alle lachen und amüsieren sich. Rund um das japanische Luxusbüfett, das zu der schlichten und eleganten Einrichtung passt, herrscht ein Riesengedränge. Die gesamte Einrichtung wurde neulich mit der Unterstützung eines angesagten Innendekorateurs umgestaltet. Und Madame Markovitch, Lili für ihre Intimfreunde, strahlt vor heimlichem Stolz bei dem Gedanken daran, dass ihr bescheidenes Heim der letzten Elle Déco ein paar Seiten wert war.

Neben mir schnappt sich Rosemarie eine neue Champagnerflöte vom Tablett eines Kellners, der seine weißen Haare mit einem Kilo Gel an den Kopf geklatscht hat. Mit der anderen Hand stellt sie zugleich ihr leeres Glas darauf ab.

«In den Dingern ist wirklich kaum was drin …»

«Keine Sorge», flüstert er, «ich bleibe in Ihrer Nähe.»

«Danke, das ist nett. Ich kenne hier keinen Menschen, wissen Sie, da kann man sich ganz schön einsam fühlen.»

Ganz toll. Sobald er sich umgedreht hat, lege ich los:

«Es wäre mir sehr recht, wenn du dich nicht so peinlich aufführen würdest.»

«Ich führe mich peinlich auf?», zischt sie empört.

«Du lässt dich hier volllaufen und baggerst auch noch den Kellner an. Du machst dich lächerlich.»

«Jetzt komm mal wieder runter. Findest du ihn etwa nicht süß?»

Ich nehme den stämmigen Alten mit den viel zu langen Koteletten über den leicht erschlafften Hängebacken noch einmal in Augenschein und verstehe nicht, wovon sie redet.

«Du solltest ihn mal zum Friseur schicken», empfehle ich ihr spöttisch. «Seine Haare stehen auf dem Kragen auf. Was Schlimmeres gibt’s überhaupt nicht.»

Während sie mich wortlos ansieht, bemerke ich ein paar neue Falten um ihre Augen, die sie traurig und fast alt aussehen lassen.

«Und was stört dich daran, dass seine Haare zu lang sind? Glaubst du wirklich, es kommt bei einem Mann auf so was an? Auf die Haare?»

«Dreh mir nicht das Wort im Mund herum.»

«Du hast dich verändert, Véra», stellt sie fest und schüttelt nachdenklich den Kopf. «Und ich mich übrigens auch. Wir haben nicht mehr die gleiche Vorstellung vom Leben, wie man so schön sagt …»

Ohne mir Zeit zu einer Antwort zu lassen, dreht sie sich auf dem Absatz herum, um weiter den Opa zu umgarnen. Mit ihrem langen Volantkleid und ihrer sich langsam auflösenden Hochsteckfrisur – ganz zu schweigen von ihren Armreifen, Fußkettchen und Ohrringen – ist sie wirklich schwer zu übersehen. Normalerweise gefällt mir diese Aufmachung, in der sie aussieht wie eine Westernheldin. Aber nicht heute Abend. Heute Abend sollte sie Marineblau tragen und einen mit Samt bezogenen Haarreif. Außerdem sollte sie sich schüchtern an der Wand langdrücken. Und mir keine Probleme machen.

Blond, schlank, in weiten schwarzen Seidenhosen, einem Oberteil von Christian Lacroix und auf zwanzig Zentimeter hohen Absätzen steht plötzlich Hugos Mutter vor mir.

«Sandra, haben Sie zufällig Fabrice gesehen?»

«Ich bin Véra, Lili. Aber ich habe Fabrice trotzdem nicht gesehen.»

Fabrice, Hugos älterer Bruder, ist derjenige mit der Karriere in der Ölindustrie.

Ihre Adleraugen schweifen mit Genugtuung durch den Raum.

«Eine recht gelungene Party, oder?»

«Sehr.»

«Es ist so nett von Ihrer Schwester, sich ein bisschen um Maurice zu kümmern.»

«Maurice?»

Mein Blick fällt auf Rosemarie, die praktisch Wange an Wange mit fraglichem Maurice plaudert.

Während sie nachdenklich mit den Rüschen spielt, die ihren langen Hals zieren, klärt mich Lili Markovitch auf.

«Mino hat ihn unter seine Fittiche genommen. Früher war er Lastwagenfahrer. Jetzt bekommt er keinerlei Rente, deshalb gibt ihm Mino ab und zu kleinere Aufträge.»

Mino ist ihr Ehemann, Hugos Vater. Ein Mann, der pro Jahr vermutlich keine hundert Worte spricht und auf den gerade deshalb jeder hört, wenn er sich denn mal zu Wort meldet. Er hat im Transportwesen ein Vermögen gemacht. Er ist stolz auf seine Frau und stolz auf seine Söhne – vor allem auf den ältesten. Jedes Mal, wenn er mich sieht, fragt er mich, ob ich immer noch als Krankenschwester auf Hugos Station arbeite. Er hält mich für eine arme Irre, die ihre Angel nach seinem Sohn ausgeworfen hat. Und ich fühle mich nicht in der Lage, ihm das auszureden.

Hugo gesellt sich zu uns. Seine Krawatte ist gelockert, sein Kragen offen. Er ist entspannt und bester Laune. Er legt seiner Mutter den Arm um die Schulter.

«Na, die Damen, wird mal wieder geplaudert?»

«Ich suche Fabrice», sagt seine Mutter.

«Den habe ich gerade mit Solange die Treppe hochgehen sehen.»

Solange ist die Frau von Fabrice. Ein Schatten gleitet über das diskret geschminkte Gesicht Lili Markovitchs. Ihr Alter ist bedeutungslos, sie ist wirklich eine Schönheit. Sie küsst ihren Sohn auf die Wange.

«Ich lasse euch beide allein. Amüsiert euch gut.»

Nachdem sie weg ist, nimmt mich Hugo in die Arme.

«Wie ist es gelaufen?»

Ich ziehe ein Gesicht, außerstande, darüber zu reden. Er versteht sofort.

«Möchtest du, dass wir gehen?»

Ich lächle ihn gerührt an.

«Nein, bleib du hier. Es sind deine Eltern und deine Gäste. Ich muss ohnehin Rosemarie nach Hause bringen, bevor sie noch Dummheiten macht.»

Wir küssen uns gerade, als sich Sarah auf uns stürzt. Ihre langen braunen Haare umfluten ihre Schultern. Sie ist ausgelassen, strahlend schön, schlichtweg atemberaubend. Doch mit ihr kehren die Schreckensbilder zurück, das Blut, die Schnur um den Hals des Babys. Ein Schauder überläuft mich. Es wird Zeit, dass ich gehe.

 

Wie es der Zufall will, ist Rosemarie unauffindbar. Wenn es nicht so kalt wäre, würde ich fast vermuten, dass sie sich mit dem Lastwagenfahrer in die Büsche geschlagen hat. Ich bin drauf und dran, den Oberkellner zu fragen, ob er die beiden gesehen hat. Andererseits möchte ich nicht, dass Maurice rausfliegt. Ich bin ja nicht auf ihn sauer, sondern auf sie. Vor allem, weil sie sich vergnügt, ohne sich darum zu kümmern, was die Leute von ihr denken. Neben ihr wirke ich noch verklemmter, als ich es sowieso schon bin. Und auch wenn es so ist, will ich jedenfalls nicht daran erinnert werden.

Mit diesem Gedanken beschäftigt gehe ich die mit einem dicken Teppich ausgelegte Treppe zur ersten Etage hinauf. Wie ich meine Schwester kenne, hat sie sich das beste Zimmer rausgesucht.

Ich werfe einen Blick in Hugos ehemaliges Zimmer, das in einen Fitnessraum mit Hometrainer, Rudergerät und Turnmatten verwandelt worden ist. Daneben liegt ein Arbeitszimmer mit Balkon, an dem die Zweige eines Baumes entlangwischen. Die Blätter hinter den Scheiben schwanken träge hin und her, von unten dringt die schwungvolle Musik der Party herauf.

Als ich weiter den Flur in Richtung des elterlichen Schlafzimmers entlanggehe, höre ich aus der halbgeöffneten Badezimmertür ein unterdrücktes Stöhnen.

«Rosemarie? Bist du das?»

Im Badezimmerspiegel erkenne ich die Gestalt Solanges, die sich über das große blaue Waschbecken beugt. Sie trägt ein schwarzes Bustier zu einem langen roten Tüllrock und klammert sich an den Rand des Waschbeckens, als würde sie gleich zusammenbrechen. Ihre nackten Schultern zucken, ihr Gesicht ist hinter ihren Haaren nicht zu sehen, doch sie scheint zu weinen. Hinter ihr steht ein Mann, der sie weit überragt.

Ich fahre zusammen, als hinter mir plötzlich Lili Markovitchs Stimme ertönt:

«Véra! Da sind Sie ja endlich! Ihre Schwester sucht Sie überall! Wir haben schon gedacht, Sie wären ohne sie losgefahren.»

Die Tür des Badezimmers fliegt auf, und Fabrice tritt eilig heraus. Er wirkt leicht verstört.

«Ah, du bist es», sagt er beim Anblick seiner Mutter.

«Bist du mit Solange dadrinnen, mein Lieber?»

«Ja. Wir haben etwas besprochen.»

«Ach so. Aber … Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Brauchst du mich?»

Er lächelt.

«Mach dir keine Gedanken. Es geht schon.»

Er ignoriert mich, aber daran habe ich mich inzwischen gewöhnt. Fabrice gehört zu der Sorte von Männern, die Frauen auf ihre sexuelle Funktion reduzieren. Wenn wir gemeinsam am Tisch sitzen, bittet er mich höchstens einmal, ihm eine Schüssel zu reichen. Er käme im Traum nicht auf den Gedanken, dass ich ihn für total grässlich halten könnte oder einfach für jemanden mit schlechten Manieren. Schließlich verdient er ja so einen Haufen Geld im Erdölgeschäft.

Zuckersüß flöte ich: «Guten Abend, Fabrice.»

Ohne seine Antwort abzuwarten, nimmt mich Madame Markovitch am Arm und zieht mich in Richtung Treppe.

«Kommen Sie», sagt sie leise und vertraulich. «Überlassen wir die beiden ihren Angelegenheiten.»

Und dann fügt sie mit noch leiserer Stimme hinzu: «Solange ist zurzeit unheimlich depressiv. Der arme Fabrice! Er ist wirklich schon völlig am Ende …»

Nachdem sie mir verschwörerisch zugelächelt und den Arm getätschelt hat, mischt sie sich wieder unter ihre Gäste.

Draußen teilt mir Hugo mit, dass Rosemarie zusammen mit Maurice gegangen ist. Offenbar hat sie mir eine Nachricht auf meinem Handy hinterlassen. Ich ziehe meinen Regenmantel enger um mich. Langsam und tief atme ich die Luft des nahen Parks ein, doch ich nehme nur den Geruch nach Schweiß und Chlor des Gefängnisses wahr. Hugo schlottert in seinem Hemd vor Kälte. Er schiebt mich in mein Auto und schlägt die Tür zu. Dann winkt er mir ein letztes Mal zu und stürzt sich wieder in sein rauschendes Fest.

3

MEINE innere Anspannung lässt erst am Montagmorgen nach, als ich durch den Park der Klinik fahre mit seinen großen, irgendwie nostalgisch wirkenden Bäumen und den Rasenflächen, die sich unter einem ausgewaschenen Himmel ausbreiten. Ich habe das merkwürdige Gefühl, nach zehn Jahren Abwesenheit wieder nach Hause zu kommen. Es ist so stark, dass ich versucht bin, das Auto stehen zu lassen und mit bloßen Füßen durch das feuchte Laub zu gehen.

Im Interventionszentrum bleibe ich ein bisschen in Antoines Büro hängen und erzähle ihm von dem quälenden Eindruck, den der Einsatz bei mir hinterlassen hat.

«In Anbetracht der Umstände kann man nicht mal sagen, dass es schlecht gelaufen ist. Immerhin haben wir das Baby gerettet …»

«Das Ausmaß der Gewalt ist nicht ausschlaggebend», erinnert mich Antoine. «Wir können unsere Reaktion nie voraussagen, weil wir nicht wissen, wie unser Gefühlsleben funktioniert. Davon haben wir höchstens eine vage Vorstellung …»

Unter meinen Kollegen ist Antoine derjenige mit der meisten Berufserfahrung. Er ist groß und hält sich leicht gebeugt. Trotz seines Alters hat er sich eine jugendliche Figur bewahrt, die er durch T-Shirts und enganliegende Rollis zur Geltung bringt, die ihm der Mann seines Lebens kauft. Bei seinen grünen Augen hinter den dichten Wimpern hätte ich auch schwach werden können. Antoine hat schon einen Einsatz in Fleury gehabt, also muss ich ihm die Situation dort nicht beschreiben. Er schlürft mit den Füßen auf dem Schreibtisch seinen Kaffee, und wir bewundern schweigend den Park in seiner herbstlichen Pracht.

Schließlich unterbricht er die Stille:

«Nach allem, was du gesagt hast, ist sie psychotisch.»

«So einfach ist das nicht. Ich glaube, irgendeine alte, aber durchaus reale Geschichte ist plötzlich wieder hochgekommen … Als ob sie irgendwie zu neuem Leben erweckt worden wäre, verstehst du, was ich meine?»

Er betrachtet mich skeptisch. Ich kann mich nicht deutlicher ausdrücken, obwohl ich das ganze Wochenende mit dem Versuch verbracht habe, zu entschlüsseln, wer sich hinter dieser halbnackten Frau verbirgt, die zu eiskalter und tödlicher Gewalt fähig ist.

«Vielleicht war sie bei ihrem ersten Mord einfach noch ein Grenzfall», überlegt Antoine laut. «Und dann hat sich ihr Zustand über die Jahre im Gefängnis immer weiter verschlechtert, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre.»

Ich lasse mir das durch den Kopf gehen, bevor ich antworte.

«Ich muss Ballisti anrufen. Sie könnte es jederzeit wieder tun.»

«Ballisti ist sehr kompetent, er unterschätzt das Risiko garantiert nicht. Er überweist sie bestimmt in die Psychiatrie.»

In Wahrheit wüsste ich auch gar nicht, was ich zu Ballisti sagen sollte. Es gibt Momente, da halte ich sie für eine delirierende Psychotikerin, kurz darauf erscheint sie mir wiederum gefährlich manipulativ.

Ich überlege laut weiter, als hätte ich vor, einen entzündeten Zahn noch stärker zu reizen.

«Sie hat nicht deliriert … Ihr war bewusst, was sie tat, aber ihre Motive sind unklar und schwer zu verstehen.»

«Ist das nicht bei den meisten Mördern so?», bemerkt Antoine ironisch. «Dass sie aus schwer nachvollziehbaren Motiven handeln?»

Seine Ironie nervt mich. Ich wünschte, er würde sich meine Ungereimtheiten mit dem Ernst anhören, den sie – jedenfalls meiner Meinung nach – verdienen. Das ist viel verlangt von einem überarbeiteten Kollegen; also wechsle ich lieber das Thema.

«Und du? Wie läuft’s zurzeit denn so?»

Er brummt:

«Eigentlich nicht schlecht. Mal davon abgesehen, dass Christophe meine Kinder nicht leiden kann.»

«Und davon, dass deine Kinder Christophe nicht ausstehen können …»

«Wie kommst du dazu, so etwas zu sagen?»

Ich grinse ihn wölfisch an.

«Das ist doch offensichtlich, mein Lieber. Du bringst die Leute, die du kennst, zusammen, obwohl sie ansonsten nichts gemeinsam haben. Wie soll das denn funktionieren? Das ist gleichzeitig zu viel und viel zu wenig. Also zeigen sie dir, dass es nicht klappt. Und wenn du darauf bestehst, wirst du von allen verletzt.»

Dieser Tage werden in unserer Abteilung zwei Theorien verteidigt. Es geht bei beiden um die Frage, wie man die verschiedenen Bestandteile unserer komplizierten Existenzen unter einen Hut bringen kann. Dabei werden extrem gegensätzliche Auffassungen vertreten: «Bringe alle und alles zusammen!», sagen die einen. «Halte alles fein säuberlich getrennt!», die anderen. Die Anhänger der integrativen Theorie wollen die Bestandteile ihres Lebens gleichmäßig miteinander mischen. Sie gehen abends mit ihren Arbeitskollegen etwas trinken, fahren mit den Kindern ihrer Liebhaber in Urlaub und verbringen Weihnachten mit Leuten, die sie kaum kennen. Sie müssen zwar nie lügen, stehen aber immer kurz davor, den Dritten Weltkrieg auszulösen.

Dagegen sind die Anhänger der Trennungstheorie Meister der unerbittlichen Abkapselung. Arbeit und Privatleben werden nicht vermischt, die Kinder des einen nicht mit den Geliebten des anderen zusammengebracht, und Weihnachten verbringt man abwechselnd in den beiden Familien. Alles zu seiner Zeit und an seinem Ort. Diese Einstellung hat den unschätzbaren Vorteil, dass Konflikte vermieden werden. Der Nachteil besteht darin, dass man ständig aufpassen muss. Ich, mit meinem Riesenhorror vor Konflikten und meiner Neigung zur Heimlichtuerei, bin eindeutig die Hohepriesterin der Abkapselung.

Die Tatsache, dass Antoines Kinder den Geliebten ihres Vaters nicht riechen können und umgekehrt, bedeutet einen haushohen Sieg für mein Lager. Unerbittlich schlage ich noch einmal zu, bevor ich aus seinem Büro gehe.

«Du steckst zehn Euro in die Kasse.»

So viel kostet es jedes Mal, wenn eines der Lager einen Punkt verbuchen kann. Mit dem Geld, das bis nächsten Sommer zusammengekommen ist, feiern wir dann ein großes Versöhnungs-Grillfest. Bis dahin kann Antoine bedauern, dass sie mich nicht in Fleury in eine Zelle gesperrt haben.