Du sollst nicht lügen! - Jürgen Schmieder - E-Book
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Du sollst nicht lügen! E-Book

Jürgen Schmieder

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Beschreibung

Origineller Erfahrungsbericht über einen einzigartigen Selbstversuch, 40 Tage lang die Wahrheit zu sagen

Lügen haben kurze Beine. Wenn dieser Kindheitsspruch stimmen würde, liefen wir auf Stummelbeinen durch die Welt. Denn wir lügen, sagt die Wissenschaft, bis zu 200-mal – am Tag. Aus Höflichkeit, aus Diplomatie oder weil es einfacher ist. Jürgen Schmieder sagt in einem Selbstversuch vierzig Tage lang nichts als die Wahrheit. Das Ergebnis: blaue Flecken, Nächte auf der Couch, diverse Beleidigungen, ein verlorener Freund. Manchmal fühlt er sich befreit und mutig, manchmal deprimiert und verunsichert. Privat (»Findest du meinen Hintern fett?«) und beruflich (»Mach doch deinen Scheiß alleine!«) gerät er in ungemütliche, aber auch witzig-erhellende Situationen.

Ein amüsant-nachdenkliches Buch über das – kein bisschen eindeutige – Verhältnis von Wahrheit und Lüge.

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Seitenzahl: 446

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Inhaltsverzeichnis
Widmung
Kapitel 1 - Tag 1 - Das erste Mal ehrlich sein
Kapitel 2 - Immer noch Tag 1 - Was ist eigentlich ehrlich sein?
Copyright
Für Hanni und Finn
Kapitel 1
Tag 1 - Das erste Mal ehrlich sein
Soll ich sie eine beschissene Schlampe nennen? Oder eine verdammte Schnepfe? Oder reicht blöde Kuh?
Ich weiß es nicht.
Es ist mein erstes Mal - und ich will beim ersten Mal keinen Fehler machen. Niemand will beim ersten Mal einen Fehler machen, obwohl jedes erste Mal im Nachhinein betrachtet eines der unwichtigsten Ereignisse im Leben eines Menschen ist, aber das weiß man ja vorher nicht, weshalb ein erstes Mal mindestens so geplant sein muss wie der Start einer Rakete oder das Weihnachtsessen bei meinen Eltern.
Sie müssen überlegt sein, diese Worte, die ich gleich aussprechen werde, sie müssen ins Schwarze treffen, einen Fehlschuss darf ich mir nicht erlauben - und diese drei erwähnten Beleidigungen kommen mir als Erstes in den Sinn. Meine Kinderstube taugt zwar nicht als Vorbild für ein Kinderbenimmbuch, verbietet mir aber dennoch den übermäßigen Gebrauch von Schimpfwörtern und Beleidigungen. Meine Eltern haben mir in den wenigen Momenten, in denen ich ihnen erlaubt habe, mich tatsächlich zu erziehen, beigebracht, von den etwa 300 Schimpfwörtern, die mir täglich durch den Kopf gehen, höchstens 15 auszusprechen, und davon höchstens fünf für andere Menschen hörbar.
Meine Erziehung ist mir jetzt allerdings egal, denn es geht um höhere Ziele.
Es ist Aschermittwoch. In der Empfangshalle des Münchner Bahnhofs riecht es nach verschüttetem Alkohol, halb und rückwärts verdauten Cheeseburgern. Der Boden ist klebrig, jeder Schritt hört sich an, als würde man einen Klettverschluss öffnen. Ich muss daran denken, wann der Boden wohl das letzte Mal gewischt wurde und wie viele Keime bei jedem Schritt am Schuh kleben bleiben und so in meine Wohnung gelangen und dort eine lustige Kommune starten, weil ich zu faul bin, die Zimmer zu putzen. Überall liegen Luftschlangen und Bierflaschen und Cheeseburger-Papier. Hin und wieder rülpst einer. Ich frage mich immer, warum Menschen in Großstädten einfach alles auf den Boden werfen. Sie schnippen Zigaretten auf die Straße, sie lassen benutzte Papiertüten einfach fallen, und aus ihren CO2-reduzierten Autos werfen sie so ziemlich alles, was durch das halb geöffnete Fenster passt - was ziemlich viel sein kann, wenn man gut genug knüllen kann. Vielleicht glauben die Menschen in Metropolen, dass es schon irgendjemand wegräumen wird, wenn schon so viele Leute da sind. Da, wo ich herkomme, in einem kleinen Städtchen zwei Stunden nördlich von München, liegt jedenfalls nicht so viel Müll auf der Straße. Vielleicht haben die Menschen dort nicht so viele Sachen zum Auf-die-Straße-Werfen, oder es gibt einen anderen Grund dafür.
Ich bin an diesem Morgen in der U-Bahn neun verkleideten Personen begegnet, von denen mindestens sieben stolz auf einen Fahr- und Gehuntüchtigkeit bewirkenden Promillegehalt sein konnten. Drei hielten sich aneinander fest und veranstalteten ein menschliches Extrem-Jenga. Bei jedem Halt stieß es einen der drei auf, als würde man einem Säugling auf den Rücken klopfen. Die anderen beiden fanden das lustig und applaudierten. Zwei der Betrunkenen knutschten wild miteinander. Ich habe grundsätzlich nichts gegen betrunkene Menschen, die sich einander festhalten und miteinander knutschen, aber an diesem Morgen muss ich meinem Gehirn doch 30 Sekunden Zeit geben, um wieder mit den Augen auf einer Wellenlänge zu sein. Ich meine, auf so etwas ist der verheiratete Endzwanziger nicht vorbereitet an einem Aschermittwoch.
Nun stehe ich in der Schlange vor dem Ticketschalter, für dessen Dienste die Deutsche Bahn tatsächlich einmal 2,50 Euro Schalter-Service-Gebühr verlangen wollte, um die Kunden dazu zu zwingen, beim Fahrkartenkauf lieber mit einer Maschine als mit einem anderen Menschen zu kommunizieren - und dann sämtliche Schalterangestellte entlassen zu können, weil so ein Automat natürlich weniger kostet als ein Mensch. Meiner Meinung nach diente diese Aktion eher dazu, Kulturpessimisten und jenen, die behaupten, dass früher sogar die Zukunft besser war, weitere Argumente für ihre Haltung zu liefern. Erst als die Bürger heftig protestierten und Angela Merkel höchstselbst beim damaligen Bahnchef Hartmut Mehdorn anrief, nahm die Bahn den unsinnigsten Aufpreis seit dem Topzuschlag für ein Spiel gegen Schalke 04 zurück.
Ich stehe in der Schlange, weil zwei Automaten defekt sind und an den anderen noch mehr Menschen anstehen als an den Schaltern - außerdem tippen die noch verwirrt auf dem Touchscreen herum, weil die Bahn zur Umsatzsteigerung durch die geplante Schalter-Service-Gebühr die Automaten bedienerunfreundlich programmiert hat. Und natürlich tue ich das auch deshalb, um die erwähnten Pessimisten, die jeden Computer und das Internet als Vorstufe zur Hölle betrachten, in ihrer Auffassung zu bestätigen.
Ich bin im Hauptbahnhof, weil mich mein Arbeitgeber nach Stuttgart schickt und bei Reisen auf öffentliche Verkehrsmittel setzt, was weniger mit Umweltschutz zu tun hat als vielmehr mit den Einsparmöglichkeiten durch das Bahn-Dauer-Spezial. Die Angestellten bekommen keine Bahncard, weil eine Bahncard ja zum Reisen animiert - und eigentlich soll ja nur im Notfall gereist werden. Also bin ich gezwungen, bereits um diese Uhrzeit am Bahnhof zu stehen, auch wenn ich nicht vor 18 Uhr in Stuttgart sein müsste. Ich möchte das Dauer-Spezial für 19 oder 29 Euro. Ohne Bahncard.
Es ist sechs Uhr morgens, was meine physischen und psychischen Fähigkeiten deutlich einschränkt, weil ich zum Leistungssternzeichen Hamster gehöre und meine besten und hellsten Momente nachts habe. Ich stehe am Anfang der Schlange und verlange das Dauer-Spezial nach Stuttgart. »Warten Sie einen Moment«, sagt die Frau am Schalter. Ich warte einen Moment. Sie hämmert auf die Tastatur ein, wie sonst nur das Bodenpersonal der Lufthansa auf Tastaturen einhämmert. Ich denke kurz daran, wie rasch eine Umschulung von Bahn auf Bodenpersonal möglich wäre, da antwortet sie: »Dauer-Spezial ist ausgebucht.« Ich kann nicht behaupten, dass ich sauer wäre. Vielmehr bin ich ernüchtert - als würde einem jemand erzählen, dass es auf der Geburtstagsparty regnen würde.
»Was kann ich sonst machen?« - »Warten Sie einen Moment.« Ich warte einen Moment. Sie hämmert auf die Tastatur ein. Ich bewundere kurz ihre Turmfrisur, bei der die Haare dreimal um den Kopf geschlungen und schließlich mit einer goldenen, tellergroßen Schmetterlingsspange festgezurrt sind. Ich bewundere die Frisur, weil ich mir zum einen kaum erklären kann, wie man einem Friseur beschreibt, was man gerne haben möchte. Wahrscheinlich hat sie einfach eine Zeitschrift aus den 50er-Jahren aufgehoben und auf die Titelseite gedeutet. Zudem bewundere ich den Ehrgeiz und die Ausdauer, jeden Morgen im Bad eine Stunde lang die Haare um den Kopf zu wickeln. Kurz: Diese Frau ist mir sympathisch, auch wenn sie mir kein Dauer-Spezial geben möchte.
»Ich habe etwas für Sie gefunden: Erst Bayern-Ticket, dann mit dem Regionalexpress nach Stuttgart. Kostet auch nur 41 Euro, die Fahrt dauert viereinhalb Stunden.«
Ich sehe sie an, wie ein Mann seinen Fernseher ansieht, wenn er statt des Pokalendspiels nur das Testbild geboten bekommt.
Mein geistiges Auge sieht gerade, wie sich in diesem Moment die Marketing-Strategen bei der Bahn gegenseitig auf die Schulter klopfen für die wahnsinnig tolle Kampagne, mit der sie die Menschen glauben machen, die Bahn würde einen für 29 Euro innerhalb von sechs Stunden von München nach Hamburg fahren - und weil die Menschen so blöd sind, es zu glauben, und morgens um sechs am Bahnhof stehen und so auch noch die Züge des Regionalverkehrs füllen.
Ich bin immer noch nicht sauer, aber doch gereizt - als würde einem jemand erzählen, dass es auf der Geburtstagsparty regnen würde und die Brauerei vergessen hat, Bier zu liefern.
Ich will gerade nach weiteren Möglichkeiten fragen und stelle mich schon darauf ein, noch einen weiteren Moment zu warten und dem Tastaturhämmern zuzusehen, da drängt sich ein junger Mann nach vorne. Die Menschen hinter mir haben ihn vorgelassen, ich als Erster der Reihe notgedrungen auch, obwohl ich grundsätzlich nicht zu den Vorlassern gehöre. Atemlos steht er vor dieser Panzerglasscheibe - als ob jemals jemand einen Raubüberfall auf einen Fahrkartenschalter verüben würde -, sein Erasmus-Aufkleber hängt ein wenig unmotiviert von seinem Rucksack. Er stinkt deutlich weniger nach Bier als die Bayern-Fans hinter mir und verlangt sein Ticket. Er fügt noch etwas hinzu, von dem ich aufgrund seiner Atemlosigkeit nur die Worte »Paris«, »bitte schnell« und »in fünf Minuten weg« verstanden habe.
Ich interpretiere das so, dass der Arme sich möglichst schnell eine Fahrkarte holen will, weil sein Zug nach Paris fünf Minuten später abfährt. Die Frau mit der Turmfrisur sieht ihn an: »Das ist nicht mein Problem, ich will den laufenden Vorgang jetzt nicht abbrechen. Dann verpassen Sie den Zug eben. Es fährt später bestimmt noch einer.«
Sie sieht ihn an, wie man jemanden ansieht, wenn sich kugelsicheres Glas dazwischen befindet. »Gehen Sie halt an einen Automaten, aber da stehen wohl auch Leute davor«, sagt sie und schüttelt sich ein bisschen, als würde ihr die Aussage Gänsehaut machen. Ich muss an Abraham Lincoln denken, der einmal sagte: »Jeder Mensch kann Trübsal aushalten. Wenn du seinen Charakter testen willst, dann gib ihm ein bisschen Macht.« Der Charakter dieser Frau würde wohl nur von einem GEZ-Mitarbeiter oder einem Kampfrichter beim 50-Kilometer-Gehen unterboten. Für diese Berufe muss man einfach mit einer gesunden Portion Sadismus ausgestattet sein.
Nun regnet es nicht nur auf der Geburtstagsparty, und es gibt kein Bier, sondern nun haben auch noch die meisten der Gäste abgesagt. So fühle ich mich.
Mein Herz pocht so, als wären keine schützenden Rippen vor der Haut. Nun bin ich richtig sauer. Erst bekomme ich kein Dauer-Spezial, dann wird mir eine Viereinhalbstundenfahrt vorgeschlagen - und jetzt wird der arme Mann noch daran gehindert, nach Paris zu fahren.
Normalerweise würde ich sie nun anlächeln, meine Fahrkarte bestellen und dann schweigend bezahlen. Ich würde mich kurz darüber ärgern, dass ich zu feige bin, etwas zu sagen. Die vier Schimpfwörter, die mir in den Kopf steigen, würden im Gehirn bleiben oder höchstens in den Magen abrutschen, um dort ein kleines Geschwür zu züchten. Dann würde ich herzhaft gähnen und die Angelegenheit bei einem Cheeseburger vergessen.
Aber nicht heute.
Heute will ich radikal ehrlich und absolut aufrichtig sein, zum ersten Mal in meinem Leben. Ich nehme meinen Mut zusammen und sage, was aus meinem Gedankenschatz ungebremst über die Lungenflügel in den Mund rauscht.
Ich sage erst einmal: »Entschuldigen Sie bitte?«
Ich muss mir eingestehen, dass die Beleidigungen weit weniger drastisch wären, wenn sie ein Nachwuchsmodel wäre, auch wenn ich ihre Turmfrisur zunächst klasse fand. Innerhalb von fünf Minuten und drei frechen Aussagen hat sie sich in meinem Weltbild von einer sympathischen Mittvierzigerin zu einer blöden Schlampe gewandelt. Ich wundere mich kurz, wie die Bahn ihre Mitarbeiter bespitzeln kann, aber niemals etwas gegen deren Unfreundlichkeit unternimmt, die sie doch auf jedem einzelnen Videoband sehen muss.
Dann muss ich das eben übernehmen, wenn es sonst keiner tut.
»Du blöde Schnepfe! Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Und Sie wundern sich echt, dass jeder die Bahn hasst. Herrgott noch mal! Da wollen Sie zweifünfzig Bedienzuschlag, und dann hockt da eine dumme Schnepfe wie Sie und lässt den Mann seinen Zug verpassen. Verdammte Scheiße!« Zur Unterstützung meiner Aussage lasse ich meine Faust auf die Theke knallen, was weniger Effekt hat, als ich mir erhofft hatte.
Ich bin ein wenig von mir selbst schockiert wegen der Lautstärke und der Wortwahl, begeistere mich aber darüber, dass ich beim Übergang von Beleidigung zu Begründung auch das Du in ein Sie getauscht habe.
Es ist plötzlich still. Niemand tritt auf den Boden und macht Klettverschlussgeräusche. Niemand rülpst.
Die Frau sieht aus, als hätte man ihr erzählt, dass es gleich regnen würde, sie schüttelt sich: »Was soll ich jetzt machen?«
Ich bleibe hart: »Den Mann bedienen, weil das Ihr verdammter Job ist, Sie beschissene Kuh! Der verpasst seinen Zug, weil Sie nichts Besseres zu tun haben, als Ihre Arroganz an ihm auszulassen!« Die Faust lasse ich nun weg, ich stecke die Hand lieber in die Hosentasche. Sie zittert - und ich will nicht, dass sie das sieht.
Nun sieht sie aus, als würde es gleich regnen und sie dabei bemerken, dass sie das Dach ihres Cabrios offengelassen hat.
»Und ist es mein Job, mich Arschloch nennen zu lassen?«
»Ich habe nur Schnepfe und blöde Kuh oder so etwas gesagt. Ich weiß es nicht mehr genau, mir kamen so viele Schimpfwörter, und ich musste mich schnell entscheiden. Und das ist keine Beleidigung, sondern einfach nur ehrlich! Ich muss es wissen, weil ich keine Lügen mehr erzähle. Jetzt wissen Sie, was ich von Ihnen halte. Was wahrscheinlich alle in dieser Schlange von Ihnen halten. Beschissene Kuh! Jetzt kann ich gehen. Von Ihnen lasse ich mich nicht bedienen, da kämpfe ich lieber mit dem Automaten - und wenn das eine Stunde dauert. Der behandelt mich wenigstens mit Respekt. Auf Wiedersehen!« Ich verabschiede mich mit der international bekannten Geste eines wütenden Mannes - obwohl der mittlere nun wirklich nicht zu meinen Lieblingsfingern gehört - und frage mich, ob man modernen Automaten tatsächlich Respekt einprogrammieren könnte.
Nun sieht sie aus, als würde sie bei Regen in einem Cabrio mit offenem Dach sitzen.
Ich kann kaum atmen vor Aufregung. Meine linke Hand gebärdet sich wie kurz vor einem Epilepsieanfall, meine Gesichtsröte nähert sich derjenigen von Uli Hoeneß nach einer 1:5-Niederlage, meine Lunge fühlt sich an, als würde sie mit Stricknadeln malträtiert. So aufgeregt war ich nicht einmal, als sich meine Frau mir zum ersten Mal nackt zeigte - obwohl, war ich doch.
Ich habe es geschafft, ich war zum ersten Mal bewusst aufrichtig und ehrlich. Ich drehe mich um und sehe zwei Bayern-Fans im Komplett-Outfit. Sie haben ihre Münder so weit geöffnet, dass ein Hotdog hochkant hineinpassen würde. Der Mann dahinter, ein älterer Herr mit gezwirbeltem Schnurrbart und Schnupftabakresten an der Nase, sagt: »Jawohl. Das war sehr mutig, mein Junge! Bravo! Wird ja mal Zeit, dass denen jemand mal die Wahrheit sagt.« Er klopft mir auf die Schulter, als ich an ihm vorbeigehe.
Ich bin stolz. Ich fühle mich befreit. Endlich denke ich nicht: »Der müsste man mal die Meinung geigen.« Ich habe ihr gerade die Meinung gegeigt. Laut und deutlich. Es regnet auf der Party, es gibt kein Bier und es kommen auch keine Gäste - aber ich habe die Brauerei zusammengeschissen, den abwesenden Gästen erklärt, dass sie Idioten sind, und für Petrus hatte ich aufgrund seiner beschissenen Wetterwahl auch noch ein unfreundliches Gebet übrig. So fühle ich mich jetzt. Die Beleidigungen sind heraus und nicht in meinem Magen. Wenn es so läuft, wie ich mir das vorstelle, dann sind sie vom Ohr der Bahnmitarbeiterin in deren Magen gewandert und starten dort ein Geschwür und nicht bei mir.
Aber ich wäre vor Aufregung beinahe in Ohnmacht gefallen. Ich habe stärker gezittert als damals in der zehnten Klasse, als ich die unglaublich hübsche und aufregende Silke fragen musste, ob sie meine Partnerin beim Abschlussball sein möchte. Mir ist ein wenig schwindlig, als ich mich in der Bahnhofshalle umsehe.
Auf dem Boden vor mir liegt eine zerbrochene Bierflasche, die beim Aufprall mindestens halb voll gewesen sein muss. Zwanzig Meter entfernt steht vor der Bäckerei ein Mann und schiebt sich einen Hotdog in den Mund. Wäre er aus Marzipan, könnte er als menschliche Mozartkugel auftreten.
Ich könnte jetzt hinübergehen und ihm das sagen.
Aber ich traue mich nicht.
Einmal reicht erst mal, man soll es mit der Ehrlichkeit nicht übertreiben am Anfang.
Schon wieder rülpst einer, und ich frage mich, ob an diesem Tag im Münchner Hauptbahnhof die Weltmeisterschaft im Bäuerchen-Machen ausgetragen wird.
Zweihundertfünfzig Kilometer von mir entfernt steht Horst Seehofer in einem nach Bier stinkenden Zelt, er hebt seinen Maßkrug und überzeugt mehr als 2000 Menschen davon, dass er ein prima Kerl ist. Im Zelt nebenan steht Franz Müntefering, er hebt seinen Maßkrug und überzeugt mehr als 2000 Menschen davon, dass er ein prima Kerl ist. Sie alle lügen, das ist ihr verdammter Job. Ich stehe im nach Bier stinkenden Hauptbahnhof, habe gerade meine Faust erhoben und eine mir fremde Frau davon überzeugt, dass ich garantiert kein prima Kerl bin. Wahlen werde ich so wohl nicht gewinnen, obwohl ich als Einziger von uns dreien nicht lüge. Obwohl ich als Einziger nicht verlogen lächle. Die Welt ist schon ungerecht.
Ich bin ehrlich, weil ich mir es vorgenommen habe.
Es war mein erstes Mal - und ich habe vor, diesem ersten Mal mindestens 8000 weitere Male folgen zu lassen. Ich werde es wieder und wieder und wieder tun. Ich habe für die Fastenzeit große Pläne. Ich werde weiterhin Alkohol trinken und Süßigkeiten essen und rauchen. Das aufzugeben habe ich die vergangenen fünf Jahre mit mäßigem Erfolg versucht. Deshalb gibt es nun ein neues Projekt:
Ich werde 40 Tage lang nicht lügen.
Um es gleich klarzustellen: Ich werde auch nicht die Wahrheit sagen. Ich werde ehrlich sein - und zwischen Ehrlichkeit und Wahrheit gibt es einen Unterschied. Denn ich weiß natürlich nicht, ob die Frau am Schalter tatsächlich eine beschissene Schlampe oder eine verdammte Schnepfe oder eine blöde Kuh ist. Vielleicht ist sie eine liebenswerte Person, die vier Kinder allein großziehen muss, diesen Job sorgfältig macht und nebenbei noch Suppe für Obdachlose kocht - und die einfach nur einen schlechten Tag oder einen noch schlechteren Moment erwischt hat. Aber ich halte sie in diesem Moment für eine beschissene Schlampe oder eine verdammte Schnepfe oder eine blöde Kuh - und das habe ich ihr ganz ehrlich mitgeteilt. Wahrheit und Ehrlichkeit führen eine komplexe Beziehung miteinander - und häufig verwechseln wir beide Begriffe. Wenn ich sage: »Der FC Bayern München ist deutscher Rekordmeister«, dann bin ich ehrlich, und ich sage die Wahrheit. Wenn jemand behauptet: »Der TSV 1860 München ist der am seriösesten geführte Verein der Welt«, dann mag diese Person ehrlich (wenn auch verrückt) sein, aber es ist definitiv nicht die Wahrheit. Und die Aussage »Du hast einen fetten Arsch« kann ebenfalls ehrlich sein, allerdings ist der Wahrheitsgehalt nur schwer zu überprüfen, denn wer kann schon sagen, ab welcher Größe ein Hintern als fett zu gelten hat.
Vielleicht ist tatsächlich wahr, was ich zu der Frau gesagt habe, aber das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich ehrlich war. Und darum geht es mir.
Es ist mein Vorsatz für die kommenden 40 Tage: Ehrlichkeit um jeden Preis. Jederzeit. Kein Taktgefühl, keine Diplomatie, keine Beschönigungen. Ohne Filter zwischen Gehirn und Mund. Radikale Ehrlichkeit, immerzu. »Wenn dir das Wort Arschloch durch den Kopf geht, dann sage nicht Idiot, auch wenn der andere beleidigt ist und dir aufs Maul haut. Nenn ihn Arschloch«, sagt Brad Blanton, der Begründer der amerikanischen Bewegung, die sich Radical Honesty nennt und aus der mittlerweile gar eine nihilistische Religion hervorgegangen ist mit Blanton als »Pope of No Hope«.
Mir ist jetzt schon klar, dass ich diesen Typen irgendwann einmal kennenlernen muss.
Sein Satz ist die MTV-Version des Aufklärers Immanuel Kant, der in seinem Werk »Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen« schrieb: »Wahrhaftigkeit ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem anderen daraus auch noch so ein großer Nachteil erwachsen.« Die neuseeländische Schriftstellerin Katherine Mansfield schrieb in ihrem Tagebuch gar: »Ehrlichkeit ist das Einzige, was höher steht als Leben, Liebe, Tod, als alles andere. Sie allein ist beständig. Sie ist aufwühlender als Liebe, freudvoller und leidenschaftlicher. Sie kann einfach nicht versagen. Alles andere versagt. Ich jedenfalls weihe den Rest meines Lebens der Wahrheit, und ihr allein.« Dass sie vereinsamt starb, mag auch mit Sätzen wie diesem zu tun haben.
Sie alle meinen das Gleiche: Sei ehrlich! Immer und überall!
Das werde ich versuchen. Ich bin ehrlich zu meinen Mitmenschen, ob es ihnen nun passt oder nicht.
Ob es mir nun passt oder nicht.
40 Tage und 40 Nächte lang. Und da der Mensch laut mehreren Studien etwa 200-mal pro Tag lügt, werde ich auf insgesamt 8000 Lügen verzichten.
Einmal habe ich geschafft. Also noch 7999-mal ehrlich sein.
Im Film »40 Tage und 40 Nächte« versucht der Protagonist, für genau diese Zeitspanne auf Sex und Onanie zu verzichten. Ganz ehrlich? Ich halte mein Projekt für die schwierigere Aufgabe. Ich sehe mich - in aller Demut freilich - eher in der Nähe von Jesus, der 40 Tage lang in der Wüste fastete und den Versuchungen des Teufels widerstand. Auf diese in der Bibel erwähnte Episode geht die Fastenzeit zwischen Fasching und Ostern zurück, in der die Menschen versuchen, auf etwas zu verzichten, das sie gerne essen oder trinken oder durch die Lunge einatmen. Es ist heutzutage keine Fastenzeit mehr, sondern eine Verzichtszeit - und kurioserweise versuchen mehr Menschen, am Aschermittwoch das Rauchen aufzugeben als am 1. Januar. Damit jedoch gehorchen sie keinem der zehn Gebote, sondern befriedigen nur ihr schlechtes Gewissen darüber, dass sie sich die anderen 325 Tage im Jahr gehen lassen haben - und wollen natürlich ihre Verhandlungsposition für den Jüngsten Tag stärken.
Ich habe mich für das Gebot »Du sollst nicht lügen« entschieden, weil die christliche Populärversion wenig Spielraum für Interpretationen lässt - anders als das alttestamentarische »Du sollst kein falsches Zeugnis wider deinen Nächsten geben«. Außerdem finde ich dieses Gebot schwieriger einzuhalten als viele andere. Ich meine, mit dem Gebot »Du sollst nicht töten« hätte ich nun wahrlich keine Probleme, weil ich keinen Groll gegen andere Menschen hege oder zumindest keinen so starken, dass ich jemals gegen das Gebot verstoßen würde.
Schwer einzuhalten deshalb, weil wir Menschen Lügner und Betrüger sind. Ich bin ein Lügner und Betrüger. Ich lüge. Jeden Tag. Ich würde mich jetzt nicht zu den großen Lügnern der Weltgeschichte zählen, ich leide nicht an »Pseudologia phantastica« - ja, die offizielle Bezeichnung für den pathologischen Drang zum Lügen lautet wirklich so - oder am »Münchhausen-Syndrom«, bei dem man pathologisch Krankheiten vortäuscht. Ich habe zahlreiche narzisstische Persönlichkeitsstörungen, aber Mythomanie, das krampfhafte Lügen, gehört nicht dazu. Ich gehöre eher zu den Wahrheitsbiegern und Beschönigern, den Lästerern und Labertaschen. Ich sagte bisher: »Steht dir, das Kleid«, wenn ich dachte: »Ist dein Arsch fett in dem Ding!« Und natürlich: »Klar kümmere ich mich drum, lieber Kollege«, obwohl die Wahrheit wäre: »Warum machst du das nicht selber, Vollidiot?« Und wenn ein Kollege einen miserablen Text geschrieben hatte, dann sagte ich nichts - höchstens hinter seinem Rücken.
Ich bin ein ganz normaler Lügner wie jeder andere auch.
Wie jeder Leser dieses Buches.
Wenn Sie jetzt glauben, Sie wären ein grundehrlicher Mensch und würden niemals lügen, dann möchte ich Sie bitten darüber nachzudenken, wie vielen Menschen Sie heute einen »Guten Morgen« gewünscht haben, obwohl es ehrlicherweise die Pest am Hals oder zumindest Pilz an den Füßen gewesen wäre. Ich habe in der Woche vor dem Aschermittwoch nachgezählt: Es waren acht, neun »Guten Morgen« pro Tag, die ich nicht so gemeint habe - von den »Guten Tag« und »Guten Abend« bis zu »Gute Nacht« will ich gar nicht erst reden. Wie oft haben Sie einem Menschen gesagt, dass Sie ihn mögen, obwohl er ein Vollidiot ist? Und haben Sie Ihrer Frau gebeichtet, dass die neue Kollegin einen fantastischen Arsch hat und Sie ihr jedes Mal hinterhergaffen, wenn sie an Ihrem Büro vorbeigeht? Natürlich nicht. Also: Auch Sie, der Leser dieses Buches, sind ein Lügner. Macht ja nichts.
Bei mir ist das nun vorbei.
Und nun: die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Oder besser: die Ehrlichkeit und nichts als die Ehrlichkeit.
Eine Fastenzeit ohne Lügen.
Noch bin ich guter Dinge.
Ich bin [email protected]. Ich bin Journalist im Süddeutschen Verlag und wohne in München. Meine Kenntnisse über Fußball, Snooker und American Football haben mir eine Anstellung im Sportressort verschafft. Da meine Chefs der Meinung sind, ich könne auch prima über Papierflieger, italienischen Büffelmozzarella, Pokern, Computerspiele und Tätowiererinnen berichten, schreibe ich quasi über alles, das nicht wirklich wichtig ist, aber doch zum täglichen Leben gehört. Die Kollegen aus den Ressorts Politik und Wirtschaft sehen mich aufgrund meiner Themenwahl meist ein wenig abfällig an, wenn sie mir morgens begegnen, weil sie über die wichtigen Dinge des Lebens, wie Politikerreden in Bierzelten und Vierteljahresberichte von Banken, berichten - und ich bin mir sicher, dass auch ihr »Guten Morgen« nur in seltenen Fällen ehrlich gemeint ist.
Mein Beruf hat mit meinem Projekt nur wenig zu tun. Ich könnte auch [email protected] oder [email protected] sein. Ich bin kein besonderer Mensch, wirklich nicht. Ich bin durchschnittlich groß und breit, durchschnittlich intelligent und durchschnittlich gebildet. Meine Neurosen stellen keine wirkliche Gefahr für meine Mitmenschen dar, meine leichte Paranoia äußert sich in dem Satz: »Nur weil ich paranoid bin, heißt das noch nicht, dass ich nicht verfolgt werde.« Ich bin genauso wie etwa 80 Millionen Menschen in Deutschland. Ich bin jeder. Wenn ich ein Lied mag, ist es garantiert in den Charts. Ich habe hin und wieder Rückenschmerzen. Ich gucke amerikanische Serien, die zur besten Sendezeit laufen, und Filme, die in großen Kinos gezeigt werden. Ich mag kein amerikanisches Bier. Am Samstagabend sehe ich die »Sportschau« an und diskutiere am Sonntag mit Freunden über die Spiele. Ich bin Mainstream.
Und der Mainstream lügt.
Eigentlich komme ich, wie schon angedeutet, aus einem Ort in der nördlichen Oberpfalz, den man von München aus auf zwei Arten erreichen kann. Entweder man fährt mit einem Zug, der grundsätzlich nicht schneller fährt als 60 Stundenkilometer und in Kurven verdächtig scheppert, dann steigt man um in einen Zug, der nicht von der Deutschen Bahn, sondern von einem privaten Unternehmen bereitgestellt wird, weil die Bahn es nicht profitabel findet, Menschen in solch abgelegene Gegenden zu befördern. Nach einer weiteren Stunde steigt man um in einen Bus, weil selbst das private Unternehmen es unrentabel findet, noch weiter zu fahren. Der Bus setzt einen ab auf dem Marktplatz meines Heimatortes, von dem aus ich nach zehn Minuten Fußmarsch beim Haus meiner Eltern bin.
Oder man fährt mit dem Auto, zuerst über die Autobahn, dann auf der Bundesstraße, dann auf einer Landstraße - und dann auf einer Straße, die keine Striche in der Mitte hat und auf der fast ausschließlich Autos mit dem Kennzeichen meines Heimatortes fahren. Die mittleren Buchstaben sind entweder die Initialen des Fahrers oder eines Fußballvereins im Landkreis - weshalb der Mensch auf dem Fahrersitz anhand des Nummernschilds zu identifizieren ist und die Kombinationen »FC« und »SC« und »SG« inflationär häufig vorkommen.
Seit vier Jahren lebe ich in München und muss seitdem doch sehr oft feststellen, dass das Sprichwort »Du kannst den Tiger aus dem Dschungel bringen, aber niemals den Dschungel aus dem Tiger« auch dann zutrifft, wenn man die Worte »Landmensch« und »Kleinstadt« einsetzt. Dafür sind die Straßen in meiner Heimatstadt immer extrem sauber. Und wenn es dort noch einen Bahnhof gäbe, dann würde kein Cheeseburger-Papier auf dem Boden liegen. Das liegt aber vielleicht auch daran, dass der Stadtrat sich vehement gegen die Ansiedlung von Fastfood-Restaurants wehrt. Immerhin, der Boden wäre sauber, und das ist ja auch was Schönes.
Ich habe mir mein Studium mit Fußball finanziert. Meine fußballerischen Fähigkeiten stehen in der Tradition von Karl-Heinz Schnellinger, Oliver Bierhoff und Carsten Jancker. Ich halte den nicht zu unterschätzenden Rekord in der Bayernliga für die meisten vergebenen Großchancen in einer Saison und die wenigsten gelaufenen Meter in einem Spiel - und dazu den inoffiziellen Rekord für die meisten Hinausstellungen wegen Schiedsrichterbeleidigung. Die Rekordbücher sind da allerdings sehr ungenau. Aufgrund dieser Fähigkeiten habe ich mich mittlerweile dem Computerfußball verschrieben und glaube, zu den raffiniertesten Zockern in der Fußballsimulation »Fifa« zu gehören. Außerdem rede ich unglaublich gerne unglaublich gescheit über Fußball, sodass ich Ehrenmitglied im Klub der Verbalfußballer bin.
In folgenden Disziplinen wäre ich bei »Schlag den Raab« kaum zu besiegen:
- Autoball
- Geosense
- Elfmeterschießen
- Filmquiz
- Monstertruck-Fahren
- Klimmzüge
- Trivial Pursuit
Das bin ich. Wie Sie auf dieser Seite feststellen können, rede ich unglaublich gerne über mich selbst - wie Ihnen auch meine Freunde gerne bestätigen werden. Nach den jetzt folgenden 300 Seiten werden Sie das auch bestätigen können - denn ich werde ehrlich sein.
Es wird wohl wehtun. Mir, meinen Mitmenschen - und vielleicht auch Ihnen. Aber es heißt ja schließlich nicht, dass Wahrheit und Ehrlichkeit Spaß machen würden. Ich wollte Sie nur gewarnt haben. Wenn Sie Angst vor Ehrlichkeit haben, dann legen Sie dieses Buch jetzt weg. Essen Sie schön zu Abend. Schlafen Sie mit Ihrem Partner. Trinken Sie ein Glas Wein. Aber lesen Sie nicht weiter.
In manchen Lebensweisheiten ist Wahrheit »nackt«, in anderen ist sie »hart«, vor amerikanischen Gerichten soll sie »nur« und »ganz« und »nichts als« sein. Vor allem aber heißt es: »Ehrlich währt am längsten.« Mal sehen, wie lange es bei mir währt und ob ich die 40 Tage durchhalte.
Mein erstes Mal habe ich hinter mich gebracht. Ich habe eine Bahnmitarbeiterin beleidigt und ihr mal so richtig die Meinung gegeigt. Ich war komplett ehrlich.
Es ist ein großartiges Gefühl. So kann es weitergehen.
Noch 40 Tage.
Noch 7999-mal ehrlich sein, statt zu lügen.
Nichts als die Wahrheit.
So wahr mir Gott helfe.
Kapitel 2
Immer noch Tag 1 - Was ist eigentlich ehrlich sein?
Was ist Wahrheit?
Diese Frage stellt schon Pontius Pilatus im Johannes-Evangelium, kein Geringerer als Jesus Christus steht vor ihm. Es gibt ein ziemlich beeindruckendes Bild des russischen Malers Nikolai Nikolajewitsch Ge zu dieser Szene - von der katholischen Kirche unerklärlicherweise lange Zeit für blasphemisch befunden. Der römische Statthalter steht in blütenweißer Toga und feinen Schuhen auf Marmorplatten, seine rechte Handfläche zeigt nach oben, er sieht Jesus arrogant an. Er stellt diese Frage mit so lapidarer Geste, als ginge es um den richtigen Wein zum Abendessen im Triclinium oder um neue Sandalen. Jesus steht im Schatten, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, die Haare zerzaust. Er sieht wütend aus, aber er sagt nichts. Im Johannes-Evangelium wird Pilatus sich abdrehen, ohne Jesus sprechen zu lassen. Wahrscheinlich weil er wusste, dass nicht einmal Gottes Sohn die Antwort auf seine Frage kennt - obwohl der doch gerade sagte, dass er die Wahrheit und das Leben und das Licht sei.
Ich kann am ersten Tag meines Projektes festhalten: Ich bin nicht viel weitergekommen als Pilatus vor 2000 Jahren. Ich sitze immer noch am Münchner Bahnhof und schiebe mir einen Cheeseburger in den Mund - das Papier habe ich in einen leeren Abfalleimer geworfen -, weil sich mein Zug im Gegensatz zu dem des jungen Studenten vorhin eine Verspätung von einer halben Stunde genehmigt. Der Schaffner am Gleis sagt etwas von »Schienenarbeiten« und erklärt auf meine wütende Nachfrage, dass ich mich bei einem Stau doch auch nicht bei den Architekten der Autobahn beschweren würde und dass überhaupt die Züge der Deutschen Bahn im Schnitt weniger als drei Minuten Verspätung hätten. Meine Reaktion: »So ein Blödsinn, was Sie da sagen! Bei drei Minuten Verspätung pro Zug fehlen mir als Pendler pro Jahr mehr als zehn Stunden. Und Sie reden mir ein, es wäre nicht schlimm? Da lache ich mich doch kaputt. Herrgott noch mal!«
Es ist Ehrlichkeit Nummer zwei an diesem Tag, und ich erkenne, dass ich wohl schon wieder einen Menschen beleidigt habe und dass es schon wieder ein Mitarbeiter der Bahn war. Ich bin genervt, geladen, gereizt - und im Moment der festen Überzeugung, dass man genervt, geladen und gereizt sein muss, wenn man ehrlich sein will. Diesmal jedoch bin ich mir sicher, dass ich nicht nur ehrlich war, sondern dass es - korrektes Hochrechnen der Verspätungen vorausgesetzt - auch die Wahrheit war, die ich gesagt habe.
Warten muss ich trotzdem. Aber es hat gutgetan, die Wut an einem Bahnangestellten auszulassen. Sehr gut sogar. Ich fühle mich, nun ja, beschwingt. Ja, ganz ehrlich: beschwingt. Wie die Menschen in Wirtschaftswunder-Filmen, wenn sie das Zimmer betreten und den anderen eine Wahnsinnsneuigkeit erzählen müssen.
Immerhin habe ich nun Zeit, noch einmal darüber nachzudenken, wie ich hineingeraten bin in diesen Schlamassel, nicht mehr lügen zu dürfen und dass die Bahnmitarbeiter am Münchner Bahnhof von einem Wahrheits-Guerillakämpfer attackiert werden.
Es war eine Redaktionskonferenz, in der wir über Verzicht sprachen in einer Gesellschaft, die keinen Verzicht mehr kennt. Eine Gesellschaft, in der immer alles verfügbar sein muss, in der jeder Mensch jederzeit alles haben muss. In der man am besten 50 Jahre lang 20 ist - also mit 50 Jahren noch einen Marathon laufen, sich im Alter von 60 noch eine 30-jährige Freundin suchen und mit 80 Jahren in der Lage sein muss, sein Konto online zu führen. Nur nie alt werden. Eine Generation Dorian Gray.
Eine Gesellschaft, in der man jeden Kontinent mindestens einmal besuchen und den Nordpol zu Fuß erreichen muss. Man muss beruflich erfolgreich sein, am besten ein bisschen berühmt - und dennoch Zeit für ein spannendes und erfülltes Privatleben haben. Wir müssen drei Leben in der Zeit von einem führen. Im alten Griechenland war der Müßiggänger eine anerkannte Person, heutzutage gilt als unschick, wer mit 40 Jahren noch keinen Burnout vorweisen kann. Eine Generation Dorian Gray auf Speed.
Da es zur Existenzberechtigung von Journalisten gehört, an gesellschaftlichen Trends herumzunörgeln, sprachen wir über Verzicht und darüber, ein wenig Geschwindigkeit aus diesem Leben herauszunehmen. Die Konferenz fand übrigens statt, bevor »Irgendwas bleibt« von Silbermond herauskam. Ich bin grundsätzlich kein Fan von Verzicht, das sollte ich an dieser Stelle vielleicht noch sagen. Meine liebe Frau wird Ihnen bestätigen können, dass ich versuche, alles auf der Welt einmal ausprobiert zu haben und von allem so viel wie möglich zu bekommen. Das kann Arbeit sein oder Essen oder Spaß oder noch viele andere Dinge.
Es gab die üblichen Vorschläge, die auf jeder Kreativitätsskala Limbo tanzen: eine Woche ohne Schokolade, ohne Fernsehen, ohne Handy. Mir erschloss sich nicht so recht, was daran lustig sein sollte, wenn das, was fast jeder schon mal eine Fastenzeit lang durchgehalten hat, jetzt auch noch ein Journalist versucht und das dann bemüht ironisch aufschreibt. Am spannendsten fand ich noch den Vorschlag, eine Woche ohne Strom zu leben - was daran scheiterte, dass die Kollegin dann nicht zur Arbeit hätte kommen können, was wiederum unser Chef zu Recht als übertrieben anmahnte. Schön fand ich auch den Vorschlag, zwei Wochen ohne Bargeld und Kreditkarten zu leben. Aber die möglichen juristischen Konsequenzen ließen uns dann doch davon Abstand nehmen.
Dann fiel der Satz: »Eine Woche ohne Lügen!« Es war still im Raum, dann lachte einer, erklärte das Vorhaben für absurder als eine lustige Comedyshow auf SAT.1 und bemerkte, dass kein Mensch ohne Lügen leben könne und wie blöd so ein Versuch doch sei. Wir machten weiter mit den langweiligen Ideen, jeder suchte sich eine aus. Ich wählte keine, ich war gelangweilter als beim Spiel mit einem dieser Tischtennisschläger, bei denen der Ball mit einer Schnur am Schläger befestigt ist.
Das Thema Lügen ließ mich jedoch nicht los. Ich recherchierte ein wenig und fand heraus, dass es auf der Welt tatsächlich mehrere Bewegungen gab, deren oberstes Ziel ist, nie mehr zu lügen. Es existieren Studien, philosophische Schriften und wissenschaftliche Abhandlungen dazu. Ich lief nach Hause und verkündete meiner Frau, es versuchen zu wollen: keine Lügen mehr, so lange es geht.
»Bist du komplett wahnsinnig?«, war ihre erste Reaktion. Dabei knuffte sie ihre Faust an meine Schulter, was nicht liebevoll, sondern entrüstet gemeint war. »Du hast ja schon einige verrückte Ideen in deinem Leben gehabt. Kontaktanzeigen auf Bierdeckeln oder Nutellaspender über dem Bett! Aber das übertrifft alles. Du spinnst total!« Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass Kontaktanzeigen auf Bieruntersetzern ein Megaerfolg wären.
Mir war klar, dass sie von meinem Projekt ungefähr so viel hält wie der Papst von einer Kondomlieferung nach Afrika oder Großstädter vom Müllentsorgen. Sie verdrehte die Augen, als hätte ich ihr gerade mitgeteilt, dass ich mit ihrer Schwester ins Bett möchte. Nein, sie sah eher so aus, als hätte ich gesagt, dass ich mit ihren beiden Schwestern schlafen möchte. Beide sind unfassbar attraktiv, was ein derartiges Ansinnen durchaus rechtfertigen würde, für meine Frau jedoch inakzeptabel ist. Immerhin startete sie einen Versuch, mein Vorhaben zu verstehen.
»Was willst du denn genau machen?«
»Ich will keine Lügen erzählen, sondern allen Menschen die ungeschminkte Wahrheit sagen. Ganz einfach. Mal so richtig die Meinung geigen, jedem Menschen. Vielleicht auch denen, die sie nicht hören wollen. Es gibt da so einen Typen in Amerika, der praktiziert das seit Jahren.«
»Es gibt auch Typen, die Satanismus praktizieren.«
»So schlimm wird es schon nicht.«
Sie konterte sofort: »Doch, wird es. Wer will denn schon von dir die Wahrheit hören? Ausgerechnet von dir?«
Ich versuchte es mit einem Zitat des Lyrikers Ernst Hauschka: »Wer die Wahrheit hören will, den sollte man vorher fragen, ob er sie ertragen kann.«
Sie war jedoch nicht zu besänftigen. Vielleicht lag es auch daran, dass sie gerade im sechsten Monat schwanger war, weswegen ihre Gemütslage derjenigen eines Straußes entsprach, dem man gerade ein Ei geklaut hat. Aber auch das sagte ich ihr nicht.
»Wenn du auch nur einem Menschen etwas über mich erzählst oder mich dumm anredest, dann werde ich dich töten!«
Meine Frau ist, wie schon erwähnt, schwanger, und sie ist, wie noch nicht erwähnt, Asiatin - ich muss deshalb fürchten, dass ihre Androhung mit dem Töten grundsätzlich eine Übertreibung, in diesem Moment aber ehrlich gemeint ist.
Sie könnte darüber hinaus bei folgenden Spielen bei »Schlag den Raab« glänzen:
- Das Leben des Ehemanns planen
- Voodoo-Praktiken
- »Blamieren oder kassieren« in den Kategorien »Trivialliteratur« und »Schundromane«
- Wissen über Girlbands der 90er und 2000er
- Playstation verstecken
- Dauerschlafen
- Beliebter als der Partner sein
Es gab also keinen Grund, diese schwangere Asiatin noch weiter zu provozieren. Sie schnaufte so tief, wie sie damals vor sechs Jahren schnaufte, als ich ihr eröffnete, für 15 Monate in die Vereinigten Staaten ziehen zu wollen. Allein. Ohne sie.
»Das wird schrecklich!«
Ich sah sie so an, wie ich sie damals ansah.
»Das schaffen wir schon, vielleicht lernen wir beide ja etwas draus. Vielleicht wird unsere Beziehung danach intensiver. Und ich habe ein schönes Projekt. Es wird bestimmt lustig.«
Und sie sagte die gleichen Worte wie damals: »Für dich vielleicht.«
Natürlich wusste sie von diesem Moment an, dass ich das auch ohne ihr Einverständnis durchziehen würde und dass sie wohl oder übel mitmachen musste. Also hob sie die Todesdrohung teilweise auf und wandelte sie um in die Ankündigung, mir diverse Körperteile unsachgemäß zu entfernen, sollte ich es übertreiben.
So ging das los damals.
Ich hatte einen Freund weniger, noch bevor ich begonnen hatte.
Das liegt vielleicht daran, dass Lügen eines der demokratischsten Dinge ist, die man sich vorstellen kann. Ich meine, wenn man mal darüber nachdenkt.
Jeder lügt. Und die Menschen logen schon, bevor sie auf die Erde kamen. Es war noch im Paradies, als Adam die Schuld auf Eva abzuschieben versuchte und Eva sie weitergab an die Schlange.
Ich habe darüber nachgedacht, vor welche Tätigkeit man wirklich und wahrhaftig das Wort Jeder stellen kann. Jeder atmet, jeder isst, jeder pinkelt. Aber gerade einmal 60 Prozent der Menschen gehen wählen, 80 Prozent haben Probleme mit ihrem Rücken. Mit selten zuvor erlebter Erschütterung habe ich gar in einer Zeitschrift gelesen, dass nur 85 Prozent der erwachsenen Deutschen mindestens einmal in ihrem Leben Sex hatten. Erstaunlich, oder? Aber 100 Prozent der Menschen, die älter sind als vier Jahre, haben in ihrem Leben bereits gelogen. Es ist verwunderlich, wie wenige Dinge es gibt, die tatsächlich alle Menschen gemeinsam haben.
Und doch wird der Verstoß gegen das achte biblische Gebot kaum sanktioniert. Wer das fünfte Gebot (»Du sollst nicht töten«) missachtet oder das siebte (»Du sollst nicht stehlen«), wird zu Recht eingesperrt. Wer gegen das sechste Gebot verstößt (»Du sollst nicht ehebrechen«), dem droht zumindest eine kostenintensive Scheidung oder in krasseren Fällen die Abtrennung des Körperteils, mit dem die Ehe gebrochen wurde. Und selbst wer Sachen einfach auf den Boden wirft, dem droht zumindest ein Ordnungsgeld, weshalb ich mich ernsthaft frage, warum die Stadt München sich nicht dadurch saniert, indem sie Wegwerfwächter am Bahnhof postiert.
Lügen dagegen werden juristisch nur belangt, wenn es sich um größere Delikte handelt wie Betrügerei oder Meineid. Noch keine Frau musste sich vor Gericht verantworten, weil sie einen Orgasmus vorgetäuscht hat, und niemand gilt gesellschaftlich als geächtet, weil er das »Sie sind schon ein toller Chef« nicht wirklich so gemeint hat. Nein, diese kleinen Lügen sind gesellschaftlich akzeptiert. Im Gegenteil: Wer ehrlich ist, gilt gemeinhin als ungehobelter Kerl und als Flegel.
Noch viel erstaunlicher ist allerdings, dass sich kaum jemand als Lügner bezeichnen würde. Ehrlichkeit ist wichtig für die Menschen. Einer aktuellen Studie zufolge gaben 80 Prozent an, dass sie in einer zwischenmenschlichen Beziehung überaus wichtig sei - damit lag die gute alte Ehrlichkeit deutlich vor Humor, gutem Sex, finanziellem Status und gesellschaftlicher Stellung.
Natürlich, und das belegen gleich mehrere Studien, halten es die Menschen für schlimmer, angelogen zu werden, als selbst eine kleine Notlüge zu verwenden. Ich möchte während der 40 Tage noch etwas herausfinden: Was ist für die Menschen schlimmer: angelogen zu werden oder eine harte Wahrheit ertragen zu müssen?
Ein Problem dabei ist, dass ich nicht Jim Carey bin - auch wenn die Haut meines Gesichts ähnlich dehnbar ist -, oder vielmehr nicht die Figur, die er im Film »Liar, Liar« - in der schrecklichen deutschen Fassung als »Der Dummschwätzer« bekannt - verkörpert. Vierundzwanzig Stunden ist er ehrlich, weil er nicht lügen kann. Der Unterschied zu mir: Ich kann weiterhin lügen, ohne mit der Wimper zu zucken. Es ist kein Zwang, sondern eine freiwillige Entscheidung, ehrlich zu sein. Careys Figur muss keine Konflikte mit sich ausfechten, ihr bleibt keine Wahl. Mir schon. Im Film reihen sich lustige Szenen aneinander, und freilich gibt es das unvermeidlich schreckliche Happy End, das zu Recht einen schlechten Ruf hat, weil es so verdammt absehbar ist. Wie das bei mir ausgehen wird, werden wir sehen.
Ich fände es jedenfalls ziemlich unfair, wenn ich bestraft werden würde, nur weil ich ehrlich bin - so wie ich es vor zwei Jahren ziemlich unfair gefunden hätte, zu sterben, als ich gerade zwei Tage mit dem Rauchen aufgehört und mich jemand mit dem Auto gerammt hatte. Ich habe daraufhin wieder angefangen zu rauchen.
Ich weiß, dass es ziemlich riskant ist, es zu versuchen mit der Ehrlichkeit. Irgendwann muss ich meinen besten Freunden
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1. Auflage
© 2010 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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