Du sollst sterben dürfen - Tilman Jens - E-Book

Du sollst sterben dürfen E-Book

Tilman Jens

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Beschreibung

Warum unsere Patientenverfügungen häufig NICHT umgesetzt werden

Zurückgespritzt in ein Leben mit Schmerzen? Apathisches Warten auf den Tod in einem qualvoll gewordenen Dasein? Was, wenn meine Patientenverfügung nicht ernst genommen wird oder nicht alles abdeckt?

Tilman Jens fordert einen zeitigen und konkreten Dialog über den Tod, eine offen und klar vereinbarte Regelung der letzten Dinge. Der Wunsch auf ein selbst bestimmtes Ableben muss vom Umfeld des Sterbenden respektiert und eingehalten werden. In der Debatte um Sterbehilfe gibt er mit diesem Buch differenzierte Denkanstöße und Orientierungshilfen – basierend auch auf persönlichen Erfahrungen, etwa mit seinem Vater Walter Jens.

»Mein Vater ist zwei Jahre zu spät gestorben. Und das, obwohl er eine Patientenverfügung hatte.« Tilman Jens

  • Unverzichtbar für alle, die eine Patientenverfügung haben oder aufsetzen wollen
  • Hochaktuell in der Debatte um Sterbehilfe
  • Eine Forderung nach Enttabuisierung und mehr Dialog über den Tod und das Sterben

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Seitenzahl: 144

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Tilman Jens

Du

sollst

sterben

dürfen

Warum es mit einer

Patientenverfügung

nicht getan ist

Gütersloher Verlagshaus

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2015 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Covermotiv: © alswart – Fotolia.com

ISBN 978-3-641-17040-0

www.gtvh.de

Für Heribert Schwan,

den Freund und mutigen Streiter

Inhalt

Eine Vorbemerkung

I. Das gebrochene Versprechen

II. Große Koalition: Von Angehörigen, Betreuern, Pflegern und Ärzten

III. Übergriffigkeiten: Die Politik, die Kirchen und der selbstbestimmte Tod

IV. Exithouse – ein Zwischenruf

V. Zwei Freunde: Große Gewissheit und ein kleines Vielleicht

VI. Warum es mit einer Patientenverfügung nicht getan ist

Dokumentarischer Anhang

1. Patientenverfügung Walter Jens

2. Interview mit Inge Jens vom 21. Juli 2009

3. Patientenverfügung Christoph Werner

4. Silvia Bovenschen über Sterbehilfe, für 3sat/Kulturzeit vom 20. Januar 2014

5. Rede von Valerie Wilms (Bündnis 90/Die Grünen) vor dem Deutschen Bundestag am 13. November 2014

6. Der letzte öffentliche Auftritt zum Thema Freitod: Walter Jens zu Gast bei »Hart aber fair« am 26. November 2003

7. Glossar

Patientenverfügung – Vorsorgevollmacht / Betreuungsverfügung – Aktive Sterbehilfe – (Ärztlich) assistierter Suizid – Indirekte Sterbehilfe – Palliative / Terminale Sedierung – Passive Sterbehilfe

Dank

Literaturverzeichnis

Eine Vorbemerkung

Umfragen der unterschiedlichsten Institute belegen: Zwischen 70 und 75 Prozent aller Deutschen wünschen sich, dass es dem Arzt erlaubt sein soll, einen unheilbar kranken Patienten, wenn er dies verlangt, von seinem Leiden zu erlösen. Die Werte der Demoskopen sind seit Jahren konstant. Doch die Politik, in trautem Einklang mit Ärztefunktionären und Führern der Kirche, weigert sich beharrlich, Volkes Wille zu folgen. Nicht zuletzt die aktuellen Bundestagsdebatten über das Reizthema zeigen: Die Chance auf eine baldige Legalisierung der aktiven Sterbehilfe, einer Tötung auf Verlangen im Namen der Humanität, ist in Deutschland gleich Null. Mehr noch, Stimmen im Parlament werden lauter, sogar dem bislang straffreien, ärztlich assistierten Suizid Einhalt zu gebieten.1 Künftig könnte bereits jener, der Schwerstkranke wiederholt mit letal wirkenden Medikamenten versorgt (ohne sie selbst zu verabreichen), strafrechtlich verfolgt werden. Von einem verschärften Gesetz wären also nicht nur die gewerbsmäßig agierenden Suizid-Begleiter des Vereins »Sterbehilfe Deutschland e.V.«, der Organisation des Doktor Roger Kusch, betroffen. Auch gewissenhafte Ärzte wie der Berliner Urologe Uwe-Christian Arnold, der in seinem Buch »Letzte Hilfe« freimütig bekannte, schon so manchen den kleinen Übergang erleichtert zu haben, müssten mit Verfolgung rechnen.

Im Bundestag beschwor der CSU-Abgeordnete Michael Frieser am 2. Juli 2015 noch einmal den interfraktionellen Konsens. »Wir sind uns in diesem Hause meistens einig, dass die gesellschaftliche Veränderung – die es durch das aggressive Verhalten von Sterbehilfevereinen gibt, aber auch von Einzelpersonen – unser Tätigwerden erfordert. Zusehen ist keine Option mehr.« Das Abendland scheint in Gefahr. Und eben hier wird es interessant: Woraus resultiert die große Panik vor dem selbstbestimmten Sterben, das doch weite Teile der Gesellschaft für sich einfordern? Die aktuell geführte Debatte reicht weit über den vorgeschobenen Anlass hinaus. Um die Todesengel des Dr. Kusch geht es allenfalls am Rande.

Nein, da werden, denke ich, höchst grundsätzliche Fragen verhandelt: Welchen Verfügungsrahmen über unsere Existenz gewähren uns die weltliche und die geistliche Obrigkeit? Inwieweit sind wir, wenn es aufs Ende zugeht, noch souveräne Bürger? Und wie ist es um das Sterberecht all derer bestellt, die hilflos, wider ihre einstigen Wertvorstellungen, vor sich hindämmern müssen? Das Thema treibt mich um. Denn ich habe, in einem nur scheinbar anderen Zusammenhang, hautnah erlebt, was die Entmündigung eines Schwerstkranken bedeutet.

Mein Vater Walter Jens, der für sich, als er noch gesund war, für den Fall eines irreversiblen Siechtums die Erlösung durch einen Arzt erbeten hatte, wurde um das Jahr 2004 dement. Als es bergab mit ihm ging, hat er immer wieder bekundet, dass er bald sterben wolle. Das entscheidende, eindeutig entschlossene Signal allerdings hat er uns, der Familie und seinem Arzt, der ihm für diesen Fall eine tödliche Injektion versprochen hatte, nicht gegeben. Und als er 2007 vollends verdämmerte, war es zu spät. Da konnte er sich nicht mehr artikulieren. Somit war die Sterbehilfe keine Option mehr. Aber immerhin, er hatte eine Patientenverfügung hinterlegt.

Sie hat ihm nichts genutzt. Und hier schließt sich der Kreis. Wer sterben will, hat keine Lobby in diesem Land. Sie sind Manövriermasse für Sachwalter der unterschiedlichsten Interessen. Die Lebensverlängerung hat Methode, einerlei ob da nun, was keineswegs selten geschieht, ein eigentlich rechtsverbindliches Schriftstück in den Wind geschlagen wird oder dem ärztlich begleiteten Freitod der Garaus gemacht werden soll. Die Missachtung von Patientenverfügungen und die Kriminalisierung der Sterbehilfe sind letztlich zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Um uns aber, hier wie dort, gegen eine Bevormundung in den intimsten Fragen zu wehren, gilt es zunächst, die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden. Wir wissen zumeist viel zu wenig über die letzten Wünsche und Vorstellungen unserer Nächsten. Wie, ganz konkret, stellst Du Dir Dein Sterben vor? Wovor hast Du Angst? Was erhoffst Du Dir, wenn es soweit ist? Wir reden, wir fragen zu wenig. Mit einer Patientenverfügung allein ist es nicht getan, mit einem eilig ausgefüllten Musterformular, mit ein paar Kreuzen an einer vorgegebenen Stelle schon gar nicht. Auch davon handelt dieser Text, der Anklageschrift ist – aber nicht minder eine Ermunterung zum angstfreien, kontinuierlichen und vor allem zeitig begonnenen Gespräch über die letzten Dinge.

Frankfurt, im August 2015

1. Die für Nichtjuristen oft schwer auseinanderzuhaltenden Fachbegriffe – worin besteht nach bestehendem Verständnis etwa der Unterschied zwischen aktiver Sterbehilfe und ärztlich assistiertem Suizid? – erläutert ein Glossar im Anhang.

I.

Das gebrochene Versprechen

Der Wille meines Vaters war eindeutig. An einem Donnerstag im August 2006 hat er sich, schon spürbar geschwächt, noch einmal aufgerafft, trat vor den Notar in der Tübinger Karlstraße und unterzeichnete eine »Vorsorgliche Verfügung für die medizinische Betreuung im Fall meiner Entscheidungsunfähigkeit«. In dieser Niederschrift seiner »Wünsche und Forderungen an Bevollmächtigte und Ärzte, an Familie und Freunde« untersagte er – wie er dachte unmissverständlich – alle lebensverlängernden Kunstgriffe, falls er, nicht mehr Herr seiner selbst, eines Tages nur noch hilflos vor sich hinvegetiere. »Wenn ich länger als sechs Wochen geistig so verwirrt bin, dass ich nicht mehr weiß, wer oder wo ich bin und Freunde und Familie nicht mehr erkenne, dann verlange ich, dass alle medizinischen Maßnahmen unterbleiben, die mich am Sterben hindern.«2

Die mit Dienstsiegel beglaubigte Willensbekundung eines damals 83jährigen Mannes, der das Ende seiner Tage nahen sah, stand rundum im Einklang mit dem Gesetz und war, darauf hatte er im Schlussabsatz noch einmal verwiesen, »der letzte und endgültige Ausdruck meines Willens«. Hinter seiner Signatur: ein Bindestrich. Das war es. So soll es sein. Causa finita! Meine Mutter unterzeichnete ein Dokument gleichen Wortlauts. Weit mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Hochzeit haben sich die beiden noch einmal ein großes Versprechen gegeben. Es besaß rechtsverbindlichen Charakter.

Allein: Meinem Vater hat seine finale Weisung, die Hinterlegung einer Patientenverfügung, in der Not keinen Deut geholfen. Er hatte eingefordert, »dass nichts gegen den Lauf der Natur getan wird«, aber er wurde partout am Leben gehalten. »Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Walter Jens, geb. 08.03.1923 in Hamburg«, als den ihn die Urkunde ausweist, durfte, so hoffnungslos sich sein Zustand auch ausnahm, einfach nicht sterben.

In seiner Vorauserklärung hatte er auch von der Angst gesprochen, durch eine dauerhafte Schädigung des Gehirns die Fähigkeit zur Kommunikation zu verlieren. Kein Jahr nach seinem Besuch beim Notar war er nicht mehr in der Lage, seinen Namen zu schreiben. Die Demenz hatte sein Gedächtnis, die kognitiven Fähigkeiten, weitgehend zerstört. Schon seit Anfang 2004 ging es rapide bergab. Mein Vater begann allmählich zu verlöschen.

Der Abstieg – ich habe mir das Trauma 2009 in einem Buch von der Seele geschrieben – war elend. Für ihn, aber auch für die Menschen, die seinen Verfall hautnah erlebten. Er hat unendlich gelitten, als ihm, dem einstigen Gedächtnis-Virtuosen, von Woche zu Woche immer mehr Namen entfielen und bald darauf auch die örtliche Orientierung entglitt. Er wolle nach Hause, hat er immer wieder gesagt, und wähnte sich abwechselnd im Schwarzwald, in Freiburg oder in seiner Vaterstadt Hamburg – an Orten, die ihm einmal wichtig waren – und saß doch, uns lang schon entschwunden, am heimischen Mittagstisch in unserem Haus auf dem Tübinger Apfelberg. Und wir sahen der gespenstischen Veränderung seiner Person ohnmächtig zu.

Immerhin, in den ersten Jahren konnte er auch Freude empfinden. Frau H., seine Pflegerin seit 2007, eine barocke, urschwäbische Bäuerin, hat ihn in ein Leben jenseits der Bücher, der Abenteuer am Schreibtisch geführt. Er, dem Essen sein Leben lang gleichgültig war, begann auf einmal, mit Wonne zu spachteln. Maultaschen und vor allem Berge von selbstgebackenem Kuchen. Das war ein Stück Lebensqualität. Er hatte – in all seiner Beschränkung – noch schöne Momente.

Der Ausflug im November 2008 auf den Hof von Familie H., wo er so viele Nachmittage verbrachte, wird mir immer in Erinnerung bleiben. Mein Vater, den vordem, weil er Asthmatiker war, jedes Tierhaar in Panik versetzte, saß vor einem Stall, hielt – mit sich und seinem Dasein im Reinen – ein paar Möhren in der Hand und fütterte Karnickel. So als sei das für ihn das Normalste der Welt. An sein früheres Leben als Denker und Deuter, als Rhetor und moralische Instanz erinnerte nichts mehr. Die Fallhöhe hätte grausiger kaum sein können. Und doch war ihm da noch viel von der eigenen Würde geblieben.

Sehr bewusst habe ich damals diese Szene bukolischen Friedens, die Geschichte von meinem kreatürlichen Vater, ans Ende meines Erinnerungsbuchs gestellt, heute denke ich, auch um mir selbst Trost zuzusprechen – und das Abschiednehmen ein klein wenig erträglicher zu machen: Schau, sogar in der Demenz, so unbarmherzig, so unumkehrbar sie das Hirn des Kranken auch zerstört, ist nicht alles einzig nur schrecklich.

Kleine Portionen von Vitalität halten sich lang. Wenn meinem Vater etwas gegen den Strich ging, wusste er sich zu wehren und hantierte zur Not mit den Fäusten. Er war noch in der Lage, sich auf den dünn gewordenen Beinen zu halten und – wenn auch recht unbeholfen – ein paar Schritte zu gehen. Vor allem – und das war elementar, gerade für ihn: Er konnte sprechen. Ein wenig zumindest. Der Sinn seiner Worte blieb uns – und vermutlich auch ihm – meist dunkel, aber teilgenommen am Alltag hat er auf seine Weise eben doch.

Nur, dieser Zustand gelegentlicher Behaglichkeit war nicht von Dauer. Rund drei Jahre vor seinem viel zu lange herausgezögerten Tod, am 9. Juni 2013, schienen die Kräfte aufgebraucht. In den Stunden, in denen er wach war, saß er, zunehmend apathisch, in seinem vom Sanitätshaus geliehenen Rollstuhl, die Wangen wurden schmäler und schmäler, seine Augen waren glasig und schauten ins Leere. Ein lebloses, fahles Gesicht. Ein müder, wunder Körper. Ein großes, bald rund um die Uhr zu wickelndes Kind. Den Gutteil des Tages hat er – halb dösend, halb schlafend – in seinem Bett verbracht. Mitunter schien er gegen sein Schicksal aufzubegehren. Dann konnte er richtig derbe werden; meist aber hat er einzig ein paar Wortfetzen herausgebracht. Und nicht selten schwieg er über Stunden. Für ihn, denke ich, war’s eine stille Form des Protests.

Nein, seine letzten Leidensjahre lassen sich nicht mit munteren Anekdoten verklären. Er war sterbenskrank. Er hatte oft Fieber und – nach allem, was wir wissen – auch erhebliche Schmerzen. Am Schluss quälten ihn offene Wunden. Die Pilz-Infektionen, Folgen eines erbarmungslosen Einsatzes von Antibiotika, ließen sich medikamentös nicht mehr stoppen. Er hat, wie seine Pflegerin in einem Interview nach seinem Tod kundtat, »am Po hinten richtige Löcher« gehabt. Sein Freund und Mitstreiter Hans Küng, der ihn – anders als so viele Gefährten aus besseren Zeiten – bis zuletzt regelmäßig besuchte und mit Schweizer Schokolade versorgte, wünschte ihm am Ende nur noch eines: dass er endlich sterben dürfe. »Er war in einem erbärmlichen Zustand.«

Schon 2007 ist er – meine Mutter war nach einer komplizierten Hüft-OP in der Kur – nachts die Treppen hinuntergestürzt und hat ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Auf Alarmruf seiner Pflegerin bringen ihn Sanitäter in die Neurologie. Die Patientenverfügung gilt. Aber Papier ist geduldig.

In der Klinik wird er ans Bett fixiert. Er hat gestrampelt und geschrien. Er reißt sich die Kabel, Schläuche und Sonden vom Leib. Er scheint zu spüren, dass er, dem das Recht auf Selbstbestimmung einst so wichtig wie das Atmen war, der Apparatemedizin nun auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Sein damaliger Hausarzt, der ins Krankenhaus eilt, sagt mir: »So wollte Ihr Vater niemals leben. Und so wollte er niemals sterben.« Nach 30 Stunden haben ihn sein Arzt und sein von mir alarmierter Anwalt wieder freibekommen. Er wurde entfesselt. Aber vielleicht hätte er schon damals sterben dürfen, wenn man es ihm nur gestattet hätte. Ich gebe zu: Das war ein Grenzfall. Da schien es kaum möglich, sich in seinem Sinne zu entscheiden. Er lag blutend auf den steinernen Stufen. Was zählt mehr in diesem konkreten Augenblick: die akute Unfallversorgung oder der schriftlich hinterlegte Wille eines unheilbar Erkrankten?

Von den Folgen des Sturzes hat er sich nie wieder wirklich erholt. Der nächtliche Unfall freilich war keineswegs die einzige Chance, die sich meinem Vater bot, um seinem elenden Dasein zu entkommen. Ich erinnere mich konkret an vier Lungenentzündungen in seinen letzten Jahren. Und zweimal erkrankte er an einer schweren Bronchitis. Jede dieser freundlichen Anfragen des Todes wurde mit einem Antibiotikum niedergekämpft, dessen Verabreichung ja in der vorliegenden Verfügung nicht explizit untersagt war.