Du solltest mich mit Krone sehen - Leah Johnson - E-Book

Du solltest mich mit Krone sehen E-Book

Leah Johnson

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Beschreibung

Liz Lighty hatte immer das Gefühl, sie sei zu schwarz, zu arm, zu unbeholfen für die kleine reiche Stadt, in der sie aufwuchs. Also schmiedet sie einen Plan, um nach ihrem Abschluss schnellstmöglich zu verschwinden: Wenn sie als Stipendiatin im berühmten Orchester des Pennington College aufgenommen wird, kann sie dort Medizin studieren. Doch ihr großer Traum droht zu scheitern, und Liz bleibt nur eine Option: Sie muss die jährliche Wahl zur Abschlussballkönigin und damit das üppige Preisgeld gewinnen. Dabei gibt es nichts, was Liz weniger tun möchte, als an diesem überzogenen Wettbewerb teilzunehmen und sich gehässigen Kommentaren auf dem Schulhof und im Netz zu stellen. Die Einzige, die all das erträglich macht, ist Mack, das neue Mädchen an der Schule. Sie ist klug, witzig, chaotisch und verdreht Liz sofort den Kopf. Doch auch Mack ist im Rennen um die Krone. Entscheidet Liz sich für die Liebe und wirft ihre Zukunftspläne über Bord?

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Seitenzahl: 407

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Leah Johnson

Du solltest mich mit Krone sehen

Roman

Aus dem Englischen von Susanne Just

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2023

Alle Rechte vorbehalten

Text copyright © 2020 by Leah Johnson. All rights reserved.

Published by Arrangement with SCHOLASTIC INC., 557 Broadway, New York, NY10012 USA

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Übersetzung: Susanne Just

Lektorat: Emily Brodtmann

Covergestaltung: Svenja Sund

Cover photography © 2020 by Michael Frost

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-169-6

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

 

 

 

Für Mum

Alles, was ich bin, bin ich dank dir.

 

 

 

»Der passende Ort für mich wird solange nicht existieren, bis ich ihn mir erschaffe.«

James Baldwin

Eins

Ich umklammere mein Tablett fest mit beiden Händen und hoffe, dass Beyoncé mir die Kraft schenkt, es ohne Unfälle zu meinem üblichen Mittagstisch zu schaffen.

Beim Gedanken daran, dass ich ausrutschen und mich mit Joghurt-Dressing übergießen oder stolpern und auf dem Schoß von einem der Jungs aus dem Wrestling-Team landen könnte, erschaudere ich. Oder – noch schlimmer – beim Gedanken an ein Video, wie ich hinfalle. Das würde sich wie ein Lauffeuer auf Campbell Confidential verbreiten. Nachdem CC vor ein paar Jahren von irgendeinem Zwölftklässler erfunden wurde, ist diese Twitter-ähnliche Klatsch-und-Tratsch-App zu meinem schlimmsten Albtraum geworden. Ich bin so froh, das alles in wenigen Monaten hinter mir zu haben. Ich werde auf dem Weg nach Pennington sein, dem besten Privat-College im ganzen Bundesstaat, und das Leben leben, von dem ich immer geträumt habe: eines unter Leuten wie mir, an einem Ort, an den ich hinpasse, und auf dem Weg, Ärztin zu werden. Es ist so zum Greifen nahe, dass ich es schon riechen kann. Ich brauche nur noch die Bestätigungs-E-Mail, dass ich das Stipendium bekommen habe und –

»Lighty, pass doch auf! Ich hab hier was zu erledigen.« Derek Lawson baut sich direkt vor mir auf und zieht das Wort erledigen in die Länge, als ob das, worauf er sich hier gerade vorbereitet, irgendein großes Geheimnis wäre. Ich trete einen Schritt zurück – das Tablett immer noch in meinem Todesgriff – und wappne mich für das, was jetzt kommt. Ich weiß, was als Nächstes passiert. Das wissen wir alle. Um diese Jahreszeit stehen öffentliche Auftritte wie dieser an der Campbell High School auf der Tagesordnung.

Bevor ich auch nur die Möglichkeit habe, der ganz speziellen Tortur zu entgehen, einem Flashmob aus lauter Schulsportlern dabei zuzusehen, wie sie wie irgendeine typische Boyband in perfektem Einklang singen und tanzen, bin ich schon mittendrin.

Derek schlittert mit so einer Portion Dramatik über den Boden, dass die Besetzung des Musicals Hamilton aufhorchen und sich eine Scheibe abschneiden würde. Er klettert auf den langen Tisch, an dem seine Clique immer sitzt, und zeigt hinunter auf seine Freundin und meine nicht-so-heimliche-Rivalin, Rachel Collins. Irgendjemand drückt irgendwo auf einem Lautsprecher »play«, und dann geht es auch schon los: noch so ein verdammter Promposal – die Anträge zum diesjährigen Abschlussball fluten den Campbell Confidential Feed zu dieser Jahreszeit regelrecht.

Obwohl das jede Woche mindestens zwei Mal passiert, seit das Halbjahr angefangen hat, schwöre ich, dass ein Mädchen aus dem ersten High-School-Jahrgang an meinem Nebentisch vor Begeisterung in Ohnmacht fällt, als Derek anfängt, eine geremixte und passend zum Abschlussball umgedichtete Version von »Time of My Life« zu singen. Ihre Freundinnen sind viel zu abgelenkt, als dass sie ihr überhaupt wieder aufhelfen würden.

Der Abschlussball in Campbell County im Bundesstaat Indiana ist wie Football in Texas. Der einzige Unterschied ist der, dass wir unseren Fanatismus nicht monatelang jedes Wochenende entfesseln und frei ausleben können. Nein, hier halten wir uns zurück, und zwar für ganze elf Monate und 29 Tage im Jahr, um an einem einzigen Tag zu explodieren. Campbell ist dann förmlich ein Haufen aus Pailletten, Designer-Anzügen und genug Haarspray, um die ganze Stadt in die Luft zu jagen.

Es könnte beeindruckend sein, wenn es nicht so lächerlich und unfassbar nervig wäre.

»You’re the one girl, I want to go to prom with!«, singt Derek jetzt so laut er kann, und es klingt offiziell furchtbar, aber das scheint niemanden zu interessieren. Die Mädels des Puschel-Teams strömen jetzt aus dem Korridor herein, wo sie auf der Lauer gelegen haben müssen, in voller Montur bestehend aus Cheerleader-Uniform und Pompon-Puscheln, und schnappen sich ihre Partner aus der Basketball-Mannschaft. Und auf einmal tanzen sie alle die komplette Dirty Dancing-Choreo, ohne ein einziges Mal aus dem Takt zu geraten.

Die ganze Cafeteria verfolgt das Spektakel, aber ich will irgendwie bloß im Boden versinken. Allein bei dem Anblick droht mein Magen damit, den Müsliriegel, den ich zum Frühstück gegessen habe, wieder hochkommen zu lassen.

Nicht nur, weil Rachel mal wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, sondern weil mir so eine öffentliche Zurschaustellung von, naja, allem Angst macht – auch, wenn ich Lichtjahre davon entfernt bin, etwas damit zu tun zu haben. Ich meine, alle beobachten einen und warten darauf, dass man irgendwas macht, das es wert ist, auf Campbell Confidential gepostet zu werden. Die Vorstellung, dass die Leute ihren Blick auch nur etwas länger auf mir ruhen lassen, als in den Augenblicken, in denen ich ihnen ihre Notenblätter für die Orchesterprobe austeile, jagt mir schon unvorstellbare Angst ein. Deshalb wollte ich auch nie Klassensprecherin werden, habe nie für ein Schulmusical vorgespielt und kann es kaum ertragen, im Orchester einen Soloauftritt zu haben, ohne mich in Luft auflösen zu wollen.

Wenn man schon das Gefühl hat, alles an einem sei auffällig, ergibt es einfach mehr Sinn, sich so gut und oft wie möglich unsichtbar zu machen.

Trotzdem, bei der Art und Weise, wie Derek Rachel ansieht, wird mir einfach schwer ums Herz. Leute wie sie bekommen diese perfekte High-School-Jugendliebe-Geschichte, die sie eines Tages ihren Kindern erzählen können, aber wenn man wie Liz Lighty groß, schwarz und absolut pleite ist, hat man keine Chance. Zumindest nicht an einem Ort wie diesem.

Es ist nicht so, dass ich es meinen Mitschülern nicht gönnen würde – wirklich nicht. Aber manchmal (na gut, meistens) fühle ich mich einfach nicht wie eine von ihnen.

Derek beendet gerade seine Performance mit der letzten schlecht umgedichteten Liedzeile von »Time of my Life«, streckt ihr seine Hand entgegen und Rachel, die inzwischen heult wie ein Schlosshund, ergreift sie. Wie sie es schafft, sogar während sie einen Eimer falscher Tränen vergießt wie ein Instagram-Model auszusehen, werde ich nie verstehen.

Dereks großes Finale – und ich mache keine Witze – ist die berühmt-berüchtigte Hebefigur.

Mit eindeutig einstudiertem Geschick läuft Rachel nach vorne, wirft sich in seine Arme und wird hoch über die Menge in der Cafeteria gehoben. Wenn ihr mich fragt, sieht sie weniger wie Baby, sondern eher wie Simba aus, der über das Geweihte Land blickt, aber egal. Als das Lied zu Ende ist, sind alle auf den Beinen, und das gesamte Publikum in der Mittagspause bricht in dröhnenden Applaus aus.

Auf dem Gesicht meiner besten Freundin Gabi liegt ein Ausdruck von neidischem Respekt, während sie dabei zuschaut, wie die Puschel und die Basketball-Jungs herumstehen und klatschen und bewundernd zu dem Pärchen aufblicken. Alle im Raum haben jetzt ihre Handys gezückt und filmen ohne Zweifel für Campbell Confidential. Die Mädchen aus der ersten Jahrgangsstufe neben uns sind wortwörtlich in Tränen aufgelöst – das eine, das in Ohnmacht gefallen ist, macht sogar ein CC-Live-Video vom Boden aus.

Ich schaue an Dereks und Rachels Tisch und der sie umgebenden Horde aus Fans vorbei, und mein Blick verfängt sich in der Ecke der Cafeteria, die ich seit meinem ersten High-School-Jahr meide wie der Teufel das Weihwasser. Ich kann nicht anders. Ein paar der Football-Jungs aus der Zwölften jubeln, stehen auf ihren Stühlen und unterstützen ihr gemeinsames Klischee auf zwei Beinen, Derek, mit Zurufen. Alle außer Jordan Jennings. Ich spüre, wie sich mein Herz ängstlich zusammenzieht, so wie es das immer tut, wenn ich ihn sehe, meinen ehemals besten Freund. Er lächelt nur schwach, während er klatscht, und sogar aus so weiter Entfernung kann ich erkennen, wie künstlich dieses Lächeln ist.

Er ist fast zu süß, um ihn länger als ein paar Sekunden anzustarren. Und da bin ich nicht die Einzige, die ihn anhimmelt; mit seiner ebenmäßigen braunen Haut und seinem gewellten Haar, das früher mal lockig war, sieht er wirklich aus, als gehörte er in eine Teenager-Seifenoper – komplett mühelos perfekt und so.

Ich rufe mir in Erinnerung, was er mir so unmissverständlich klargemacht hat, als wir beide im ersten High-School-Jahr waren: dass Leute wie ich und Leute wie er in zwei verschiedenen Stratosphären existieren und es das Beste ist, wenn das auch so bleibt.

»Uff! Ein Promposal für den Tag organisieren, an dem Emme ihren Platz als potenzielle Promqueen räumt? Das ist eine Strategie auf Kris-Jenner-Niveau. Ich wäre angepisst, wenn es mich nicht so eifersüchtig machen würde, dass ich nicht selbst drauf gekommen bin.« Gabi stopft ein Buch in ihr Schließfach und schüttelt den Kopf. »Der Teufel arbeitet hart, aber Rachel Collins noch härter.«

»Eifersucht ist ’ne Krankheit, Marino. Gute Besserung«, feixt Britt, an die Wand gelehnt, wobei Gabi die Augen zu Schlitzen verengt und in ihre Richtung blickt. »Echt jetzt, wer interessiert sich schon für Rachel Collins? Da diskutier ich ja lieber drüber, wer bei einem Kampf zwischen Captain Marvel und Wonder Woman in einem Stahlkäfig gewinnen würde. Auf wen verwettest du dein Geld, Lizzo?«

Stone, die im Schneidersitz und tief in Meditation versunken auf dem Boden sitzt, scheint komplett unbeeindruckt zu sein von der Tatsache, dass eine wild gewordene Schülerschar an ihr vorbeidonnert, die droht, sie über den Haufen zu rennen. Seit dem Promposal beim Mittagessen habe ich nicht viel gesagt – habe es noch nicht geschafft, dieses komische Gefühl des anders seins abzuschütteln, das mich manchmal in Wellen trifft, die so stark sind, dass sie mich vielleicht mitreißen könnten. Das hält Gabi und Britt jedoch nicht von ihren Versuchen ab, mich irgendwie dazu zu bringen, trotzdem mitzumachen.

»G, ist doch sowas von egal, wer auf was kommt«, erwidere ich und hake mich bei ihr unter, während wir uns alle auf den Weg zu unseren nächsten Unterrichtsstunden machen. »Es ist ja nicht so, dass irgendjemand von uns die Nächste in der Reihe für den Thron wäre.«

»Ich würde sagen, dass wir viel näher dran sind als gewisse andere«, gibt Gabi mit einer gespielt traurigen Stimme zurück. »Wenigstens sind wir näher dran als Freddy.«

Ich habe gut aufgepasst, war immer vorsichtig, dass mir in der Cafeteria auch ja nie ein Missgeschick passiert, aber andere Leute haben nicht so viel Glück gehabt wie ich. Letzte Woche ist Freddy Brinkley auf dem Weg zu seinem Platz über seine eigenen Schnürsenkel gestolpert (Anfängerfehler, man bindet immer einen Doppelknoten, bevor man sich auch nur einen Schritt in die Kampfzone wagt) und mit dem Gesicht voraus in seinem Teller mit Spasagne gelandet, Campbells Mischmasch-Gericht aus Lasagne und Spaghetti.

Mindestens dreißig Leute haben das auf Campbell Confidential festgehalten und so oft und auf so viele Arten als gif gespeichert, bearbeitet und neu zusammengeschnitten, dass ich nicht glaube, dass sich der arme Freddy jemals von dem #SpasagnenFail erholen wird.

Freddy war so übermütig zu denken, er könnte die Strecke ohne irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen zurücklegen, und hat den höchsten Preis dafür bezahlt: Er ist zu einem öffentlichen Meme geworden. Einfach schlimm, sowas.

Britt und Stone verabschieden sich beim Orchester-Raum von uns und gehen zu ihrer nächsten Stunde. Die Orchesterprobe ist heute schnell vorbei, zu schnell für meinen Geschmack. Vor lauter Panik wegen der Warterei auf die Stipendiums-E-Mail, von der ich weiß, dass sie heute kommen muss, und der mit Spannung aufgeladenen Atmosphäre wegen der Abschlussball-Saison, die alle schlagartig überreagieren lässt, bin ich noch nicht für das Ende der Stunde bereit, als es plötzlich schon so weit ist.

Nach dem letzten Läuten packt Gabi schnell ihre Sachen zusammen und ist nicht ansatzweise so umsichtig wie ich dabei, ihre Klarinette in den weichen Samt des harten Etuis zurückzustecken. Sie wird ihren Lieblings-CC-Livestream verpassen – die Abschlussball-Analysten, eine Gruppe von Mädchen, die jeden Montagnachmittag Voraussagen darüber treffen, wer eine und wer keine Chance hat, es im Kampf um die Krone in die nächste Runde zu schaffen –, wenn sie nicht jetzt sofort geht.

Unsere restlichen Mitschüler und Mitschülerinnen treten nacheinander durch die Seitentüren auf den Parkplatz hinaus, aber wie die meisten Nachmittage bleibe ich noch etwas zurück. Vor dem Heimgehen gibt es immer noch was zu erledigen.

»Ich kann es immer noch nicht glauben, dass Emme einfach so verschwunden ist.« Gabi holt ihre elegante schwarze Sonnenbrille aus der Handtasche und setzt sie auf. Dann zögert sie einen Augenblick. »Meinst du, Jordan geht’s gut?«

Emme Chandler: Jordans feste Freundin seit drei Jahren, die liebste Person überhaupt und außerdem auf mysteriöse Weise verschwundene Topkandidatin für den Posten der Abschlussballkönigin. Wir sind nicht mit ihr befreundet, haben – auf sozialer Ebene gesprochen – nicht mal dieselbe Postleitzahl, aber da sie praktisch dem Campbell-Adel angehört, ist es schwierig, sich nicht zu fragen, wo sie abgeblieben ist.

Die Frage trifft mich trotzdem unvorbereitet. Damals, als wir drei noch befreundet waren, haben sich G und Jordan pausenlos gestritten. Ich frage mich, ob er ihr teilweise immer noch wichtig ist, auch wenn sie das nicht will, genau wie ich.

Jordan, G und ich waren in der Mittelstufe enger als eng befreundet. Jahrelang haben wir alles zu dritt gemacht. Wir haben uns in der 6. Klasse im Schulorchester kennengelernt, als Jordan und ich um den Platz der ersten Klarinette gekämpft (eigentlich vorgespielt) haben. Und wann immer er den Platz der ersten Klarinette ergattert hat, sagte er mit einem selbstzufriedenen Lächeln und blitzender Zahnspange: »Kein Grund sich zu schämen, Lighty. Die Nummer eins ist nichts ohne eine gute Nummer zwei!«

Im Laufe des Schuljahres sahen wir Jordan immer dabei zu, wie er jeden Freitagabend seinen Nerd-Hut an den Nagel hängte, um für unser überraschend gutes Mittelstufen-Football-Team zu spielen, und dann verbrachten wir das restliche Wochenende praktisch immer bei Gabi zu Hause – und Jordan und ich setzten Gabi auf schwarze Kult-Klassiker aus den 90ern wie House Party und Friday an. Damals waren wir so albern, so unbeeindruckt davon, was andere über uns dachten, solange wir uns gegenseitig hatten, dass wir sogar in der Talentshow unserer Schule zusammen auftraten. Jordan und ich zumindest. Schon zu dieser Zeit hatte Gabi ein ziemlich feines Gespür für Ästhetik.

Jordan und ich trugen diese furchtbaren, super-weiten Second-Hand-Outfits aus den 90ern und führten die Kid-’n-Play-Tanzszene aus House Party 1 auf. Damit gewannen wir den 2. Platz, aber mal ehrlich, den Sieg hat uns Mikayla Murphy mit ihren blöden Hula-Hoop-Reifen gestohlen.

Aber Zeiten ändern sich, Leute verändern sich, und da ist Jordan keine Ausnahme.

Irgendwann machte er mir unmissverständlich klar, dass unsere Freundschaft nur eine Phase war. Und dagegen konnte ich schon nicht mehr viel tun.

Gabi schaut mich immer noch an und mir wird klar, dass ich nicht weiß, ob es ihm gut geht. Ich weiß gar nichts mehr über ihn.

»Ich weiß es nicht genau, G«, sage ich.

Und obwohl ich ihn inzwischen mit anderen Augen sehe, kann ich nicht anders als zu denken: Aber ich hoffe es.

Zwei

»Bilde ich mir das nur ein, oder haben deine Klarinetten heute besonders schief gespielt?«, fragt Mr K, als ich kurz vor seinem Schreibtisch stehenbleibe, um ihm den Vom-Blatt-Spiel-Test zurückzugeben, den wir gemacht haben. Er hat die Augenbrauen auf eine Art hochgezogen, die mir verrät, dass er weiß, dass ich weiß, dass meine Gruppe heute komplett aus dem Gleichgewicht geraten ist. Und als Stimmführerin erwartet er von mir, sie zurechtzustutzen. Mr K ist einer der Guten. Er ist jung, jünger als die meisten unserer anderen Lehrer, und das zeigt sich in der Weise, wie er jedes Mal, wenn er den Orchesterraum betritt, immer noch ganz aufgeregt ist. Er ist, wie meine Granny sagen würde, »noch grün hinter den Ohren«.

Außerdem sind wir ihm wirklich wichtig. Er hat viel Zeit damit verbracht, mir bei den Vorbereitungen für mein Pennington-Musikstipendium und das Vorspiel für das Orchester dort zu helfen, indem er mit mir das perfekte Stück geprobt hat – klassisch, nicht zu zeitgemäß, genau wie sie es gerne haben. Und als meine Granny sich nicht von der Arbeit freinehmen konnte und G so ein Familientreffen in dem Ferienresort in French Lick hatte, hat er mich sogar dorthin gefahren. Wir hatten hart gearbeitet – ich hatte hart gearbeitet – und das Vorspiel war geschafft. Meine Zukunft fühlte sich so gut wie geregelt an. An der Schule selbst war ich angenommen worden. Jetzt musste ich nur noch ins Orchester aufgenommen werden und ein Stipendium für herausragendes musikalisches Können verliehen bekommen, dann wäre meine Zukunft auch wirklich geregelt.

Musik ist etwas, das ich verstehe – die Noten etwas, das ich immer nach meinem Willen formen kann.

Wegen des Promposals beim Mittagessen und den kursierenden Geschichten darüber, wo Emme seit letztem Freitag abgeblieben ist, konnte sich allerdings heute niemand wirklich auf etwas anderes konzentrieren, schon gar nicht auf das neue Arrangement von »Once We Leave This Place« von meiner Lieblingsband, Kittredge, das Mr K heute ausgeteilt hat.

»Weißt du was? Gib mir keine Antwort. Ich hoffe, dass ich mir das nur eingebildet habe, und dass das kein Zeichen von Abschlussball-Wahnsinn war, der mein geschätztes Konzertorchester überfällt.« Mr K lacht, nimmt mir die Vom-Blatt-Spiel-Tests aus der Hand und legt den Kopf schief.

Ich blicke hinunter auf mein Handy, das ich fest umklammere, und versuche durch reine Willenskraft eine E-Mail von der Pennington College School of Music erscheinen zu lassen. Ich brauche nur noch eine E-Mail, eine Bestätigung, und dann bin ich auch schon auf dem direkten Weg zum Rest meines Lebens.

»Was hast du denn heute? Du siehst nicht aus wie die vorsichtig-optimistische ›du wirst mich nur dabei erwischen, wie ich meine Notenblätter anlächle, wenn ich glaube, dass niemand darauf achtet‹-Liz Lighty, die ich kenne. Ich hätte gedacht, dass du dich mehr freuen würdest, dein eigenes Arrangement zum ersten Mal zu spielen.«

Das Klassenzimmer ist inzwischen fast leer, und die wenigen Leute, die noch übrig sind, sind außer Hörweite, sodass sie nichts mitbekommen. Mr K weiß, dass ich nicht wirklich will, dass irgendjemand herausfindet, dass die Musik, mit der wir unser Frühlingskonzert beenden werden, ein Stück ist, das ich selbst arrangiert habe.

Meine Wangen werden heiß. Mir ist nicht ganz klar, warum es mir ein komisches Gefühl gibt, zu wissen, dass die Leute etwas spielen, bei dessen Entstehung ich meine Finger im Spiel hatte, aber es ist so. Es fühlt sich irgendwie so öffentlich an. Als ob diese Sache, die ich für mich allein mache, um nicht wahnsinnig zu werden, nicht mehr nur ganz mir gehören würde oder so.

»Ich freue mich ja, ich bin nur –«

Mein Handy vibriert in meiner Hosentasche, und ich ziehe es schneller heraus, als es einem Menschen möglich sein sollte.

Und es dauert weniger als eine Minute, damit alles um mich herum zusammenbricht.

Rasch lese ich die E-Mail.

Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass der Wettbewerb dieses Jahr trotz Ihrer bewundernswerten akademischen und musikalischen Leistungen unglaublich hart war und Sie weder für das Alfred und Lisa D. Sloan School of Music-Teilstipendium ausgewählt wurden, noch Ihnen ein führender Platz im Orchester angeboten werden wird. Das bedeutet, dass Sie leider kein Glück hatten, was die Zuwendung von 10000$ angeht. Und obwohl es … naja, bestimmt beschissen … ist, dass Sie es nicht in das Orchester geschafft haben … von dem Sie schon Ihr Leben lang ein Teil sein wollten …, zögern Sie nicht, nochmals vorzuspielen, sobald Sie einmal auf dem Campus sind … – nicht, dass Sie es sich leisten könnten!

Dieses Stipendium war meine Eintrittskarte für Pennington und alles, was dazugehört. Es war das fehlende Teil des Puzzles, das ich die letzten vier Jahre über zusammengesetzt habe. Ausgezeichnete Noten? Check. Beständige, wenn auch bescheidene außerschulische Tätigkeiten? Check. Musikalisches Können, das herausragend genug ist, um mir einen Platz im Weltklasse-Pennington-College-Orchester zu sichern und diesen letzten Spalt zwischen dem Geld, das ich gespart habe, den Stipendien, die ich bekommen konnte, den Studienkrediten, die mir gewährt werden, und den Studiengebühren für das elitärste Privat-College in Indiana zu überbrücken? Nicht wirklich check.

Mein Mund wird ganz trocken. Ich öffne und schließe ihn wieder, versuche, Worte zu finden, um zu erklären, was passiert ist, aber es kommt nichts heraus. Ich fühle nur Furcht. Ich denke daran, was Mr K zu mir gesagt hat, als wir darauf gewartet haben, dass mein Vorspiel beginnt:

»Auf den Campus von Pennington wirst du nächstes Jahr so gut hinpassen. Ich weiß, dass es in Campbell nicht immer leicht ist, aber Pennington war für mich ein Traum«, sagte er, während wir auf den Besucherparkplatz der Musikschule fuhren. Als das wunderschöne Kalksteingebäude in Sicht gekommen war, tat mein Magen das, was er immer tut, wenn ich nervös oder ängstlich oder aufgeregt bin – er zog sich zusammen, aber nicht auf diese niedliche Schmetterlinge-im-Bauch Art und Weise. Er zog sich zusammen, als ob er mir damit drohte, alles, was ich tagsüber gegessen hatte, wieder nach oben zu befördern. Ich glaubte, dass ich mich an Ort und Stelle übergeben, vielleicht sogar noch aufgeben würde, bevor ich überhaupt reingegangen war, aber Mr K erstickte den Gedanken im Keim und fuhr eindringlich fort: »Das ist nicht der einzige Ort, an dem du du selbst sein kannst, aber es war der Ort, an dem ich herausgefunden habe, was es bedeutet, ich zu sein. Und das ist es wert, egal wie du dich gerade fühlst.«

Und jetzt, zwei Monate nach diesem Vorspiel, finde ich heraus, dass alles umsonst war. Die ganze Zeit, die ganze Arbeit, und ich habe versagt. Und jetzt weiß ich nicht mehr weiter.

»Liz. Liz?« Mr K fuchtelt lächelnd mit der Hand vor meinem Gesicht herum. »Geht’s dir gut?«

Meine Brust fühlt sich an, als würde sie sich langsam zusammenziehen. Ich kenne das Gefühl. Ich bin kurz davor, eine Panikattacke zu bekommen, und ich weiß, dass ich schnell hier raus muss, bevor ich komplett vor Mr K zusammenbreche. Bevor ich ihm sagen muss, dass all seine Hilfe, all seine Zeit, die er in mich investiert hat, umsonst war. Dass ich ihn und alle anderen enttäuscht habe, die darauf gezählt haben, dass ich es hinkriegen würde.

Wieder klappe ich meinen Mund auf und zu und versuche, Worte zu finden. Aber es kommt nichts heraus. Ich schiebe mir den Rucksack höher auf die Schultern, klammere mich an die Träger und gehe zur Tür.

»Hey, du siehst aber nicht so gut aus.« Besorgt runzelt er die Stirn. »Willst du dich kurz hinsetzen? Vielleicht einen Schluck trinken?«

Ich schüttle den Kopf.

Das brauche ich alles nicht, kann ich ihm nicht sagen. Was ich gebraucht habe, war Pennington.

Und jetzt ist es für immer weg.

Drei

Es ist jetzt drei Tage her, dass ich die Mail bekommen habe, und die einzige Lösung, die mir bisher eingefallen ist, ist eines meiner nicht lebensnotwendigen Organe zu verkaufen, um die Studiengebühren im Herbst bezahlen zu können. Entweder das, oder mir ein Jahr Auszeit zu nehmen und mit meiner Granny im Pflegeheim zu arbeiten, wo sie als Pflegerin angestellt ist. Ich kann ein wenig Geld verdienen, um ein bisschen was von den Haushaltskosten mitabzudecken, noch mal für den Platz und das darin enthaltene Stipendium vorspielen und vielleicht ist es dann nächsten Herbst soweit für mich. Ich werde ein Jahr hinter meinen Freunden, ein Jahr später mit all meinen Träumen dran sein, aber das ist die beste – und einzige – Option, die ich habe.

Allein mein Bruder, Robbie, der mir gerade eine vom Trockner noch warme Socke an den Kopf wirft, hält mich davon ab, komplett in eine Abwärtsspirale aus Angst zu stürzen, wie an jedem anderen Tag diese Woche, wenn ich zu viel über das nächste Jahr nachgedacht habe.

»Was?« Ich schüttle den Kopf in dem Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen. »Hast du was gesagt?«

Er stößt mit seiner Hüfte leicht gegen meine. Wir legen Wäsche zusammen, während Granny bei der Arbeit ist und Grandpa in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda döst, und die Monotonie dieser Aufgabe beruhigt mich beinahe. Oder zumindest hat sie mich beruhigt, bevor ich, nun ja, damit angefangen habe, darüber nachzudenken, wie mein Leben komplett aus den Fugen geraten konnte.

»Ich hab gesagt, dass du voll abgedriftet bist.« Er faltet seine Anzughose, die er immer trägt, wenn er ein Debattierclub-Treffen hat, und legt sie in den Wäschekorb. »Erzählst du mir jetzt endlich von dem Stipendium oder muss ich weiterhin so tun, als ob ich nicht gesehen hätte, wie du vor zwei Tagen die Absagemail beim Frühstück angestarrt hast?«

»Ro.« Ich lasse mich auf das Sofa fallen und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Natürlich weiß Robbie Bescheid. »Ich wollt’s dir ja erzählen. Ich hab nur ein bisschen … Zeit gebraucht.«

»Liz. Lizzie.« Sein nackter Fuß stupst meine Häschen-Pantoffeln an, bis ich ihn ansehe. Ich schlinge die Arme um meinen Bauch und spüre, wie superweich sich die Ärmel des alten Pennington-Penguins-Rundhalspullis meiner Mum nach jahrelangem Tragen anfühlen. »Schau mal, das kriegen wir schon irgendwie hin. Geld hat uns noch nie von irgendwas abgehalten. Du weißt, dass Granny und Grandpa –«

Das Haus verkaufen werden, lasse ich ihn nicht sagen. Ich weiß schon, wie das alles aussieht, wenn ich Granny und Grandpa die Wahrheit sage. Sie werden das Haus verkaufen, in eine noch kleinere Wohnung ziehen und alles Geld darauf verwenden, auf Nummer sicher zu gehen, dass ich vier Jahre lang meine Traumschule werde besuchen können. So weit werde ich es aber nicht kommen lassen.

Schon seit ich denken kann wohnen wir in demselben, kastenförmigen Backsteinhaus am Stadtrand. Und das war manchmal ziemlich eng, mit drei Schlafzimmern für fünf Leute. Wir fünf waren laut Granny schon immer die »unscheinbaren, aber unaufhaltsamen Lightys«. Nachdem mein Dad uns verlassen hat, hat meine Mum sich den Arsch abgearbeitet, um uns praktisch allein großzuziehen, und nachdem sie schwer krank wurde, haben meine Großeltern dasselbe getan. Wir arbeiten hart, härter als alle anderen, und sorgen dafür, dass alles funktioniert. Wir schaffen es trotz, oder vielleicht gerade wegen aller Widrigkeiten. Das ist einfach unsere Lighty-Art.

Es stand also eigentlich immer schon außer Frage für mich, ob ich aufs College gehen würde oder nicht. Genauso, wo ich hingehen und was ich studieren würde. Ich würde die ehemalige Uni meiner Mum besuchen, das Pennington College, die Vorbereitungsmodule für das Medizinstudium belegen und gleichzeitig im Orchester der Penguins spielen. Ich würde Hämatologin werden und mit Sichelzellen-Patienten wie meiner Mum und meinem kleinen Bruder arbeiten, und all das würde möglich sein, weil ich mich richtig reingehängt, den Kopf eingezogen und es überlebt haben würde, als schwarzes, armes Mädchen in Campbell County aufzuwachsen – an einem Ort, der genau das Gegenteil verkörpert. Denn auch das ist unsere Lighty-Art. Wir geben nicht auf.

Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass meine Mum sterben und meinen High-School-Abschluss nicht mehr miterleben würde. Ich hatte nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass ich das notwendige Stipendium nicht bekommen würde, um aufs College gehen zu können. Ich hatte nicht bedacht, dass meine harte Arbeit trotz allem einmal nicht ausreichen würde.

»Sie dürfen nichts davon wissen.« Ich schüttle den Kopf. »Granny und Grandpa dürfen nichts davon erfahren. Ich werd mir was einfallen lassen; es muss einfach einen anderen Weg geben.«

Robbie stellt den Korb mit der sauberen Wäsche auf den Boden und lässt sich neben mich auf unser altes Sofa fallen. Es biegt sich unter seinem Gewicht.

Dieses Haus ist der letzte Ort, an dem wir das letzte Mal die Stimme unserer Mum gehört haben, der letzte Ort, an dem sie je laut, voller Energie und unzähmbar lebendig war. Ihre Berührungen stecken immer noch im Sofa, obwohl die Nähte schon aufplatzen, weil meine Großeltern den Gedanken nicht ertragen können, es zu ersetzen. Sogar der Duft ihres Parfüms haftet noch an der Wohnzimmertapete, wenn man sich große Mühe gibt, ihn zu riechen.

Wenn sie das Haus verkaufen, geben wir das Einzige auf, was von unserer Mum noch übrig ist. Und der Gedanke macht mir Angst. Er bedeutet entweder, das Geld zu nehmen und Mum wieder zu verlieren, oder das College abzuschreiben und mich von einem ihrer letzten Wünsche abzuwenden, die sie je für mich hatte: dass ich aufs Pennington gehe. Egal, wofür ich mich entscheide, ich verliere.

»Witzig, dass du das sagst.« Robbie grinst und springt auf. »Eine Sekunde, bitte.«

Er flitzt in sein Zimmer und kommt bloß mit einem Blatt Papier zurück. Erwartungsvoll hält er es mir hin. Und obwohl er eigentlich mein kleiner Bruder ist, muss ich mir den Hals verrenken, um ihm, wie er so vor mir steht, in die Augen schauen zu können.

»Ro, was –«

»Lies es einfach.« Er verdreht die Augen und wedelt mit dem Zettel herum, bis ich ihn nehme.

ABSICHTSERKLÄRUNGUNDTEILNAHMEANTRAG steht groß und fett darauf. Fast muss ich lachen.

»Ich mache sicher nicht beim Rennen um die Krone mit.«

Ich falte den Zettel zusammen und drücke ihn Robbie wieder in die Hand. Jetzt lache ich wirklich. Ich kann einfach nicht anders. »Willst du mich verarschen?«

»Ich bin so ernst wie eine vererbbare Blutkrankheit, big Sis.« Er grinst hämisch. Er weiß, dass ich es hasse, wenn er solche Witze über seine Sichelzellanämie macht, aber weil es ein Gesetz ist, dass kleine Brüder nervig sein müssen, macht er es trotzdem. »Du brauchst Geld und die geben welches her. Das erscheint mir wie die perfekte Lösung.«

Andere Schulen haben enorme Zuwendungen für Sport oder Kunst, aber die Campbell High School hat eine für den Abschlussball. Es ist so eine große Sache, dass die reichen Absolventen sie gewissenhaft für uns aufrechterhalten und sicherstellen, dass wir in Indiana jedes Jahr die größte, aufwendigste und spektakulärste Abschlussball-Saison haben. Und zufällig ist ein Teil dieses Spektakels das enorme Preisgeld, das sie dem Abschlussballkönig und der Abschlussballkönigin für »herausragende Verdienste und Engagement um die Gemeinschaft«, wie sie es nennen, verleihen.

Aber hauptsächlich stellen die Alumni untereinander einfach Schecks auf ihre eingebildeten Kinder aus – Schecks in der Größenordnung von zehn Riesen. Robbie hat recht: Das ist beinahe exakt die Summe, die ich brauche, damit das mit Pennington klappt.

»Schau mal, dieses Geld könnte ausreichen, um dich wenigstens in Pennington reinzubringen, verstehst du? Du gewinnst und Granny und Grandpa behalten das Haus.«

Bei dem Gedanken daran, dass jemand aus meinem Jahrgang dieses Preisgeld bekommt, dreht sich mir der Magen um. So viel Geld nur dafür, dass man sich auftakelt und Müll auf dem Spielplatz einsammelt. Geld, das an die nächsten reichen Campbell-County-Sprösslinge mit zu viel Freizeit und ohne Angst vor Scheinwerferlicht geht. Das ist nicht gerecht. Nichts davon ist gerecht.

Ich denke an die Reden, die öffentlichen Auftritte und daran, wie sichtbar die Kandidatinnen und Kandidaten des Wettbewerbs jedes Jahr sind. Meine Hände werden schon ganz schwitzig, wenn ich nur an die Posts über die Hoffnungsträger denke, die auf Campbell Confidential auftauchen werden – die Gerüchte und die Umfragen und das ganze Drama – oder an die Korridore, die mit Postern mit meinem Gesicht darauf tapeziert sein werden, und an die Veranstaltungen, bei denen die ganze Stadt ihre Augen auf mich richten wird. Es gibt keine Möglichkeit, sich zu verstecken, wenn man im Rennen um die Krone mitmacht; es gibt keine Möglichkeit, sich unter dem Radar zu bewegen, wenn man den Titel Abschlussballkönigin tragen will.

Alles an dieser Idee ist lächerlich. Ich war noch nie jemand, der aus dem Ensemble ausbricht, um einen Soloauftritt hinzulegen, aber ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken. Ich meine, ich komme aus keiner Erben-Familie – einer dieser Familien, in denen jeder im Wettbewerb war oder den Titel des Königs oder der Königin gewonnen hat –, obwohl im Schrank meiner Großeltern immer noch das Abschlussballkleid meiner Mutter hängt. In Campbell bringt es nämlich Unglück, wenn man sein Kleid nicht behält.

Im Korridor in der Nähe des Sekretariats hängen Fotos von allen Königinnen und Königen, die bis zur Anfangszeit dieser ganzen Tradition zurückreichen. Kurz überlege ich, wie es wohl wäre, mein Ebenbild neben dem von Eden Chandler, Emmes großer Schwester, verewigt zu sehen, die Krone eingekuschelt in meine krausen, schwarzen Locken – meine Haare voller Trotz, ihre voller Tradition. Ich verscheuche das Bild so schnell, wie es gekommen ist.

»Ro, sei realistisch.« Ich schüttle den Kopf und lasse mich auf den Boden gleiten. »Ich bin niemandes Promqueen.«

»Pennington ist dir doch wichtig, oder?« Er setzt sich neben mich und knufft mich in die Schulter.

Ich nicke, auch wenn er die Antwort darauf schon kennt. Pennington war immer schon mein klares Ziel gewesen, der Ort, an den ich trotz all meiner fehlenden Stückchen plötzlich hinpassen würde. Wo ich die Musik spielen könnte, die mich all die Jahre über auf dem Boden hat bleiben lassen, mit Leuten, die es genauso ernst meinen wie ich. Es ist die einzige Hochschule in Indiana, an der ich ein besonderes Aufbauprogramm zu einem Bachelorstudiengang beginnen kann, der direkt in einen Medizinstudiengang übergeht. Die Abkürzung zum Rest meiner Karriere. Zum Rest meines Lebens.

»Und drei Stunden von hier weg.« Er kratzt sich wissend an der Augenbraue. »Weit genug weg, um das Gefühl zu haben, wirklich weg zu sein, aber nicht zu weit weg, um nach Hause zu kommen, falls die Sache mit meiner Sichelzellanämie wirklich schlimmer wird oder sowas.« Sein Lächeln ist etwas traurig, als er: »Oder?«, hinzufügt.

Ich werde ihn nicht anlügen, weil wir immer ehrlich zueinander sind. Ich nicke.

Ich weiß, dass ich an die Indiana University gehen könnte, mein Notfallplan, und alles vielleicht gut werden würde. Vielleicht okay wäre. Aber ich würde immer weiter von meiner Zukunftsvision, die ich gehabt habe, der Vision, die meine Mum immer gehabt hatte, wegrutschen. Und das fühlt sich wie ein Verrat an, den ich mir nicht einmal ansatzweise vorstellen kann.

»Schau mal. Die Chancen standen noch nie gut für uns, aber das hat uns auch noch nie aufgehalten.«

Er muss die ganzen nicht-existenten Chancen gar nicht erst aufzählen. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran erinnert werde, wie schlecht meine Chancen an diesem Ort wirklich stehen. Robbie greift nach dem Stift, der immer hinter seinem Ohr steckt, und faltet die Absichtserklärung wieder auf. Und genau da, auf der ersten Unterschriftenlinie, in seiner Großbuchstaben-Handschrift, steht der Name meines ersten offiziellen Unterstützers.

»Du hast drei Tage Zeit, um dreißig Unterschriften zu sammeln und dich selbst als Kandidatin zu erklären. Meine Stimme hast du, big Sis. Schließ dich nicht selbst aus.«

Vier

Der Frühling in Indiana ist unberechenbar. Es kann gut sein, dass man in einen heftigen Schneesturm gerät, genauso gut kann es aber sein, dass man sich bis auf ein Tanktop und die Unterhose ausziehen muss, weil es für alles andere viel zu heiß ist. Und dann, manchmal, so wie heute, fängt der Tag mit einem wolkenlosen Himmel an und, sobald man draußen vor seinem Teilzeitjob vom Rad hüpft, ist man wegen eines überraschenden Gewitters nass bis auf die Knochen.

Die von Robbie unterschriebene Absichtserklärung steckt in meinem Rucksack, inzwischen ohne Zweifel triefnass, aber ich schwöre, es fühlt sich so an, als ob sie ein Loch direkt durch meinen Hoodie brennen würde. Seit er sie mir vor zwei Tagen gegeben hat, bin ich ohne nicht mehr aus dem Haus gegangen, aber irgendwie bringe ich es nicht über mich, irgendwas damit anzufangen. Es ist, als ob ich um eine potenzielle Zukunft an meinem Traumcollege wette, allerdings entgegen einer sehr realen, sehr gegenwärtigen Gefahr, mich nicht nur vor der ganzen Schule, sondern gleich vor der ganzen Stadt zu blamieren.

»Gott, Liz. Du weißt schon, dass ich dich auch einfach hätte abholen können?«, sagt Britt, nachdem ich mein Rad an den Ständer unter dem Vordach vor Melody Music gekettet habe – dem Musikgeschäft, in dem ich arbeite, – und reinkomme. »Du bist so eine Masochistin – und wenn ich das schon sage …«

Sie deutet auf ihr Gesicht voller Piercings, und ich lache knapp und angespannt auf.

Britt denkt, dass ich überall mit dem Rad hinfahre, weil ich mich gern bewege, und ich habe nie etwas unternommen, um das richtigzustellen. Teilweise hat sie auch recht, aber hauptsächlich radle ich, weil ich nicht will, dass irgendjemand bis zu meinem Zuhause rausfahren muss, um mich abzuholen. Ich will nicht, dass irgendjemand außer Gabi sieht, wo ich wohne. So ist es einfach leichter.

»Lizzie! Da bist du ja endlich!« Gabi wendet sich vom Verkaufstresen ab, wo sie gerade Stones Maße genommen hat, bevor ich reingekommen bin, und mein Boss Kurt formt sehr deutlich mit den Lippen die Worte RETTEMICH in meine Richtung. G mag seine Nichte sein, aber er hat noch nie so genau gewusst, wie er mit ihrem, äh, Überschwang umgehen soll. »Bitte erklär ihm, wie entscheidend es ist, dass ich Stone ein Abschlussballkleid nähe, dessen Farbe ihrem gelb-braun-stichigen Teint schmeichelt.«

Kurt umrundet den Verkaufstresen und massiert sich die Schläfen. Er bringt es nicht übers Herz, uns zu sagen, dass wir seinen Laden nicht als Chill-Oase Nummer eins nutzen können, da Gabi seine Blutsverwandte ist und ich hier an den meisten Nachmittagen und Wochenenden gearbeitet habe, seit ich im ersten Jahr der High School war.

»Du hast recht. Wie konnte ich nicht verstehen, wie wichtig es ist, … worüber haben wir noch mal geredet?« Er grinst provokativ und zwinkert Britt und mir zu.

Als ich für ihn hinter der Kasse übernehme, lehnt er sich nach vorne und flüstert: »Ich werd dich vermissen, wenn du deinen Abschluss gemacht hast, Mädchen, aber du musst meine Nichte weit, weit von hier wegbringen.« Kurt summt die Melodie von irgendeinem Ariana-Grande-Song, der vom Verlassen werden handelt, während er ins Hinterzimmer verschwindet.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und lasse sie anschließend wieder unsicher links und rechts baumeln. Ich bin nervös, obwohl ich das vermutlich gar nicht sein sollte. Ich liebe meine Freunde. Ich vertraue ihnen. Und ich brauche ihre Hilfe, wenn ich es nach Pennington schaffen will.

»Ja, also, passt mal auf. Ich, äh …« Ich blicke in ihre Gesichter und werde wieder einmal daran erinnert, warum das hier meine Lieblingsmenschen sind. Alle drei sehen aus, als wären sie bereit, jederzeit zur Tat zu schreiten, und sie wissen noch nicht mal, worum ich sie gleich bitten werde. »Ich hab dieses Stipendium für Pennington nicht bekommen.«

Sie reagieren unmittelbar.

Britt lässt ihre Knöchel knacken. »Was für ein Mist! Niemand hat dieses Stipendium mehr verdient –«

Gabi schüttelt den Kopf. »Ich werde mich darum kümmern. Der Anwalt meiner Eltern soll da mal anrufen und –«

Stone greift nach dem Kristall-Anhänger an ihrer Halskette. »Ich habe ein paar Stöckchen Palo-Santo-Holz in meiner Handtasche. Wir können deine Klarinette reinigen und –«

Leise lachend strecke ich meine Arme aus und wehre ab. Diese Verrückten sind einfach die Besten. »Leute, ist schon in Ordnung. Alles gut! Naja, nicht gut. Eigentlich ist es ziemlich schlimm. Aber es wird alles gut werden. Ich hab einen Plan.«

Wie eine Glühbirne wechselt Gabis Gesichtsausdruck sofort von Frust zu Freude.

»Wir werden eine Promqueen aus dir machen«, stellt sie schlicht und einfach fest und liest damit meine Gedanken.

»Wir werden was?«, Britt verengt ihre Augen zu Schlitzen.

»Genau meine Rede«, murmle ich. Damit Gabi mich hören kann, füge ich hinzu: »Robbie hat dasselbe gesagt und ich glaube langsam, dass ich in irgendeinem Paralleluniversum gelandet bin, in dem das eine realistische Option ist.«

In einem Konzertorchester wird man in Gruppen eingeteilt, damit die Instrumente und Laute, die man im Ohr hat, möglichst ähnlich zu den eigenen sind – damit das, was einen umgibt, zu einem gewissen Grad man selbst ist. Es ist einfacher, den eigenen Klarinetten-Teil zu spielen, wenn man nicht gegen ein Cello auf der einen und eine Tuba auf der anderen Seite ankämpfen muss.

So gesehen sind Gruppen von High-School-Freunden sowas wie ein Ensemble. Meine Freundinnen sind offiziell Spinner, Tintenkleckse auf einem ansonsten blütenweißen Blatt, aber genau deswegen funktionieren wir so gut zusammen. Denn solange sie meine Leute sind, solange sie diejenigen auf meiner Rechten und Linken sind, kann ich manchmal vergessen, dass ich nirgends sonst in dieser Stadt hinpasse.

Stone fügt hinzu: »Mein Horoskop hat vorausgesagt, dass sich heute etwas Unerhörtes offenbaren könnte, aber etwas in dieser Art hab ich nicht erwartet.«

»Ach, mach nicht so ein Drama draus, das ist nicht unerhört. Lizzie, ich bin die geborene gute Fee; das ist mein Schicksal.« Gabi lässt ihre neon-gelbe Chloé-Tasche neben die Kasse plumpsen und holt ihr Handy raus. Ihre Finger fliegen so schnell über den Bildschirm, dass ich beinahe nicht mitbekomme, dass sie etwas sagt. »Ein paar kleine Veränderungen, und du bist so gut wie neu. Offiziell bereit, Promqueen zu werden.«

Ihre Zunge schießt aus ihrem Mundwinkel hervor, wie immer, wenn sie nachdenkt. Ich bereite mich auf das vor, was dieser Gesichtsausdruck für mein Leben bedeutet, obwohl sie noch nicht genau gesagt hat, was sie sich wirklich vorstellt. Was das angeht, ist Gabi irgendwie verhext – sie muss nicht wirklich sagen, was sie von einem will, damit man es einfach weiß.

»Mit Stones Auswertungen der Daten aus den Erwähnungen auf Campbell Confidential, dem Punktesystem und meinem strategischen Können – oder sagen wir lieber – meinen gerissenen Schlussfolgerungen werden wir jederzeit wissen, wo du in den Umfragen stehst«, sagt sie. »Nichts, was ein schneller Algorithmus nicht erledigen kann, oder Stony?«

Stone schaut an die Decke und einen Augenblick lang glaube ich, dass sie vielleicht mit offenen Augen schläft. Bis sie spricht.

»Ich hab meine Himmelskarte zu Rate gezogen und ja, Liz, das kann ich für dich tun.«

Ich schüttle den Kopf. Ich weiß nicht, wie dieser Zug auf Abwegen so schnell Fahrt aufnehmen konnte, aber ich muss ihn aufhalten, bevor es ihn komplett aus der Kurve haut.

»Danke, Stone, echt jetzt, aber –«

»Perfekt! Dann ist es also abgemacht. Stone, komm mit. Ich werd’s dir erklären – da wartet eine Menge Arbeit auf uns.« Sie sieht nicht mal von ihrem Handy auf, aber das muss sie auch nicht. Stone fischt gerade schon nach ihrem eigenen Handy, um sich an die Arbeit zu machen. »Und Liz«, – Gabi mustert mich einmal von Kopf bis Fuß – »bald müssen wir deinen Look ein bisschen aufpolieren. Der Grunge-Schick ist einer Promqueen nicht würdig.«

Ich schaue an meinem Outfit herunter und runzle die Stirn. Bei Melody gibt es keinen Dresscode – Notenhefte an Männer mittleren Alters verkaufen, die lernen wollen, Beatles-Songs auf ihren Akustikgitarren zu spielen, ist so ziemlich das Einzige, was wir tun, und dafür braucht es kein Ballkleid –, deshalb trage ich eine Variante dessen, was ich immer trage: ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt, schwarze Skinny Jeans mit Löchern an den Knien und hohe, schwarze Chucks. Manchmal lege ich noch eine Schippe drauf und entscheide mich für ein cooles Vintage-T-Shirt mit Logo-Print aus den 80ern oder 90ern, aber hauptsächlich war’s das schon. Schlicht und auf den Punkt gebracht.

Aber Gabi war schon immer so – seit wir mit acht Jahren den riesigen Stapel alter Vogue-Ausgaben ihrer Mum im Keller gefunden haben, steht sie mit einem Fuß schon außerhalb von Indiana. Mode ist ihr Ein und Alles. Deshalb ist sie auch schon so eine talentierte Designerin, dass sie vorab für den Herbst am Fashion Institute of Technology in New York angenommen wurde. Wenn G weiß, was sie will, hält sie nichts davon ab, es zu erreichen.

Ich schaue hinüber zu Britt und ziehe fragend die Augenbrauen hoch. In einer Geste der Kapitulation hebt sie beide Hände. »Mich brauchst du gar nicht anschauen, Dude. Das Memo, in dem wir beschlossen haben, wie gedopte Debütantinnen auf dem Prom all-in zu gehen, hab ich wohl verpasst.«

Britt hat recht. Wir hatten einen Plan, praktisch schon seit dem Tag, an dem wir uns getroffen haben, dass wir als geschlossene Einheit zum Abschlussball gehen würden. Nur wir vier, zusammen, in original Gabi-Marino-Kleidern. Es war einfach, ideal. Das hier war nie Teil dieses Plans. Der Wettbewerb um den Thron ist alles andere als einfach.

»Warum musst du so negativ sein, Britt? Das wird super!« Gabi wirft mir ihr wärmstes Lächeln zu. »Du musst dich jetzt auf die Tatsache konzentrieren, dass du offiziell im Rennen für die Campbell-High-School-Promqueen bist, und dass das hier die Taktik ist, die dir helfen wird, zu gewinnen. Wir müssen ein großes Stück Arbeit leisten, wenn wir auch nur die geringste Chance haben wollen, dich von hier« – sie hält ihre Hand knapp über den Boden und dann auf die Höhe ihres Gesichts – »nach hier bringen zu wollen.«

Britt zuckt zurück. »Kannst du eigentlich noch oberflächlicher sein, Marino? Ich will mich nur darauf vorbereiten, falls du in den nächsten fünf Wochen weiter so austeilst.«

Gabi ignoriert sie und lächelt mich stattdessen an. Ihr Lächeln ist breit und strahlt Sicherheit aus; es ist das Lächeln, das sie benutzt, wenn sie selbstsicher ist, und will, dass ich mich auch so fühle.

»Du brauchst dir um nichts Sorgen zu machen, Lizzie«, sagt Gabi. Sie streckt ihre Hand aus und wackelt erwartungsvoll mit den Fingern. »Wenn du mir bitte deine Absichtserklärung überreichen würdest. Ich kümmer mich dann mal um diese Unterschriften.«

Ich greife in meinen Rucksack und gebe sie ihr zögerlich. Passiert das alles gerade wirklich?

»Du hast die richtige Entscheidung getroffen, Lizzie.« Sie steckt den Zettel in ihre Handtasche, legt beide Hände auf meine Schultern und obwohl sie so viel kleiner ist als ich, gibt mir das irgendwie das Gefühl, komplett auf Augenhöhe mit ihr zu sein. »Ruf mich heute Abend an, okay? Wenn du morgen zu der Auftaktveranstaltung gehst, ohne dass ich dich auf das vorbereite, was dich erwartet, ist das wie frisch gewürzt direkt in die Höhle des Löwen zu spazieren.«

Während sie ihre schwarze Cat-Eye-Sonnenbrille aus den Haaren nimmt und über ihre Augen gleiten lässt, schüttelt sie traurig den Kopf. Sie schnappt sich ihre Handtasche vom Verkaufstresen und schiebt sie sich auf die Schulter. Wie immer sind ihre Bewegungen elegant, anmutig und komplett selbstbewusst.

»Mein Gott, stellt euch mal dieses Blutbad vor.«

Und einfach so bin ich die neueste Kandidatin im Rennen um die Campbell-High-School-Abschlussballkrone.

Fünf

Am Sonntagnachmittag bin ich spät dran für das Infotreffen der Abschlussball-Kampagne und marschiere zügig durch die leeren Gänge der Schule. Im Geiste gehe ich Gabis Checkliste mit Anweisungen durch, wie ich dieses Treffen angehen soll, und denke an die Kandidatinnen und Kandidaten, die ihrer Vorhersage nach teilnehmen werden, Leute, mit denen ich mich lieber früh im Rennen verbünden sollte; daran, wie ich Jordan in die Augen schauen werde, nachdem ich es so viele Jahre vermieden habe, überhaupt mit ihm im selben Raum zu sein, und –

Mein Handy vibriert in meiner Hosentasche, und die Nachricht hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. G schlägt mal wieder mit ihrer BFF-Telepathie zu.

 

Gabi Marino: Beim Lächeln nicht vergessen: Zähne zeigen, aber keine Furcht.

 

Gabi Marino: IMMERDRANDENKEN: Zähne ja. Furcht nein. Du schaffst das, Süße!

Ich betrete den Hörsaal und finde einen Platz ganz hinten.

Soweit ich von meinem Sitzplatz aus erkennen kann, scheinen ungefähr fünfzig Personen anwesend zu sein, beinahe gleich viele Jungs wie Mädchen. Alle, von denen ich es erwartet habe, sind da.

Ziemlich weit vorne sitzen Lucy Ivanov und Claire Adams, zwei Mitglieder des Puschel-Teams (das sich deutlich vom Cheerleader-Team unterscheidet und auch definitiv besser ist, lasst euch das gesagt sein), mit rot-weißen Glitzerschleifen in ihren hohen Pferdeschwänzen, Ton in Ton mit ihren perfekt gebügelten Puschel-Uniformen. Ich erkenne auch unser örtliches Insta-Model und ewigen Sonnenschein, Quinn Bukowski, deren hellblonder Schopf neben Jaxon Price sitzt, einem der Football-Jungs; sie kichert, während er ihr etwas ins Ohr flüstert. Ich mache mir nicht mal die Mühe, jeden zu identifizieren, denn es ist ziemlich eindeutig: Campbells ganze Elite, Jordan Jennings inbegriffen, sitzt über die ersten paar Reihen verteilt. Direkt hinter ihm sitzt auch Rachel Collins, unsere Jahrgangssprecherin und furchtlose Anführerin der Puschel-Püppchen neben ihrem Freund und Kapitän der Basketball-Schulmannschaft, Derek Lawson.

Da mich G gebrieft hat und ich mit Ro die ganze Nacht durchgebüffelt habe, weiß ich genau, wen ich das Rennen über am meisten im Auge behalten muss.

Mein Blick ruht direkt auf Rachel. Ihre Mum ist eine der beliebtesten Abschlussballköniginnen in der Geschichte der Campbell High. Durch ihre Adern fließt also bereits königliches Blut.

Der Gedanke gibt mir das Gefühl, als wäre ich in einem Flugzeug, das sich auf den Start vorbereitet. Angst macht sich breit und bevor mir noch schwindeliger wird, lasse ich den Blick weiter schweifen.

Es sind auch viele nichtssagende Leute da. Ein paar Jungs, die ich kenne, machen entweder nur zum Spaß oder als Mutprobe mit (wenn ihr ununterbrochenes Gelächter und Gerede, seitdem wir alle angekommen sind, irgendetwas über ihr wirkliches Interesse am Wettbewerb verrät) und Mädchen wie ich, die aus verschiedenen Gründen auf den ersten Blick nicht gerade Abschlussballkönigin schreien.

Das Licht im Raum geht aus, und ich schwöre, dass die Einmarschhymne der Olympischen Spiele zu laufen beginnt.

Ich erschrecke mich praktisch zu Tode, als die ersten Fanfaren schmettern, aber der Scheinwerfer ist auf die Stelle der Bühne gerichtet, an der Madame Simoné in ihrem langen, schwarzen Kimono steht, der über den Boden schleift, während sie mit einer übertriebenen Geste auf den Bildschirm hinter sich deutet.

»Meine Damen und Herren, Sie haben sich in eine altehrwürdige Campbell-Tradition eingereiht, die den Lauf Ihres Lebens bald für immer verändern wird!« Der Raum explodiert mit Applaus. Sie spricht mit einem unglaublich überzeugenden französischen Akzent, als ob sie nicht in Campbell County geboren und aufgewachsen wäre und wir nicht alle ihr Foto in der Galerie inklusive ihrem Namen gesehen hätten: Roberta Simon, 1987.