Dubrovnik Turboprop - Sebastian Fust - E-Book

Dubrovnik Turboprop E-Book

Sebastian Fust

4,8

Beschreibung

»Der Himmel zieht sich zu, es geht ein starker Wind, Blätter und Staub wirbeln durch die Gasse, Rauch brennender Häuser, die Augen tränen. Wir rennen direkt in eine Sackgasse: vor uns Barrikaden, hinter uns eine brennende Stadt." »Dubrovnik Turboprop" ist ein ebenso beklemmender wie amüsanter Roman über Krieg und Frieden, Vergangenheit und Gegenwart - und zwei Generationen, die jeweils auf sich allein gestellt sind.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 243

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sebastian Fust

Dubrovnik Turboprop

Roman

1. Auflage

© Edition Atelier, Wien 2012

www.editionatelier.at

Schutzumschlag & Satz: Jorghi Poll

ISBN 9783902498564

Das Buch ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere für Übersetzungen, Nachdrucke, Vorträge sowie jegliche mediale Nutzung (Funk, Fernsehen, Internet). Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder weiterverwendet werden.

Mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur und des Literaturreferats der Stadt Wien, MA7.

Für Johanna

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel IV1/2

Kapitel V

I

Das Gras war taubenetzt, die Wolken silbergrau und die Sonne brach dann golden durch, es war Sommer, August, und ich ging auf den weißgrauen Betonbau zu, die manifestierte Siebzigerjahre-Architektenfantasie, vielstöckig, die Außenstelle des Altersheims, das Gebäude für betreutes Wohnen, ich holte die Großmutter ab, die feine alte Dame mit ihrem kaputten Knie; allenfalls war Laufen mit einem Gehwagen möglich, aber umständlich, und wenn, dann nur kurze Strecken, ansonsten griff man auf einen Kassenrollstuhl zurück. Die Luft war frisch, und ich fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock, klingelte, und Frau Dresenkamp, eine Russlanddeutsche, eigentlich Deutschlehrerin von Beruf, hier in Deutschland aber ohne Arbeit, dafür mit elfjähriger Tochter und Ehemann, auch Russlanddeutscher, Ingenieur, jetzt Handwerker und teilzeit- oder schwarzbeschäftigt, also nur ab und an beschäftigt und sonst zu Hause, zu Hause vor dem Computer und spielsüchtig, passte jetzt auf die Tochter, oder die Tochter auf ihn, auf, denn es waren Schulferien, und Frau Dresenkamp öffnete die Türe, sie, die bezahlte Stütze meiner Großmutter im Alter, beim betreuten Wohnen, sie erledigte kleinere Einkäufe, wusch die Wäsche, spülte das Geschirr und war eigentlich nur zum Reden, zum Ansprechen, zur Unterhaltung der alten Frau dort und bezahlt, als Abglanz dessen, was es einst war, was es für die feine alte Dame gewesen war, das Leben, denn Dienstmädchen hatte sie immer gehabt, die Großmutter, und jetzt eben, im Alter, in ihrer Hinfälligkeit blieb eben nur noch die Frau Dresenkamp, als Stütze und Rückversicherung gegenüber dem einstigen Leben, als Zeichen des Vergangenen, Platzhalter des Vergangenen, ein Statussymbol, das sich die feine alte Dame leisten konnte und wollte, ja, leisten musste, um nicht ins Nichts zu fallen, noch nicht ins Nichts zu fallen, um zumindest einen kleinen Halt im Alter zu haben, eine Rückbindung an sich selbst und an das einstige Leben, von dem jetzt nur eine Erinnerung und eben dieser Rest, wie gesagt, als Rückversicherung – zumindest kam es mir so vor – übrig geblieben war, und jetzt öffnete sie, Frau Dresenkamp, die Türe und ein Schwall warmer, abgestandener Luft kam mir entgegen. Aus dem Wohnzimmer hörte ich die Stimme meiner Großmutter, hörte ich die alte Dame rufen:

»Alexander, bist du das?«

Ich antwortete »Ja!« und gab Frau Dresenkamp die Hand.

»Wollen wir los?«

»Wir können.«

Auf der Fahrt erzählte die Großmutter, wie sie sich freute, noch einmal, ein letztes Mal nach Dubrovnik zu reisen, mir diese Reise ermöglichen zu können, und sie erzählte von Ivo, dem Reiseleiter, den sie dort, nach dem Tod ihres Mannes, meines Großvaters, von dem sie immer nur als »der Vater« sprach, den sie also nach dem Tod des Vaters kennengelernt hatte, weil sie sich hatte ablenken und erholen müssen nach dem Tod des Vaters, und da war sie nach Dubrovnik gereist, Dubrovnik, warum auch immer, damals noch Jugoslawien und zwischen den Blöcken Ost und West, für sie unbekannt, Terra incognita, wie für mich Mumbai, Baku oder Taschkent, gleichviel, aber der Name Dubrovnik schien ihr etwas zu versprechen, hatte eine Sehnsucht in ihr ausgelöst, klang wie Gold in ihren Ohren und hallte in ihrer Fantasie wider und wurde größer und fantastischer, und so buchte sie eine Reise, flog dorthin, denn Geld spielte keine Rolle – Gott sei Dank! Der Vater hatte vorgesorgt –, und dann war sie dort angekommen, in Dubrovnik, das so schön geklungen hatte, und auf dem Flughafen wurde sie vom Reiseleiter, wurde die ganze westliche Touristengruppe, den sozialistischen Tourismusvorgaben entsprechend, vom Reiseleiter abgeholt. Der Reiseleiter hieß Ivo. Zwanzig Jahre jünger als sie und ein Gentleman, ein wahrer Gentleman, naturgemäß, und Dubrovnik hielt, was der Klang des Namens, dem Fallen einer Münze gleich, deren Klang auf dem Boden nicht bricht, sondern nur heller erklingt, versprochen hatte. Und von dort aus ging das Leben meiner Großmutter weiter, es ging ihr besser, sie flog ein- oder zweimal im Jahr dorthin, damit es ihr besser ginge, und ja, es tat ihr gut, die Menschen, die Stadt, die Luft, die frische Luft, immer direkt am Meer, und zum Meer hin ging das Zimmer; und sie, auf dem Balkon, schaute am späten Nachmittag bis in den Abend hinein, bis zum Abendessen, hinaus aufs Meer, das Mittelmeer, gegenüber Italien, irgendwo, unsichtbar. Die Wellen klatschten lustig und monoton und beruhigend an den Kieselstrand, nach dem Essen nahm sie ihren Digestiv auf dem Balkon, das Meer war schwarz und in der Ferne sah sie die Lichter der Fischerboote und manchmal die der Tanker, und immer ging das Meer ruhig, fast berechenbar, mathematisch beruhigend, und so schlief sie ein, bei offenem Fenster, um sie herum die frische, salzige Luft. Morgen würde sie wieder in die Stadt gehen, in die Altstadt, in einem Café einen Cappuccino trinken, dann über das Kopfsteinpflaster, den Marmor, das Marmorpflaster, über die Stadtmauern, die Schutzmauern, die Befestigungsmauern der Altstadt den Rundgang entlangspazieren, den Rundgang, früher für die Patrouillen gegen Feinde und Piraten, heute für Touristen, und morgen würde sie wieder diesen Weg gehen und der Reiseleiter, ja, Ivo würde sie begleiten, ihr dies und das über die Stadt und über die Geschichte der Stadt erzählen, und sie würde ihm nicht zuhören, auch morgen nicht zuhören, sondern einfach nur darauf achten, wie sich beim Sprechen, wenn Ivo zu ihr sprach, wenn er von der Stadt, von der Geschichte der Stadt und manchmal auch von der des Landes, oder wenn er einfach nur über das Wetter sprach, wie sich seine Nasenspitze bewegte, wie sich die Grübchen in seine Wangen schoben, das linke etwas stärker ausgeprägt als das rechte, und wie er mit seinen feisten Händen, auch wenn der restliche Körper sonst sportlich und kräftig, gerade für einen Mittsechzigjährigen sportlich und kräftig war, abwechselnd durch die kurzen, borstigen, teils grauen, aber kräftigen Haare fuhr, den Schädel vielleicht verlegen, vielleicht nachdenklich rieb, streichelte, unbewusst, aber entzückend – an solches und dergleichen vieles mehr denkend schlief meine Großmutter ein, bei offener Balkontüre, offenem Fenster, hin zum Meer, und die frische salzige Luft strömte ins Zimmer, die Wellen klatschten beruhigend monoton die Nacht hindurch an den Kieselstrand, und am Morgen, wenn die Sonne durch das Grau der Wolken sich erst silbern in den Wolken ankündigte und sie dann golden durchbrach, und die alte Dame mutmaßlich von den ersten Schreien der Seemöwen geweckt wurde und sie mit einem Seufzer erwachte, (denn alles war, wie sie es sich wünschte oder erträumte) wusste sie, dass sie ihm auch heute nicht zuhören würde, sie würde ihn einfach nur anschauen und anschauen können, denn er würde da sein, bei ihr sein und sie durch die Stadt führen, wie immer durch die Stadt führen, denn das ging jetzt schon ein paar Jahre so, und es ging immer gut. Manchmal lächelte man sich auch verlegen an, gerade, wenn man nicht sprach – auch dafür war er bezahlt worden.

Das erzählte die Großmutter auf der Fahrt zum Flughafen nach Augsburg, so oder zumindest in Teilen, den Rest konnte ich mir denken, denn die Geschichten hatte sie mir oft genug erzählt, auch, fuhr sie fort, dass ja dann der Krieg, der Bürgerkrieg gekommen war und sie deswegen nicht mehr nach Dubrovnik hatte reisen können, und dass sie in dieser schwierigen Zeit, der Kriegszeit, dem Ivo immer Carepakete geschickt hatte, Päckchen mit Kaffee, entkoffeiniert, und Süßigkeiten und Zigaretten und einem netten Brief, dass sie an ihn denke – und sobald der Krieg vorbei gewesen war, war sie noch einmal hingeflogen, und dann noch einmal – und jedes Mal war dort der Ivo gestanden, der treue Ivo, am Flughafen war er jedes Mal gestanden, nur um sie, diese Male nur sie alleine, abzuholen. Auch das wusste ich, und ich nickte freundlich, denn es war schön, wie sie es erzählte, es immer wieder erzählte, einer Litanei gleich wiederholte, geradezu heraufbeschwor, und wie ihre Bäckchen dabei rot wurden, ihr Gesicht von innen her zu leuchten begann, von innen her von einem Licht und einem Glück, einem glücklichen Gedanken, dieser schönen Erinnerung durchdrungen wurde. »Ja, der Ivo. Wenn ich jünger gewesen wäre, nur etwas jünger, wer weiß …«, und dann lachte sie, wie immer, wenn sie das erzählte, aber jetzt ein wenig aufgeregter, aufgekratzter als sonst, und sie fasste sich dabei an das kaputte, geschwollene Knie, denn jetzt, in nur wenigen Stunden, würde da nicht der Ivo wieder am Flughafen stehen, nur für sie am Flughafen stehen, fünf Jahre später, so, als wäre nichts gewesen, keine Zeit vergangen? Sie lachte, und dann, fast schüchtern, etwa wie ein kleines Mädchen es tun würde, schaute sie sich zur Rückbank um, wo Frau Dresenkamp saß, die Frauen schauten sich flüchtig an, und ich glaube, Frau Dresenkamp lächelte zurück, und dann schlief meine Oma ein.

Augsburg hat einen Flughafen, einen kleinen Flughafen, ich wusste, bevor wir den Flug gebucht hatten, nicht einmal, dass die Brecht-Stadt überhaupt einen hat, aber sie hat einen, einen Regionalflughafen, von dort gingen Ende der Neunzigerjahre die einzigen Direktflüge nach Dubrovnik, nicht billig, aber die einzige Möglichkeit, und Geld spielte keine Rolle, dem Vater sei Dank, und außerdem sollte es die letzte Reise der greisen Dame sein, zumindest, wenn es nach ihr ging, und als die kleine Propellermaschine Fahrt aufgenommen hatte, als wir starteten und hörten, wie das Fahrwerk eingezogen wurde und sich die vielleicht zwanzig Passagiere darauf vorbereiteten, darauf hofften, die Anschnallgurte lösen zu dürfen, denn dann wäre die gefährliche Phase des Abhebens überstanden, da sagte sie:

»Alexander, ich bin froh, dir diese Reise noch ermöglichen zu können.« Und ich lächelte sie an und sagte: »Schön, dass du das noch einmal machst. Hättest du nicht gedacht, oder?« »Ja. Ja.«, sagte sie, fasste mich an der Hand und nestelte mit der anderen an ihrer silbernen Halskette.

»Nervös?«

Sie schaute mich an und grinste. »Die Halskette. Weißt du, woher ich die hab? Die hab ich aus dem Krieg.« Und dann erzählte sie, wie in den letzten Kriegstagen ein Zug mit verwundeten Soldaten und mit Flüchtlingen, Frauen und Kindern, der Zug auf den Dächern der Wagons jeweils großflächig mit dem Roten Kreuz gekennzeichnet, also als Krankentransport ausgewiesen, durch die Genfer Konvention geschützt, von Tieffliegern beschossen worden war. (Als Kind sah ich noch die Einschusslöcher im Bahnhofsschuppen, kurz unterhalb des Giebels, glatte Löcher im gelb gestrichenen Holz, eine Salve.) Der Zug kam kurz hinter dem Bahnhof, hinter dem Bahnübergang, in der Schneise eines Hügels, zum Stehen, und sie erzählte, wie sie mit ihrem Hausmädchen eine der ersten an der Unfallstelle, ja, sie sagte Unfallstelle, der Krieg als Unfall, nicht einfach Unglück, nicht Schuld, sondern einfach Unfall, wie sie also eine der ersten gewesen sei an der Unfallstelle, und erzählte vom Schreien und Stöhnen der Verwundeten (der Flüchtlinge) und Doppeltverwundeten (der Soldaten, Verwundete der Ostfront, die nun durch Bayern lief) und Sterbenden (Soldaten wie Flüchtlinge) und dem Dampf, der aus dem Lokkessel wie aus Poren zischte und nutzlos pfiff und langsam, wie das Schreien und Stöhnen der Sterbenden leiser wurde, wie sie versuchten zu helfen, unsicher, in Angst, dass die Tiefflieger wieder zurückkehren würden, und in Angst, dass sie die Tiefflieger bei all dem Lärm der Verwundeten und Sterbenden und dem aus dem Lokkessel pfeifenden Dampf zu spät hören würden, zu spät, um selbst in Deckung gehen zu können, und wie sie, die beiden Frauen, die Dame mit dem blauen, dem fein geschnittenen blauen Kleid, dem Kleid aus gutem Stoff, einem Stoff, der weich fällt, in Wellen, einem Stoff, der wie Wellen über den Körper fällt, und ihr Hausmädchen, zwanzig Jahre alt vielleicht, die Haushaltsschürze, leuchtend weiß, umgebunden, um die schmale Taille gebunden, wie sie, die beiden Frauen, schließlich auf die erste Verwundete trafen. Sie fanden eine junge Frau neben den Bahngleisen, die sich aus dem Zug gerettet hatte, nur um jetzt, eben noch jung wie sie war, neben dem Gleisbett zu liegen, nicht viel älter als die Dame im blauen Kleid, eine Bäuerin vielleicht, rosa Kopftuch mit weißen Punkten, strähniges Haar, Bauchschuss, mit dunklem Blut auf dem blauen Bauernkleid (von anderem Blau, heller, fröhlicher, aber aus grobem Stoff, kratzendem Stoff, unmöglich geschnitten, gerade geschnitten, sackartig, mit einem hellbraunen, abgewetzten Ledergürtel (Schweineleder) in der Mitte zusammengerafft), das dunkle Blut, das nicht zu stoppen war und sich immer mehr und nutzlos verströmte, wie der Dampf aus dem Lokkessel, und als die Bauersfrau nach ihrem Kind fragte, die beiden Frauen nach dem Kind fragte, und, da es nun ans Sterben ging, trotz der Schmerzen ruhig, unbegreiflich ruhig war, wie sie da am Bahndamm, im Frühjahrsgras lag, wie sie dalag, drum herum Feldblumen, und als sie fragte, wie es ihrem Kind ginge und sich die beiden Frauen umschauten, auf den Dampf, den der Lokkessel ausstieß, energiegeladen, aber nutzlos, und das Blut aus der Bäuerin quoll und die Sterbenden schrien und dann wimmerten, nur um dann noch einmal, ein letztes Mal zu schreien, sich aufzubäumen oder schlicht in sich zusammenzusacken, und die beiden Frauen (jetzt, in ihrer Ratlosigkeit ohne Hierarchie, das Angestelltenverhältnis beinahe aufgehoben) ängstlich auf das Surren möglicher Tiefflieger lauschten und die Bäuerin im Gras liegen sahen, wo es für die Bäuerin keine Rettung, sondern nur ein Sterben gab, da schauten sich die beiden Frauen, die zur Hilfe geeilt waren (sicherlich war die Milch auf dem Herd längst übergekocht und der Topf, wenn überhaupt, nur schwer wieder zu säubern, aber wer wollte daran denken?), an und sagten, eine von beiden sagte, meine Großmutter sagte: »Deinem Kind geht es gut. Es ist dort hinten und wird gleich in Sicherheit gebracht. Sie retten zuerst die Kinder, dann die Verletzten.«, und die Bäuerin antwortete, dass es so gut sei. Eine der beiden Frauen sagte, dass gleich Hilfe kommen würde, und die Bäuerin lächelte und gab der Frau, die zu ihr gesprochen hatte, eine silberne Halskette, an der ein Hampelmann aus Silber hing, welcher zwischen den Beinen einen silber gewirkten Faden hatte, der, wenn man an ihm zog, die Arme und Beine des Hampelmanns bewegte, so bewegte, wie sich nur ein Hampelmann bewegen konnte, und die Bauersfrau sagte, sie solle es doch bitte ihrem Kind geben. »Ja«, sagte die Frau zur Bäuerin im Gras zwischen den Blumen, mit dem Blut auf dem blauen Bauernkleid. Dann hörten sie die Tiefflieger wiederkommen, und die beiden Frauen flohen über die Böschung hinter einen Baum, versteckten sich hinter dessen moosbewachsenem Stamm (und dachten: Nordwest!), hörten das Anschwellen der Propellergeräusche der Tiefflieger und dann das Rattern der Maschinengewehre, und als die Tiefflieger fort waren, gingen sie zur Bäuerin und fanden sie tot.

Meine Großmutter erzählte, dass niemand gerettet wurde. Auch die Kinder, die sich im Zug befunden hatten, waren umgekommen. Zwei im Zug, eines auf dem Bahndamm, zwei auf dem Weg ins Krankenhaus.

Seitdem trug sie immer diese silberne Kette mit dem silbernen Hampelmann.

Das sagte sie, und dann drückte sie meine Hand und schlief ein, den Kopf leicht zur Seite geneigt, und der Kopf mit dem silbernen, dauergewellten Haar vibrierte mit dem Körper des Flugzeugs, atmete mit den Geräuschen der Propeller, und so flogen wir, meine Großmutter, Frau Dresenkamp, die nervös eine Frauenzeitschrift durchblätterte, ohne zu lesen durchblätterte, nur um dann wieder, gleichfalls ohne zu lesen, von vorne anzufangen, und ich, über die Alpen, flogen etwas über das Mittelmeer und von dort nach Kroatien. Ich schaute aus dem Fenster und sah unter uns die Städte und Dörfer und die karstige Landschaft, kaum Grün, alles gelb und braun, dazwischen seltsame Wege, nicht Straßen, wie man sie kennt, die sich grau durchs Land schneiden, gewunden und verschlungen die Berge hocharbeiten, sondern schnurgerade Wege, durch die Berge, an Berghängen, alles erdig, nicht asphaltiert, scheinbar, von oben, aus der Propellermaschine heraus betrachtet, als wären die Wege mit einem Lineal gewogen worden, wären dort, als Ausdruck eines festen Willens oder einer fixen Idee, vielleicht auch einer logischen Konsequenz, die sich im Strich den natürlichen Anforderungen, Notwendigkeiten und Restriktionen der Möglichkeiten des Straßenbaus schlicht widersetzten und so der Kraft ihrer reinen Idee Ausdruck zu geben vermochten: In die Landschaft, durch das Tal, in den Berg hineingefräst. Ich konnte mir das nicht erklären, ich saß einfach staunend und betrachtend da, neben der schlafenden Großmutter, und blickte ungläubig nach unten, als wir dort oben in den Wolken hingen und die Propeller laut surrten, und ich dachte, dass diese schnurgeraden Wege vielleicht Relikte des Krieges seien, Versorgungsstrecken, eilig und dringlich dort hingebaut, hineingepflügt, und jede Linie Ausdruck des Willens, der Absicht hin zum Sieg, jetzt nutzlos und immer noch dort, einfach da, wie liegen gelassen oder wie Mahnmale: Für wen? Gegen wen?

Der Dubrovniker Flughafen, flach auf dem Boden ausgebreitet, drückte einen leeren sozialistischen Stolz aus. Hier und da kleinere Maschinen, von Tourismus nicht zu sprechen, nicht wirklich, alles in Ocker und Brauntönen, Lederimitat, Linoleum, dazu der aufgewirbelte Staub der Landefläche. Ich schob die alte Dame im Rollstuhl durch den Staub, über das Linoleum, zur Gepäckausgabehalle, sie hielt ihre Handtasche auf dem Schoß, draußen war es heiß, drinnen kalt, aber stickig. Frau Dresenkamp trottete hinterher, und wir holten das Gepäck vom Gepäckband, dann schob Frau Dresenkamp die alte Dame und ich den Gepäckwagen (Koffer, Taschen, Geschenke), bis wir zum Ausgang kamen, die elektronische Schiebetüre öffnete sich, und da stand er, der Mann, der Ivo. Meine Großmutter seufzte verzückt: »Hallo!«

Und: »Guten Tag.«

Und: »Freut mich.«

»Wie war der Flug?«

»Gut.«

»Schön.«

»Lange her.«

»Ja.«

Und: »Ja.«

Dann zum Hotel, dem alten Hotel, dem Hotel von früher, endlich. Auf der Fahrt dorthin in einem alten Mercedes 200D ohne Kühlergrill in Braun, das vielleicht einmal Metallicbraun gewesen sein mochte: noch ein alter Bekannter, Imre, der Taxifahrer, früher einmal Taxifahrer in Pforzheim, seit dem Zusammenbruch des Kommunismus wieder in Jugoslawien, seiner Heimat, und nach dem Krieg in Kroatien, seiner Heimat. Er sagte »Hallo« und freute sich, und meine Großmutter flüsterte mir zu: »Man kennt mich hier.« Ich lächelte sie an und kurbelte das Seitenfenster herunter, der Wind wehte mir durchs Haar und über das Gesicht. Imre wusste lustige Geschichten über den Krieg und die Unverwüstlichkeit seines Mercedes zu erzählen, und die alte Dame sagte, dass auf Mercedes eben immer Verlass sei. »Wir sind immer nur Mercedes gefahren«, als Besitzer einer Wurstfabrik, industrielle Schweineschlachtung. Mit den Tieren kam die alte Dame nie in Berührung, nur der Geruch, der Gestank hätte sie beinahe krank gemacht in den ersten Jahren: »Aber dann bauten wir das andere Haus, im Stile eines Landhauses, keine Villa – eine Villa, das wäre dem Vater zu viel, zu protzig gewesen. Da war er Schwabe durch und durch. Aber Hausmädchen hatten wir immer. Wie viele habe ich nicht ausgebildet! Dabei musste ich ja selbst die schwäbische Küche erst lernen! Habe ich Kartoffeln als Beilage bereitet, oh, da war’s aus! Du kannst einem Schwaben keine Kartoffeln servieren. Spätzle und Soß’ – und saure Kutteln, das liebte der Vater, ich konnte das nicht ausstehen, aber aus Liebe hab ich’s für ihn gemacht, und die Haushälterin hat mir dann was anderes gemacht. Jedem das Seine!« Sie zwinkerte mir zu und Ivo steckte sich eine Zigarette an, dann fiel ihm Imre ein und er reichte vom Beifahrersitz aus dem Imre die Schachtel, der nickte und sie rauchten, und Frau Dresenkamp betrachtete ihre Fingernägel, ihre in einem Metallicpastellrosa lackierten Fingernägel, und für einen kurzen Augenblick schien es, als sei sie enttäuscht, die Fingernägel nicht umdrehen zu können, und so betrachtete sie stattdessen ihre Handfläche und die Linien, die Lebenslinie, die Herzlinie und was da sonst noch ist oder war, dann entnahm sie der Handtasche eine Handcreme und cremte sich die Hände ein, penibel, langwierig, die Fingerglieder massierend, den Daumenballen drückend, den Handrücken mit kurzen Blicken, kurzen kritischen Blicken, wie ein Steak nach Altersflecken überprüfend und nur einen findend und diesen mit dem Daumennagel der anderen Hand kratzend, wobei sich die schwere Goldkette, die Goldkette mit den in sich gewundenen Gliedern, sanft an ihr Handgelenk der einen und weich auf die Haut der anderen Hand legte, und sie nach kurzem Reiben und Kratzen, als wäre der Altersfleck vielleicht Schmutz, der nicht weg ging und dem Daumennagel standhielt, instinktiv davon abließ und sich verstohlen, wie ertappt, umblickte, während ich das Meer riechen konnte durch das offene Fenster, riechen, bevor ich es sehen konnte, der Wind fuhr mir durchs Haar und über das Gesicht, die Großmutter sagte irgendetwas, das ich nicht verstehen konnte, und ich nickte, und dann sah ich das Meer und darüber den blauen Himmel mit nur wenigen Wolken, ganz vereinzelt, weit hinten, Richtung Horizont, klein, fern, weit weg, unerreichbar. Dort hinten schien die Sonne, golden.

So erreichten wir das Hotel, etwas außerhalb von Dubrovnik, an der Peripherie von Dubrovnik, Ausdruck ehemaligen touristischen Wertes und Wertstrebens, dafür direkt am Meer, weil außerhalb. Dann ein kurzes, scharfes Bremsen, das metallisch klang, und etwas Staub, der dem Mercedes hinterherwehte, und Stoßdämpfer, die kurz eintauchten, und Reifen, die im Staub blockierten, und wieder Stoßdämpfer, die ins Schwimmen gerieten – dann hielt das Taxi, dann hatte Imre den Mercedes schlingernd vor dem Hotel zum Stehen gebracht, und die Staubwolke erbrach sich ins offene Seitenfenster. Wild West. Früher hatte man hier Karl-May-Filme gedreht.

Ich stieg aus, denn mir wurde das Los zuteil, als Erster ins Hotel zu gehen, um uns dort, wie die feine alte Dame sagte, anzukündigen. Das Hotel war ein weiß gestrichener, vielstöckiger Betonbau mit verspiegelten Fenstern, einem riesigen Kreuzfahrtschiff nicht unähnlich, eben nur mit Ecken und Kanten, aber eben auch mit Balkonen ringsum. Deck für Deck, Zimmer für Zimmer. Und drum herum die Reling. Alles in allem: Gewaltig, ja, monumental stand es dort. Ein sozialistisch-feudales Versprechen – so wahr wie die Texte von Karl May.

Und auch hier, wie mir die Großmutter erzählt hatte, war der Krieg gewesen.

Ich stieg durch den Staub die Marmortreppen zur Empfangshalle und zur Lobby empor, öffnete die mit goldenem Messing besetzten Türen, das heißt, ich wollte sie öffnen, doch kurz bevor ich nach den prunkvollen Messingtürgriffen greifen konnte, stoben sie wie magisch, und doch nur auf ein elektrisches Signal des Bewegungsmelders hin, auseinander; ich trat ins kühle und nicht wirklich helle, sondern eher düstere Innere des Hotels und schritt Richtung Rezeption. Dort sprach ich vor dem sich mir gegenüber hinter seinem Desk aufbauenden Uniformierten den Namen meiner Großmutter aus, und, nachdem er zunächst nicht allzu freundlich dreingeschaut hatte, ja, beinahe hätte ich mich nicht getraut ihn anzusprechen, lächelte er doch oder verzog sein Gesicht zu etwas, das er dafür halten mochte (und vielleicht damit verwechselt werden konnte) und griff dabei zum Telefon, nahm den Hörer ab, wählte eine dreistellige Nummer auf der Wählscheibe des Telefons, und dann wartete er, bis am anderen Ende abgenommen werden würde, wobei er mir zwischenzeitlich durch einige durchaus ruckartige Gesten, die wahrscheinlich als freundlich-höflich gedeutet werden sollten, zu verstehen gab, mich etwas, wenn auch nur kurz, zu gedulden.

Kurz darauf erschien eine feiste, groß gewachsene Frau in einem Blümchenkleid (rote, gelbe und violette Blümchen, knielang, mit einem weißen Gürtel): feistes, gelblichrosafarbenes Gesicht, im Verhältnis zum Körper kurze Arme (so schien es mir) und kleine Augen, die aus eben diesem feisten Gesicht bestimmt herausschauten – sie schien kaum zu blinzeln, alles immer im Blick halten zu wollen, denn ihr Blick war nicht stierend oder starr, sondern agil, aufgeweckt, neugierig, prüfend. Dahinter mit etwas Abstand, einem Abstand, den man durchaus als höflich bezeichnen konnte, der aber auch etwas Repräsentatives haben mochte, zwei Mädchen, zwischen dreizehn und fünfzehn, schätzte ich, die eine, die Jüngere, mit einem kleinen Stapel Bücher und Hefte unter dem Arm, die andere mit einer Umhängetasche, auf der in roten Buchstaben »Puma« zu lesen war und die der Form nach einen Tennis- oder Badmintonschläger beinhaltete, verbarg oder schützte. Die im blümchenbemusterten Kleid gewandete Frau streckte mir energisch die Hand entgegen (sie fühlte sich rau, trocken und fleischigfest an), und wir schüttelten uns die Hände, vielleicht etwas zu lange, als es für ein wechselseitiges Bekanntmachen, Begutachten und Einschätzen zulässig zu sein mochte, dann sagte sie, die Worte dabei etwas versetzt fallen lassend:

»Hallo. Maria. Alexander?«

»Hallo.«

»Wo ist denn die Großmutter?«, fragte sie dann bestimmt und nahezu akzentfrei, als habe die feine alte Dame keinen Namen, und dabei schaute sie sich um, schaute raus, schaute an der Rezeption und am Rezeptionisten vorbei (der uns jetzt für jeden verständlich freundlich angrinste), schaute raus aus dem Hotel, durch die gläserne Eingangstüre.

»Draußen«, sagte ich.

»So. Ach, das sind …«, sie gab den beiden Mädchen einen Wink, »… meine Töchter. Anne und Franceska.«

Die Töchter gaben mir, eine nach der anderen, höflich die Hand und zierten sich dabei fast ein wenig – ich wusste nicht warum, aber es hatte den Anschein, als hätten sie kurz darüber nachgedacht, einen Knicks zu machen, einen Knicks!, als hätten sie das vorher eingeübt und als wären sie sich jetzt nicht mehr sicher, denn wozu einen Knicks machen, in der Lobby, vor dem kostümierten Rezeptionisten und vor jemandem, den sie nicht kannten, vor mir – dachte ich und dachte, was ich mir denn einbilden würde, überhaupt zu denken wagen würde, das, so was! gedacht haben zu können, aber jedenfalls, egal warum, da war etwas gewesen, oder nicht? Ein kurzes Zögern, eine Unsicherheit, ein Innehalten und Abbrechen, das Nichtausführen einer geplanten Bewegung … Ja, so kam es mir vor, aber die Frau, Maria, war schon an mir vorbei und die beiden Töchter folgten der Mutter schnurstracks (wie kleine Entchen), eilten durch die gläserne Türe (und das beinahe wortwörtlich, denn fast hätte sie sich nicht schnell genug geöffnet, automatisch-magisch geöffnet, die Türe) und hielten kurz dahinter abrupt an, wobei sie scheinbar zwanglos, ganz natürlich ihre Reihenfolge aufrechterhielten (Mutter vorne, Töchter in kurzem, höflichem Abstand dahinter: quak, quak) – die Elektronik der Schiebetüre traute sich nicht, die beiden Glashälften zu schließen –, bauten sich dort auf, standen kurz still und dann rief Maria:

»Ach, hallo! Hallo! Da sind Sie ja!« und eilte auf den metallicbraunen Mercedes 200D zu. Die beiden Töchter blieben unschlüssig stehen. Ich drängte mich artig und höflich an ihnen vorbei, denn der Ivo öffnete gerade der Großmutter die Wagentüre, während Frau Dresenkamp sich selbst zu helfen wusste. Imre öffnete bereits unter sanfter Gewaltanwendung den Kofferraum. Wohin ich auch eilen mochte, es schien, ich wäre für alles zu spät, als wäre mir alles oder irgendetwas zu spät eingefallen, zu helfen, beispielsweise. Ja, so muss es ausgesehen haben und so kam es mir plötzlich auch selbst vor. Ich stürzte dann, nach kurzem Abwägen, zu Imre, um den Rollstuhl der Großmutter entgegenzunehmen – aber keine Chance, da war Imre pflichtbewusst (beinahe angegriffen in seiner Taxifahrerehre), und so schüttelte er den Kopf und verdeckte mit der mir zugewandten Schulter meinen Griff hin zum Kassenrollstuhl.

»Wie lange –!«

»Ja!«

»Hallo!«

»Schön ist – «

»Schön, ja – «

Maria und die feine alte Dame.

Ich versuchte das Gepäck auszuladen, aber auch hier war Imre schneller und verwehrte mir das Gepäckausladen durch eine unmissverständliche Handbewegung. Na gut! Dann fahre ich eben den Rollstuhl zur Großmutter, dachte ich, doch Frau Dresenkamp strich bereits das darauf befindliche Sitzkissen zurecht und rollte ihn dann selbst zur Großmutter, und diese, die Großmutter, zu der ich als nächstes eilte, wurde bereits vom höflich zuvorkommenden Ivo gestützt, der lächelnd und rauchend und also bereits stützend neben ihr stand, wie verabredet. Derweil setzten die Großmutter und Maria ihre freudige Begrüßung fort:

»Ach.«

»Ja.«

»Willkommen!«

»Schön.«

Küsschen links, Küsschen rechts, Küsschen links.

»Willkommen!«

Frau Dresenkamp hatte mit dem Rollstuhl neben der Großmutter angehalten, war aber übersehen worden in der Wiedersehensfreude. Als sie nun höflich wartend von der feinen alten Dame bemerkt wurde, wehrte diese ihre Hilfe ab:

»Nein, nein.«

Gestützt an Ivos Arm, so aufrecht und sicher wie es ihr möglich war, ging sie auf das Hotel zu, als habe jemand Geburtstag, nur ich kam mir vor, als sei ich dazu nicht eingeladen worden, seltsam. Sie gingen auf den Eingang, die Treppe zu, langsam, keine Eile, stolz und als ob es etwas zu beweisen gäbe, Schritt für Schritt, mit beiden Händen an Ivos Arm schritt sie auf die Treppe zu, und Maria nahm Großmutters anderen Arm, ebenfalls stützend – aber die feine alte Dame hielt sich mit beiden Händen nur an Ivos Arm (als könne sie nicht davon lassen, als wäre er ihre einzige Sicherheit, ihre einzige Rückversicherung – der Arm, der Ivo –, bloß: wofür?) und sagte:

»Es geht schon. Geht schon. Nur eben langsam.«