Duft der Vergangenheit - Mara Miditello - E-Book

Duft der Vergangenheit E-Book

Mara Miditello

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Beschreibung

Wenn die Vergangenheit die schlimmsten Ängste in dir hervorrufen kann, wie sieht dann deine Zukunft aus? Nach einer dramatischen Rettungsaktion aus den Fängen eines skrupellosen Dominus muss Sara ihr Leben neu sortieren. In Neapel beginnt sie wieder zu sich selbst zu finden. Um ihre Ängste zu überwinden, dreht sie den Spieß um und beginnt im legendären Herrenhaus zu arbeiten. Dort begegnet sie Marco, der ihr gehörig den Kopf verdreht. Kann eine neue Liebe die alten Wunden schließen?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Vierundzwanzig
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Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Epilog
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Ueber die Autorin
Klappentext
Glossar

 

 

 

Mara Miditello

 

 

 

Duft der

Vergangenheit

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Mara Miditello - Duft der Vergangenheit

Auflage1 - Oktober 2023

 

© Tamara Ferchichi, Bolongarostraße 114,

65929 Frankfurt

 

Covergestaltung: © NaWillArtDesign

 

Kontakt: [email protected]

http://maramiditello.com

Neuigkeiten erfahrt ihr immer über

www.facebook.com/maramiditello

Über ein Like würde ich mich freuen. Alle Rechte

vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur

mit schriftlicher Genehmigung. Der Autorin

wiedergegeben werden.

 

 

 

 

Egal, wo du bist.

Öffne deine Arme und lass dich fallen.

Ich bin da und werde dich

auffangen.

 

 

 

 

Prolog

Der Schmerz verebbte, je länger Sarah sich draußen in der Kälte aufhielt. Beinahe fühlte es sich an, als würde ihr Kopf sekündlich klarer, als könnten ihre vielen Gedanken um Tod oder Leben wieder ruhen. Was jedoch blieb, und egal, wie sehr sie es sich auch wünschte, es möge verschwinden, war die Angst. Sie spürte sie in jeder Faser ihres Körpers. Zitternd schaute sie sich um und musterte die Umgebung. Beobachtete die Menschen. War ihr Martyrium wirklich vorbei? Oder träumte sie? Oder war dieser Rettungseinsatz, nur ein eingefädeltes Spiel von Vito, damit sie sich in Sicherheit wog und er sie später lachend in diesen dunklen Raum zurückbrachte um sie weiter quälen.

Sarah musste einfach daran glauben, dass sie endlich gerettet worden war, dass sie endlich wieder ihr Leben in eigenen Händen hielt. Alles andere würde ihren Tod bedeuten. Dennoch schaute sie sich im Krankenwagen auf der Suche nach Vitos Handschrift um. Piepsende Geräte, Verbandsmaterial, Notfallausrüstung. Alles schien echt zu sein.

Der Schmerz in ihrem Handgelenk ließ sie zusammenzucken, als der Sanitäter ihr einen Verband anlegte. Seine Wärme schien auf sie überzuspringen. Wärme, die sie dringend benötigte, da ihr Innerstes zu erfrieren drohte.

»Gracie.« Ihre Stimme war leise, kaum hörbar und dennoch war es das erste Wort, das sie seit vielen Tagen ausgesprochen hatte, ohne vorher ihren Meister um Erlaubnis zu bitten. In ihrer Gefangenschaft war ihr das Sprechen verboten worden. Das Einzige, was sie durfte, war gehorchen. Jeder Fehltritt ihrerseits wurde bestraft. Ihre blutenden Handgelenke und die blauen Flecken, die über ihren Körper verteilt waren, waren Zeugnis dieser Strafen.

»Signora Russo, Sie werden gleich ins nahegelegene Krankenhaus gebracht. Dort wird man Sie weiter untersuchen. Wir wollen nur sichergehen, dass keiner Ihrer Knochen gebrochen ist. Außerdem müssen wir eine Gehirnerschütterung ausschließen.«

Sarah überlegte kurz. Er hatte sie vor einigen Tagen so fest geschlagen, dass sie gestolpert war und sich den Kopf am Pfosten des Bettes angeschlagen hatte. Wahrscheinlich hatte sie an dieser Stelle nicht nur blaue Flecken. Es war viel zu lange her, seit sie in einen Spiegel geschaut hatte. »In Ordnung.« Ihr war alles recht, solange sie endlich von hier fortkam.

Da die Türen des Krankenwagens immer noch offen standen, konnte sie das hektische Treiben der Einsatzkräfte beobachten. Unzählige Polizisten liefen umher oder standen in Grüppchen vor dem Haus, das eigentlich ihr Zuhause sein sollte. Damals wollte sie mit ihm ein gemeinsames Leben aufbauen. Heiraten. Kinder. Doch Vito hatte sein wahres Ich monatelang vor ihr verborgen, bis es aus ihm herausgeplatzt war. Sein innerer Dämon hatte ihr Dinge angetan, die sie lieber vergessen wollte.

»Bitte haben Sie keine Angst. Eine Polizistin wird die ganze Zeit bei Ihnen bleiben. Sie wird auf Sie aufpassen.«

Aufpassen? Dieses Wort machte sie traurig und wütend zugleich, denn er hatte es zu Beginn ihrer Beziehung oft benutzt. Vito hatte davon gesprochen, sie zu beschützen und sie zu umgarnen. Nur für sie da zu sein. Das war er auch gewesen, aber nicht auf die Weise, die sie sich vorgestellt hatte.

Sie wurde seine Sklavin. Sie gehörte ihm alleine. Was am Anfang ein ausgesprochen erotisches Spiel gewesen war, wandelte sich mit der Zeit zu einem brutalen Machtspiel, das sie verloren hatte. Manchmal teilte er sie sogar mit anderen Männern, damit diese sie ficken konnten. Er genoss es, dabei zuzusehen, wie sie ihren Körper benutzten. Doch nach jeder dieser grausamen Sessions behandelte er sie liebevoll. Wusch sie. Zog sie an. Er baute sie auf, bis sie sogar wieder lächelte, nur um ihr erneut weh zu tun. Körperlich und seelisch.

»Sarah!«

Wie ein Donnerschlag hallte seine Stimme durch die Nacht und übertönte jedes andere Geräusch. Sie konnte die Wut hören, die in ihm gärte. Unwillkürlich fiel Sarah auf die Knie und senkte den Kopf.

»Bitte. Es tut mir leid. Ich ... Es tut mir leid.«

Tränen der Angst und der Verzweiflung bahnten sich einen Weg über ihre Wangen. Jemand zog sie am Arm hoch und schirmte sie ab. Der Sanitäter, der ihr eben noch den Verband angelegt hatte, hatte sich schützend vor sie gestellt. Kraftlos und ängstlich lehnte sie sich gegen seinen Rücken.

»Bringt sie hier endlich weg«, hörte sie jemanden schreien. Sarah wagte einen Blick an dem Sanitäter vorbei und konnte erkennen, dass es der Polizist war, der ihr die Handschellen abgenommen hatte. Er war es auch gewesen, der ihr ein langes Shirt angezogen hatte. Keiner hatte den Raum betreten dürfen, bevor ihr Körper bedeckt war. Er war es auch, der versucht hatte, ihren Körper vor den Augen der anderen zu verstecken, bis sie im Krankenwagen war. Niemand sollte sehen, was Vito mit ihr getan hatte. Respektvoll war er mit ihr umgegangen. Etwas, das sie seit einer Ewigkeit nicht mehr erlebt hatte.

»Nimm deine dreckigen Finger von mir und lass mich zu meiner Frau.«

»Bastardo! Wirst du wohl deine Schnauze halten und kann mal jemand diesem Arsch, Handschellen anlegen?«

»Stronzo! Einer Frau, so etwas anzutun«, rief ein Polizist.

»Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt, mich festzunehmen. Morgen, um diese Zeit, bin ich schon wieder auf freiem Fuß.«

»Rompiballe!«

Worte der Verachtung hallten durch die Luft. Sie wurden leiser, verstummten gänzlich, als sich die Türen des Krankenwagens hinter ihr schlossen. Doch Vitos Stimme knallte wie ein Peitschenhieb durch die Dunkelheit. Zuerst sprach er Drohungen aus, nur um sie dann flehend zu bitten, sie möge zu ihm zurückkommen. Zitternd hielt Sarah sich die Ohren zu. Sie wollte seine Stimme nie wieder hören.

Der Krankenwagen setzte sich in Bewegung und je weiter sie sich von diesem schrecklichen Ort entfernten, desto ruhiger wurde ihr Körper. Sie hörte auf zu zittern. Doch ihre Gedanken begannen erneut wie die Beine einer Primaballerina herumzuwirbeln. Sarah malte sich verschiedene Szenarien aus, wie er ihr folgen würde, sie aus dem Krankenwagen reißen und verschleppen würde, um sie zu quälen, zu vergewaltigen und letztendlich zu töten. Oder vielleicht wartete er, im Krankenhaus auf sie, damit er sie gleich vor Ort bestrafen konnte. Dort gab es Skalpelle und andere Utensilien, mit denen er ihr auf jede erdenkliche Weise wehtun konnte. Vito würde niemals aufgeben. Er würde sie suchen und finden. Nicht heute oder morgen. Aber irgendwann und dann würde er ihr zeigen, wer das Sagen und wer sich zu unterwerfen hatte. Denn er war ihr Meister und sie seine Sklavin. Sarah wusste, wenn es so weit war, wollte sie lieber tot sein, als seine Strafen ertragen zu müssen.

Doch ihr Vorhaben bis zu diesem Aufeinandertreffen, ihr Leben auf ihre Art und Weise zu genießen, war stark. Sie würde zu der Egoistin werden, die sie niemals sein wollte, und ihre Angst besiegen, damit sie niemals wieder von jemandem so herumgeschubst werden konnte. In ihrer Gefangenschaft hatte sie sich oft vorgestellt, wie sie Rache nahm. Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt gekommen, um all das, was sie sich in ihrem Kopf vorgestellt hatte, in die Wirklichkeit umzusetzen.

Ihr Herz klopfte wild und mit einem Willen, den sie glaubte, verloren zu haben, straffte sie ihre Schultern. Sie würde sich an allen Männern rächen. Sarah musste nur auf ihre Chance warten und dann würde sie zurückschlagen.

 

 

 

 

Eins

Marcos Tag hatte früh begonnen und er wusste, dass er sich nie an diese Uhrzeit gewöhnen würde. Normalerweise schlief er um acht Uhr am Morgen noch, denn in der Regel kam er nicht vor zwei oder drei Uhr ins Bett. Doch damit war es, dank der neuen Aufgabe, die er ab jetzt hatte, vorbei. So gut wie vorbei, denn er würde zwar das Herrenhaus führen, aber für seine Stammgäste wollte er weiter da sein. Auch wenn ihm sein bisheriger Job, als Dominus, nicht wirklich gefiel. Er hatte ihn des Geldes wegen angenommen und nur deshalb, wollte er für ganz bestimmte Gäste, weiter zur Verfügung stehen. Mit der Zeit fand er ein wenig gefallen an den vielen Frauen, die nur seinetwegen kamen. Sie liebten seinen muskulösen Körper und fanden die Tribals, die seine Arme verzierten, erotisch. Was er nicht ganz verstand. Was aber jeder Einzelnen gefiel, war das Tattoo unterhalb seines Nabels. Zwei Schusswaffen, jeweils rechts und links. Sie zeigten direkt auf sein bestes Stück. Dazwischen die Aufschrift, life sucks. Es war beinahe so, als würde er mit diesem Tattoo die Frauen zwingen, ihm seinen Schwanz zu lutschen.

In gewisser Weise war der Sex seine einzige Möglichkeit, Dampf abzulassen, wenn er die Wut, über seine Vergangenheit, in seinem Inneren spürte. Eine Wut, die er seit bald zwei Jahren zu bändigen versuchte. Denn er hatte damals die zwei wichtigsten Menschen in seinem Leben, bei einem Autounfall, verloren; seine Mutter und seinen Vater. Seine Schwester, die ebenfalls bei diesem Unfall im Auto saß, lebte seitdem in einem Pflegeheim. Sie war der Grund, warum er das Angebot angenommen hatte, im Herrenhaus zu arbeiten. Denn für ihre Pflege brauchte er viel Geld.

Außerhalb dieses Hauses gab es allerdings Menschen, die vom Job als Dominus und den Leuten, die hier arbeiteten, angewidert waren. Sie waren es auch, die Sergio, dem Besitzer des Herrenhauses, das Leben nicht leicht machten. Anzeigen flatterten hier praktisch wöchentlich hinein. Aber auch Proteste gab es häufig und dienten nicht gerade als Einladung für neue Kunden.

Diese Menschen verstanden nicht, dass dieser Job so viel mehr als nur Sex, Schläge und Unterwerfung war, denn es handelte sich dabei nicht nur, um das Kopulieren zweiter Körper, sondern auch um eine Seite, von der er selbst zuvor nichts geahnt hatte; Psychologie.

Oft kamen Frauen und Männer in das Herrenhaus, die sich einsam fühlten. Die es vermissten, in den Arm genommen zu werden. Die manchmal einfach nur kuscheln und festgehalten werden wollten. Was Ihnen fehlte, waren zwischenmenschliche Bedürfnisse und hier bei ihm bekamen sie diese.

Natürlich waren die Frauen, mit denen Marco seinen Spaß hatte, nicht wirklich seine Sklavinnen. Dafür waren die Voraussetzungen einer solchen Beziehung nicht gegeben, schließlich bezahlten sie ihn. Die Frauen, die hier herkamen, wollten für einige Stunden auf andere Gedanken kommen und ihr Sexleben ausleben, weil sie es vielleicht nicht mit ihrem eigenen Partner konnten oder wollten.

»Du siehst müde aus.«

»Wirklich? Dass dir sowas auffällt Sergio, wo du doch eigentlich nur Augen für deine Frau hast.«

Zum Glück hatte Marco schnelle Reflexe und fing den Bagel auf, bevor er mit seinem Gesicht kollidierte. Lachend biss er in das weiche Gebäck hinein. Es erinnerte ihn ein wenig an früher, wenn er mit seinen Eltern und seiner Schwester am Frühstückstisch gesessen hatte.

»Denk an den Termin morgen. Ab jetzt liegt es in deiner Verantwortung.«

Ihm gefiel es nicht, dass er ausgerechnet an dem Tag, an dem er seine Schwester besuchen wollte, ein Vorstellungsgespräch führen musste. Aus Erfahrung wusste er, dass er an diesem Tag besonders schlechte Laune hatte. Nicht wegen Carla, seiner Schwester, sondern wegen des Umstands, der sie in das Pflegeheim gebracht hatte. Jedes Mal, wenn er sie besuchte, überwältigten ihn die Gefühle, die Wut und die Machtlosigkeit. Er wurde an jedem dieser Besuchstage daran erinnerte, was er verloren hatte, und das nur, weil jemand im Straßenverkehr nicht aufgepasst hatte. Niemand fühlte sich verantwortlich für den Unfall. Die Polizei ermittelte zwar, schien jedoch keinen Anhaltspunkt zu haben, wer der Täter war. Was ihn dazu veranlasste, immer wieder bei der Polizei nachzufragen. Marco hatte Angst, dass sie vergaßen, weiter Fragen zu stellen und jedem Hinweis zu folgen.

»Der Termin morgen«, sagte Marco. Es fühlte sich nicht richtig an, denn normalerweise hatte er sich immer, wenn er Carla besuchte, den Tag freigehalten.

»Ich weiß, das wir etwas anderes vereinbart hatten, aber ich konnte das Gespräch auf keinen anderen Tag verlegen. Es wird eine Ausnahme bleiben. Das garantiere ich dir.«

»Das wird es, denn zum Glück, werde ich ab jetzt, die Termine vereinbaren.«

»Solange der Laden läuft, ist mir alles recht.«

Sergios Fußstapfen waren groß, aber Marco wusste, dass er es schaffen würde. Schließlich hatte er das letzte Jahr viel Zeit mit ihm im Büro verbracht, um die Buchführung und alles andere zu lernen, was in diesem Geschäft wichtig war.

»Du weißt, dass das Herrenhaus, ohne dich, nicht dasselbe wäre, und dennoch will ich, dass du neue Wege gehst. Wenn du diese Domina einstellst, wird es eine Möglichkeit geben, sie in einem Raum unterzubringen. Ich hab dabei an einen der unteren ungenutzten Räume gedacht. Wenn es sich herumspricht, dass jetzt auch eine Domina ihre Dienste anbietet im Herrenhaus, werden sich vielleicht noch andere Frauen aus dieser Branche melden. Und wer weiß, vielleicht ist der Andrang so groß, dass wir ein weiteres Haus eröffnen können.«

Sergio hatte nicht ganz unrecht. Dennoch wollte Marco eine weitere Bestätigung von ihm hören. »Bist du dir sicher? Eine Domina? Unter all den Männern hier?«

»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.«

»Und wie soll ich herausfinden, wie gut sie in ihrem Job ist?«

»Meinst du das jetzt ernst? Du solltest anfangen, dir ernsthaft Gedanken zu machen. Wenn du diesen Laden eigenständig führen willst, musst du viel mehr als nur ein Dominus sein. Frag Viola. Ohne ihre Hilfe hätte ich manches Projekt nicht stemmen können.«

Wenn er den Laden in seinem Stil führen wollte, musste er noch vieles lernen und Sergio vertrauen. Er machte diesen Job schon viele Jahre und wusste genau, was gut ankam.

»Du hast recht. Ich werde Viola fragen. Sie wird mir sicherlich mit Rat und Tat zur Seite stehen.« Marco konnte sich diesen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen. Wenn es um Viola ging, war mit Sergio nicht zu spaßen. Seine Frau war die Liebe seines Lebens und der Grund, warum er die Leitung des Herrenhauses an ihn abgegeben hatte.

»So war das nicht gemeint.«

»Dennoch werde ich sie wohl fragen dürfen, wenn der Computer nicht so will, wie ich.«

»Nein, das, mein Lieber, gehört ab jetzt auch zu deinem Aufgabenbereich«, hörte er ihn noch sagen, als er den Raum verließ.

Schmunzelnd lief Marco in sein Büro, welches ihm ab jetzt gehörte, und machte sich Gedanken über seine nächsten Schritte. Da Sergio und Viola bald ausziehen würden, standen ihm die Räume im abgetrennten Trakt bald als Wohnung zur Verfügung. Er hatte nicht mehr viel Zeit, um neue Möbel zu organisieren. Die wenigen Habseligkeiten, die er besaß, musste er nur von seinem jetzigen Zimmer in sein neues Schlafzimmer tragen. Es war von Vorteil, dass er hier wohnte, was nicht jeder Angestellte tat. Somit sparte er sich weite Fahrtwege und die Miete war nur sehr gering. Außerdem war er für Sessions immer greifbar und Marco lehnte selten ab, wenn er um Hilfe gebeten wurde. Schließlich stand das Geld für ihn, das er dabei verdiente, im Vordergrund.

Abgesehen davon musste Marco es schaffen, in kürzester Zeit, die Organisation des Herrenhauses unter seine Kontrolle zu bekommen, damit Sergio sah, wie ernst es ihm war.

Die Chance, die er ihm gab, würde er so schnell kein weiteres Mal bekommen. Zudem erhöhte sich sein Lohn, was ihm ganz recht war, denn dadurch waren die Kosten für den Pflegeplatz seiner Schwester leichter finanzierbar. Da er Carla keinen Umzug in ein günstigeres Pflegeheim zumuten wollte, musste er alles dafür tun, damit sie dort bleiben konnte. Auch wenn das hieß, noch mehr zu arbeiten und sie vielleicht weniger zu sehen. Manchmal wünschte er sich, dass wenigstens seine Mutter diesen schrecklichen Tag überlebt hätte oder er selbst wäre an Stelle seiner Schwester mit ihren Eltern im Auto gefahren. Er konnte mit seinen Gedanken nichts ändern, der Tag und das damit verbundene Schicksal waren geschehen.

Es verbitterte ihn, dass seiner Schwester dieser Unfall passieren musste. Ausgerechnet derjenigen, die die meisten Träume von ihnen beiden hatte. Job. Kinder. Eine eigene Familie. Doch das, würde ihr verwehrt bleiben; vielleicht für immer. Marco wollte ihr am liebsten all diese Träume sofort erfüllen. Doch er konnte ihr das Leben nur so angenehm wie möglich machen, indem er ihr den Platz im Pflegeheim finanzierte. Er selbst könnte sie niemals so gut pflegen, da ihm das Wissen dafür fehlte. Vielleicht war es, aber auch seine Angst vor dem Umgang mit einem Menschen, der in seiner Erinnerung ein anderer war, als er es jetzt ist.

Schwer ausatmend schob er einen Stapel Papiere von rechts nach links. Was im Grunde nur widerspiegelte, wie hilflos er sich fühlte. Er konnte nichts an der Situation ändern und das frustrierte ihn am meisten. Um auf andere Gedanken zu kommen, überlegte er, welche Vorbereitungen er für das Vorstellungsgespräch für die zukünftige Domina treffen sollte. War es wichtig zu wissen, welche Praktiken sie im SM oder BDSM Bereich anwendete? Und wenn er sie testen wollte, musste er dann vielleicht vor ihr knien? Etwas, das er noch nie getan hatte, da er den dominanten Part spielte; zumindest hier im Herrenhaus. Privat gefiel ihm nicht alles, was er mit den Damen hier auf sexueller Ebene anstellte. Er mochte es manchmal ruhiger und manchmal etwas härter. Und dennoch, war es nicht mit dem Sex im Herrenhaus zu vergleichen.

Die meisten Beziehungen, die er gehabt hatte, hielten nicht lange. Meist beendeten die Frauen diese, wenn sie hörten, welchem Job er nachging oder wenn sie erfuhren, dass er sich um seine im Wachkoma liegende Schwester kümmerte. Sie hatten alle kein Mitgefühl. Keiner von ihnen wollte Zeit in einen Menschen investieren, der nur arbeitete, um das Leben seiner Schwester so angenehm wie möglich zu gestalten. Die meisten Frauen in seinem Alter wollten feiern, ausgehen oder sich ausführen lassen. Dafür hatte er im Moment weder den Kopf noch die Zeit, weswegen er auf Dates verzichtete.

Kurz nachdem er erneut die Stapel auf seinem Tisch hin und her geschoben hatte, kam Sergio ins Büro. Er erklärte ihm erneut die Buchhaltung sowie den Umgang mit dem Personal und den Kundinnen.

»Als ob ich nicht wüsste, wie ich mit den Damen umzugehen hätte. Bei mir sind sie alle in den besten Händen. Oder hatte sich eine bei dir beschwert?«

Marco war davon überzeugt, ein guter Liebhaber zu sein. Und zuhören konnte er ebenfalls. Dank seiner Schwester, die ihm alles über Frauen und ihren Problemen erzählte, hatte er Übung darin, Aufmerksamkeit zu zeigen. Früher, vor dem Unfall, saß er oft stundenlang in ihrem Zimmer und lauschte ihren Worten, wenn sie wieder von irgendeinem Brad, George oder Andy erzählte. Jetzt lag sie reglos in diesem großen Bett, schaute ihn an und nahm ihn doch nicht wahr.

Nachdem er mit Sergio immer und immer wieder das Programm der Buchführung durchgegangen war, fühlte er sich erschöpft. Es waren anstrengende Stunden gewesen und es erschien ihm, als wollte dieser Arbeitstag nicht enden. Viola hatte das Mittagsmenü ins Büro gebracht und ihnen beim Essen ein wenig Gesellschaft geleistet. Dabei wurde Marco erneut Zeuge ihrer Verliebtheit. Er konnte nichts anderes tun, als sie zu beobachten und zu beneiden, während er sein Essen zu sich nahm. Was sie beide hatten, war faszinierend, denn sie lächelten sich an und verstanden einander ohne Worte. Eine Beziehung, wie ihre, würde ihm verwehrt bleiben. Dafür trug er zu viel Ballast mit sich herum und diesen wollte er keiner Frau auferlegen.

Seufzend widmete er sich den Unterlagen, die ihm Sergio gegeben hatte. Zahlen, Aufträge und Organisationen der letzten zwei Jahre. Sein Kopf konnte sich kaum noch eine der vielen Informationen merken, weshalb er immer wieder die Augen schloss und versuchte, sich erneut zu konzentrieren.

»Wir sollten Schluss für heute machen. Lass uns morgen nach dem Termin reden.«

»Gute Idee. Ich werde gleich mit Franco auf das Straßenfest gehen. Ein wenig entspannen.«

»Bist du dir sicher? Du weißt, was das letzte Mal passiert ist.«

Daran konnte er sich noch gut erinnern, denn er hatte ein blaues Auge davon getragen. »Ich werde mich aus allem heraushalten. Versprochen.«

Die Ablenkung würde ihm guttun, da er morgen wieder zu seiner Schwester fahren wollte. Dieser Weg, egal wie oft er ihn nun gegangen war, war jedes Mal aufs Neue der schwierigste seines Lebens. Zu sehen, wie sie in diesem Bett lag. Zu wissen, dass sie nie mehr lachen würde, nie mehr ein normales Gespräch mit ihm führen würde, machte ihn nicht nur traurig; es zerfraß ihn innerlich. Er atmete tief ein, versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie aufgewühlt sein Innerstes in diesem Augenblick war, und lief die Stufen hinab.

Franco wartete bereits vor dem Eingang zum Grundstück im Wagen. Mit seinem roten Flitzer würden sie auffallen. Allerdings glaubte Marco, dass es die Aufmerksamkeit war, die Franco brauchte, um seinem Ego Zunder zu geben. Egal wo sie waren, er war immer der Lauteste, der Auffälligste und derjenige, der mit Frauen ungeniert flirtete. Wohingegen Marco es genoss, diesem Schauspiel zuzusehen. Meistens jedenfalls. Manchmal nervte ihn dieses Gehabe auch. Heute jedoch wollte er auf andere Gedanken kommen. Sollten doch die Leute wissen, dass zwei Doms des Herrenhauses Neapels Straßen an diesem Abend unsicher machten.

»Lass uns den Wagen hier parken, dann haben wir es nicht weit zu den ersten Ständen. Ich habe nämlich einen Bärenhunger.«

»Kannst du eigentlich auch mal an etwas anderes denken, als an Essen?«, fragte Marco mit gespielt entsetztem Gesichtsausdruck.

»Tue ich doch. Jeden Tag. Ich denke an Frauen, Sex und Frauen. Vergiss doch einmal deine Sorgen und entspann dich ein wenig.« Franco grinste dreckig und ließ dabei seine Hüften kreisen, nachdem er ausgestiegen war.

Er hatte recht. Marco sollte heute abschalten und an nichts denken, außer daran ein wenig Spaß zu haben. Für diese kurze Zeit wollte er weder an die anstrengenden Sessions, noch an seine Schwester oder daran, dass er bald allein für das Herrenhaus verantwortlich war, denken. Es war klar, dass er nicht allein die Verantwortung trug, Sergio stand ihm immer zur Seite und das würde hoffentlich noch eine Weile so bleiben. Sein Chef wollte sich aus dem Tagesgeschäft zurückziehen und das Leben mit Viola und ihrem gemeinsamen Kind genießen.

Das Festival war in vollem Gange. Überall roch es nach Essen und süßen Getränken. Er sah in fröhliche und lachende Gesichter, die in ihm den Wunsch auslösten, ebenfalls unbeschwert über die Pflaster Neapels zu laufen. Er wollte auch lachen und nur an Dinge denken, die ihn glücklich machten. Doch ausgerechnet heute bekam er den Unfall und die damit verbundenen Folgen nicht aus dem Kopf, was sehr wahrscheinlich daran lag, dass sich das Ereignis bald zum zweiten Mal jährte.

»Marco, nun komm schon. Da vorne gibt es Brathähnchen und ich muss mindestens eins essen.«

Warum war er nochmal mit Franco hier hergekommen? Ach ja ... er war der Einzige, zu dem er engeren Kontakt hatte. Der Einzige, der ihm seine Freundschaft im Herrenhaus angeboten hatte. Vielleicht sollte er diesen Abend nutzen und ihm offiziell sagen, dass er ab jetzt das Herrenhaus leitete. Zugegebenermaßen mit ein wenig Hilfe, bis er es alleine schaffen würde, aber er würde ihm ab jetzt sagen, wo es lang ging, und das würde bei Franco nicht einfach werden, da sie Freunde waren.

»Brathähnchen ist eine gute Idee«, sagte er und schubste ihn kameradschaftlich. »Wir, also Sergio und ich, haben uns lange über die Zukunft des Herrenhauses unterhalten und sind zu dem Schluss gekommen, dass es das Sinnvollste wäre, wenn ich ab jetzt das Herrenhaus leite. Er wird zwar der Besitzer bleiben, will sich aber mehr um Viola und die Kleine kümmern.«

»Dann hat er sich den besten Mann ausgesucht. Glückwunsch Chef«, sagte Franco und zwinkert ihm zu.

»Du hältst es für eine gute Idee?«

»Natürlich. Keiner von uns kann so gut mit Zahlen umgehen wie du. Ich freue mich wirklich für dich, das hast du verdient. Ein wenig Glück wird dir guttun, da bin ich mir sicher. Außerdem musst du dann nicht mehr deinen Körper verkaufen.«

»Eigentlich hatte ich vor, wenigstens meine Stammgäste zu behalten, außer du wärst bereit, sie alle zu übernehmen.«

»Ich habe viel Ausdauer, aber selbst das wäre zu viel für mich«, antwortete er grinsend.

An der Theke bestellte Marco zwei Hähnchen. Die Dame zwinkerte ihm zu. Er kramte Geld aus seiner Jeans, legte es auf den Tresen und sagte: »Stimmt so.« Heute war ihm nicht nach flirten.

Mit den Tellern in der Hand suchten sie sich einen Platz auf einem der Holztische. Auch hier streiften sie die Blicke der Damen. Die eine oder andere war ihm als Kundin bekannt. Einige winkten unauffällig, andere zwinkerten. Doch da er und Franco diskret waren, reagierten sie nicht auf diese Avancen. Niemals würde er eine Frau ansprechen, die bei ihm war. Schließlich konnte es gut möglich sein, dass sie verheiratet war oder einen Freund hatte und dieser nichts von ihren Ausflügen ins Herrenhaus wusste.

»Es ist immer dasselbe«, sagte Franco abwertend. »Wenn uns die Damen, die unser Etablissement besucht haben, auf der Straße sehen, sind wir nichts weiter als ein Sexobjekt für sie.«

»Wenn sie uns nicht so sehen würden, dann hätten wir keinen Job.«

»Dennoch ist es immer wieder erniedrigend, sogar außerhalb des Hauses nur auf unsere Fähigkeiten reduziert zu werden.«

»Und dennoch machen wir unseren Job. Schließlich sollen Frauen bei uns glücklich werden, wenn sie schon nicht von ihren Männern bekommen, was sie brauchen.«

»Stell dir nur vor, wie viele Frauen in diesem schönen Neapel unbefriedigt wären, wenn wir es ihnen nicht besorgen würden«, sagte Franco in einem lauten Ton. Er wusste genau, dass sowohl Männer als auch Frauen an diesen Tischen die beiden Doms kannten. Man erkannte es an ihrem verachtenden Blicken.

Sie waren es aber nicht, die Franco aufgeregt hatten. Sondern die Frauen, die sie mit ihren Augen auszogen und am liebsten sofort vor allen Leuten gefickt werden wollten, das waren die Schlimmsten von ihnen. Sie ließen sich von den Männern des Herrenhauses bumsen, redeten aber widerwärtig über das, was dort stattfand.

Marco verstand, warum Franco seinen Frust herauslassen musste, doch es änderte nichts an der Meinung mancher Menschen. Sie und jeder andere Dom waren Abschaum für die meisten Leute in dieser Stadt.

»Lass uns doch einfach essen und dann noch ein wenig umherlaufen«, bat er ihn leise. Er hatte Sergio versprochen nicht aufzufallen und sie standen kurz vorm Scheitern.

 

* * *

 

Überall standen Menschen in kleinen Gruppen und unterhielten sich angeregt, schienen fröhlich und ausgelassen zu sein. Dennoch spürte Sarah dieses seltsame Gefühl in ihrem Bauch, weshalb sie sich immerzu umdrehte. Diese Angst von Vito verfolgt und gefunden zu werden war ihr ständiger Begleiter und würde nicht verschwinden, egal wie sehr sie sich es wünschte. Selbst nach all diesen Monaten konnte sie es nicht abschütteln.

Jeder, der ihr entgegenkam, musste flüchtig in Augenschein genommen werden. Bei jedem Mann fragte sie sich, ob sie ihn kannte. Jeder von ihnen könnte von Vito bezahlt worden sein, um sie zu beobachten und im richtigen Moment zu kidnappen, um sie zurück zu ihm zu bringen. Bisher kam ihr keins der Gesichter aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit, bekannt vor. Eine Vergangenheit, die sie hinter sich lassen wollte. Doch die Bilder in ihrem Kopf und die stetige Angst im Nacken ließen dies nicht zu. Selbst jetzt, nach vielen Monaten, in Freiheit, sah sie in jedem einen potenziellen Auftragsmörder. Sie konnte es nicht abstellen. Die Angst hatte sich wie Säure durch ihren Körper gefressen, bis sie ein fester Bestandteil von ihr geworden war.

Es duftete nach Karamell und der Geruch von gebratenem Hühnchen stieg ihr in die Nase, woraufhin sich ihr Magen mit einem lauten Knurren meldete. Vito verbot es ihr, sich satt zu essen. Sie bekam gerade genug, um nicht zu verhungern, denn er wollte keine Frau an seiner Seite, die Speck auf den Hüften hatte. Ihm würde es nicht gefallen, wenn er jetzt sehen konnte, mit welchem Genuss und wie viel sie aß. Ihre innere Rebellin feierte bei dem Gedanken, mehr Kilos auf den Hüften zu haben.

Etwas abseits tanzten Leute zu den Klängen rockiger Musik. Sie bewunderte die Ausgelassenheit. Diese unbeschwerte Art war Sarah lange verwehrt geblieben. Aber jetzt hatte sie endlich wieder die Freiheit, zu tun und zu lassen, was sie wollte. Niemand war da, um ihr das zu verwehren.

Sarah konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal alleine über ein Stadtfest gelaufen war. Bei Vito hätte sie das nur mit einem Aufpasser gedurft und dabei spielte es keine Rolle, ob er selbst oder einer seiner Lakaien sie begleitete. Dieses Gefühl der Freiheit fühlte sich großartig an. Niemand sagte ihr, sie solle brav sein und sich am Riemen reißen. Niemand verbot ihr den Kauf von Süßigkeiten oder anderem Fast Food. Niemand beobachtete jeden ihrer Schritte und auch Blicke, damit diese ja nicht zu anderen Männern wanderten.

Wie hatte sie es nur zulassen können, dass ein Mann wie Vito so eine lange Zeit solch eine Macht über sie hatte? Damals hatte sie sein Verhalten als richtig empfunden. Er war ihr Beschützer. Ihr Dom und Freund. Er hatte für sie gesorgt, wie es kein anderer Mann jemals für sie getan hatte. Er hatte darauf geachtet, dass sie gesund war und nicht zu viel aß, die schönsten Kleider trug. Mit ihm hatte sie den besten Sex und ihren ersten Orgasmus. Damals war er ihr Traummann gewesen.

Sarah lachte in sich hinein. Sie war naiv gewesen, zu glauben, dass Vito bis an ihr Lebensende an ihrer Seite sein würde. Dieser Mistkerl hatte sich nie an die Regeln gehalten. Er hatte ihr mehr zugemutet, als gut für sie war. Sogar an andere Männer hatte er sie weitergereicht. Damals glaubte sie, dass sie es verdient hatte, wie ein wertloses Objekt behandelt zu werden, damit sie lernte zu gehorchen. Tag und Nacht musste sie ihm zur Verfügung stehen. Sie musste tun, was er verlangte. Wenn nicht ... Sie biss sich auf die Lippe. Es war, als könnte sie jetzt noch die Schläge auf ihrem Rücken spüren. Er hatte ihr einen Lebensstil auferlegt, dem sie unter normalen Umständen niemals zugesagt hätte. Hätte diese Razzia nicht stattgefunden, dann wäre sie immer noch seinen Neigungen ausgeliefert oder sogar schon tot. Dieser Gedanke ließ sie erzittern.

Ein süßer Duft holte Sarah zurück in die Realität. Es war Zeit, diese Veranstaltung zu genießen und nicht in diesen traumatischen Erinnerungen zu versinken, an denen sie nichts ändern konnte. An einem Popcorn-Stand blieb sie stehen. Mit dem Finger zeigte sie auf die Tüte, die sie haben wollte. Sarah legte das Geld auf den Tresen und steckte ihre Beute in die Tasche. Die würde sie später vor dem Fernseher essen.

Sarah lief an den Ständen mit gebrannten Mandeln und Zuckerwatte vorbei. An einem der Stände mit warmen Essen ließ sie sich ein halbes Brathähnchen schmecken. Noch immer fühlte es sich verboten an, einfach zu essen, worauf sie Lust hatte, ohne Angst vor Konsequenzen. Das wenige Geld, das sie hatte, war fast aufgebraucht. Doch heute wollte sie nicht daran denken, denn sie war sich sicher, dass sie den Job im Herrenhaus bekommen würde. Auch wenn sie nicht wusste, ob sie dieser Arbeit gewachsen war, da sie keinerlei Erfahrung als Domina hatte. Sie hatte noch nie auf der anderen Seite gestanden und einen Menschen unterworfen. Hatte noch nie die Hand gegen einen anderen Menschen erhoben. Wie sollte sie sich überwinden und jemand anderem mutwillig Schmerzen zufügen? Sie verdrängte die Vorstellung, in High Heels und schwarzer Kleidung vor einem Mann zu stehen und ihn zu schlagen. Ihm Befehle zu geben und Sätze um die Ohren zu hauen, die sie nie mehr hören wollte. Auch nicht aus ihrem eigenen Mund. Doch um an ihr Ziel zu kommen, war es nötig, Domina zu werden, um ihre Rache wahr werden zu lassen, und mit ein bisschen Glück würde sie sogar einem ihrer Peiniger gegenüberstehen. Dann würde sie nichts und niemand aufhalten können.

Sarah straffte ihre Schultern und lief weiter, nachdem sie ihren benutzen Teller, in ein dafür vorgesehenes Regal stellte. Etwas abseits des Festivals stand eine Bühne, auf der ein Sänger sein Bestes gab. Er traf nicht Sarahs Geschmack, dennoch gesellte sie sich zu den vielen Menschen, die mitsangen oder tanzten und ließ die Klänge auf sich wirken. Als er ein romantisches Lied anschlug und sich Pärchen bildeten, wendete sie sich ab und entschied, sich noch ein Getränk zu besorgen, bevor sie wieder zu ihrem Hotel zurücklief. Eigentlich hatte es diesen Namen nicht verdient. Ihr Zimmer war mehr eine Abstellkammer, als alles andere. Aber es genügte. Sie konnte dort schlafen, ohne Angst zu haben, dass sie jemand aus dem Bett zerrte, um sie auszupeitschen.

Da es kühl war, suchte Sarah einen der Stände auf, an dem es etwas Warmes zu trinken gab. Wie ein kleines Kind überlegte sie hin und her, ob sie lieber einen Kakao oder einen Tee trinken wollte. Früher hätte sie nichts davon bekommen. Heute jedoch stand ihr alles offen und sie alleine konnte entscheiden, was sie trank. Umso schwieriger fiel ihr die Entscheidung.

»Einen grünen Tee. Bitte.«

»Kommt sofort.«

Sarah legte das Geld passend auf den Tresen und wartete. Hinter ihr sprachen Leute miteinander über ihre Pläne für diesen Abend. Sie erinnerte sich an die Zeit, in der sie ebenso unbeschwert gewesen war. In der sie einfach nur ihr Leben genießen konnte. Dank ihres Jobs im Krankenhaus konnte sie sich früher hin und wieder etwas leisten. Nachdem sie jedoch Vito, ihren Dom, kennengelernt hatte, musste sie auf absolut nichts verzichten. Er erfüllte ihr jeden Wunsch. Doch dafür musste sie Dinge über sich ergehen lassen. Dinge, von denen sie jetzt noch nachts träumte. Träume, aus denen sie schweißgebadet aufwachte.

»Ihr Tee, Signora.«

»Grazie.«

Vorsichtig nahm sie den Becher in die Hand und drehte sich um. Dabei war sie viel zu schnell, wodurch Sarah direkt gegen einen Mann stieß. Ein brennender Schmerz breitete sich auf ihrer Brust aus. Durch den Zusammenstoß hatte sie sich den heißen Tee über ihre Bluse geschüttet. Auch sein Kakao hatte den Weg auf ihre Bluse gefunden. So ein Mist. Jetzt hatte sie beides, Kakao und Tee. Nur nicht in ihrem Bauch.

»Haben Sie keine Augen im Kopf?«, blaffte sie den Kerl an und versuchte dabei ihre heiße Bluse, von ihrer Haut fernzuhalten.

»Signora, entschuldigen Sie, aber Sie haben mich angerempelt. Sie sollten ihre Augen benutzen oder eine Brille tragen.«

»Unverschämt sind Sie auch noch?«

»Nein. Es ist lediglich eine Tatsache, dass Sie weder aufpassen noch schauen, wohin sie laufen, und zudem auch noch sehr ungeschickt sind.«

So ein Idiot.

Nachdem das Brennen allmählich nachgelassen hatte, hob sie den Kopf und sah ihn richtig an. Er hatte blaue Augen, die sie an einen tiefen See erinnerten. Doch da war noch etwas in ihnen; Traurigkeit. Instinktiv wollte sie sich entschuldigen. Nein, sie würde sich keinem Mann mehr beugen. Auf diesen Typ Mann würde sie nicht wieder hereinfallen. Nie wieder.

»Die Reinigung bezahlen Sie«, sagte Sarah, ohne ihren Blick von ihm abzuwenden. Dabei versuchte sie Autorität und Dominanz auszustrahlen, als wäre sie bereits die Domina, die sie sein wollte. Es war eine kleine praktische Übung für sie.

»Wissen Sie was, das übernehmen Sie selber, dann passen Sie nächstes Mal besser auf.«

Wie bitte? Hatte er sie eben gemaßregelt?

»Ich glaube, Sie spinnen wohl.« Ihre Worte beeindruckten ihn nicht, denn der Typ drehte sich einfach um und lief davon. Was in ihren Augen eine bodenlose Frechheit war.

»Hallo!«, rief sie ihm hinterher, doch er reagierte nicht. Nein, er war kein Idiot, sondern ein Arschloch.

Trotzig wie ein kleines Kind stampfte sie auf und machte sich fluchend auf den Weg zu ihrem Hotel. Sarah verfluchte alles und jeden. Die Männer. Das Festival. Diesen Idioten, der ihr mit ihrem Tee und seinem Kakao ihre Bluse ruiniert hatte, obwohl es im Grunde ihre Schuld gewesen war. Doch am meisten ärgerte sie, dass ihr Versuch, ihre nicht vorhandene dominante Seite zum Vorschein zu bringen, kläglich gescheitert war. Zum Glück hatte sie in ihrem Zimmerchen ein Waschbecken. So konnte sie wenigstens versuchen, die Bluse zu retten. Sie brauchte diese für das morgige Vorstellungsgespräch, da sie keine andere besaß. Da sie den Job unbedingt wollte, konnte sie nicht in ihren Schlabberklamotten dort auftauchen.

Nachdem sie ihre Bluse eingeweicht hatte und inständig gehofft hatte, dass die Flecken rausgingen, holte sie das Popcorn aus ihrer Tasche. Sarah genoss die Süße in ihrem Mund, ohne an Vergangenes zu denken. Sie dachte auch nicht an morgen oder an das, was heute auf dem Festival passiert war, sondern daran wie schön es trotz des Zwischenfalls heute war und wie sehr sie es genossen hatte, unter Menschen gewesen zu sein. Unbeschwert war sie über den sandigen Weg gelaufen und konnte einfach Sarah sein. Vielleicht auch ein wenig, die Sarah, die sie tief in ihrem Herzen immer sein wollte.

 

 

 

 

Zwei

Die Frau vom Festival, der er seinen Kakao über die Bluse geschüttet hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Ihre Augen waren die einer Kämpferin, das hatte er sofort erkannt. Sie hatte seiner Meinung nach einen Dämpfer gebraucht, auch wenn Marco es jetzt bereute, ihr nicht seine Nummer gegeben zu haben. Denn dann hätte sie sich mit ein wenig Glück bei ihm gemeldet. Natürlich nur, damit er die Reinigung ihrer Bluse veranlassen konnte. Ihre Haut war blass und ihre Augen sprühten Funken bei jedem Wort. Allerdings war ihm aufgefallen, dass ihre Haarfarbe nicht zu ihr passen wollte und wenn er nach ihren Augenbrauen ging, musste sie dunkelhaarig sein. Was ihr, seiner Meinung nach, besser stehen würde.

Seine euphorische Stimmung wurde getrübt, als er in sein Zimmer kam. Es fühlte sich kühl und einsam an. Leblos. Es fehlte ihm die Liebe und Wärme, die er mit einer Partnerschaft verband. Keine Frau sprang ihm freudestrahlend in die Arme, weil sie sich freute, dass er wieder da war.

Der Einzige der ihn regelmäßig besuchte, war Franco. Sie hatten fast zeitgleich im Herrenhaus angefangen, aber mit ihm konnte er nicht über alles reden. Lediglich Sergio wusste von dieser unbändigen Wut, die sein steter Begleiter war. Vor allen anderen verbarg er seine Gefühle. Manchmal fühlte Marco diese Wut, wenn er Sergio und Viola in ihrer Liebesblase zusammen sah und dafür schämte er sich zutiefst.

Er vermisste eine Frau an seiner Seite. Er vermisste diese intensive Liebe, bei der man bereit war, alles zu geben und alles zu nehmen. Und er vermisste diesen erschöpfenden Sex, bei dem er etwas fühlte. Bei dem er schreien wollte, wie sehr er sie liebte. Hier, im Herrenhaus, war er abgestumpft. Der Sex mit seinen Kundinnen war nicht mit Lust verbunden, sondern mit reinem Pflichtgefühl und Verantwortung seiner Schwester gegenüber. Ein Orgasmus blieb ihm verwehrt, selbst wenn er verschiedene Frauen fickte. Zwar stöhnte er, aber bei keiner fühlte er Erregung, um zum Abschluss zu kommen. Es war eben sein Job, die Kundinnen glücklich zu machen. Ihre Zufriedenheit stand an erster Stelle. Seine Gefühle und Empfindungen spielten dabei keine Rolle. Aus diesem Grund war er froh darüber, bei der heutigen Veranstaltung nur den Zuschauer spielen zu müssen.

Heute würde er bei dem Event auf einem erhöhten Podest sitzen, von dem er aus alle beobachten konnte. Dort würde er auf seinem bequemen ledernen Sessel sitzen und aufpassen, dass keiner der Anwesenden gegen die Regeln verstoß. Wenn jemand nicht respektierte, dass er bei einer Session unerwünscht war, dann winkte Marco einem der Bodyguards zu und dieser entfernte die Person aus dem Raum oder sogar vom Grundstück. Es gab nur wenige Regeln im Herrenhaus. Wer sie aber wiederholt nicht befolgte, wurde rausgeschmissen und bekam Hausverbot. Dies galt für die Kunden genauso wie für die Angestellten.

Marco duschte gerne ausgiebig und länger als nötig. Er vergaß dabei Zeit, bis das heiße Wasser beinahe unangenehm auf seiner Haut brannte. Heute blieb ihm dies durch das anstehende Event verwehrt, weshalb er bereits nach wenigen Minuten wieder aus der Dusche stieg und seine Lieblingsjeans und ein Hemd, dessen obere Knöpfe er bewusst offenließ, an. Er gab etwas von seinem Aftershave auf seine Hände und verteilte es. Auch wenn er nur ein stiller Zuschauer war, achtete er auf sein Äußeres, denn es war genau das, was der Kunde vom Herrenhaus erwartete. Jeder, der hier herkam, wurde mit Respekt behandelt. Etwas, worauf Sergio großen Wert legte.

In diesem Geschäft war Mundpropaganda die beste Werbung und je besser sie ihren Job machten, desto eher wurde dieses Haus empfohlen. Deshalb musste jeder seinen Teil dazu beitragen, damit das Herrenhaus genug abwarf, weshalb regelmäßig Events stattfanden. Da war es von Vorteil, dass alle hier arbeitenden Männer groß, muskulös und verdammt heiß aussahen.

Marco war beinahe zwei Meter groß, hatte blondes Haar, trainierte fast täglich und trug eine Unmenge an Tattoos auf seiner Haut. Außerdem hatte er ein Piercing, an seinem besten Stück. Etwas, mit dem er schon so manche Kundin um den Verstand gevögelt hatte. Er selbst empfand sich als durchschnittlich, obwohl er wusste, dass er durch sein Erscheinungsbild auffiel. Weshalb er meistens langärmlige Shirts trug, wenn er nicht hier im Haus war und obwohl die Zeit drängte, machte er sich Gedanken über den kommenden Tag. Zuerst das Vorstellungsgespräch, von dem er bis jetzt nicht wusste, wie es ablaufen sollte und dann der Besuch bei seiner Zwillingsschwester. Wobei Zweiteres wesentlich anstrengender für ihn werden würde. Er genoss es, die Zeit, mit seiner zehn Minuten älteren Schwester verbringen zu können, auch wenn jegliche Kommunikation einseitig verlief. Dennoch war er betrübter als zuvor, sobald er sie wieder verließ. Oft erzählte er ihr von seinem Alltag. Er ahnte, dass sie seinen Job kopfschüttelnd belächeln würde. Aber er wusste auch, dass sie dasselbe für ihn tun würde, wenn er anstatt ihrer hier liegen würde. Vielleicht konnte er ihr morgen von dem Vorstellungsgespräch erzählen und von der Frau, auf dessen Bluse sein Kakao gelandet war. Bestimmt würde sie darüber lachen und ihn dafür tadeln, dass er kein Gentleman gewesen war.

Das war er tatsächlich nicht gewesen. Normalerweise wusste er sich zu benehmen, aber der Umstand, dass Franco und er bereits die ganze Zeit von den Leuten angestarrt wurden, machte es ihm nicht leicht cool zu bleiben. Jeder in der Stadt wusste, wer die Doms des Herrenhauses waren, was ein Grund war, weshalb sie gemieden wurden. Weder begrüßte man sie höflich, wenn sie an einem Stand vorbeiliefen, noch kam es jemanden in den Sinn, Smalltalk mit ihnen zu halten. Und dann passiert das mit dem Kakao. Normalerweise wäre er für den Schaden aufgekommen. Aber er war nicht bereit, klein beizugeben. Sie war sicherlich auch nur einer der vielen Menschen, die mit vorgehaltener Hand über ihn und jeden anderen aus dem Herrenhaus getuschelt hatten. Was er allerdings nur kurze Zeit später bereut hatte. Hätte er ihr doch nur seine Nummer gegeben. Er verwarf diesen Gedanken, da er sie nie mehr sehen würde. Er hatte seine Chance vertan. Aber das spielte in diesem Moment keine Rolle, denn er musste hinunter zu den Gästen.

Als er das Foyer betrat, hörte er die Musik, die in dem Raum, in dem das Event stattfand, gespielt wurde. Sie klang nach Sex. Anders konnte er sie nicht beschreiben. Er hatte sie schon so oft gehört, aber heute nervten ihn die tiefen Töne und die laszive Stimme, die verführerisch sang. Überhaupt nervte ihn alles heute und er wusste, woran das lag.

»Hey, hübscher Mann. Bereit für den Abend?«

»Nein«, sagte er, wobei seine Stimme schärfer klang, als er es wollte.

Viola hatte einen Blumenstrauß in der Hand. Ihr Lächeln war offen und ehrlich. Er konnte gut verstehen, warum Sergio sich in sie verliebt hatte. Sie war klug. Einfühlsam. Und hatte immer ein offenes Ohr, egal wann man mit ihr reden wollte. Und sie liebte diesen Dickkopf von Sergio.

Marco spürte ihre Hand auf seinem Arm, als sie näher kam und ihn leise fragte, ob alles in Ordnung wäre.

»Ich weiß es nicht.«

»Ist es wegen morgen? Soll ich dich vielleicht begleiten?«

»Das ist nett gemeint, aber ich hab das Gefühl, ich muss das alleine machen.«

»Ich verstehe, aber mein Angebot steht und das jederzeit. Deine Schwester gehört zur Familie und wir sind füreinander da.«

»Danke. Du bist wundervoll.«

»Nein. Du bist wundervoll. Jeder wünscht sich so einen Bruder, wie du es bist. Carla ist stolz auf dich, auch wenn sie es dir im Augenblick nicht sagen oder zeigen kann.«

»Willst du, dass ich heule?«

»Nein, ich will dich wieder Lächeln sehen. Du hast schon lange nicht mehr gelacht.«

»Es gibt auch nichts zu lachen. Alles woran ich denken kann, ist genügend zu verdienen, damit ich alle Rechnungen bezahlen kann.«

»Ich kann mir nicht annähernd vorstellen, wie schwer das alles für dich sein muss, und das nun seit fast zwei Jahren.«

Das stimmte wohl, denn niemand wusste, wie es in ihm aussah. Marco arbeitete wie ein Tier. Schlief mit Frauen, die er privat niemals angeschaut hätte, weil sie einfach nicht seinem Typ entsprachen. Manchmal erlaubte er den Frauen, ihn anzufassen, wobei er so tat, als würde es ihn erregen. Doch das Gegenteil war der Fall. Er ekelte sich und das immer öfter und dennoch machte er weiter. Für seine Schwester.

Viola zwinkerte ihm zu, bevor sie sich umdrehte und in Richtung Küche ging. Sicherlich überprüfte sie noch einmal die Vorspeisen, die sie immer Horsd’œuvre nannte. Ein Wort, das er selbst kaum aussprechen konnte.

Die Tür zu dem abgedunkelten Raum stand offen. Einige der Gäste waren bereits eingetroffen, unterhielten sich und tranken Sekt. Marco atmete tief ein, straffte seine Schulter und lief zu dem erhobenen Podest, auf dem ein lederner schwarzer Sessel stand. Es war sein Platz für diesen Abend. Von hier aus konnte er alles und jeden beobachten und nachdenken, was er schon den ganzen Tag tat.

Allmählich füllte sich der Raum mit sexhungrigen Besuchern. Er kannte fast ausnahmslos alle. Nur ein oder zwei Gesichter waren ihm unbekannt. Auf die musste er besonders achten. Insgeheim hoffte er, dass er einen der Anwesenden hochkant hinauswerfen konnte. Es juckte ihn in den Fingern, dennoch wusste er, dass er einfach nur sitzen und beobachten würde. Ruhig und nachdenklich würde der Abend an ihm vorbeigehen. So wie es immer der Fall war, wenn er nicht am Geschehen teilnahm. Was diesmal ein Segen und Fluch zugleich war.

Franco teilte ihm mit, dass alle eingetragenen Gäste für diesen Abend eingetroffen waren. Die große schwarze Tür wurde geschlossen und ein Gong ertönte. Das Startzeichen für all die hungrigen Menschen hier. Jetzt durfte jeder mit jedem ficken. Frauen mit Frauen. Männer mit Männern. Keine Tabus, solange ein Nein respektiert wurde.

Es dauerte nicht lange und auf jeder Streckbank, an jedem Andreaskreuz und auf jedem Liebesstuhl wurden Menschen gefesselt, bespielt und gefickt. Überall kopulierende Pärchen. Überall Hände, die suchten, streichelten, befriedigten. Das lustvolle Gestöhne wurde von der Musik übertönt.

Wann war dieses Gefummel endlich vorbei?

Er sehnte sich erneut nach einer heißen Dusche, denn obwohl er nur da saß und beobachtete, fühlte er sich schmutzig. Ein Gefühl, das immer tiefer in ihn sickerte und sich mit ihm verschmolz. Egal, wie sehr er versuchte, es zu verdrängen, er wurde es nicht los.

 

* * *

 

Mit schweißnassen Händen hielt Sarah die DVD fest. Sie wusste, dass es keine gute Idee war, sich einen billigen Porno mit einer Domina anzuschauen, aber irgendwie musste sie ihr Wissen erweitern. Es graute ihr ein wenig davor, sich den Film anzusehen, da sie Angst hatte, dass die Szenen, sie an das erinnerten, was Vito mit ihr gemacht hatte. Allerdings fragte sie sich, ob eine Domina genau so handelte, wie ein Dominus. Sie hoffte, dass sie nicht den schlecht produziertesten Film hatte, den es auf dem Markt gab. Denn das Gesicht des Verkäufers würde sie nie wieder vergessen, als sie die DVD auf den Tresen zum Bezahlen legte. Es schien ihn zu amüsieren. Sicherlich kannte er den Film bereits und schaute Sarah deshalb mit diesem dreckigen Grinsen an.

In Sachen Domina, war sie absolut kein Genie und wenn sie ehrlich war, hatte sie keine Ahnung, worauf sie achten musste oder was sie zu sagen hatte. Dieser Film war vielleicht die einzige Möglichkeit, etwas zu lernen. Denn die Begegnung zwischen einem Sklaven und einer Domina war etwas völlig anderes als zwischen einer Sub und einem Dom. Viele Menschen dachten, dass es dasselbe wäre, doch dem war nicht so. So hatten Dominas in der Regel keinen Sex mit ihrem Sklaven. Das hatte Sarah im Internet gelesen und diese Aussage beruhigte sie ungemein. Auch wenn sie sich rächen wollte, war da immer noch eine Barriere, die sie nicht überschreiten wollte.

Zum Glück stand in ihrem Zimmer ein alter Player. Sie musste die DVD nur einlegen und konnte loslegen. Mit der Fernbedienung in der Hand blieb sie unschlüssig vor dem kleinen Fernseher stehen. Sollte sie diesen Film wirklich anschauen? Und sollte sie sich mental auf Szenen vorbereiten, die sie eigentlich gar nicht sehen wollte? Alleine das Cover versprach eine Abhandlung sehr unglaubwürdiger und in ihren Augen widerwärtiger Sexpraktiken. Doch sie wollte es so. Sie wollte lernen, wie sie mit Männern umzugehen hatte, die auf Schläge und masochistische Spielchen standen. Denn ihnen wollte sie weh tun. Sie sollten spüren, wie es war, wenn eine Peitsche über ihren Rücken geschlagen wurde. Wie es sich anfühlte, wenn sie mehr von ihnen abverlangte, als sie bereit waren zu geben. Dieses Machtspiel musste sie erlernen. In ihren Augen schien es der einzige Weg zu sein. Wenn sie im Herrenhaus arbeitete, konnte sie sich an diesen erbärmlichen Geschöpfen rächen. Inständig hoffte sie, dass einige ihrer Peiniger zu ihr kamen. Was allerdings ein Glücksspiel war. Aber diese Hoffnung, war alles, was sie hatte.

Kurz flackerte die Erinnerung an das, was sie erlebt hatte, auf und sofort spürte sie dieselbe Angst wie damals. Obwohl sie hier in Sicherheit war und nichts zu befürchten hatte, war da dieses Gefühl, als würde sie beobachtet werden, wodurch sie immer wieder nach rechts und links schaute. Sarah überprüfte das Fenster und die Tür, beides war verschlossen. Ihr Atem ging schwer. Um sich zu beruhigen, schloss sie ihre Augen und atmete tief ein und aus. Immer wieder. Sie musste sich in Erinnerung rufen, dass ihr hier nichts passieren konnte, denn noch hatte er sie nicht gefunden. Sonst wäre sie längst wieder bei ihm, in seinem Haus, in seinem Keller.

Na komm schon. Drück auf Play.

Es fiel ihr schwer, die Gedanken auszuschalten und sich auf die kommenden Szenen einzulassen; egal was diese zeigen würden. Eine Melodie wie aus einem Westernfilm erklang. Auf ein langes Intro wurde verzichtet, denn bereits in der nächsten Sekunde erschien eine Lady in Leder gekleidet auf dem Bildschirm. Allem Anschein nach war es doch kein Western, denn die Szenerie spielte sich in einem dunklen Raum ab. An den Wänden hingen Stahlketten, Peitschen und Gerätschaften, die Sarah kannte. Vito hatte auch solche Werkzeuge an den Wänden hängen gehabt. Viele von ihnen hatte sie am eigenen Leib spüren müssen. Sie hatten ihre Zeichen auf ihrem Körper hinterlassen. Zeichen, die noch immer sichtbar waren.

»Geh auf die Knie, du Wurm.«

»Ja Herrin.«

Sarah schluckte schwer. Sie sprach den Satz nach, doch es klang alles andere als herrisch. Welcher Mann würde vor ihr auf die Knie gehen? So wie sie es aussprach, klang es nach einer höflichen Bitte. Sie räusperte sich und versuchte, ihre Stimme tiefer klingen zu lassen.

»Geh auf die Knie, du Wurm.« Das klang schon besser. Sie klatschte die Fernbedienung in ihre Handinnenfläche, als wäre es eine Peitsche.

Es dauerte eine Weile, bis sie den Film fertig angeschaut hatte. Immer wieder spulte sie zurück, um sich bestimmte Szenen erneut anzusehen. Nachdem sie ihre High Heels angezogen hatte, lief sie hin und her in dem kleinen Zimmer und sprach die Sätze nach. Alles musste perfekt sein für ihr Vorhaben. Sarah hatte es sich schwieriger vorgestellt. Hatte geglaubt, dass dieser Film sie triggern würde und sie zurück in ihre Vergangenheit katapultieren würde. Zu Momenten, in denen ihre Angst so groß war, dass sie sich den Tod gewünscht hatte. Doch dem war nicht so. Zwar zuckte sie beinahe bei jedem Schlag einer Peitsche, aber seltsamerweise war es nicht dasselbe. Vielleicht war es aber auch nur, weil zwischen dem Film und ihrem Leben als Sklavin kein Vergleich bestand.

Wahrscheinlich würde ein Psychologe ihr davon abraten und ihr erklären, dass diese Traumabewältigung nicht hilfreich wäre. Doch was verstand ein Mensch davon, der nicht dasselbe erlebt hatte wie sie?

Die Rachegelüste, die sie in ihrem Inneren verspürte, waren stark genug, um sie auf die andere Seite zu ziehen. Sarah würde den Männern genau das geben, was sie verdienten. Demütigung. Schmerz. Viel Schmerz mehr als sie erwarteten. Und dennoch würden sie nicht annähernd das erleben, was Vito ihr angetan hatte. Seine Vorlieben lagen darin, sie auszupeitschen, bis ihr Rücken von blutenden Striemen überzogen war oder sie Stunde, um Stunde gefesselt hängen zu lassen, bis ihre Handgelenke blutenden. Das waren jedoch die einfacheren Strafen, die er ihr angedeihen ließ. Sie hatte Dinge erdulden müssen, an die sie heute lieber nicht mehr denken wollte.

Ihre Gedanken wurden dunkel und zogen sie hinab, wodurch sie wieder das Gefühl hatte, diese verängstigte Frau von vor einem Jahr zu sein. Demonstrativ stellte sie sich breitbeinig hin, schüttelte ihr Haar und stemmte ihre Hände in die Hüfte.

»Nein. Nie mehr.« Gerne hätte sie jetzt laut geschrien, aber es war schon weit nach Mitternacht, weshalb sie sich auf ihr Bett schmiss und ihr Kissen als Dämpfer für ihren Schrei benutze. Es war nicht dasselbe, dennoch fühlte es sich gut an, ein wenig Dampf abzulassen. Als sie so da lag, und das einzige Kissen des Zimmers in den Händen hielt, fiel ihr ihre Bluse ein, die sie zuvor in Wasser eingeweicht hatte. Inständig hoffte sie, dass die Flecken herausgewaschen waren. Sie musste auf die wenige Kleidung, die sie hatte, aufpassen, da sie kein Geld mehr für neue hatte.

Dieser Idiot vom Fest hätte ruhig ein wenig Empathie haben können. Aber genau so waren Männer: frauenfeindliche Kreaturen, die gemein und respektlos waren. Sie hatte es Leid, immer behandelt zu werden, als wäre sie ein Dummerchen. Sarah stand auf und wusch ihre Bluse in dem kleinen Becken. Es war kein Fleck zu sehen auf dem Stoff. Perfekt. Jetzt musste sie nur noch trocken werden bis zu ihrem Gespräch.

Ihr wurde ganz anders, wenn sie daran dachte. Wie würde es wohl ablaufen? Wie bei einem Cast für einen Pornodreh? Würde sie ihr Können als Domina zeigen müssen, indem sie einen Mann unterwarf? Egal, was von ihr verlangt wurde, sie musste da durch, wenn sie ihrem Ziel näher kommen wollte.

Vito hatte ihr so viel genommen. Mehr als er ahnte. Er hatte nicht nur ihren Körper geschändet, sondern jeden Einzelnen ihrer Gedanken vergiftet. Und dieses Gift konnte sie nur auf einem Weg verlieren. Sie musste ihrem Plan folgen, egal wer was sagte. Für sie gab es keinen besseren Weg und sie wollte auch nicht davon überzeugt werden.

Für Sarah war klar, dass es nur diese eine Taktik gab, wenn sie jemals wieder ein normales Leben führen wollte. Denn irgendwann wollte auch sie wieder geliebt werden. Wollte mit einem Menschen, der seinen Platz in ihrem Herzen hatte, alt werden. Sie wusste nur nicht, wie sie einem Mann jemals wieder vertrauen sollte. Sie hoffte, dass ihr Herz heilen konnte, wenn sie die Chance bekam, im Herrenhaus, Vergeltung an Männern nehmen zu können. Das war vielleicht ihre einzige Aussicht auf Erfolg, wieder zu einem Ganzen zu werden, denn mit gebrochenem Herzen zu leben, war kein vollkommenes Leben.

 

 

 

 

Drei

Obwohl die Veranstaltung spät in der Nacht geendet hatte, stand Marco um acht Uhr am Frühstückstisch und unterhielt sich mit Franco. Der den Abend sichtlich genossen hatte, denn er lobte wie immer die vielen Gäste und das Ambiente, das ihn zu Höchstleistungen anspornte. Sergio und Viola saßen mit ihrer kleinen Tochter ebenfalls am Tisch. Zum Glück verstand sie noch nichts von dem, was hier erzählt wurde. Doch allmählich wurde ihm klar, warum Sergio sich aus dem Tagesgeschäft herausziehen und mit seiner kleinen Familie in ein eigenes Haus ziehen wollte.

»Jetzt setzt euch endlich hin.«

Lächelnd schob Marco seinen Stuhl zur Seite und setzte sich, genau wie Sergio es wollte. Manchmal konnte dieser Mann eine Nervensäge sein. Aber er würde die aufreibenden Diskussionen mit ihm vermissen. In den letzten zwei Jahren war er für ihn so etwas, wie eine Vaterfigur geworden. Jemand, zu dem er aufsah. Sergio hatte sich weder von dem damaligen Vorfall, dem Tod eines Angestellten hier auf dem Grundstück, noch von den Menschen, die ihn und seine Arbeit verachteten, davon abbringen lassen, seinen Weg zu gehen. Er tat das, was er wollte. Und er tat es mit einer Leidenschaft, für die Marco ihn bewunderte.

»Hast du dir Gedanken gemacht?«

»Gedanken?«

»Wegen der Domina, die heute zum Vorstellungsgespräch kommt.«

»Ja.« Das hatte er tatsächlich. Gestern Abend, während dem Event, allerdings nur einen kurzen Augenblick. Denn die Frau mit der Bluse wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Ihre Augen waren wie magische Diamanten, die sich immer wieder in seine Gedanken schlichen und ihn an nichts anderes denken ließen. Allerdings war da auch etwas in ihren Augen, das ihm bekannt vorkam. Es war wie ein Wort, das einem auf der Zunge lag und dennoch kam man nicht drauf. So war ihr Blick. Er wollte ihm etwas sagen, aber er verstand nicht, was.

Marco hätte seinen Chef einfach fragen können, wie genau so ein Vorstellungsgespräch mit einer Frau, die sich als Domina bewarb, ablief, aber dann hätte er zugeben müssen, dass er schon bei der ersten Aufgabe, die er bekam, mit Schwierigkeiten konfrontiert war, die er glaubte, nicht lösen zu können.

Unwillkürlich dachte er dabei an sein eigenes Vorstellungsgespräch mit Sergio. Marco hatte durch Zufall von einem Bekannten davon erfahren und nachdem er gehört hatte, wie viel er dort verdienen konnte, war er einfach hingefahren. Aber als er an dem Tor stand, war die Aufregung so groß gewesen, dass er sich nicht getraut hatte, den Knopf der Sprechanlage zu drücken. Er hatte eine Weile herumgestanden, bis ein Mann ihn angesprochen hatte; Sergio. Mit seiner lockeren Art hatte er alle Bedenken fortgewischt. Marco war damals beeindruckt von dem Gebäude und von der wunderschönen Inneneinrichtung, die ihn an Barock erinnerte.

Allerdings war das Gespräch nicht so verlaufen, wie er geglaubt hatte, denn es fand keins statt. Bis dato hatte er noch nie Sex mit einer Frau gehabt, während ein anderer Mann ihm dabei zugesehen hatte. Er hatte Glück, dass die Frau ein Profi gewesen war und seine Nerven ihn nicht im Stich gelassen hatten. Zwar hatte Marco reichlich Ausdauer gehabt, doch was ihm letztlich geholfen hatte, den Job zu bekommen, war die Geschichte des warum. Sergio war sehr daran interessiert gewesen und hatte ihm ab diesem Zeitpunkt immer zur Seite gestanden. Und dabei spielte es keine Rolle, ob es nur ein Gespräch, Geld oder ein einfacher Handschlag gewesen war. Auf Sergio konnte er sich verlassen.

Mit der Zeit wurde es zur Normalität, Frauen zu befriedigen und ihren Ehemännern zu gestatten beim Akt zuzusehen. Das Schwierigste war, seine dominante Seite zu entdecken, denn mehr als die Hälfte der Kundinnen verlangten BDSM-Spielchen, die er erst noch erlernen musste. Da Marco weder Sklave noch Dom war, stand Sergio ihm immer zur Seite. Ihn konnte er zu jeder Zeit fragen, wenn er nicht weiterwusste. Warum er ihn also bei diesem Problem nicht um Hilfe bat, war eindeutig. Er wollte ihn schlichtweg nicht enttäuschen.

Während er seinen Gedanken und der Vergangenheit hinterherhinkte, kam ihm eine Idee. Sie sollte einfach nur ihr Können an ihm unter Beweis stellen. Sex wäre auch noch eine Idee gewesen. Eine mehr oder weniger spielte in seinem Leben nun wirklich keine Rolle mehr. Allerdings war das nicht ganz das, was eine Domina tat. Sie hatte nur in den seltensten Fällen Sex mit ihrem Diener. Das Spiel zwischen einem Sklaven und einer Domina verlief anders. Er könnte sie aber auch in eines der Zimmer bringen, und sie bitten, mit ihm eine Session abzuhalten. Was ihn davon abhielt, war die Dauer einer solchen Zusammenkunft und wenn er Pech hatte, würde er so malträtiert werden, dass er im Anschluss seine Schwester nicht besuchen konnte.