DuMont Welt-Menschen-Reisen Slow Train - Tom Chesshyre - E-Book

DuMont Welt-Menschen-Reisen Slow Train E-Book

Tom Chesshyre

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Beschreibung

Das E-Book basiert auf: 1. Auflage 2020, Dumont Reiseverlag

Die Freiheit auf Schienen genießen – dafür begibt sich der britische Autor Tom Chesshyre auf eine abenteuerliche Zugreise quer durch Europa: Von London über die Ukraine bis nach Venedig. Das eigentliche Reiseziel: Europa und seine Bewohner kennenlernen. Und herauszufinden, was sie in politisch und gesellschaftlich aufgewühlten Zeiten wie diesen verbindet. Tom Chesshyre reist ohne genauen Plan, eben dorthin, wohin die Schienen führen, und freundet sich unterwegs mit seinen Mitreisenden an – und natürlich mit dem ein oder anderen Schaffner. Ein persönlicher Reisebericht, der zeigt, was Europa zusammenhält. Und eine leidenschaftliche Einladung, sich mit dem nächsten Zug selbst auf den Weg zu machen.

  • Grenzenlos und bewusst: Mit dem Zug zu den Menschen Europas
  • Eine Reise von London über die Ukraine nach Venedig
  • Kluge Einblicke in Politik, Gesellschaft und Tourismus

Tipp: Setzen Sie Ihre persönlichen Lesezeichen an den interessanten Stellen und machen Sie sich Notizen# und durchsuchen Sie das E-Book mit der praktischen Volltextsuche!

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TOM CHESSHYRE

Slow

      TRAIN

Eine Liebeserklärung

            an Europa heute in

25 Stationen

Aus dem Englischen von Astrid Gravert

In einigen Fällen sind Namen von Menschen, denen der Autor auf den Zugreisen für dieses Buch begegnet ist, geändert worden.

1. Auflage 2020

© Tom Chesshyre, 2019

© 2020 für die deutsche Ausgabe: DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Die englische Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel »Slow Trains to Venice« bei Summersdale Publishers Ltd., London, erschienen.

The translation is published by arrangement with Summersdale Publishers Ltd.

Übersetzung: Astrid Gravert

Redaktion: Dr. Katharina Theml, Wiesbaden

Gestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagfoto: Mauritius Images / Alamy / Zacarias Pereira da Mata

Fotos (Innenteil und Autorenfoto): Tom Chesshyre

Umschlagkarte: Shutterstock.com / Pyty

www.dumontreise.de

Für Kasia

Karte

INHALT

VORWORT

KAPITEL 1

VON MORTLAKE IN LONDON NACH CALAIS IN FRANKREICH

Der Kontinent ruft

KAPITEL 2

VON CALAIS NACH BRÜGGE

>>Zer is no train today<<

KAPITEL 3

VON BRÜGGE ÜBER MAASTRICHT NACH BONN

>>Wir müssen Ihnen eine Krawatte schicken!<<

KAPITEL 4

VON BONN ÜBER LEIPZIG NACH WROCŁAW

>>Earl Grey oder English Breakfast?<<

KAPITEL 5

VON WROCŁAW NACH LWIW

>>Ich meine, zum Teufel! Es ist wirklich ein seltsames System.<<

KAPITEL 6

VON LWIW NACH ODESSA UND ZURÜCK

Schlafwagen und wunderbare Menschen

KAPITEL 7

VON LWIW ÜBER BUDAPEST NACH BELGRAD

Zweifelhafte Politik und ein paar Drinks

KAPITEL 8

VON BELGRAD ÜBER ZAGREB IN KROATIEN NACH LJUBLJANA IN SLOWENIEN

>>Gott sei Dank sieht man uns nicht an, was wir durchgemacht haben<<

KAPITEL 9

VON LJUBLJANA ÜBER INNSBRUCK NACH VERONA

Gulasch, Bahnhöfe und Feindschaften

KAPITEL 10

VON VERONA NACH VENEDIG

Che Bella Corsa! (Was für eine Fahrt!)

NACHWORT

DANK

BENUTZTE ZÜGE

ÜBERNACHTUNGEN

NÜTZLICHE WEBSITES

THE TOP OF EUROPE:

ANMERKUNGEN ZU SCHWEIZER ZÜGEN

BIBLIOGRAPHIE

»Die einzige Möglichkeit sicherzugehen, dass man einen Zug erreicht, ist, den davor zu verpassen.«

G. K. CHESTERTON

VORWORT

Am 19. September 1946 hielt Winston Churchill eine Rede an der Universität Zürich, in der er erklärte: »Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten.« Der britische Staatsmann, der sein Land durch den Zweiten Weltkrieg geführt hatte, fuhr fort: »Nur so werden Hunderte Millionen hart arbeitender Menschen wieder in der Lage sein, die einfachen Freuden und Hoffnungen zurückzugewinnen, die das Leben lebenswert machen.« Er wandte sich gegen »furchtbare nationalistische Auseinandersetzungen« und schloss mit der Aufforderung: »Lassen Sie Europa entstehen!«

Ich liebe Europa. Ich liebe Züge. Während sich die Brexit-Verhandlungen schwierig gestalteten, beschloss ich, diese beiden Leidenschaften zu verbinden. Ich würde alles eine Weile vergessen. Ich würde im Frühling von meinem Zuhause in London mit der Eisenbahn losfahren und langsam nach Venedig hinunterrollen, entlang welcher Gleise auch immer. Ich würde frei sein, auf dem Weg nach Süden zum berühmten Zwischenstopp der wohl bekanntesten Eisenbahn der Welt, dem Orient-Express.

Ich hatte drei gute Gründe. Ich wollte vom Zug aus den Kontinent sehen, den Churchill und unsere Vorfahren befreit hatten. Ich wollte weg von den Beratungen über »zollfreie Zonen« und den scheinbar endlosen politischen Auseinandersetzungen über Großbritanniens »Abschied« von meinem Reiseziel. Und ich wollte ganz einfach die Fahrt genießen. So viele langsame Züge wie möglich nehmen und die Tage faul dahinziehen lassen, einfach die vorbeiziehende Landschaft betrachten, neue Menschen treffen und dem Rattern der Räder auf den Schienen lauschen.

KAPITEL 1

VON MORTLAKE IN LONDON NACH CALAIS IN FRANKREICH

Der Kontinent ruft

D er 7.37-Uhr-Zug von Mortlake nach Clapham Junction hat zwei Minuten Verspätung. Zum Glück, denn genauso viel komme ich zu spät.

Im Zug Pendler, die auf ihre Handys tippen. Niemand liest eine Zeitung (nicht mal eine Metro). Es ist ein grauer, grässlicher Morgen, und der Wagen riecht nach nassem Hund. Vororte und vertraute Stationen gleiten vorbei: Barnes, Putney, Wandsworth Town. Wir erreichen Clapham Junction. Ich verlasse Zug Nummer eins der South Western Railway mit den kirschroten Wagen, blau-gelben Türen und orangeroten Streifen.

Auf Bahnsteig zwölf steige ich in den 7.58-Uhr-Zug nach Victoria, ein apfelgrüner Zug der Southern Railway mit noch mehr Fahrgästen mit unruhigen Fingern. Die Türme des Battersea-Kraftwerks ragen drohend an der Themse auf. Eine lästige Ansage fordert Fahrgäste auf, alles, was ihnen »nicht richtig« erscheint, der British Transport Police zu melden – »See it. Say it. Sorted.« (Wenn du etwas Verdächtiges siehst, melde es. Wir regeln das.) – und ich frage mich, wie viele terroristische Anschläge durch diese Nachrichten nach Big-Brother-Art verhindert wurden.

Ich überquere die lebhafte Bahnhofshalle von Victoria, weiche noch mehr Zombies mit Handy und einem Mann mit Kapuzenpullover aus, der um Kleingeld bittet. Auf Bahnsteig sechs steige ich in den 8.34-Uhr-Zug nach Dover Priory, ein violetter Southeastern-Zug, der wieder den Fluss überquert. Ich bin auf dem Weg nach Frankreich. Wenn alles gut geht, bin ich in drei Wochen in Venedig. Ich weiß nicht, was in der Zwischenzeit passieren wird … so wie ich es immer geplant habe.

Es ist befreiend, Großbritannien mit Regionalzügen zu verlassen. Die Wagen nach Dover Priory sind fast leer. Heutzutage nehmen die meisten Bahnreisenden nach Frankreich den Hochgeschwindigkeitszug Eurostar: zwei Stunden und 15 Minuten nach Paris oder nur 80 Minuten nach Lille (300 km/h). Von Victoria nach Dover dauert es zwei Stunden und drei Minuten, mit 17 Haltestellen an der Strecke. So will ich bis nach Venedig fahren. Kein Herumhetzen. Keine Eile. Kein Stress. Kein Grund dafür. Frühmorgens an einem Wochentag, wenn man in die entgegengesetzte Richtung fährt wie Londons Pendler, fühlt sich der 8.34-Uhr-Zug wie ein Geisterzug an.

Zumindest eine Zeit lang. Ein Mann mit gegelten Haaren hat sich in die Vierer-Sitzgruppe vor mir gefläzt. Da er mich anscheinend nicht bemerkt hat oder es ihm egal ist, dass er einen Sitzplatz in meiner Nähe gewählt hat, während der Rest des Wagens leer ist, beginnt er ein langes, lautes Telefongespräch.

»Sie legte sich splitternackt hin, um noch ein bisschen Sonne abzukriegen. Sie hat sich buchstäblich die Hose ausgezogen, alles. Ich schick dir den Link von der Daily Mail«, begann er und hielt dann für den Bruchteil einer Sekunde inne, bevor er seinem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung (und mir) erzählte, dass es bei ihm »im Moment gut« laufe, dass er am Abend ein Date mit einer Frau aus Bromley habe, sich später ein iPad kaufen wolle und eine Anzeige im Auto Trader aufgegeben habe, um seins zu verkaufen.

Ich setze mich woanders hin, während wir an Siedlungen mit Sozialwohnungen in Peckham vorbeizuckeln und in den Bahnhof St Mary Cray einfahren. Der Schaffner sagt: »Wir kommen fünf Minuten zu früh an. Wir werden eine Weile warten. Kein Grund zur Sorge, wir sind nur fünf Minuten zu früh.« Mein Bummelzug ist offensichtlich zu schnell gefahren.

Da ist bereits das unwiderstehliche Bedürfnis zu fliehen – unter den Radar des modernen Lebens zu schlüpfen. E-Mails: Ich werde sie nicht lesen. Telefonanrufe: Sie können Nachrichten hinterlassen. Während die Landschaft offener wird, bezaubernde zitronengelbe Rapsfelder auftauchen, lehne ich mich zurück und lasse den Südosten Englands sanft vorbeigleiten. Der große Bahnreisende Paul Theroux hat einmal gesagt, Touristen »wissen nicht, wo sie waren«, während Reisende »nicht wissen, wo sie hinfahren«. Na, ich habe ein Ziel, aber vor mir liegt reichlich Nichtwissen. Ein wunderbares Gefühl.

Der Schaffner kontrolliert meine Fahrkarte. Ich habe einen Interrail-Pass, der einen Monat gültig ist. Mit dieser goldenen Karte kann ich 30 europäische Länder bereisen, mit fast allen Bahnbetreibern (nur ein paar private haben sich nicht angeschlossen). Ich habe einen Interrail-Führer, in dem die Details erklärt sind, sowie eine Karte des Schienennetzwerks und bei welchen Bahngesellschaften Reservierungen erforderlich sind, für die man extra bezahlen muss. Bevor man in einen Zug steigt, muss man die Fahrt jedes Mal in einem Logbuch eintragen, das man zusammen mit dem Interrail-Pass bekommt. Man trägt Datum, Abfahrtszeit des Zuges, Abfahrtsort und Zielbahnhof ein. Bei meinem ersten Eintrag gebe ich Mortlake und Dover an; weitere Details sind nicht nötig.

Schnell stelle ich fest, dass dieser Pass bei Schaffnern einen geradezu heiligen Ruf hat. Der grauhaarige Schaffner der Southeastern sieht das weiche grüne Ding kaum an, so groß ist sein Vertrauen in die Gültigkeit. Die Fahrkarte beinhaltet eine Fahrt von Großbritannien ins Ausland und eine Fahrt zurück. Die restlichen Fahrten müssen im Ausland wahrgenommen werden, wobei die Anzahl bei meinem Pass unbegrenzt ist.

»Wohin fahren Sie?«, fragt er.

Als ich sage, Dover, antwortet er nur: »Ja, Sie sind im richtigen Zug«, und schlendert davon.

Ich schließe die Augen. Der Zug ruckelt und brummt. Wir halten am Bahnhof Sole Street, fahren an Böschungen mit Wiesenkerbel und Efeu vorbei, an wogender Landschaft und dem Royal Mail Depot in Rochester. Die Oberfläche des Medways hat einen rauchigweißen Schimmer, als die Türme von Rochester Castle aufragen. Wir sind jetzt ungefähr eine Stunde unterwegs. Es scheint fast unmöglich, dass Charles Dickens immer zu Fuß von London zu seinem Landhaus in Cad’s Hill in Higham, nicht weit von hier in Kent, ging, manchmal durch die Nacht, das sind gut 45 Kilometer.

In Chatham schimmert die aalnasige Lokomotive eines Hochgeschwindigkeitszugs am benachbarten Bahnsteig. Reihenhäuser, die mich an Coronation Street erinnern, prägen den Stadtrand von Gillingham, wo wir ganz nah an den Tribünen und Flutlichtern des Priestfield Stadium des FC Gillingham vorbeifahren. In Rainham ein BRITAIN-RUNS-ON-RAIL-Schild und ein geschlossener Pub namens The Railway. Strommasten, lange Gewächshäuser mit Obstkulturen und Weinberge tauchen bei der Anfahrt von Canterbury East auf, wo Fahnen mit dem Georgskreuz und Union Jacks in den Gärten flattern (Kent hat beim Brexit-Referendum im Juni 2016 mit überwältigender Mehrheit für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt, 59 Prozent der 970.000 Wähler wollten raus.)

Und so erreichen wir Dover Priory pünktlich um 10.39 Uhr.

Bei der Beschreibung meines Bahnabenteuers will ich hin und wieder, wenn ich kann, einige Details zu den Zügen, mit denen ich gefahren bin, nennen. Denn mir ist bewusst, dass es viele Eisenbahnfans gibt (keine Trainspotter – ich kenne den Unterschied). Deshalb mache ich mir bei der ersten Fahrt die Mühe und gehe zum Büro des Bahnhofsleiters, um nach dem 8.43-Uhr-Zug von Victoria zu fragen. Einige Eisenbahnliebhaber würden es auf den ersten Blick sehen (kein Zweifel), ich kann es nicht sagen.

Ein großer Mitarbeiter, der gerade eine Sausage roll isst, sieht mich an, zuckt mit den Schultern und dreht sich zu einem kleineren Mann um, der hinter einem Tresen an einem Schreibtisch sitzt. Es ist Simon, der Bahnhofsleiter von Dover Priory. Er scheint sich zu freuen, dass er gefragt wird, und antwortet, dass es ein Electrostar 375 aus den 1990ern mit acht Wagen war. Jetzt wissen Sie es. Ich erzähle den beiden von der Reise, die ich vorhabe. Simon und Warren, der Sausage roll essende Kundendienstmitarbeiter, scheint das zu freuen. Warren fragt, ob ich den Weg zum Fährhafen kenne. Ich verneine, und er begleitet mich hinaus vor das schlichte weiße Art-déco-Bahnhofsgebäude und erklärt mir ausführlich den Weg.

»Viel Glück«, strahlt er und tätschelt zweimal meine Hand, während wir uns verabschieden.

Nette Menschen am Bahnhof Dover Priory.

Bevor ich zum Hafen gehe, sehe ich mir das Stadtzentrum an. Es geht bei dieser Bahnreise nicht nur um Züge. Ich will auch eine Reihe von Momentaufnahmen von den Orten machen, die auf dem Weg liegen (sonst könnte ein Groundhog Day über Lokomotiven und Wagen daraus werden). Die Ziele sind auch wichtig.

Zum Stadtzentrum geht es einen Hügel hinunter. Es hat eine zur Fußgängerzone umfunktionierte Hauptstraße mit einem PRICEL£SS FURNITURE-Laden, einem Poundland und einem Pfundladen. An der Ecke neben einer HSBC-Bank hängt eine Gruppe Betrunkener mit Ciderdosen ab und wälzt Weltprobleme. Von Laternenpfählen hängen Mohnblumen, und ein Wandbild neben dem Kriegerdenkmal am Rathaus zeigt Soldaten, die zum Meer blicken. Über dem Horizont des Bildes stehen ein paar Zeilen des Gedichts For the Fallen von Laurence Binyon, das er 1914 schrieb.

Sie sind nicht mehr unter ihren lachenden Kameraden;

Sie sitzen nicht mehr an den vertrauten Tischen zu Hause;

Sie haben keinen Anteil mehr an unserer täglichen Arbeit;

Sie schlafen fern von Englands Gischt.

Dover hatte natürlich immer eine wichtige Verteidigungsstellung. Während Binyons Worte noch in mir nachklingen, steige ich hinauf zur mittelalterlichen Burg. In den Tunneln hier wurde die Evakuierung von Soldaten von Dünkirchen während der Operation Dynamo im Mai 1940 befehligt und überwacht. William der Eroberer kam hier im Oktober auf dem Weg nach Westminster vorbei. Während der Napoleonischen Kriege wurden die Befestigungsanlagen verstärkt, die Zahl der Garnisonen mit unterirdischen Unterkünften bei den Klippen erhöht. Aus gutem Grund wird Dover im Scherz der Schlüssel zu England genannt. Es scheint, als ob an diesem Ort über die Jahrhunderte viele wichtige Entscheidungen gefallen sind (das ist tatsächlich so). Geschichte liegt in der Luft.

Nachdem ich die alten Festungsmauern inspiziert habe, blicke ich über das silbrige Meer und den riesigen Fährhafen. Dann flitze ich den Hügel wieder hinunter und gehe an der Hauptstraße entlang, während Lastwagen vorbeidröhnen (deren Fahrer sich vorerst keine Sorgen um Zölle oder Verkehrsstaus machen müssen). Der Hafen ist auf Grund illegaler Einwanderung und »anderer Bedenken« ein »Sicherheitsbereich« geworden, sagt der Fahrkartenverkäufer von P&O Ferries, deshalb kann ich nicht einfach zur Fähre gehen. Stattdessen warte ich in einem Raum, in dem sich ein Kunstwerk aus Fliesen mit der Aufschrift »Port Dover: Gateway to Britain« befindet, auf den Bus, der im Hafen verkehrt. Unter der Schrift sind Stonehenge, die St.-Pauls-Kathedrale und ein ländliches Kricketspiel abgebildet (alle Spieler haben weiße Gesichter).

Der Bus bringt die acht Fußgänger im Handumdrehen durch den Sicherheitsbereich. Wir gehen an Bord der Spirit of Britain. Ich setze mich mit einem Bier (warum nicht?) aufs Achterdeck und betrachte die nicht so weißen Klippen von Dover (sie sind eigentlich ziemlich grau). Große Möwen mit kalten gelben Augen sitzen auf den Relings. Der Motor brummt leise. Wir entfernen uns in einer Spur englischer Gischt Richtung Calais. »Auf Wiedersehen, England«, sagt ein Kind neben seiner Mutter.

Um in Eisenbahnstimmung zu bleiben, lese ich Mord im Orient-Express von Agatha Christie. In der ersten Szene steht Hercule Poirot, in Schals gewickelt und mit Hut, auf einem eiskalten Bahnsteig des Bahnhofs von Aleppo in Syrien. Er ist mit dem Taurus Express auf dem Weg nach Istanbul und von ihm war »nichts (…) zu sehen außer einer roten Nasenspitze und den beiden Enden eines nach oben gezwirbelten Schnauzbarts«.

Der weltberühmte Detektiv musste nicht lange herumschnüffeln, um die enge Beziehung zweier anderer Fahrgäste, eines Colonels und einer »jungen englischen Dame«, zu bemerken. »Der Zug, er ist so gefährlich wie eine Seereise!«, sinniert er. »Eine recht sonderbare kleine Komödie, die ich hier beobachte.«

Die Spirit of Britain wurde nicht in Großbritannien gebaut, sondern in Rauma in Finnland und 2011 fertiggestellt. Sie ist 213 Meter lang. Die Bruttotonnage beträgt 48.000, die Höchstgeschwindigkeit 22 Knoten. Es gibt zwölf Decks. Sie kann 180 Lastwagen, 195 Pkws und 2000 Passagiere transportieren. Das alles erfahre ich von einem Modell des Schiffes in der Nähe des Duty-free-Shops Shop Ahoi!.

Auf Bildschirmen, die in die Wände eingelassen sind und von der Decke hängen, läuft Werbung für Alkoholtests, billigen Wein, den man sich direkt ins Auto bringen lassen kann, und Rabatte auf Johnny Depp Eau de Toilette. Ich starre durch eines der salzbedeckten Fenster der Bug-Lounge auf die dunkelgraue See. Kleine schwarze Wellen kräuseln sich über dem ansonsten ruhigen Wasser, und bald tauchen Klippen und lange, haferbreifarbene Strände auf. Ein Kirchturm schießt empor. Vodafone schickt mir eine SMS »Willkommen in Frankreich«, und eine Durchsage informiert darüber, dass die Spielautomaten in Kürze abgeschaltet werden: »Stecken Sie keine Münzen mehr hinein!« Wir fahren in den Hafen von Calais. Fußgänger versammeln sich, und bald gehe ich durch Nieselregen, vorbei an hohen Mauern mit Stacheldrahtrollen und Graffiti auf der Straße, das (recht optimistisch) fordert: »ÖFFNET DIE GRENZE!«

Ich bin auf dem Boden der Europäischen Union, mit ihren lustigen Regeln, geschrieben von lustigen Bürokraten mit lustigen Akzenten.

Jetzt geht’s durch den Kontinent – Züge gibt es reichlich.

KAPITEL 2

VON CALAIS NACH BRÜGGE

>>Zer is no train today<<

C alais ist 33 Kilometer von Großbritannien entfernt, und es ist ein seltsamer Ort mit einer faszinierenden Geschichte. Traurige Bekanntheit erlangte Calais wegen einer Dschungel genannten Zeltstadt (nicht weit vom Fährhafen) mit Asylsuchenden, die hofften, nach Großbritannien zu kommen. Nach Beschwerden des Vereinigten Königreichs, dass Frankreich nicht genug dagegen unternehme, dass sich Menschen in Autos und Lastwagen auf den Zügen durch den Eurotunnel verstecken, wurde das Camp im Oktober 2016 geräumt. Präsident Macron hat allen potentiellen Flüchtlingen und Migranten erklärt, dass Nordfrankreich eine »Sackgasse« sei und dass der Versuch, den Kanal zu überqueren, zwecklos wäre. Trotzdem wurden im Jahr vor meiner Reise über 115.000 solcher Versuche unternommen – und das ist nur die Zahl derer, die festgenommen wurden.

Calais gehörte über zweihundert Jahre zu Großbritannien; in der Vergangenheit hätten Asylsuchende ihr Ziel also einfach erreicht, indem sie hier angekommen wären. Von 1347, als Edward III. von England Calais nach der Schlacht bei Crécy annektierte, bis 1558, als die Franzosen unter Henry II. es zurückgewannen, war Calais ein wichtiger englischer Hafen. Auf dem Höhepunkt stammten angeblich ein Drittel der Einnahmen der englischen Regierung aus Zöllen des Hafens, wobei der Handel mit Wolle die bedeutendste Einkommensquelle war. Zu der Zeit war Calais als »hellster Juwel in der englischen Krone« bekannt. Es war auch ein offizieller Parlamentsbezirk. Der allen Kindern in England bekannte Dick Whittington war eine Zeit lang Bürgermeister von Calais (1407, als er ebenfalls Bürgermeister von London war). Zum Verlust des Hafens gibt es die berühmten Worte Mary Tudors: »Wenn ich tot bin und geöffnet werde, wird man Calais in meinem Herzen finden.«

Eine wichtige Rolle spielte der Hafen im Zweiten Weltkrieg. Während der Belagerung von Calais im Mai 1940 hielten mehr als 3000 britische Soldaten neben 800 französischen sechs Tage deutschem Sperrfeuer stand. Dieser tapfere Widerstand lenkte die Nazi-Divisionen von Dünkirchen ab und trug zum Gelingen der Evakuierung bei.

Julius Caesar segelte von Calais aus nach Britannien. Napoleon erwog, von Calais aus in England einzufallen. In Calais war viel los.

Première Classe im Wolkenbruch

ANKUNFT IN CALAIS

Vom Fährhafen zum Stadtzentrum von Calais sind es fünf Kilometer zu laufen, entlang einer langen unbenannten Straße, gesäumt von Lagerhäusern und weiteren hohen Zäunen mit Stacheldraht. Ich bin der einzige Passagier, der diesen Weg in die Stadt gewählt hat. Die anderen Fußgänger haben anscheinend Taxen oder Busse genommen. Vielleicht weil es schüttet. Ich habe meinen Pac-a-Mac-Regenmantel angezogen – sehe aus wie ein wahrer Eisenbahnfan – und patsche durch Pfützen einer Straße folgend, die zum zentralen Kirchturm führt, wie ich annehme, der, den ich vom Wasser aus gesehen hatte.

In diesem tropfnassen Zustand steuere ich das Hotel Première Classe Calais Centre-Gare an, direkt gegenüber dem Bahnhof der Stadt. Ich werde während der Reise immer so nah wie möglich an Bahnhöfen übernachten, um die Weiterfahrt am nächsten Tag so bequem wie möglich zu machen. Ich habe auch beschlossen, billig zu übernachten, wenn auch nicht spottbillig. Mein Budget beträgt 40 bis 50 Euro pro Nacht. Das Première Classe Calais Centre-Gare erfüllt alle Kriterien.

Nach einer Kurve führt die lange Straße schließlich auf die »Kirche« zu. Nach einem Sexshop, der »Gadgets und Filme« anbietet, gelange ich zu dem Gebäude und stelle fest, dass es kein Gotteshaus ist. Es ist das prunkvolle HÔtel de Ville, gebaut in überladenem flämischem Renaissancestil mit einem raketenförmigen Glockenturm, der 75 Meter hoch ist. Das steht auf einer kleinen Informationstafel. Das Gebäude stammt aus dem Jahr 1925 und wurde im Zweiten Weltkrieg beschädigt, hat aber erstaunlicherweise die schlimmsten Bombardierungen überstanden. Fast das ganze Stadtzentrum wurde zerstört.

Hotel Première Classe ist nur um die Ecke, neben Le Klub und Les Pirates Bar.

Die ersten Eindrücke sind nicht die besten. Mit der grauen Betonfassade und einem Vordereingang, der aussieht, als wäre er dauerhaft zubetoniert, sieht es aus wie ein kleines Gefängnis. Man kommt durch einen Seiteneingang neben einem Parkplatz hinein. Bald bin ich in einem winzigen rot-weißen Zimmer mit einem Bett mit einer beigen Decke und einem Fernsehgerät von der Größe einer Müslischachtel auf einem hoch angebrachten Regal. Letztlich gar nicht so schlecht und hinreichend bequem. Ich blicke durch ein schmutziges Fenster. Eine Gruppe von Personen geht verstohlen vorbei; sicher Asylsuchende, die überlegen, wie sie über den Kanal kommen, aber vielleicht ziehe ich voreilige Schlüsse. Mein Zimmer liegt erfreulicherweise direkt gegenüber dem Bahnhof und dem Buffet de la Gare.

Es hat aufgehört zu regnen. Ich mache einen kleinen Stadtbummel und finde mich bald im Parc Richelieu wieder, wo ich mir eine Statue von General de Gaulle und Winston Churchill ansehe, die 2017 errichtet wurden. Churchill raucht eine Zigarre und stützt sich auf einen Stock. De Gaulle, der ungefähr 30 Zentimeter größer ist, trägt einen langen durchgeknöpften Mackintosh und hat einen entschlossenen Gesichtsausdruck. Ein Stück weiter in dem kleinen Park komme ich zu einer Gedenktafel, die an Emma, Lady Hamilton, erinnert. Die Geliebte Lord Nelsons starb mit nur 49 Jahren verschuldet und in Armut in Calais.

Calais hat viele Kneipen für die, die auf Sauftour sind, obwohl ich nicht viele Briten sehe. L’Hovercraft Bar, Le Buzz und Le London Bridge Pub am Hauptplatz scheinen die beliebtesten zu sein. Dort gibt es eine weitere Statue von de Gaulle, diesmal mit seiner Frau, die aus Calais stammte.

Ich überquere den Platz und gehe am Hafen entlang zum Fort Risban, ursprünglich von den Engländern gebaut, nachdem sie Calais im 14. Jahrhundert eingenommen hatten. Regen beginnt wieder niederzuprasseln, und ich flüchte in die Brasserie de la Mer, wo ich eine köstliche heiße Bouillabaisse esse und den Hits von Stevie Wonder aus einer Stereoanlage lausche, bevor ich in mein Zimmer zurückkehre, um Mord im Orient-Express zu lesen. Poirot will gerade »einen Schlafwagenplatz im Zug Istanbul–Calais« beziehen. Ich befinde mich also am Reiseziel des Detektivs mit dem »nach oben gezwirbelten Schnauzbart«.

Wieder im Hotel, habe ich – obwohl gesättigt durch die exzellente Bouillabaisse – Mühe einzuschlafen.

Durch die dünnen Wände meines Zimmers höre ich, wie sich ein beunruhigendes häusliches Drama entwickelt.

»Warum hast du so einen **** geredet?«, sagt der Mann in Cockney-Englisch.

Die Antwort der Frau, auch in Cockney-Englisch: »Nein, nein, nein.«

Mann: »Wir sollten den ganzen **** rausbringen und einfach wegschmeißen.«

Frau: »Nein, nein, nein.«

Mann: »Was hab ich denn falsch gemacht?«

Unverständliche Antwort.

Mann: »So wie du redest, hab ich das Gefühl, dass alles den Bach runtergeht.«

Frau: »Nein, nein, nein.«

Nichts gegen Mord im Orient-Express, aber eine Weile mache ich mir Sorgen über einen Mord im Hotel Première Classe Calais Centre-Gare. Schließlich schlafe ich ein, frage mich aber noch: Warum fahren Menschen in Urlaub, wenn sie sich nur streiten? Warum jetzt? Und ich muss etwas herzlos zugeben: Können sie es nicht woanders machen?

»This polis cracked my tooth«(»Der Polizist hat mir den Zahn eingeschlagen.«)

EIN MORGEN IN CALAIS

Am nächsten Morgen treffe ich die Eritreer, aber vorher gehe ich zum Bahnhof. Ich will heute nach Dünkirchen fahren, denn ich war noch nie dort und würde gerne die berühmten Strände sehen, wo Großbritannien – und Europa – vor den Nazis gerettet wurde. Aber es gibt ein Problem.

»Zer is no train today« (»heute fährt kein Zug«), antwortet der fast kahle Bahnhofsmitarbeiter. Er hat flaumige Haarbüschel, haselnussbraune Augen, eine Brille und eine undurchschaubare Art.

»Was meinen Sie?«, frage ich.

»Zer is a strike« (»es wird gestreikt«), antwortet er. »Sie können den Bus um halb eins nach Dünkirchen nehmen.«

»Aber ich will nicht Bus fahren.«

»Zer is no train today«, wiederholt er.

Verdammt. Ich hätte das prüfen sollen, bevor ich losgefahren bin. Die Leute bei der französischen Bahn scheinen zu streiken. Natürlich! Toller Start. Ich gehe nach draußen und überlege, was ich als Nächstes tun soll. Der Bahnmitarbeiter hat gesagt, dass auch morgen noch gestreikt wird. Ich sitze auf absehbare Zeit ohne Zug in Calais fest.

Zumindest scheint es so.

Ich gehe wieder in den Bahnhof und sehe mir die Abfahrtszeiten der Busse an. Da fällt mir auf, dass der um 15.39 Uhr nach Lille ein kleines Zugsymbol statt eines Bussymbols hat. Ich frage den Bahnmitarbeiter danach.

»Oui, es gibt einen Zug nach Lille«, räumt er ein.

Es ist der einzige Zug an dem Tag. Ein französischer Zugführer streikt anscheinend nicht. Très bien! Oder sogar magnifique!

Ich werde also nach Lille fahren.

Aber vorher gehe ich in die Gegend von Calais, die mal der Dschungel war. Mein Ziel ist die L’Auberge des Migrants. Obwohl der Dschungel offiziell geräumt wurde, befinden sich immer noch viele, die die Hoffnung haben, den Kanal überqueren zu können, in den Straßen von Calais.

Der Weg führt durch einen Vorort mit einem Fußballplatz und der Zentrale der Kommunistischen Partei. Davor Plakate der Confédération générale du travail, der zweitgrößten Gewerkschaft in Frankreich, die verkünden: »La régression sociale ne se négocie pas, elle se combat!« (Über sozialen Rückschritt wird nicht verhandelt, er wird bekämpft.) Es ist die größte Gewerkschaft innerhalb der Société Nationale des Chemins de Fer Français (SNCF), des staatseigenen französischen Eisenbahnkonzerns, und seine Mitglieder stecken hinter der gegenwärtigen Störung des Bahnbetriebs. Präsident Macron will die Löhne, Renten und Leistungen für Bahnmitarbeiter kürzen, im Gegenzug dafür, dass dem SNCF aus den Schulden geholfen wird, die sich gegenwärtig auf schwindelerregende 50 Milliarden Euro belaufen. Die Gewerkschaft ist damit naturgemäß nicht einverstanden, und es gibt Ängste, dass das nur der erste Schritt zur Privatisierung ist.

Es ist ein spannendes Szenario, und manche nennen es Macrons »Thatcher-Moment«. Wird er sich tatsächlich gegen die Gewerkschaften durchsetzen? Die französischen Bahnarbeiter, bekannt als cheminots und 150.000 an der Zahl, haben es ziemlich gut. Das Renteneintrittsalter für Schaffner und Zugführer ist 52 und für Mitarbeiter in Verwaltungspositionen 57. Im Vergleich dazu ist das durchschnittliche Renteneintrittsalter im privaten Sektor in Frankreich 62. Obendrein bemisst sich die Höhe der Rente nach dem Gehalt der letzten sechs Monate und nicht nach dem durchschnittlichen Gehalt des Mitarbeiters während der letzten 25 Jahre (wie sonst in Frankreich). Hinzu kommt die sogenannte licenciement économique (betriebsbedingte Kündigung), eine Entlassungsregelung, die manche als »Job fürs Leben« betrachten, solange Mitarbeiter nicht in Rente gehen, kündigen oder wegen schlechten Benehmens rausfliegen; es gilt eine 35-Stunden-Woche, 28 Tage Jahresurlaub (drei Tage mehr als andere französische Angestellte) und für Zugführer die Möglichkeit, an 22 Tagen die Arbeitszeit zu reduzieren (RTT, réduction de temps de travail), was letztendlich für die, die über 35 Stunden die Woche arbeiten, zusätzlicher Urlaub ist. Dann ist zu bedenken, dass Partner und Kinder unter 16 Jahren bis zu 16 Fahrten im Jahr für 10 Prozent des normalen Ticketpreises erhalten (eine Vergünstigung, die die SNCF rund 25 Millionen Euro im Jahr kostet).

Ja, die cheminots haben es extrem gut, deshalb streiken sie: Sie wollen es weiter extrem gut haben. Aber um die verfahrene Situation zu verstehen, muss der Außenstehende auch anerkennen, dass die französische Bahn, die seit den 1930ern verstaatlicht ist, ein vielgeliebter Teil des nationalen Wohlfahrtsstaats ist. Die Franzosen sind stolz auf ihre Eisenbahn, insbesondere auf ihre grands projets wie die Ligne à Grande Vitesse Sud-Est zwischen Paris und Lyon, die 1983 eröffnet wurde, Europas erste ausgereifte Hochgeschwindigkeitsstrecke. Man sollte die Macht der Zugführer und Schaffner in Frankreich nicht unterschätzen. Es ist ein Land, in dem Streiks noch funktionieren – wenn das nicht ein Widerspruch in sich ist –, obwohl SNCF über eine radikale Option nachdenkt, um aus dieser Pattsituation herauszukommen: führerlose Züge. Wenn es keine Zugführer mehr gibt, kann es keine Zugführerstreiks mehr geben. Das ist jedenfalls der Gedanke. Téléconducteurs an Kontrollzentren könnten die Drohnenzüge überwachen. Willkommen in der Zukunft! Wollen wir hoffen, dass die Computer nicht abstürzen und mit den Zügen dasselbe passiert.

Während ich darüber nachdenke, trotte ich weiter in Richtung Dschungel, vorbei an einem Einzelhandelsgeschäft und einem japanischen Wok-Restaurant.

Es zieht mich dorthin, weil ich diesen wichtigen Ort in Großbritanniens jüngster Geschichte mit eigenen Augen sehen will. Die Bedrohung einer »Flut« von Migranten und Flüchtlingen ins Vereinigte Königreich war letztlich einer der Hauptgründe, warum Großbritannien im Juni 2016 für den Austritt aus Europa gestimmt hat. Die, die für leave stimmten, wollten »Kontrolle zurückgewinnen«, und der Dschungel war, wenn man so will, das Symbol für deren schlimmste Befürchtungen.

Ich gehe den Boulevard de l’Égalité hinunter und biege schließlich bei einem Lidl-Supermarkt links in die Rue Clément Ader.

Dort treffe ich die Eritreer. Fikru und Girma bummeln ziellos die Rue Clément Ader entlang, und ich frage sie, ob sie einen Moment Zeit haben. Haben sie. Sie haben wahrscheinlich viele freie Momente, während sie heimat- und staatenlos in Calais herumwarten.

Fikru trägt eine Lederjacke, zerrissene Jeans und ein grünes Kopftuch. Er hat ein breites Lachen, bei dem ein abgebrochener Schneidezahn sichtbar wird. Girma trägt ebenfalls Jeans, eine grüne Jacke und einen Kapuzenpullover. Sie sagen, sie seien 18 Jahre alt, Brüder und dass sie Eritrea vor drei Jahren verlassen haben, über den Sudan, Libyen und ein Schiff, das vier Tage übers Mittelmeer gebraucht hat.

Ich spreche mit Menschen, die alles riskiert haben, um nach Calais zu kommen.

Fikru ist mutlos. »Wir haben kein Leben«, sagt er. »Problem mit Polis.«

Er zögert.

»Wir haben keine Arbeit. Drei Jahre, keine Arbeit. Drei Jahre nicht Eritrea angerufen.«

Girma fällt ihm ins Wort: »Es ist Problem. Wir haben niemand.« Fikru erzählt mir: »Diese Polis mein Zahn ausgeschlagen.«

Er grinst, um den ganzen Schaden an seinem ruinierten Lächeln zu zeigen.

Dann fasst er sich ans Bein.

»Vor sieben Tagen, Stock an Bein.«

Die Polizei habe ihn angegriffen, sagt er.

Wir unterhalten uns noch eine Weile. Ich spüre, dass sie Angst haben, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen (zu viel Öffentlichkeit könnte unangenehm sein). Ich wünsche ihnen Glück, biete Fikru zehn Euro an – die er erfreut annimmt – und frage, ob ich sie fotografieren dürfe.

Beide schütteln schnell den Kopf.

Dann schlurfen und humpeln sie die Rue Clément Ader entlang.

Nicht weit vom Lidl setzen sie sich auf eine alte Plastikkiste unter eine mit Müll übersäte Hecke.

Zurzeit scheint das ihr Zuhause zu sein.

L’Auberge des Migrants ist gegenüber. Es ist nicht – wie der Name suggeriert – ein Gasthaus. Es ist ein Lager, das ungefähr 400 Asylsuchenden (wahrscheinlich mehr, 400 ist die offizielle Zahl), die noch in Calais sind, obwohl der Dschungel abgebaut wurde, Hilfe bietet. Die Einrichtung wird von dreißig Freiwilligen betrieben. Essen, Kleidung, die Möglichkeit, das Handy zu laden, und Informationen über Asylgesetze werden aus Vans angeboten, die auf dem Gelände herumfahren.

Ich spreche zuerst mit Luke, einem Briten mit buschigem Bart, der zögernd zu mir sagt: »Überall in Europa herrscht Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen. Frankreich ist keine Ausnahme. Wir versuchen, den Flüchtlingen Menschlichkeit zu zeigen.«

Luke sitzt in einer Hütte neben einer Tafel, auf die Zahlen gekritzelt sind, die besagen, wie viele Schlafsäcke, Bettdecken und Notfalldecken im letzten Monat verteilt wurden. Auf einer anderen Tafel steht, dass am Vortag 1200 Mahlzeiten ausgegeben wurden. Auf einem Schild steht: »A coeurs vaillants, rien d’impossible« (mit mutigen Herzen ist nichts unmöglich).

Gegenüber der Hütte steht ein Van mit einem kleinen Tisch hinten drin.

Drinnen finde ich noch einen Briten: Rowan Farrell, Mitgründer des Refugee-Info-Bus. Diese im Vereinigten Königreich registrierte Wohltätigkeitsorganisation hilft Immigranten, die Asyl suchen, die Asylgesetze zu verstehen. Der Van hat einen Generator und WLAN-Antennen, die 80 Menschen freien Internetzugang verschaffen. Flugblätter sind in sieben Sprachen verfasst, einschließlich Paschto (wird in Afghanistan gesprochen). Die Mehrheit der Flüchtlinge in Calais stammt aus Afghanistan, Eritrea, Äthiopien, Syrien, Iran und Irak.

»Wenn jemand in Calais ist, versucht er, ins Vereinigte Königreich zu kommen«, sagt Rowan. »Sie müssen beweisen, dass ihnen in ihrem Land eine Anklage droht. Es ist individuell verschieden. Essen und ein Dach über dem Kopf sind wichtig, aber genauso die weitere Perspektive. Oft wissen Flüchtlinge nichts über ihre Rechte.«

Dem Refugee-Info-Bus geht es darum, diese Lücke zu füllen. Rowan gründete die Organisation, nachdem er hergekommen war, um den Flüchtlingen zu helfen, und festgestellt hatte, dass das fehlende Wissen über die Gesetze ein Hauptproblem war. Vorher hatte er als Fotograf gearbeitet.

Er fragt mich nach meiner Reise und ich erzähle, was ich vorhabe.

Es stellt sich heraus, dass Rowan ebenfalls Züge liebt, und bald erzählt er mir, dass er einmal mit dem Nachtzug im Schlafwagen von Lwiw in der Ukraine nach Odessa gefahren sei. Lwiw sei eine wunderschöne Stadt, erzählt er, die sich als Teil von Europa versteht, ohne in der Europäischen Union zu sein (ich nehme das als Anregung für meine Route). Er war für ein Fotoprojekt dort gewesen, kurz nachdem Russland 2014 unter Missachtung internationalen Rechts in die Ukraine eingefallen war und die Krim »zurückerobert« hatte. Im Moment scheint »Zurückerobern« gerade gang und gäbe zu sein.

Mir fällt ein Haufen Kricketschläger in der Ecke des Hofes auf.

»Afghanen lieben Kricket«, erklärte Rowan sachlich.

Nach einem Aufruf hat ein Team in Großbritannien freundlicherweise seine Ersatzschläger gespendet, damit afghanische Asylsuchende ihr Lieblingsspiel spielen können, während sie auf ihre Papiere warten (sofern sie tatsächlich kommen).

Wir verabschieden uns, und ich gehe den Boulevard de l’Égalité zurück.

Ich mache noch zwei Zwischenstopps, bevor ich in den Zug nach Lille steige.

Der erste ist den Boulevard hinunter auf dem Ville de Calais Cimetière Sud, wo ich den Briten, die die Stadt im Mai 1940 gegen die Deutschen verteidigt haben, meine Ehrerbietung erweise. Reihe um Reihe Commonwealth-Kriegsgräber, ordentlich eingefasst von Buchsbaumhecken. Jede Inschrift auf den Grabsteinen erinnert an die große Schuld, in der wir gegenüber den Soldaten des Zweiten Weltkriegs stehen.

»P. W. Amos. The King’s Royal Rifle Corps. 26/5/40. Aged 24«, steht auf einem Stein, »H. J. Dungay. The Rifle Brigade. 24/5/40. Aged 29«, steht auf einem anderen. »A soldier of the 1939–1945 war. The King’s Royal Rifle Corps. Known Unto God«, auf einem weiteren. Nicht alle Leichen wurden identifiziert. Über dreihundert britische Soldaten wurden bei der heldenhaften, blutigen Belagerung getötet.

Danach gehe ich ins Musée Mémoire 39–45 im Parc Saint Pierre direkt neben dem Bahnhof. Das Museum befindet sich in einem unheimlichen ehemaligen Nazi-Bunker, der fast zweihundert Meter lang ist. Drinnen dokumentiert eine Ausstellung die schrecklichen Ereignisse vom Mai 1940 sowie den Ausgang des Krieges, als kanadische Einheiten den Hafen 1944 befreiten. Ein Originalposter vom 13. Juli 1940 fällt mir auf: »Every English People [sic] who lives in Calais as well as every English person who is staying here for some time and who is more than eighteen years old, is obliged to come immediately to the ORTSKOMMANDANUR in the Town Hall of Calais. Every English People, who will not come immediately, will be considered as a spy and judged accordingly.« (Jede englische Person, die in Calais lebt, ebenso wie jede englische Person, die sich hier eine Zeit lang aufhält und älter als 18 Jahre ist, ist verpflichtet, sofort zur Ortskommandantur im Rathaus von Calais zu kommen. Jede englische Person, die nicht sofort kommt, wird als Spion betrachtet und entsprechend verurteilt.)

Schaurige Worte, nur 33 Kilometer von Dover entfernt.

Churchills »entsetzliche nationalistische Streitigkeiten«, wie er sie in seiner Rede »The Tragedy of Europa« im September 1946 in der Universität in Zürich formulierte, waren unmittelbar vor unserer Küste.

»Nicht jeder, der umherschweift, hat sich verlaufen«

VON CALAIS NACH LILLE

Bevor ich in den 15.39-Uhr-Zug nach Lille steige, probiere ich das kleine Buffet de la Gare. Wie könnte man als Eisenbahnliebhaber nicht die Nase in das gemütliche kleine Bahnhofsrestaurant in Calais stecken?

Drinnen Kunstledernischen, ein kupferner Tresen, Flipperautomat und ein Trinker, dessen Kopf auf den Tisch gefallen ist, während er sein Handy umklammert hält (vielleicht ist er schon den ganzen Tag hier und wartet auf den einzigen Zug, der heute von Calais fährt). Auf einem hübschen alten Eisenbahnplakat ist ein Bild des Rathauses von Calais und der Text: CHEMIN DE FER DU NORD. CALAIS: SON PORT, SA PLAGE, SES DENTELLES (EISENBAHN NORD. CALAIS: SEIN HAFEN, SEIN STRAND, SEINE SPITZE).

Calais war lange berühmt für seine Spitze. Im 19. Jahrhundert zogen viele englische Manufakturen wegen der billigeren Arbeitsbedingungen von Nottingham nach Calais um. Anscheinend trugen keine Geringeren als die Herzogin von Cambridge und Amal Clooney bei ihrer Hochzeit Kleider mit Spitze aus Calais.

Sie muss also ziemlich gut sein.

Ich nehme mir eine Ausgabe der Nord Littoral, einer Lokalzeitung mit der Überschrift: »4 MOIS DE PRISON POUR AVOIR FRAPPÉ UN POLICIER« (VIER MONATE GEFÄNGNIS FÜR ANGRIFF AUF EINEN POLIZISTEN). Ein Mann namens Jamal Khurchach aus Marokko, der seit 2007 im Land ist, wurde schuldig befunden, einen Grenzpolizisten angegriffen zu haben, nachdem er »Allahu akbar« gerufen hatte. Das Gerichtsurteil lautet: »Il a l’obligation de quitter le territoire français.« (Er muss Frankreich verlassen.)

Tschüss und auf Nimmerwiedersehen.

Der einzige Zug, der von Calais fährt, ist ein schlanker Doppeldecker, der in Audruicq, Watten-Éperlecques, Saint-Omer, Hazebrouck, Strazeele, Bailleul und Armentières halten soll. Er soll um 16.59 in Lille ankommen. Das ist zufälligerweise genau dieselbe Fahrzeit, wie der Eurostar von St. Pancras in London nach Lille braucht.

Eine Gruppe Flüchtlinge kauert neben dem Bahnsteig. Sie müssen gedacht haben, dass es ein ruhiger Platz ist, um sich eine Weile im Stadtzentrum auszuruhen. Als sie die Fahrgäste des einzigen Zuges an diesem Tag in großer Zahl auf sich zukommen sehen, springen sie ängstlich auf und hasten zum Ausgang.

Calais ist ein ungewöhnlicher Durchgangsort. Inmitten der Kreuzfahrer auf Sauftour und Lastwagen bewegen sich die Flüchtlinge wie Geister. Wenn man sich eine Weile irgendwo im Hafen still auf eine Bank setzt, sieht man sie kommen und gehen, jeder mit der Geschichte einer langen Reise hinter sich und einer unbestimmten Zukunft vor sich. Die Stadt erscheint wie ein Grenzgebiet, wo Leben auf dem Spiel stehen und Handel getrieben wird, wie seit Jahrhunderten. Geister der Vergangenheit vermischen sich mit den Geistern der Gegenwart. Es ist der perfekte Ort, um eine Zugreise durch den Kontinent zu beginnen. Von dieser berühmten Grenze breiten sich die Schienen vor mir aus, und es werden noch viele folgen.

Im Zug mache ich es mir in einem blau-grauen Sitz auf dem Oberdeck bequem. Der Zug fährt pünktlich um 15.39 Uhr ab, und wir fahren an einer Reihe roter Backsteinhäuser und Rangiergleisen mit Lokomotiven und Waggons vorbei, die wegen des Streiks stillstehen, kein Zweifel. Straßenkunst und Graffiti, wie man sie in den Ghettos amerikanischer Städte findet, bedecken die Wände entlang der Gleise, bevor der Zug über einen Kanal rattert und die Landschaft sich öffnet. Das Signalhorn ertönt. Ein Fasan flattert erschrocken übers Feld. Hellbraune Kühe heben die Köpfe bei der ungewohnten Unterbrechung: ein Zug in Frankreich, der tatsächlich fährt.

Die Toiletten sind abgeschlossen, wie ich feststelle; Teil des Streiks. Kleine Städte und Dörfer kommen und gehen. In Audruicq überqueren wir einen schlammigen braunen Fluss. In Watten-Éperlecques betritt ein Schaffner mit flacher Mütze den Wagen, kontrolliert aber nicht die Fahrkarten (ein weiterer Akt des Protests?). In Hazebrouck halten wir bei einem Skoda-Händler und einer Kirche mit einem hohen Turm. In Saint-Omer tauchen ein Campingplatz für Wohnwagen und eine Reihe riesiger Gewächshäuser auf. In Bailleul gibt es einen Lidl und einen Laden mit Musikinstrumenten, in Armentières eine bemerkenswert große Zahl rostiger, unbenutzter Schienen mit kaputten Oberleitungen. Vielleicht war in Armentière einmal mehr los als heute. Irgendwas scheint in Armentière schiefgelaufen zu sein.

Wir fahren unter einem pilzfarbenen Himmel weiter. Die Landschaft zwischen den Bahnhöfen ist moosgrün mit dünnen Pappeln, die die Straßen zu entlegenen Dörfern in den Talmulden des sanft hügeligen Landes säumen. Das traumhafte Gefühl, allem zu entfliehen, das ich in Kent hatte, kehrt zurück. Züge befreien dich schnell von der alltäglichen Lebenswirklichkeit … wenn du es zulässt. Lehn dich einfach zurück und folge den Schienen.

Die Wagenlichter flackern im dämmrigen Licht des bewölkten Tages, als wollten sie auch streiken. Wir verlassen das Land und kommen in einen Vorort mit Reihenhäusern. Glänzende Apartmenthäuser stehen neben Kränen auf Baustellen mit den Rohbauten künftiger glänzender Apartmenthäuser. Der Zug fährt an Bahnsteig 15 in den Bahnhof von Lille in Flandern ein. Wir sind auf die Minute pünktlich.

Ich greife nach meinem Rucksack. Er ist klein, aber schwer, denn es sind viele Bücher drin: Mord im Orient-Express (natürlich), Eine Dame verschwindet (ein Krimi von Ethel Lina White, 1936 veröffentlicht und später von Hitchcock verfilmt), Das Vermächtnis der Spione von John Le Carré, Liebesgrüße aus Moskau von Ian Fleming (es enthält Zugszenen), den European Rail Timetable: ein europäisches Kursbuch, herausgegeben von den ehemaligen Redakteuren von Cook’s Continental Time Tables und Europe by Rail: The Definite Guide von Nicky Gardner und Susanne Kries.

Letzteres ist Pflichtlektüre. Die Autoren haben ein tiefes Verständnis für die Freiheit, die es bedeutet, ohne genauen Plan mit dem Zug zu reisen. »Serendipität« (etwas zu finden, ohne danach zu suchen) ist der Schlüssel, und Bahnreisende wie ich sollten sich »von Lust und Laune leiten lassen«, schreiben sie. J. R. R. Tolkien ist ihr Held. »Nicht alle, die umherschweifen, haben sich verlaufen«, schreibt er in Der Herr der Ringe.

Das im Auge behaltend – heute Morgen hatte ich keine Ahnung, dass ich nach Lille fahren würde –, betrete ich Bahnsteig 15.

Der Bahnhof Lille-Flandres ist ein auffallendes Gebäude aus dem späten 19. Jahrhundert mit Fenstern wie riesige Krocket-Tore und einer prächtigen Fassade mit Glockenturm. An diesem Streiktag herrscht dort eine eigenartige Atmosphäre. Fast niemand ist da, und der Bahnhof erscheint wie ein Ort friedlicher Kontemplation. Es gibt Palmen in Pflanzkübeln, lange Reihen leerer Bänke. Die Schienen sind leer: keine Züge, außer unserem. Eine Frau mit einem Baby im Kinderwagen strampelt auf einem Trimmfahrrad, das Energie produziert und ihr Handy auflädt. Ein schwaches Surren geht von diesem ungewöhnlichen öffentlichen Handyladegerät aus. Nachrichten vom Streik (grève) laufen über Bildschirme. Der Bahnhof Lille-Flandres ist wirklich ruhig, als wären wir in einer Kirche angekommen.

Von hier ist es nur ein kurzer Weg, ungefähr eine Minute, zum Hotel Première Classe Lille Centre. Ich hoffe, es ist ein glücklicher Zufall und geschah nicht nur aus einer Laune heraus, dass ich trotz des Nein, nein, nein letzte Nacht hier ein Zimmer gebucht habe.

Dieses Première Classe, das überrascht mich nicht, ist weit entfernt vom Ritz. Das Hotel befindet sich in einer kleinen Straße mit einer Reihe von Kebab-Läden, Deep-Fried-Chicken-Filialen und einem Night Shop, in dem billiger Alkohol verkauft wird und vor dem eine Gruppe von Männern lebhaft gestikuliert, als ich komme. Mein Zimmer ist im vierten Stock, und man erreicht es über einen Flur mit fadenscheinigem Teppich. Es befinden sich drei schmale Einzelbetten darin; ich bin mir nicht ganz sicher, warum man mir so viele gegeben hat. Ein starker Geruch nach Zitrone erfüllt den Raum, wahrscheinlich von einem Reinigungsmittel. Wenn Gäste im Stockwerk über mir die Toilettenspülung benutzen oder duschen, rauscht eine Wasserflut durch ein Rohr in der Ecke hinunter. Die Farbgebung ist grellorange und rot. Das Badezimmer hat die Größe einer Telefonzelle und ist rosa und apricot. Hotel Première Classe Lille Centre ist nichts für Menschen mit einem empfindlichen Magen.

Aber es wird seinen Zweck erfüllen (das muss es).

Ich gehe nach draußen, vorbei an der Fassade des Bahnhofs Lille-Flandres, um mir den Bahnhof Lille Europe anzusehen, wo der Eurostar ankommt, seit die Züge 1994 von London durch den Kanaltunnel fahren. Lille ist der erste wichtige Halt in Frankreich auf dem Weg von Großbritannien nach Paris oder Brüssel, von London schneller zu erreichen als Birmingham.

Großbritannien ist Europa näher denn je, ob es den bösen Jungs, die den Brexit wollen, gefällt oder nicht.

Der Bahnhof Lille Europe ist höllisch. Er ist tief vergraben in einem großen Einkaufszentrum voller internationaler Marken – H&M, Primark, Uniqlo, Zara, Starbucks und vieles mehr. Albern grinsende Türsteher in auffallenden roten Westen lauern am Eingang. Nervende Muzak spielt. Shopper drängeln und schieben vorbei, den Blick aufs Handy geheftet.

Man könnte in einem Einkaufszentrum überall auf der Welt sein: Abu Dhabi, Texas, Milton Keynes, Hongkong. Ich halte mich nicht lange auf, sondern folge einer Gruppe von jungen Leuten zum Ausgang. Als wir draußen sind, bespuckt eine der Frauen eine Freundin mit ihrem Kaugummi und lacht anschließend laut.

Mon dieu! wie Hercule Poirot vielleicht sagen würde.

Dann gehe ich in ein bezauberndes kleines Restaurant mit Blick auf den Bahnhof Lille Flandres und esse eine köstliche lokale Spezialität namens l’assiette de potjevleesch, Hühnchen in Sülze mit kalten Kartoffeln, Bohnen, Gurken und Oliven. Dann kehre ich in mein orange-rotes Zimmer mit dem rosa-aprikosenfarbenen Badezimmer zurück. Im Stockwerk über mir duscht jemand. Schließlich schlafe ich in einem meiner drei Première-Classe-Betten ein.

»Wie kann man ein Land regieren, in dem es 246 verschiedene Käsesorten gibt?«

VON LILLE ÜBER KORTRIJK NACH BRÜGGE

Der Streik der französischen Bahn scheint weiterzugehen, deshalb gibt es nur eine Lösung: so schnell wie möglich aus Frankreich rauszukommen.

Da ich so nahe an Belgien bin, erweist es sich als ziemlich einfach. Um 15.08 Uhr fährt ein Zug der belgischen Bahn nach Cortrai in Belgien. Von Kortrijk (so wird es auf Belgisch geschrieben, Cortrai ist die französische Version) habe ich um 15.58 Uhr eine Verbindung nach Brügge, Ankunft 16.55 Uhr.

Mit einem Interrail-Pass für einen Monat habe ich tatsächlich die Freiheit auf Schienen. Warum nicht in das »Venedig des Nordens« fahren, wie manche Brügge nennen, bevor ich in ein paar Wochen das richtige Venedig erreiche? Ich muss nur Datum, Zeit und Zielort ins »Reisetagebuch« der Fahrkarte eintragen, wie ich es bei den vorherigen Fahrten auch gemacht habe.

Nachdem ich das getan habe, buche ich online ein Zimmer im Charlie Rockets Youth Hostel im Zentrum von Brügge mit billigen Einzelzimmern, nicht weit vom Bahnhof. Die Badezimmer sind auf dem Flur, aber es sieht ganz nett aus. Es gibt Bilder von der Bar, die offenbar unter dem Motto »Amerika« steht, einschließlich eines Modells der Freiheitsstatue, eingehüllt in Stars and Stripes, verschiedener alter US-Nummernschilder und Poster von Elvis Presley, Marilyn Monroe und John Travolta. Es ist viel netter als Première Class, auch wenn ich anfange, die Eigenarten dieser Kette zu mögen.

Ganz im Geist von Gardner, Kries und Tolkien lasse ich mich vom Zufall durch die Straßen von Lille leiten.

Meine erste Station ist die Kirche Saint-Maurice nur eben um die Ecke vom Première Classe, aus deren Innerem Musik zu hören ist. Es ist eine großartige gotische Kirche, die teilweise aus dem 14.  Jahrhundert stammt. Es ist gerade Morgenmesse. Ich setze mich auf eine der Bänke neben einer riesigen Steinsäule und lausche den Gesängen, die durch den Raum hallen. Es ist sehr angenehm, obwohl ich wenig von dem verstehe, was vor sich geht. Am Ende der Messe reicht mir eine ältere Frau neben mir die Hand. Auch der Rest der Gemeinde gibt dem Nachbarn die Hand.

Bevor ich weiß, wie es gekommen ist, bin ich im Gespräch mit Pater Xavier Behaegel, dem Priester, der den Gottesdienst geleitet hat. Man ist sehr kontaktfreudig in der Kirche Saint- Maurice.

Er ist groß und schlank, Anfang 40, mit freundlichen Augen und gelber Tunika. Ein bisschen dumm frage ich, ob er der oberste Priester sei.

»Oh, nein, das ist der Papst«, antwortet er und versucht ernst zu bleiben.

Noch alberner frage ich, ob er in der Kirche Saint-Maurice das Sagen habe. Sein Blick geht nach oben.

»Das hat der gütige Gott im Himmel«, sagt er.

Pater Behaegel hat einen trockenen Humor.

Anschließend sprechen wir eine Weile über Europa, nachdem er mich gefragt hat, woher ich komme.

»Es ist schade, dass ihr uns verlassen wollt«, sagt er in Bezug auf den Brexit. »Es ist sehr wichtig, dass wir in Europa miteinander leben. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist das wichtig. Es sind gerade gefährliche Zeiten, was den Frieden angeht.«

Er hält inne und sagt dann leise: »Frieden ist zerbrechlich. Wir müssen an den Frieden glauben.«

Lille war in beiden Weltkriegen von den Deutschen besetzt, deshalb wissen die Lillois, so die Bezeichnung für die Einheimischen, Frieden vielleicht mehr zu schätzen als andere. Der Name der Stadt kommt von l’île (die Insel) und leitet sich von ihrer ursprünglichen Lage auf einer Sumpfinsel im Fluss Deûle ab. Sie war immer eine bedeutende Stadt, von den Cloth Fairs im 12. Jahrhundert, während der Zeit unter dem Herzog von Burgund bis zu ihrer Zugehörigkeit zu den spanischen Niederlanden, bevor sie 1668 von Ludwig XIV. von Frankreich zurückerobert wurde, und ihrem unerbittlichen Widerstand gegen Österreich 1792. Die erste Bahnlinie der Stadt, eine Verbindung mit Paris, wurde 1846 eröffnet. Lille ist berühmt, weil hier in den frühen 1920ern die BCG-(Bacillus Calmette-Guérin-)Impfung gegen Tuberkulose von Albert Calmette und Camille Guérin entwickelt wurde. Bevor die Deutschen im Zweiten Weltkrieg zurückkamen, verließen viele Lillois die Stadt. Die Erinnerungen an Fehlverhalten während der deutschen Besetzung im vorigen Krieg waren bei den Einheimischen noch frisch.

Nachdem Pater Behaegel erfahren hat, dass ich gerade aus Calais komme, wenden wir uns dem Thema Migration zu. Flüchtlinge, sagt er, sind nicht nur im Hafen ein Problem. Er hat zwei 17-jährige Flüchtlinge aus Mali bei sich aufgenommen und ihnen in den letzten zehn Monaten Unterkunft gewährt und sie mit Essen versorgt.

»Wir müssen etwas tun, um Flüchtlinge willkommen zu heißen. Wir können uns nicht einfach abwenden«, sagt er leise.

Eine ältere Frau wendet sich an Pater Behaegel, und ich verlasse die Kirche, um meine zweite religiöse Handlung an diesem Tag zu begehen. Also eine Art.

Ich betrete L’Abbaye, eine Bar am Rand des Grand Place.

Warum nicht? Ich bin im Urlaub. Meine »Argumente« von der Fähre sind hier genauso zutreffend wie da. Andere Menschen sind hier in der »Abtei«, um Bier zu trinken. Es ist Sonntagmittag und das tun Lillois offenbar um diese Zeit. Ein großes Glas (ein halber Liter) wird mir gebracht. Das Bier ist köstlich, und ich komme mir ein bisschen dekadent vor, als ein leichter Rausch einsetzt. Ich weiß, dass mein Zug mich erwartet. Ich kann hier sitzen und eine Weile einfach nichts tun. Hinterher kann ich mich ein oder zwei Stunden durch Lille treiben lassen, ein Flaneur in dem Land, in dem das Wort erfunden wurde.