DuMont Welt-Menschen-Reisen Verschollen im Dschungel - Roman J. Dial - E-Book

DuMont Welt-Menschen-Reisen Verschollen im Dschungel E-Book

Roman J. Dial

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Beschreibung

Mit den E-Books der DuMont Welt - Menschen – Reisen sparen Sie Gewicht im Reisegepäck und können viele praktische Zusatzfunktionen nutzen!

Das E-Book basiert auf: 1. Auflage 2021, Dumont Reiseverlag

In den frühen Morgenstunden des 10. Juli verlässt Cody Dial sein Hostel in Puerto Jimenéz für eine mehrtägige Tour in den Corcovado Nationalpark, ein wildes, abgelegenes Stück Regenwald an der Pazifikküste von Costa Rica. Dann verschwindet Cody spurlos. Zwei Jahre lang sucht der Vater, von schweren Schuldgefühlen getrieben, nach ihm, sowohl mit offizieller Unterstützung der costaricanischen Behörden als auch auf eigene Faust – erfolglos. Wilde Gerüchte um Codys Verschwinden kursieren, bis Minenarbeiter zwei Jahre später durch Zufall seine Leiche finden. Der schmerzliche Verlust seines Sohnes wird für Roman Dial ein Prüfstein, der sein Leben als Abenteurer und die Unverwundbarkeit des Menschen in Frage stellt.

  • Ein bewegendes Schicksal, fesselnd und nachdenklich erzählt.

»Bis heute ringe ich mit Fragen, wie: Habe ich mich schuldig gemacht? Habe ich genug aufgepasst? War ich zu egoistisch?« (Roman J. Dial)

Tipp: Setzen Sie Ihre persönlichen Lesezeichen an den interessanten Stellen und machen Sie sich Notizen… und durchsuchen Sie das E-Book mit der praktischen Volltextsuche!

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Seitenzahl: 443

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ROMAN DIAL

VERSCHOLLEN

IM DSCHUNGEL

Ein Vater auf der verzweifelten Suche nach seinem Sohn

Aus dem Amerikanischen von Thomas Rach und Jessika Zollickhofer

1. Auflage 2021

© Roman Dial, 2020

© 2021 für die deutsche Ausgabe: DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Die englische Originalausgabe ist 2020 unter dem Titel »The Adventurer’s Son« bei William Morrow, HarperCollins, erschienen.

Die Übersetzung wurde vermittelt durch Andrew Nurnberg Associates

Das Gedicht »Schlafend im Wald« aus »Twelve Moons« stammt von Mary Oliver und wird hier zitiert mit freundlicher Genehmigung von Little, Brown and Company.

Übersetzung: Thomas Rach, Jessika Zollickhofer

Redaktion: Regina Carstensen

Umschlaggestaltung: 

Umschlagfotos: © Brent Olson/Aurora Photos/Getty Images (Vorderseite),

Autor (Rückseite), Ben Weissenbach (Klappe hinten)

Fotos Innenteil: >>>>: Todd Tumolo; alle anderen: Autor

www.dumontreise.de

Trial and error,

Failure and terror,

The truth of the matter at hand.

Death in a whisper

Is so much to weather

For the life of a wife

And her man.

Inhalt

Prolog: Familie

TEIL I

  1  Usibelli

  2  Cody Roman Dial

  3  Der Wendekreis des Krebses und des Steinbocks

  4  Umnak

  5  Weltraumkapitän

  6  Borneo

  7  Gunung Palung

  8  Dschungel und Eis

  9  Dungeons & Dragons

10  Big Banana

TEIL II

11  Mexiko

12  Guatemala

13  El Petén

14  Auf der Suche nach Carmelita

15  Richtung Süden nach Costa Rica

16  »Die bislang beste Karte«

TEIL III

17  »Bitte melde dich!«

18  Dondee

19  Das Corners

20  Carate

21  Der Hubschrauber

22  Río Conte

23  Jenkins

24  Zeledón

25  Cruz Roja

26  Whiteout

27  Las Quebraditas

28  Negritos

29  Piedras Blancas

30  Heimatfront

31  The Fellowship

32  Baumsturz

33  Ein Verdacht

34  Peggy und Jazz

35  Cerro de Oro

36  Romans Route

37  Río Claro

38  Zurück nach Alaska

39  Tijat

40  Carson

41  Saat des Zweifels

42  Pata Lora

43  Ein Rucksack

44  Entdeckung

45  Schlafend im Wald

46  Letzte Gewissheit

47  Einäscherung

Epilog: Fleisch, Raben und Samen

Dank

Prolo  g 

Familie

Auf einer Küstenwanderung in Nordkalifornien, 1989.

Meine Frau Peggy brachte unseren Sohn Cody Roman Dial am 22. Februar 1987 in Fairbanks, Alaska, zur Welt. Peggy und ich haben uns dort als Teenager kennengelernt. Die Aussicht, Berge zu erklimmen, auf Gletschern Ski zu fahren und auf wilden Flüssen zu raften, hatte mich hergelockt. Wir zogen Cody Roman und seine Schwester Jazz ganz bewusst in Alaska groß, unternahmen mit ihnen naturkundliche Reisen und erlebten zusammen die Wildnis in verschiedenen Regionen der Welt. Als Cody Roman sechs Jahre alt war, wanderten wir beide zusammen sechzig Meilen über eine einsame Insel der Aleuten. Als er neun war, besuchten wir als Familie einen abgelegenen Nationalpark im indonesischen Borneo, ein prägendes Erlebnis in einem fantastischen tropischen Regenwald. Während Unternehmungen wie Wildnistrips und Reisen in Entwicklungsländer Cody Roman von vielen anderen Kindern abhoben, baute er genauso mit Lego oder spielte Videospiele, hörte Indie-Rock, las Harry Potter und besuchte eine öffentliche Schule wie ein normales Kind aus einer Familie, die durch Natur- und Abenteuererlebnisse eng zusammengewachsen war. Als Wissenschaftler und Forscher bezog ich ihn als meinen bevorzugten und lernwilligen Partner in meine Studien ein.

Mit sechsundzwanzig verließ Cody Roman die Uni in Alaska und ging für drei Monate an die Ostküste und danach sechs Monate nach Lateinamerika. Er erkundete Vulkane, Flüsse, Ruinen, Riffe und Dschungel auf eigene Faust und mit anderen Travellern, die er unterwegs kennenlernte. Während seiner Reise blieb er mit seiner Familie und Freunden in Kontakt, indem er uns Reisepläne, Karten und Geschichten mailte. Dann, im Juli 2014, als er in Costa Rica war, kamen plötzlich keine E-Mails mehr – nachdem er uns Details über eine geplante fünftägige Wanderung ohne Begleitung und off-trail geschickt hatte. Alarmiert und voller Schuldgefühle, unterdrückte ich die in mir aufsteigende Panik und flog hinunter nach Costa Rica, um seine Spur aufzunehmen, bevor es zu spät wäre.

Dieses Buch ist die Geschichte unseres Lebens und der Suche nach meinem Sohn. Einige Dialoge haben tatsächlich so stattgefunden, andere habe ich aus der Erinnerung aufgeschrieben, manche sind seit Jahrzehnten mündlich überliefert, manche ausgedacht. Es war schmerzhaft für mich, dieses Buch zu schreiben: voller Nostalgie, Katharsis, Trauer, Sehnsucht und inneren Kämpfen. Aber die Geschichte ist wichtig – das Wichtigste, was ich je geschrieben habe. Ich bin es Cody Roman schuldig, sie wahrheitsgemäß zu erzählen.

Teil I

1

Usibelli

Der junge Roman mit seinem Onkel Brian, Rochester, Washington, 1973.

1955 verließ ein sechzehnjähriges Mädchen mit Namen Linda Eklund die vier Hektar große Farm ihrer Eltern nahe Rochester, Washington, um in Seattle zu leben, wahrscheinlich um ihrem Stiefvater zu entkommen oder vielleicht auch dem schroffen teutonischen Naturell ihrer Mutter. Mit zwanzig lernte Linda meinen Vater kennen, verliebte sich und brachte mich mit einundzwanzig zur Welt. Vier Jahre später bekam sie meine Schwester Tamara.

»War ich ein Versehen?«, fragte Tamara einmal.

»Nein. Aber dein Bruder war eins«, flachste meine Mutter. Ich wälzte den Gedanken, was es bedeutete, ein Versehen zu sein, und es versetzte mir einen kleinen Stich. Meine Mutter spürte meine Enttäuschung und fuhr fort: »Dein Vater mochte ihn aber so sehr, dass er noch eins haben wollte, und das warst dann du, Tamara Dial.« Meine Mutter hatte Tamara nach ihrer besten Freundin benannt, die ihr geholfen hatte, auf eigenen Füßen zu stehen, als sie von zu Hause weggezogen war.

Mein Vater gab mir die Namen seiner Onkel – Roman und Joseph, gebürtige Polen –, die auf ihrer Farm in Enumclaw, östlich von Seattle, Vaterersatz für ihn gewesen waren. Seinen leiblichen Vater hat mein Dad nie kennengelernt, und als erklärter Stadtmensch hat es ihn auch nie groß in die Natur gezogen. Nachdem ich Bekanntschaft mit meinen Namensgebern gemacht hatte, die sich recht distanziert und nicht sonderlich herzlich gaben, begriff ich, warum sich mein Dad mit seiner Vaterrolle so abmühte: Er wusste nicht so richtig, wie er einer sein sollte.

Wie alle Jungs war ich fasziniert von meinem Vater und fühlte mich zu ihm hingezogen wie die Motte zum Licht. Ich beobachtete ihn genau und schaute mir so viel wie möglich von ihm ab. Meine schönste Erinnerung an Bob Dial stammt vom Februar 1970, als ich neun war. Mein Dad, von Beruf ein diplomierter Bauingenieur, der Computermodelle für die Darstellung von Verkehrsströmen entwickelte, hatte einen Job im Norden Virginias angenommen. Während Tamara und meine Mutter nach Falls Church in unser neues Zuhause flogen, fuhr er mit unserem Shetland Sheepdog Brute und mir in unserem Porsche Speedster quer durchs Land.

Es war eine herrliche Fahrt, die sich entlang der Küste Oregons nach Süden schlängelte, unter Küstenmammutbäumen hindurch, über die Sierras und Rockies, dann durch die leeren Ebenen von Kansas und die flachen Wälder östlich des Mississippi. Wir unterhielten uns, während der Kontinent an uns vorüberzog, und manchmal setzte mein Vater mich auf seinen Schoß und ließ mich den silbernen Speedster auf den kurvigen Landstraßen lenken. Mit der Tour sind liebevolle Erinnerungen an meinen Vater und ein Gefühl inniger Verbundenheit verknüpft. Später lernte ich, dass Bindungen gepflegt werden müssen, um von Dauer zu sein.

Im Mai 1970 kauften mir meine Eltern ein Ticket nach Alaska, wo ich eine Zeit lang bei den Brüdern meiner Mutter in Usibelli, einer Bergbausiedlung in der Alaska Range, verbrachte. Damals erschien mir die Reise wie ein Ersatz für die Abenteuer meiner Freunde im Sommerlager. Als Erwachsener jedoch kam mir der Gedanke, dass meine Eltern mich wegschickten, weil sie mit ihrer Ehe zu kämpfen hatten. In der Schublade meiner Mutter mit alten Fotos findet sich keines von unserer Familie nach diesem Sommer, auf dem auch mein Vater anwesend war. Tamara und ich sahen ihn nur noch an Wochenenden, an denen er uns häufig verspätet abholte. Wir saßen im Haus, warteten und waren enttäuscht darüber, dass er sich mehr für sein eigenes Leben interessierte als für unseres.

In jenem Sommer in Usibelli waren die Probleme meiner Eltern für mich nicht sichtbar. Ich war ein kleines Kind, das nur wusste, Alaska würde noch aufregender sein als die Farm seiner Großmutter. Meine Großmutter lebte eineinhalb Stunden von Seattle entfernt mit einem Dutzend Kühen, Schweinen, Hasen, einem Gemüsegarten und Brombeersträuchern. In der Umgebung auf dem Land umherzustreifen und die Natur mit ihren Tieren zu entdecken, ließ den Zoo in Seattle wie eine Angelegenheit bloßen Zuschauens erscheinen. Meine Onkel – Zinn und Brian – waren freundlich zu mir, dem Sohn ihrer großen Schwester, einem dürren, frühreifen Stadtkind ohne jeden Menschenverstand, wie sie mir geradeheraus mit einem Lachen unter die Nase rieben. Sie brachten mir Dinge über die Natur und das Leben bei, die mich keine Schule und kein Buch lehren konnten.

Nachdem er mich vom Flughafen Fairbanks abgeholt hatte, fuhr Zinn mit mir nach Süden. Ich saß auf dem Rücksitz, die Nase an die Scheibe gedrückt, und ließ die Aussicht auf mich wirken. Es war meine erste Reise nach Alaska, und ich war schon jetzt berauscht von der Mitternachtssonne und den Landschaften, die sich jenseits der Schotterstraße ohne Gebäude, Zäune oder irgendetwas anderes von Menschen Geschaffenes ausbreiteten. Drei Stunden später bog er mit seinem Ford Pick-up vom Parks Highway nach Osten Richtung Healy ab.

Zinn fuhr langsam, um wenig Staub aufzuwirbeln, während wir Waldungen mit verkrüppelten Fichten und verkümmerten Espen durchquerten, die das Vorgebirge der Alaska Range überzogen. Er steuerte den Ford über die einspurige Bockbrücke eines Schienenstrangs, der in die Bergbausiedlung Usibelli führte. Ich blickte durch die Bahnschwellen hinunter auf den aufgewühlten Nenana River, sein sich dahinwälzendes gletschergraues Wasser, hypnotisch und Furcht einflößend. Hinter der Brücke wand sich die Straße vorbei an qualmenden Klippen brennender Kohleflöze. Im Süden ragten schorfige Berge über fahler Tundra auf, die Gipfel noch vom letzten Schnee des Winters überzogen.

Meine Onkel arbeiteten für die Kohlemine Usibelli und lebten auch dort. Die verstreute Ansammlung von walzblech- und schindelverkleideten Gebäuden zwischen Sattelschleppern ließ sich nur schwerlich als Werkssiedlung der Usibelli Coal Company bezeichnen. Beide Onkel hatten lange Arbeitstage an schwerem Maschinengerät, das die Kohle aus den sanft gewellten Hügeln abtrug. Meine Mutter hatte mich zwar in die Obhut der beiden gegeben, doch es war klar, dass Brian und Zinn anderes zu tun hatten. Ich musste mich allein beschäftigen. Zum Glück gab es unter der großzügigen Vernachlässigung durch meine Onkel jede Menge für mich zu entdecken.

Brian hatte am selben Tag wie ich Geburtstag und war genau neun Jahre älter. Er besaß nicht nur die Statur eines Kindes, sondern auch dessen Herz, hatte strahlend blaue Augen unter Brauen, die sich stets amüsiert zusammenzuziehen schienen, und manchmal stotterte er, doch verstärkten seine abgehackten Äußerungen nur das, was er loswerden wollte. Vielleicht weil er das Küken in seiner Familie und ich jünger war – immerhin aber alt genug, um als Bruder durchzugehen –, stellte er mich seinen Freunden stolz als »mein kleiner Neffe« vor. Wie Zinn nannte er mich häufig »Rome«.

»Hey, Rome!«, grinste Brian, während Zinn meine Taschen am ersten Abend in Usibelli in ein Zimmer in Brians Baracke trug. »Du kannst hier schlafen. Zinn und ich müssen morgen arbeiten, aber wir werden versuchen, am Wochenende einen Ausflug mit Zinns Kawasaki zu machen.« Zinn, der seine Frau Faye, den drei Jahre alten Sohn und die noch kleinere Tochter nach Usibelli gebracht hatte, wohnte in dem Haus nebenan. Faye sollte ein Auge auf mich haben, tat es aber nur selten.

Brian gab mir einen Crashkurs, um in der tagsüber leeren Baracke zu überleben, wenn alle weg waren und Kohle abtrugen. »Das da ist der Backofen. Und hier« – er öffnete den Kühlschrank – »sind die Kartoffelkroketten. Schalt einfach den Ofen ein, leg die Kroketten aufs Blech und lass sie so lange drin, bis sie duften. Iss, worauf du Lust hast, aber b-b-brenn die Bude nicht ab!«, instruierte er mich mit einem Lachen. »Außerdem«, sagte er und wurde ernst, »wenn du die Siedlung verlassen willst, nimm Moose mit. Bis heute Abend, Rome!« Damit machte er sich auf den Weg zur Arbeit, und ich ging mit Moose auf Erkundungstour.

Moose war der Hund der Siedlung. Zinn behauptete, Moose wäre halb ein Wolf, und ich glaubte ihm. Sein Fell war dicht, dichter als bei jedem anderen Hund, den ich jemals gestreichelt hatte, und er war groß, mit langen, schlaksigen Beinen und mächtigen Pfoten an einem Körper, der ansonsten einem Deutschen Schäferhund glich. Er wedelte mit seinem Schwanz und sah mich mit einem Hundegrinsen an, während ich über seinen Rücken rubbelte.

Im Alaska von 1970 gab es keine Computer oder Fernseher. Stattdessen hatte ich Bücher und einen Fernkurs in Taxidermie, ein Sportgewehr, das mir meine Onkel zu getreuen Händen gaben, und ein Kawasaki-Geländemotorrad, das zu groß für mich war. Der vordere Bremshebel des Motorrads war entzweigebrochen, das Ergebnis eines missglückten Kickstarts. Um es anzuwerfen, musste ich meinen schmächtigen Körper in die Höhe katapultieren, beide Beine in der Luft, dann mit dem rechten Fuß den Kickstarter zwecks Zündung durchdrücken, den ersten Gang einlegen, und das alles rechtzeitig, bevor das Motorrad umfiel. Das Timing ging nicht immer auf. Wenn doch, dann kundschaftete ich die Straßen rund um die Siedlung aus und fand es aufregend, allein herumzukurven, bis es mir dann doch irgendwann langweilig wurde.

Spannender aber waren die Ausflüge zu Fuß, abseits irgendwelcher Wege, mit Moose als Kundschafter vorneweg. Wir schlugen uns durch Dickichte aus Weiden und Erlen, sprangen über Felsen, wateten durch Bäche und erforschten zwei nahe Geisterstädte, Suntrana und Lignite, deren Kohlevorkommen erschöpft waren, aber der Geruch von Diesel hing noch in der Luft. Waldfrösche saßen in Tundratümpeln, Elstern im dichten Gebüsch, Rothörnchen in den Nadelbäumen. Ich hatte Naturführer von Peterson dabei, um die Vögel und Säugetiere zu bestimmen. Die Bücher nährten meinen Traum, später einmal Wissenschaftler zu werden, und die Natur um Usibelli gab meinem Traum eine Gestalt.

Im Frühherbst nahm mich Zinn mit auf eine Bogenjagd nach Elchen abseits des Stampede Trail. Mitternachtssonne gab es nicht mehr, und nachts wurde es bis auf das Polarlicht, das über uns schimmerte, stockfinster. Wir brachen früh auf, um einen Elch aufzuspüren, und meine Zehen tauten erst auf, als auch der Frost von den roten Blättern der Weideröschen abschmolz. Ich versuchte, mich so geräuschlos wie möglich zu bewegen, aber Zinn drehte sich zu mir um. »Du bist ganz schön laut, weißt du das?« Er griente und bleckte dabei seine großen falschen Zähne. Seine echten waren ihm bei einem Kampf mit seinem besten Freund ausgeschlagen worden.

Ich konzentrierte mich doppelt darauf, nicht auf irgendwelche Zweige zu treten, nicht an Büschen zu rascheln und überhaupt den Mund zu halten. Ich lief dicht hinter Zinn, der sein acht Pfund schweres Jagdgewehr geschultert hatte, das wir, wie er sagte, vielleicht für Bären brauchen würden. Zinn machte ein braunes Etwas aus, an das wir uns leise heranpirschten, bis er mich anwies zu warten, während er weiterging. Geduldig saß ich da und streichelte über das Gewehr. Von Zinn zur Vorsicht ermahnt, beobachtete ich durch das Zielfernrohr krabbelnde Käfer und fallende Blätter.

Wie aus dem Nichts tauchte Zinn wieder aus dem Gebüsch auf. »Es ist eine Elchkuh«, flüsterte er, wissend, dass ein Bulle noch in der Nähe sein konnte. Wir durften nur Elchbullen ins Visier nehmen, also setzten wir die Jagd fort, bis der intensive, schwere Geruch von Cranberry-Sträuchern den Wald erfüllte. »Elche legen sich um die Tageszeit hin, weil es ihnen zu heiß ist. Wir werden kein Glück haben. Fahren wir zurück nach Usibelli.« Zinns Lehrstunden gründeten auf seinen ländlichen Wurzeln und einer Schiffstour um die Welt mit der U. S. Navy.

Später in jenem Herbst erlegte Zinn nahe dem abgelegenen Cody Pass einen Karibubullen ohne mich. Er brachte das süßlich schmeckende Fleisch und das noch von einem kurzen Fell, der sogenannten Basthaut, überzogene Geweih. Wie Haut besitzt die Basthaut Blutgefäße, die das Geweih versorgen und es wachsen lassen. Ist die volle Größe erreicht, reibt der Elchbulle den Flaum ab, um Elchkühen und anderen Bullen seinen hellen Kopfschmuck zu präsentieren oder um sich das Recht zur Paarung zu erstreiten.

Zinn bat mich, das Geweih zu präparieren. Laut den Unterlagen meines Taxidermiekurses würde eine Spülung mit Benzin das Blut aus der Basthaut auswaschen. Ich tauchte das pelzige Gehörn in Benzin, trug Trockenkonservierungsmittel zwischen Schädelplatte und Haut auf und montierte das Ganze auf eine Platte. Für meinen Rückflug packten wir das Geweih zusammen mit einem großen Raben, den ich bearbeitet hatte, in eine Kiste: zwei unbezahlbare Souvenirs eines Sommers, in dem ich tun konnte, was ich wollte, und lernte, was Unabhängigkeit und Verantwortung bedeutet.

Im folgenden Sommer in Virginia fuhren wir mit dem Vater eines Freundes in die Appalachen. Wir wollten den Old Rag besteigen, eine kahle Granitkuppe im Nationalpark Shenandoah. »Da sind sie«, verkündete der Vater, als die Anhöhen in Sichtweite kamen, »die Blue Ridge Mountains!«

»Das sind keine Berge!«, sagte ich, dessen Wertschätzung für Landschaft durch Alaska für immer ruiniert war. »Das sind nur Hügel. Da liegt ja noch nicht mal Schnee drauf!«

Bemerkungen dieser Art schufen mir nicht viele Freunde. »Hör auf, so anzugeben, Roman!«, sagten sie. Doch ihre Kritik tat angesichts mangelnder Freiheiten und Abenteuer hier im Osten meiner Begeisterung für Alaska keinen Abbruch. Was ich in Alaska erlebt hatte, stattete mich mit dem Selbstvertrauen aus, alles ausprobieren zu können, und gab mir die Kraft, das Zerwürfnis meiner Eltern durchzustehen, das mit ihrer Trennung 1970 begann und vier Jahre später, als ich dreizehn war, mit ihrer Scheidung endete.

Meine Mutter heiratete danach einen sanftmütigen Anwalt aus Virginia namens Lew Griffith. Auch wenn wir ihn nie »Dad« nannten, gab Lew für meine Schwester und mich eine fabelhafte Vaterfigur ab. Meine Mutter und er päppelten meine vorpubertäre Faszination für Dreiecksnattern und lungenlose Salamander, dampfende Geysire und Torfmoore. Sie unterstützten sogar meine Vorschläge für die Familienurlaube, bei denen ich die Ziele wählte und die Routen plante.

Gut vorbereitet dank Karten des Automobilclubs und Artikeln aus National Geographic, entwarf ich weitgespannte naturkundliche Reisen. Mit meiner Mutter oder Lew hinter dem Steuer des Familien-Kombis unternahmen wir Autofahrten auf der Jagd nach farbenprächtigen Amphibien in die Appalachen und auf der Suche nach insektenfressenden Pflanzen zu den Sümpfen des Südens. Wir streiften nachts auf dem Sommerasphalt durch die Wüsten Arizonas und hielten Ausschau nach Reptilien. Meine Mutter machte aus der Autofahrt mit Tamara und mir zur Farm meiner Großmutter sogar eine Tour durch die Nationalparks quer durchs Land.

Tamara blieb meistens am Motelpool oder bei meiner Mutter und Lew, während ich allein oder mit meinem besten Freund Mike Cooper, der auf diesen Ausflügen häufig mit dabei war, loszog, um nach Tieren zu suchen. Tamara, die sich mehr für Hunde und Pferde interessierte, scheute den Schmutz, die Insekten und Spinnweben, die wir Nachwuchswissenschaftler bereitwillig in Kauf nahmen.

Damals in den Sechziger- und Siebzigerjahren, in jener idyllischen Ära zwischen ländlich-agrarischem Amerika, als Kinder noch auf dem Feld arbeiteten, und dem heutigen vorstädtisch-urbanen Amerika, in dem Kinder ihre Freizeit vorzugsweise drinnen verbringen, konnte man sich als Junge noch allein wegstehlen, um irgendwo zu spielen. Vororte wie Holmes Run Acres, wo wir in Falls Church wohnten, grenzten häufig direkt an natürliche Ökosysteme. Der Chiles Tract, die größte unbebaute Fläche innerhalb des Beltway von Washington, D. C., lag nur zwei Straßen von unserem Haus entfernt. Ich verbrachte Stunden in seinen Wäldern, an den Bächen und Sümpfen, und lernte, mich im Wald zurechtzufinden.

Mike Cooper und ich befüllten dunstbeschlagene Terrarien in unseren Zimmern mit Stängellosem Frauenschuh und leuchtend grünen Torfmoosen, die wir im Chiles Tract fanden. In unseren blubbernden Aquarien tummelten sich Grünliche Wassermolche aus den Sümpfen und Tropfenschildkröten aus dem Bach. Nachdem eine getürmte Schlange ihren Weg in die Unterwäscheschublade meiner Mutter gefunden hatte wurde ich höflich, aber regelmäßig ermahnt, die Tür zu meinem Zimmer geschlossen zu halten.

Unsere Mutter schätzte Bildung und schickte Tamara und mich auf eine kleine progressive private Grundschule in der Nähe, in der einfühlsame Naturkunde- und Englischlehrer meine Begeisterung für Wissenschaft und Natur in Aufsätze und Forschungsprojekte für ihren Unterricht kanalisierten. Mit fortschreitender Pubertät jedoch verlagerte sich mein Interesse weg von der Reptilienpflege hin zum Wesen von Mädchen.

In meinem letzten Jahr an der Highschool nahmen meine Aktivitäten in Abenteuersportarten deutlich mehr Raum ein als meine naturkundlichen Studien. Das Felsklettern mit seinem Reiz der körperlichen Herausforderung hoch über dem Boden begeisterte mich am meisten und ich schloss mich zwei Teenagern an, die auf hohem Niveau kletterten: Dieter Klose und Savvy Sanders. Nach Abschluss der Schule machten wir drei uns in Dieters weißem Econoline Kleinbus auf nach Colorado. Mich zog es noch weiter, per Anhalter und Güterzug erkundete ich den Westen und nahm am Ende des Sommers die Fähre nach Alaska.

Angesichts meiner guten Noten und meinem großen Interesse an Abenteuersport redeten meine Eltern und Nachbarn mir zu, mich für Princeton und Dartmouth zu bewerben. Aber ich konnte nicht. Drei Sommer in Alaska hatten meine Genussfähigkeit stumpf werden lassen, dadurch dass ich das Beste gleich als Erstes gesehen hatte, wie schon Henry Gannett, Teilnehmer der Harriman Alaska Expedition 1899, gewarnt hatte. Es gab nur noch einen Ort für mich.

Zum vermutlichen Entsetzen meiner Eltern, obwohl sie nie versuchten, mich davon abzubringen, bewarb ich mich an einem weit entfernten College, das auf dem Umschlag seines Verzeichnisses den Mount Huntington der Alaska Range zeigte – an der UAF, der University of Alaska Fairbanks –, um Naturwissenschaften zu studieren – ich wurde ein Mathematiker, der sich für Biologie und Ökologie interessierte –, um das Abenteuer fortzusetzen und um ein weiteres Mal das zu tun, was immer ich wollte.

Als ich mit sechzehn in den Norden ging, war ich zu naiv, um das Ansehen zu würdigen, das mir ein Studium an einer Ivy-League-Universität bringen würde. Doch selbst heute, da ich dies als nahezu Sechzigjähriger niederschreibe, bereue ich meinen Weggang damals nach Alaska nicht im geringsten.

2

Cody Roman Dial

Gemeinsames Nickerchen, November 1987.

Peggy Mayne lernte ich in einem Fitnessstudio in Fairbanks kennen, als sie achtzehn war. Sie, schmal und mit langen blonden Haaren, schaute mir beim Klettern zu. Dabei war sie, wie es schien, eher an mir als am Klettern interessiert. Sie hatte noch nie in der Wildnis gezeltet oder einen Berg bestiegen, liebte es aber, diese Abenteuer mit mir zu teilen. Die gefährlicheren Touren unternahm ich allerdings mit Kletterern, die genauso verrückte Gipfelstürmer waren wie ich. Doch nachdem mich der McGinnis Peak, rund hundert Meilen von Fairbanks entfernt und 1270 Meter hoch, mit seinen Gletschermassen fast umgebracht hatte, fragte ich Peggy, ob sie meine Frau werden wolle. Im Beisein von Familie und Freunden heirateten wir 1985 auf einer großen, weiten Fläche hinter einem Blockhaus am Miller Hill. Es folgten unsere Flitterwochen auf Maui, danach zogen wir in ein Haus, eine Straße von Maureen und Steve, Freunden von uns, entfernt. Es war ein schönes Gefühl, verheiratet zu sein und mit dem Alpinismus abgeschlossen zu haben, auch wenn die Wildnis Alaskas mich nicht ganz losließ.

Im Mai des folgenden Jahres, nach meinem Uni-Abschluss, brachen Peggy und ich auf, um westlich der Trans-Alaska-Pipeline das Mittelstück einer tausend Meilen langen Traverse in der Brooks Range auf Langlaufskiern in Angriff zu nehmen. Wir zogen Schlitten beladen mit einem Zelt, Packraft und Paddel, außerdem Verpflegung und Ausrüstung für vier Wochen und hofften, den Wechsel vom Frühjahr zum Sommer genießen zu können. Zwischen Mai und August wird es in der Brooks Range nie dunkel.

Nur fünf Meilen von der Straße entfernt, sorgte die Nachmittagssonne für eine miserable Schneedecke, die zu weich war, um darauf Ski zu fahren, geschweige denn, darauf zu gehen. Wir kletterten zum Rand des Canyons, schlugen unser Lager auf und warteten, dass es abkühlen und der Schnee wieder härter werden würde. »Lass uns einfach hierbleiben«, schlug Peggy vor, als die erste Nacht über dem Gefrierpunkt blieb.

Wir bauten das Zelt Richtung Osten mit Blick über das Tal des Kuyuktuvuk Creek unter uns auf. Dann warteten wir, hingen in unserem Lager fest, das Zelt so heiß wie ein Gewächshaus, während ein sonniger Tag dem nächsten folgte. Wir zogen uns aus, um es etwas kühler zu haben, und genossen – im Prinzip ja noch jungvermählt – die zweiten Flitterwochen. Zum Ausharren im Zelt verdammt, klagte Peggy: »Ich habe noch nie so viele Süßigkeiten auf einem Ausflug gegessen. Wir essen dreimal am Tag Schokolade und liegen nur im Zelt herum!«

»Was ist verkehrt daran?«, fragte ich in der Überzeugung, dass es sicherlich besser sei, als ein Trip, bei dem uns das Essen ausging, oder auf einem eiskalten Gipfel zu biwakieren.

Während ich zufrieden damit war, den ganzen Tag nackt und verschwitzt herumzuhängen und nachts unter der Decke zu schmusen, wollte Peggy mehr Bewegung. Der Schnee im Tal war nach wie vor zu matschig, um die Reise fortzusetzen, aber die Hänge oberhalb des Lagers froren im Dämmerlicht zu einer begehbaren Kruste. Unter dem glimmenden Schein der Mitternachtssonne hinter dem nördlichen Wall der Brooks Range verbrachten wir die Woche damit, nachts die Berge zu erkunden. Wir kletterten ein paar hundert Meter auf einen geeigneten Bergkamm und rutschten dann auf unseren Hintern in einer Art lebendigem Leiterspiel wieder abwärts. Mit einem Eispickel zwischen uns lenkte Peggy ihre Fahrt über den steilen Schnee. Ich suchte meinen Halt zum selben Zweck an langen, stabilen Felsbrocken.

Einmal, als wir nach einer Nacht in den Bergen ins Zelt zurückgekehrt waren, wachte Peggy auf, sah nach draußen und richtete ihren Blick in den Himmel. Es war drei Uhr nachmittags. »Bäh«, sagte sie, »noch immer grau.« Die Wolken bedeuteten eine weitere laue Nacht und zu weichen Schnee, um weiterzuziehen. »Wir sind Gefangene.«

»Gefangene der Liebe«, erinnerte ich sie und zog sie zurück ins Zelt.

Vertrieben von den matschigen Verhältnissen im Mai, kehrten wir im Juli zum Wandern und Packrafting an den Kuyuktuvuk Creek zurück. Auf der Hälfte der 350 Meilen langen Tour entdeckten wir, dass Peggy schwanger war. Um ihre Morgenübelkeit mit etwas Frischem abzumildern, fingen wir Äschen, eine Art arktische Forelle. Peggy war ängstlich im Wasser, und ich nahm ihre Hand, wenn wir durch Bäche und Flüsse wateten. Sie sang, während ich uns in unserem Packraft voranpaddelte. Jeden Tag verbrachten wir zusammen, jede Nacht wärmten wir uns gegenseitig unter unserem einen Schlafsack, den wir wie eine Decke über uns ausgebreitet hatten. Nicht einfach, aber es klappte. Und dann erlebten wir einen denkwürdigen Moment tiefer Urangst: Ein Grizzly, den ich die ganze Zeit zittrig im Visier meines Jagdgewehrs hatte, stellte uns nach und blieb erst ein paar Meter vor uns stehen, als er endlich unseren Geruch witterte. Der Monat in der Brooks Range schweißte uns enger zusammen, als wir es je zuvor mit jemandem erlebt hatten.

Jahre später nahmen Peggy und ich am Wilderness Classic in der Brooks Range teil. Die Strecke führte den Kuyuktuvuk Creek entlang. In einem Briefing vor dem Rennen erzählte ein Park Ranger vor versammelten Teilnehmern, dass in der Sprache der lokalen Nunamiut der Name Kuyuktuvuk so viel bedeute wie »Ort, um viele Male zu lieben«.

Peggy lächelte und warf mir einen Blick zu. »Woher wusste er das?«

Neun Monate nach unseren Flitterwochen am Kuyuktuvuk und an dem Tag, als ein Kälteeinbruch in Fairbanks zu Ende ging, setzten kurz vor Mitternacht bei Peggy die Wehen ein. »Roman, es ist so weit. Das Baby kommt.«

»Nein, das sind Braxton-Hicks-Kontraktionen«, zitierte ich mein Wissen über falsche Wehen. »Schlaf weiter.« Ich drehte mich wieder um.

Sie kicherte. »Nein, die sind echt. Ich kann es spüren. Lass uns fahren!« Wir standen auf, und ihre Fruchtblase platzte noch im Schlafzimmer. Wir hetzten in unserem kleinen roten Toyota zum Fairbanks Hospital. Es war der 22. Februar 1987.

Wie viele Erstmütter quälte sich Peggy die ganze Nacht, das verschwitzte Haar klebte an ihrer Stirn. Machtlos konnte ich nur ihre Hand halten, während sie meine im Rhythmus ihrer Kontraktionen drückte und quetschte. Als unser neugeborener Junge, ganz rot vom Blut und mit Schleim verschmiert, mit dem Kopf voran schließlich herausglitt, wurde ich fast ohnmächtig. Peggy war ohne Zweifel zäher, als ich es jemals würde sein können.

Sie hielt ihn und gurrte glücklich und erschöpft wie ich, mit dem Unterschied, dass ich beim Wunder der Geburt nur Zuschauer war: Die damit verbundenen Mühen hatte sie durchlitten. Ich war zufrieden, dass unser Erstgeborenes ein Junge war, und freute mich darauf, eine Vater-Sohn-Beziehung aufzubauen und diese auf eine Weise zu pflegen, wie es mein eigener Vater versäumt hatte. Peggy sagte, sie wolle »einen zweiten Roman«, und so kam er zu seinem zweiten Vornamen. Seinen eigentlichen Vornamen entlieh ich dem Cody Pass, dem wilderen Alaska, das ich mir als Kind jenseits von Usibelli vorgestellt hatte. Cody Roman, folgerte ich, wäre das, was jenseits von mir läge.

Den folgenden Winter verbrachten wir in dem Haus mit nur einem Schlafzimmer und sahen dem Säugling Cody dabei zu, wie er sich in ein Kleinkind verwandelte. Zuerst balancierte er auf zwei Füßen die Wände entlang und sah uns staunend an, als er merkte, dass seine Beine ihn stützten. Es fühlte sich gut an, wie seine winzige Hand fest meinen Zeigefinger umklammerte, während ich ihn durch das Haus führte.

Eines Tages saß er in seinem roten Pullover und eingepackt in Windeln mit mir auf dem Boden und blickte erwartungsvoll zu mir auf. Er war jetzt zehn Monate alt. Seit einer Woche hangelte er sich, immer schön abgestützt, die Wände unseres Hauses entlang. Ich lächelte ihm zu. »Steh auf«, ermunterte ich ihn. »Steh auf.« Verwirrt blickte er mich an. »Steh auf!«, wiederholte ich kraftvoller.

Und dann, völlig überraschend, schlingerte er in einer einzigen Bewegung nach vorne auf alle viere, drückte sich mit den Händen ab und stellte sich ohne Hilfe aufrecht hin. Er wankte, lächelte, und ich lächelte zurück.

»Peggy!«, rief ich, »Peggy! Cody hat sich gerade hingestellt! Ganz allein!« Peggy kam herbeigerannt, und wir sahen ihm bei seinen ersten Schritten zu, während er seine neu entdeckte Freiheit lächelnd genoss.

Baby Cody hatte einen guten Schlaf und tapste entschlossen seine Umgebung ab. Von klein auf legte er eine lange Aufmerksamkeitsspanne und größte Neugier an den Tag. Manchmal hatte ich ihn in einer Rucksacktrage auf dem Fahrrad oder zu Fuß dabei. Manchmal lag er auf meiner Brust, und wir beide schliefen ein. Manchmal weinte er, und nichts, was ich unternahm, konnte ihn trösten: egal ob ich die Stoffwindeln wechselte oder ihn fütterte, ihn schaukelte oder anstupste, alberne Gesichter oder komische Geräusche machte. Niemand außer Peggy konnte ihn dann beruhigen.

Fallende Ölpreise ließen Alaskas Wirtschaft im Frühjahr 1987 einbrechen, und in jeder Straße in Fairbanks tauchten »Zu verkaufen«-Schilder auf. Als aus einem Jobangebot als Mathematiklehrer in Barrow am Ende nichts wurde, rief ich meinen alten Freund Matt an, der nach seinem UAF-Studium in Bergbauwesen nach Nome gegangen war, um für Alaska Gold zu arbeiten. Das größte Goldförderunternehmen in Alaska konnte mir eine Stelle als Arbeiter anbieten. Peggy und Cody würden in Fairbanks bleiben, während ich mich in den Westen aufmachte, um Geld zu verdienen.

Matt, gleichzeitig Hundeschlittenführer beim Iditarod-Rennen und Ingenieur, bot mir seine »Hundehütte« als Bleibe an, wenn ich mich dafür um seine Tiere kümmerte. Jeden Morgen, nachdem seine bellenden weißen Schlittenhunde gefüttert waren, fuhr ich mit meinem Mountainbike zu den vereisten Feldern, wo ein Team von eigenbrötlerischen Arbeitern den Permafrostboden auftaute, um das Gold zu fördern. Alaska Gold hatte zwei Goldbagger in Betrieb, gigantische Schwimmbagger aus den Vierzigerjahren, die in Tümpeln gruben. An ihrem vorderen Ende befand sich ein Förderband mit tonnenschweren Kübeln, die durch die Tundra schlürften und den Aushub in riesige Waschschleusen transportierten, wo die Nuggets und der Goldstaub vom Erz gespült wurden. Ich arbeitete am Bagger Nummer 6. Meine Aufgabe war es, Wasserschläuche mit fünf Zentimeter dicken Stahlrohren zu verbinden, die fünfundzwanzig Meter tief in den Permafrostboden versenkt waren, und dann mit schwerem Werkzeug die Rohre zu drehen und zu winden, um das anhaftende Eis abzubrechen.

Ich schickte fast meinen gesamten Lohn nach Hause und war froh, 16 Dollar die Stunde zu bekommen. Doch das Leben in der Hundehütte, fernab von Peggy und dem kleinen Cody, war einsam. In jenem Frühling sollte das zehnjährige Klassentreffen meiner Highschool stattfinden. Die Einladung erinnerte mich daran, dass meine wissenschaftliche Karriere auf einem Nebengleis gelandet war. Ein Jahrzehnt war vergangen, und noch immer arbeitete ich Seite an Seite mit Kindern, die gerade erst ihre Highschool beendet hatten. Es war Zeit, erwachsen zu werden und einen Doktortitel zu erlangen.

Nach einer ganzen Saison in Nome boten mir die Besuche an weiterführenden Universitäten wie Princeton und Stanford mit ihren betriebsamen Campusgeländen ein Kontrastprogramm der Kulturen, nicht nur zur Abgeschiedenheit Alaskas. Princeton stieß mich ab, protzig wie es sich gab, wohingegen die Atmosphäre in Stanford spannend war. Die Nähe der Bay Area zu Mountainbike-Trails, Mammutbaumwäldern und felsiger Küste reizte mich – fast ebenso sehr wie Stanfords naturverbundene Studentenschaft und die bunt gemischte Fakultät.

Der Professor in Stanford, Jonathan Roughgarden, war ein hochgewachsener, schlaksiger Mann, der seinen Schopf brauner Haare akkurat auf die Seite gekämmt hatte. Geistvoll, mit eulenhaftem, dem Harvard-Absolventen geziemenden Blick, strahlte Roughgarden vor freudiger Erregung, während er mit seinen Händen abstrakte Ideen verständlich gestikulierte. Die National Science Foundation hatte seinen Vorschlag zur Entwicklung mathematischer Modelle von Nahrungsnetzen auf Grundlage von Feldforschungen an karibischen Echsen finanziert. Das Projekt erforderte einen Studenten wie mich, der sportlich war und quantitative Auswertungsmethoden beherrschte. Aus meiner Sicht würden Roughgarden und die Feldforschungsarbeit des Projekts meine Ausbildung zum modernen Ökologen vervollständigen.

Einen Doktortitel von Stanford zu haben, würde zudem sicher auch nicht schaden.

3

Der Wendekreis des Krebses und des Steinbocks

Cody und Jazz, Culebra, 1991.

Das Postgraduiertenprogramm begann im Herbst 1988. Peggy, die mit unserem zweiten Kind schwanger war und gerade ihren Abschluss in Grundschulpädagogik machte, blieb mit dem achtzehn Monate alten Cody in Alaska. Mitten im Winter flog ich nach Hause und fuhr unseren Subaru nach Kalifornien. Peggy und Cody folgten bald darauf, im Gepäck hatten sie tiefgefrorenes Elch- und Karibufleisch, Teil unserer Strategie, im Silicon Valley von einem Doktorandenstipendium zu leben.

Ein paar Wochen später schmissen wir ein Grillfest für unsere neuen kalifornischen Freunde. Ziemlich am Anfang der Party und wohl mit ausgelöst von der Putzaktion vor dem Fest setzten bei Peggy die Wehen ein. Wir übertrugen die Gastgeberaufgabe an ein befreundetes Paar aus Alaska und machten uns auf den Weg ins Krankenhaus von Mountain View. Kurz nach Mitternacht am 22. Januar 1989 brachte Peggy ohne Probleme unsere Tochter zur Welt. Wir tauften sie auf den Namen Jasper Linda, der zweite Vorname zu Ehren meiner Mutter und der erste zu Ehren der kraftvollen Schönheit der kanadischen Rocky Mountains.

Jazzy war ein süßes, hübsches Baby. Sie war winzig, das Lächeln ihres klitzekleinen Mundes entzückend, und ihre lebhafte Persönlichkeit passte zu ihrem Namen und zu der Tatsache, dass sie sich auf einer Party bemerkbar gemacht hatte. Wie zu erwarten war Peggy eine aufmerksame, liebevolle Mutter für die beiden.

Postgraduiertenprogramme sind im Grunde schlecht bezahlte Lehrverhältnisse unter einem Chef, der ständig unbezahlte Überstunden erwartet. Das machte es mir unmöglich, mich als Vater voll einzubringen. Peggy war den ganzen Tag allein zu Hause, ohne andere junge Frauen in ihrer Nähe. Während sie sich um ein Baby und ein Kleinkind kümmerte, fühlte sie sich isoliert. Deshalb nahm sie einen Billigjob in einem Frauenfitnesscenter an, wo sie Kinderturnen unterrichtete und Cody und Jazzy zur Arbeit mitnehmen konnte. Sie wollte deren Erziehung nicht anderen überlassen.

»Roman, es ist unsinnig für mich, im Fitnesscenter zu arbeiten. Die Kinder werden dort dauernd krank. Und wenn ich mir einen anderen Job suche, geht das ganze Geld für die Kinderbetreuung drauf. Ich möchte lieber zu Hause bleiben und sie selbst erziehen.« Da Cody und Jazzy für Peggy an erster Stelle standen, verzichtete sie auf die Gesellschaft von Arbeitskollegen, damit die Kinder gesund blieben. Wir waren uns einig, dass emotionaler Reichtum mehr wert ist als Geld, deshalb konzentrierte sie sich auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter, ein Arrangement, mit dem schließlich alle glücklich waren.

Mein erstes Jahr in Stanford verbrachte ich damit, ein brauchbares Doktorthema zu formulieren; es umzusetzen nahm drei weitere Jahre in Anspruch. Roughgardens NSF-Forschungsprojekt beschrieb die karibischen Anolis (Saumfingerechsen) als ideale Tiere, um die komplexen Nahrungsnetze in tropischen Regenwäldern zu studieren. Die kleinen, bunten und aktiven Lebewesen sind in den Baumkronen hoch über dem Dschungelboden reich vertreten. Damals betrachteten Wissenschaftler die Baumkronen als eine unzugängliche, unerforschte Landschaft, direkt über ihren Köpfen, aber unerreichbar.

Die meisten Baumkronenstudien beschrieben das Leben in einem einzelnen Baum von einem Aussichtsturm oder einer Astgabel aus, erfasst durch ein Fernglas. Unsere Forschung bezog Experimente in Bäumen in zwanzig bis dreißig Metern Höhe mit ein. Die Versuchsanordnung sah vor, die Anolis von einzelnen Bäumen zu entfernen und fast ein Jahr lang nicht zurückzulassen. Da Anolis in Baumkronen leben, aber aus Eiern im Waldboden schlüpfen, wollten wir die Echsen, nachdem wir sie eingefangen hatten, von den Baumkronen fernhalten und die Baumstämme mit Plastikbändern markieren. Als Nächstes wollten wir die Anzahl an Insekten und die Anzahl an Blättern, die von Insekten in Bäumen ohne Echsen gefressen wurden, mit den entsprechenden Zahlen in Baumkronen, in denen Echsen lebten, vergleichen. Auf diese Weise konnten Roughgarden und ich die vielfältigen Einflüsse eines zahlreich vertretenen Räubers auf seine Umwelt messen. Das war die Idee des Experiments: in ein Ökosystem eingreifen und dessen Reaktion untersuchen. Um es umzusetzen, würden wir Arbeiten am Seil, Mut und jede Menge Schweiß und Muskelkraft brauchen. Es schien genau das Richtige für mich.

Bevor wir nach Puerto Rico zogen, flog ich hinunter, um nach einer Wohnung zu suchen, und nahm den dreijährigen Cody mit. Das entlastete Peggy, die den Umzug vorbereitete. Und mir bescherte es meinen ersten echten Vater-und-Sohn-Trip. Zusammen erkundeten wir eine Welt, die für uns beide neu war: den tropischen Regenwald. Wir untersuchten riesige Landschnecken auf Regenwald-Palmen, beobachteten leuchtend grüne Eidechsen, die auf Baumwurzeln Liegestütze machten, und warfen Insekten in die Netze von handtellergroßen Seidenspinnen (Nephila). Cody zeigte die Kindern angeborene Faszination für alles Lebendige – Biophilie, ein Relikt aus der Vergangenheit, als das kindliche Interesse an der Umwelt über Tod und Leben entscheiden konnte. Manche Menschen lässt sie nie los.

Als Familie hatten wir oft kalifornische Gezeitentümpel besucht. Cody war begeistert von der unglaublichen Vielfalt an Wirbellosen, die er dort fand: Seesterne, Seeanemonen und Flohkrebse, um nur einige zu nennen. Der Dschungel in Puerto Rico bot eine ähnliche Vielfalt, bloß an Landlebewesen statt an solchen im Gezeitenbereich. Wie jeder Dreijährige stellte Cody mir unentwegt Fragen, die mit »warum« begannen: Warum verlieren Eidechsen ihren Schwanz? Warum singen Vögel? Warum sind Blumen bunt? Ich bemühte mich redlich, seine unersättliche Neugier auf dieser Reise, die unsere gemeinsamen Erkundungen auf fünf Kontinenten und über zwei Jahrzehnte einleitete, zu befriedigen.

Bald darauf trafen Peggy und Jazz ein. Wir zogen in eine Wohnanlage einen Block vom Luquillo Beach entfernt. Da wir kein Auto hatten, fuhren wir Rad und zogen die Kinder in einem Fahrradanhänger. Jeden Morgen nach einem Becher puerto-ricanischen Kaffee radelte ich mit meinem Mountainbike fünf Meilen und 300 Meter hinauf in die Luquillo Mountains, um in den Baumkronen zu arbeiten. Mein alter Kletterpartner Carl Tobin, ebenfalls ein Doktorand der Ökologie, kam am Anfang für einen Monat dazu. Im Januar 1991 brachten wir horizontale Stege und vertikale Seilsicherungssysteme an den Bäumen an, indem wir eine Mischung aus Bergsteiger- und Baumklettertechnik anwendeten, die ich von Mike Cooper, meinem besten Freund aus Kindheitstagen, gelernt hatte.

Mike hatte nach dem College einen Baumpflegebetrieb gegründet. Im Herbst, bevor ich nach Puerto Rico aufbrach, um mit dem Projekt zu beginnen, zeigte er mir im Vorgarten meiner Eltern, wie man große Weißeichen und Tulpenbäume hinauf- und hinunterkletterte. Sowohl beim Bergsteigen als auch beim Klettern auf Bäume benutzt man Gurte und Seile, aber sie unterscheiden sich in ihrer Anwendung und im Design. Baumpfleger hängen in Gurten an dick ummantelten Seilen, die man um Äste zieht. Ihre Baumklettertechniken fußen eher auf Seilkletterkünsten und geschickten Knoten als auf Ausrüstung. Und während Baumpfleger sich gegen Bezahlung im Baum bewegen, streben Bergsteiger wegen des Nervenkitzels direkt in die Höhe.

Mikes Seiltricks erlaubten es Carl und mir, uns in jeder einzelnen Baumkrone zu bewegen. Da wir die gesamte Baumkrone erreichten, konnten wir jede Eidechse, die wir sahen, mit unseren Farbspritzpistolen markieren. Es machte Spaß, die Tiere für unsere Statistik mit Tropfen blauer, pinker und gelber Farbe aus bis zu sechs Meter Entfernung zu bespritzen, um die Anolis-Anzahl zu schätzen. Am ersten Tag benutzten wir blaue Farbe, am zweiten Tag pinke, am dritten gelbe. Dann hielten wir fest, wie viele Eidechsen wir von jeder Farbe jeden Tag in jedem Baum sahen. Tiere mit einer Farbe hatten wir nur einmal gesehen, Tiere mit zwei Farben zweimal, mit drei Farben dreimal. Als Nächstes wandten wir ein statistisches Modell an, um zu berechnen, wie viele Eidechsen wir nicht erfasst hatten, basierend auf der Wahrscheinlichkeit der Farbmarkierungen, die wir beobachtet hatten. Wenn wir die beobachteten und die vermuteten, also nicht erwischten Eidechsen addierten, hatten wir eine Schätzung der gesamten Eidechsen in einem Baum. Wir verfassten sogar einen Fachaufsatz über unsere Klettertechniken, die damals unter den Baumkronenforschern noch unbekannt waren. Unter anderem illustrierten wir, wie man von einem Baum zum anderen gelangte, was eine mehrtägige Walddurchquerung auf Baumkronenebene ermöglichte, ohne den Boden zu berühren – eine Art »Baumkronenwanderung«.

Unten in Luquillo verbrachten Peggy und die Kinder die meisten Tage am Strand. Sie spielten im warmen Wasser und sammelten Muscheln, liefen den ganzen Tag barfuß in der Sonne herum und waren dadurch braun gebrannt und hellblond. Cody verfolgte mit Begeisterung durch eine Kindertaucherbrille bunte Rifffische. Er stand vornübergebeugt im seichten Wasser und hielt die Luft an, während er die Meereswelt zu seinen Füßen betrachtete. Ein paar Meter entfernt sammelte Jazz am Strand dreißig Zentimeter lange tropische Samenhülsen, die von sanften Wellen an Land gespült wurden.

Besuche bei meiner Forschungsstation brachten Cody auf die Idee, in unserem Garten mit niedrigen Büschen und Zierpflanzen seine eigene Forschungsstation einzurichten. Er markierte die Ecken mit Bändern, dann fing er die Anolis, die dort lebten, und ließ sie anschließend wieder frei.

Als ich von meinem Tag im Dschungel zurückkam, rannte er auf mich zu und rief: »Dad, ich hab eine Karte von meiner Forschungsstation gemacht!« Er hatte beobachtet, wie ich über der Karte meiner Forschungsstation gebrütet hatte, und dann mühevoll mit Buntstiften seine eigene erstellt.

»Willst du sie sehen?«

»Na klar!«, sagte ich erfreut und beeindruckt, dass mein vierjähriger Sohn seine eigene Karte gezeichnet hatte.

»Also, hier sind die Ecken. Die sind orange markiert.« Er zeigte auf krumme orangefarbene Xe. »Und das ist, wo ich im Gebüsch einen Cristatellus gefangen hab.« Er wanderte mit seinem Finger zu einem grünen Gekritzel, das anzeigte, wo er den braunen Anolis mit der orangefarbenen Kehlfahne gefangen hatte, ein Tier, das er bei seinem wissenschaftlichen Namen Anolis cristatellus kannte.

»Und da drüben beim Zaun lebt ein Grasanolis. Ich hab ihn gefangen, und Jazzy durfte ihn auch mal halten. Sie war vorsichtig, Dad«, versicherte er mir. Beide Kinder wussten, wie man die zarten Tiere festhalten sollte – an einer Zehe, während die Echse auf ihrer Faust sitzt. »Und hier« – er zeigte mit dem Finger auf zwei parallele Linien – »hier lebt die Ameive. Sie ist groß!« Anders als die schlanken Anolis, die auf Bäumen oder in Büschen leben, ist die großköpfige Ameive mit ihren gestreiften Seiten ein Bodenbewohner, der auf der Jagd nach Insekten durchs Laub schleicht wie ein Tiger, der Wild erbeuten will: stehen bleiben, spähen, weiter heranpirschen.

Als Roughgarden von Codys Forschungsstation und Karte hörte, warnte er: »Pass bloß auf, sonst wird er noch ein Biologe, Roman.« Das wäre nicht schlecht, dachte ich erfreut und stellte mir vor, wie wir später zusammen forschen würden.

Als ich eines Abends das Wall Street Journal las, stieß ich auf unschlagbar günstige Flüge. Für denselben Preis, den wir für einen einfachen Flug von San Francisco nach Fairbanks zahlen würden, konnten wir von San Francisco nach Australien und zurück fliegen. »Lass uns das machen!«, rief Peggy, die nicht arbeitende Frau eines armen Doktoranden. Als Rabattgutscheinsammlerin und preisbewusste Käuferin ist sie immer auf der Suche nach Schnäppchen. »Das ist wie ein Ticket nach Alaska bezahlen – wo wir sowieso hinmüssen – und gratis nach Australien fliegen!« Mit den Vielfliegerpunkten, die wir für den Hin- und Rückflug nach Australien sammeln würden, könnten wir von Kalifornien nach Fairbanks fliegen, wohin wir jedes Jahr fuhren, um unseren Wohnsitz in Alaska zu behalten. Als Einwohner von Alaska hatten wir Anspruch auf bestimmte Leistungen wie zinslose Studentenkredite und den Permanent Fund des Bundesstaats, eine jährliche Dividendenausschüttung an jeden Einwohner – statt einer Einkommensteuer.

Nach Abschluss meiner Forschungen in Puerto Rico stiegen wir in eine Maschine nach San Francisco, ließen die Kletterseile und gesammelten Daten in Stanford und reisten weiter nach Sydney. Von dort flogen wir ans andere Ende Australiens nach Perth am Indischen Ozean. In Perth mieteten wir ein Auto, um nach Norden in die Tropen Westaustraliens zu fahren. Die meisten Eltern würden zögern, sich für eine einmonatige, 1500 Meilen lange Tour mit ihren vier- und zweijährigen Kindern in einen Kleinwagen zu setzen. Aber wir hatten fast ein Jahr lang kein Auto gehabt. Allein die neuartige Erfahrung einer Autofahrt hielt die Kinder bei Laune. Außerdem gab es fast stündlich etwas Neues und Aufregendes in »Oz«, wie die Australier ihre Heimat umgangssprachlich nennen, zu entdecken.

Die Westküste von Oz sah aus wie die von Kalifornien und Baja California zwischen Santa Cruz und Cabo San Lucas, aber ohne die Landspitzen, Klippen und den Verkehr. Nördlich von Perth ging der hohe Eukalyptuswald in australischen Chaparral über, dann in Savanne, Wüste und schließlich tropischen Wald. Als wir den Wendekreis des Steinbocks überquerten, zwölf Zeitzonen von unserer alten Wohnung in Puerto Rico nahe dem Wendekreis des Krebses, hatten wir genau die halbe Welt umrundet.

Wir fuhren tiefer ins Outback mit seiner roten Erde und Schwärmen von lästigen Buschfliegen, geradewegs durch die Great Sandy Desert. Die Dünen dieser großen Sandwüste liefen am Eighty Mile Beach in den Indischen Ozean aus. Hier sammelten wir wunderschöne bunte Muscheln, wie wir sie noch nie zuvor gesehen hatten. Cody und ich fanden einen kleinen, halb im Sand begrabenen toten Grindwal. Jazz klaubte haufenweise getrocknete Seesterne und Herzseeigel auf. Zwischen Perth und Broome beobachteten wir Emus und Trauerschwäne, inspizierten überfahrene Kängurus, die schwerer waren als ein Mensch und deren mittlerer Zeh so lang war wie meine Hand; wir berührten neugierige Delfine, schnorchelten über Korallen im Ningaloo Reef und ritten sogar auf Kamelen über einen tropischen Strand.

Jeden Abend zelteten wir im Outback, wo am Himmel lauter uns unbekannte Sterne leuchteten. Nach Einbruch der Dunkelheit fuhren wir herum, um nachtaktive Tiere zu beobachten. In manchen Nächten sprangen Kängurus über das Pflaster wie Basketbälle auf einem leeren Spielfeld. In anderen Nächten sahen wir ein Meter achtzig lange Schwarzkopfpythons oder fingen Fuchsgesicht-Lidgeckos. Einmal stießen wir sogar auf einen Ameisenfresser namens Echidna, auch Ameisenigel genannt, ein einzigartiges eierlegendes Säugetier, so groß wie eine Melone, aber sehr langsam und mit Stacheln. Wir beleuchteten jeden Fang mit unseren Stirnlampen, fotografierten ihn und ließen ihn in sicherem Abstand zur Straße wieder ziehen.

Am nächsten Morgen bauten wir unser Zelt ab und fuhren weiter, um noch mehr Wunder der Natur zu entdecken: einen Blauzungenskink, der so groß wie eine Gila-Krustenechse aus Arizona war und ebenso giftig aussah, mit einer langen, königsblauen Zunge, die er zur Abschreckung herausstreckte; einen Dornteufel, die australische Version der amerikanischen Krötenechse; einen Flossenfuß, der so lang wie mein Arm und dessen Schwanz so lang war wie sein übriger Körper. Wir kletterten in slot canyons, schmale, tiefe Schluchten, die von Springfluten aus dem Eisenerz gewaschen worden waren, und schwammen durch ihre erfrischenden Wasserbecken unter Würgefeigen, deren Wurzeln sich an die roten Felswände krallten. Bei Sonnenuntergang, während wir trockene Mulga-Zweige ins knisternde Lagerfeuer warfen, beobachteten wir Schwärme von Hunderten Galahs – krähengroße Rosakakadus –, die über unser einsames Wüstencamp flogen. Unweigerlich erinnerte ich mich daran, wie Peggy und ich uns zehn Jahre zuvor abends im Bett vorgestellt hatten, wie wir später unsere Kinder erziehen würden: Wir lebten diesen Traum hier und jetzt in Oz.

Als wir Fitzroy Crossing in Australiens abgelegener Region Kimberley erreichten, waren wir verwildert, die Kinder tropisch braun und voll rotem Staub, die Haare ausgeblichen. Wir kehrten um und fuhren in drei Tagen die 1500 Meilen zurück nach Perth, dann flogen wir nach Hause. Zurück auf dem Stanford-Campus, luden wir unsere Freunde zu Diashows von unserer Reise ein, dabei hörten Peggy und ich mit unseren Freunden gebannt zu, wie der vierjährige Cody ausführlich von unserer Reise berichtete. Wir freuten uns auf weitere solche wunderbaren gemeinsamen Reiseabenteuer.

In jenem Herbst begann ich damit, die Forschungsergebnisse zu analysieren und meine Dissertation zu schreiben. Die Erwartungen unter meinen Doktorandenkollegen waren hoch – eine Gruppe, zu der ein späterer Gewinner des MacArthur-Stipendiums, auch als »Genie-Preis« bekannt, und zukünftige Stanford- und Harvard-Professoren gehörten. Der Leistungsdruck war enorm. Trotzdem fand ich die Aufgabe, meine Daten zu analysieren, um die Funktionsweise eines tropischen Ökosystems zu erkennen, genauso aufregend wie ohne Seil einen gefrorenen Wasserfall zu erklimmen. Wissenschaft, ohne die abstrafende und kleinliche Begutachtung durch Fachkollegen, elektrisiert mich auch nach dreißig Jahren noch.

Im Februar 1992, dem Jahr, in dem Cody fünf wurde, rief ein Freund an, um uns von einer Dozentenstelle in Ökologie an der Alaska Pacific University zu erzählen. Nach Begutachtung meiner Bewerbung lud die Berufungskommission mich ein. Mein Vorstellungsgespräch in Alaska im April war etwas ernüchternd: Die braunen Rasen und schmutzigen Straßenränder von Anchorage, an denen sich der ganze Müll des Winters angesammelt zu haben schien, waren schrecklich. Die APU selbst wirkte mit den Gebäuden aus den Sechzigerjahren und wenigen Studenten wie eine Geisterstadt.

Aber Peggy und ich hatten immer schon geplant, uns in Alaska niederzulassen, das wir als unsere Heimat betrachteten, wo Verwandte und alte Freunde lebten. Als die Berufungskommission mir die Stelle anbot, waren wir begeistert. Die APU bezahlte zwar nicht üppig, aber wir würden Cody und Jazz in der gesündesten Gegend Amerikas großziehen können, mit gesundem Essen, sauberer Luft und klarem Wasser. Und am besten von allem: Wir konnten mit unseren Kindern die Wildnis Alaskas gleich vor der Stadtgrenze von Anchorage erkunden. Ich nahm die Stelle an, und so fuhren wir am Ende des Sommers von Stanford nach Norden.

Nach meinem ersten Jahr an der APU und während unseres ersten kompletten Sommers zurück zu Hause brach ich mit unserem Sohn auf, um Umnak zu ergründen, eine abgelegene Insel der Aleuten mit Geysiren, Gletschern und Nebel. Genau für diese Art von Erlebnis waren wir zurückgezogen, und ich konnte es kaum abwarten, loszulegen.

4

Umnak

Cody mit sechs Jahren 1993.

Im Spätsommer 1993 stiegen der sechsjährige Cody und ich Hand in Hand aus einem Jet und hinein in windzerzauste Dunstfetzen und forsche Regenböen. Die feuchte Luft roch nach gestrandetem Seetang und Diesel. Runde, von hohem grünem Gras überzogene Hügel und abgebrochene Klippen rahmten eine Bucht mit metallblechernen Lagerhäusern und Booten jeglicher Größe. Wir waren in Dutch Harbor gelandet, auf einer Insel der Aleuten, weit südlich des Festlands von Alaska. Es fühlte sich warm an für Mitte August, zumal im Rest des Bundesstaats der Herbst schon um die Ecke lauerte. Dutch wirkte eigentlich zu klein, um der reichste Fischereihafen auf dem Globus zu sein, in den Krabbenfänger, Trawler und andere Schiffe ihren Fang für die Seafood-Märkte der Welt anlieferten.

Unter den 300 Inseln der Aleuten hatte ich mich für Umnak entscheiden, gleich westlich von Dutch Harbor, wegen seiner Geysire und seiner Geschichte. An einem Ende liegen die Ruinen von Fort Glenn, einer geheimen US-amerikanischen Militärbasis aus dem Zweiten Weltkrieg, am anderen schmiegt sich das Aleutendorf Nikolski in eine Bucht. Zwischen diesen beiden Stätten menschlicher Besiedlung erstreckt sich eine Wildnis aus sattgrünen Hügeln, schwarzen Felsen und Vulkanen mit so unaussprechlichen Namen wie Vsevidof und Recheshnoi. Hauptgrund aber waren die Geysire auf Umnak, die einzigen nördlich von Yellowstone, ein geologisches Wunder, das ich gemeinsam mit meinem Sohn erleben wollte.

Mein Plan war, die sechzig Meilen von Fort Glenn nach Nikolski zu Fuß zurückzulegen. Ich hatte meine Hausaufgaben gemacht und die Geysire auf einer Karte mit geothermalen Merkmalen Alaskas lokalisiert, um dann einen befreundeten Geologen, Roman Motyka, anzurufen und um weitere Informationen zu bitten. Motyka schickte mir seine veröffentlichten Artikel, in denen er Umnaks thermale Besonderheiten wissenschaftlich und im Detail beschrieben hatte. Er sagte, eine einzelne Familie würde noch in Fort Glenn leben und sich um die wild lebenden Rinder der Insel kümmern. Motyka erzählte mir außerdem von einem Guide mit Namen Scott Kerr, der sich in Nikolski niedergelassen hatte. Nachdem ich ein halbes Dutzend Leute gesprochen hatte, die schon mal auf Umnak gewesen waren, und über Karten der Insel gebrütet hatte, skizzierte ich eine Route, die für einen angehenden Erstklässler geeignet war.

Vom Flugfeld von Fort Glenn sollte es nach Westen entlang der Pazifikküste gehen, dann über die Insel zum Geysir-Becken an der Beringsee und entlang der Sockel von Recheshnoi und Vsevidof am Pazifik wieder zurück. An der zerklüfteten Küste mit schwarzen Stränden würde es Gezeitenbecken geben, Codys liebste Umgebung für Erkundungen und Entdeckungen. Die Insel war außerdem frei von Alaskas risikoreichsten Störfaktoren: Auf Umnak gab es weder Bären noch große Gletscherflüsse.

Gefahren waren aber durchaus zu berücksichtigen. Bedingt durch die Lage zwischen der eisigen Beringsee und dem warmen Pazifik werden die Aleuten vom schlimmsten Wetter der Welt heimgesucht. Der stets windumtoste, häufig verregnete, meist nebelverhangene Archipel gilt als Geburtsstätte von Stürmen. Während im Winter kaum Minusgrade herrschen, sind die Sommer kühl und wolkig. Wie auf Bergen oberhalb der Baumgrenze wachsen auf den Aleuten Bäume oder Sträucher nicht über Kniehöhe hinaus.

Das Wetter auf Umnak bereitete mir Bauchschmerzen wegen der sehr realen Gefahr der Unterkühlung, insbesondere für einen kleinen Jungen. Unterwäsche, Fleecehose und -pullover und darüber ein Gore-Tex-Overall würden ihn gegen den unablässigen feuchten Wind schützen, seine orange Regenhose und -jacke zusätzlich vor dem peitschenden Regen. Ich würde ihn mit seinen Lieblingssnacks versorgen, die ich immer griffbereit hätte, und ihn jeden Abend rasch in trockene Sachen schlüpfen lassen, damit er mollig warm einschlief. Unser bergtaugliches kuppelförmiges Zelt würde uns Schutz vor stürmischem Wind und Regen bieten. Und mit Wilbur und Charlotte im Gepäck, das ich vor dem Einschlafen vorlesen würde, könnten wir ein Stück Zuhause mit in die Wildnis bringen.