Dunkelschön - Eduard Freundlinger - E-Book

Dunkelschön E-Book

Eduard Freundlinger

0,0

Beschreibung

Mit der weisen Clara und dem unerfahrenen Ben prallen zwei grundverschiedene Welten aufeinander. Getrieben von tiefen Ängsten und brennenden Lebenswünschen streben sie danach, ihre irrwitzige Mission trotz aller Widrigkeiten umzusetzen: zwei unveröffentlichte Manuskripte von Miguel Cervantes, dem Autor von Don Quijote, in Spanien zu finden. Wäre da nur nicht Claras Angst vor dem Draußen – sie setzt seit Jahren keinen Fuß vor die Tür. Doch Ben wird zu ihrem jungen Sancho Panza, mit dem gemeinsam sie ihre fiesen inneren Windmühlen bekämpft. Unter einem Vorwand überredet Clara den 19-Jährigen zu einem völlig verrückten Roadtrip durch Frankreich und Spanien – doch was sie nicht ahnt: Ben verfügt über die Lebenserwartung einer Eintagsfliege. Heldenhaft kämpfen die beiden gegen alle Widerstände, um am Ende der Reise etwas zu finden, wonach man nicht suchen kann …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 569

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Paula und AnabelZum Glück ist »vor Stolz platzen« bloß eine Redewendung –ansonsten hätte es uns wegen unserer fantastischen Töchterschon längst in sämtliche Körperzellen zerrissen!

Originalausgabe Dezember 2023Allitera VerlagEin Verlag der Buch&media GmbH, München© 2023 Buch&media GmbH, MünchenSatz: Johanna ConradUmschlaggestaltung: Mona Königbauernach einem Entwurf von Natali van OtterloGesetzt aus der Adobe Garamond ProPrinted in EuropeISBN 978-3-96233-437-6

Allitera VerlagMerianstraße 24 · 80637 MünchenFon 089 13 92 90 46 · Fax 089 13 92 90 65

Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie auf www.allitera.deKontakt und Bestellungen unter [email protected]

1

Clara

Vier Wochen sind inzwischen vergangen, seit ein Bote mir drei Pakete überbracht und um meine Unterschrift gebeten hat. Absender war ein Berliner Notariat. Seit nunmehr vier Wochen lebe ich mit Juans Geist, der aus den Kartons wie aus einer Wunderlampe emporgestiegen ist und sich mit keinerlei List wieder dorthin zurückdrängen lässt – zurück zu seinen Erzählungen, handschriftlichen Manuskripten, verstaubten Gedichtbänden und vergilbten Tagebüchern. Zurück zu seinem literarischen Lebenswerk, das er mir vermacht hat. Zu Beginn wollte ich alles zurückschicken und versuchte, über den Notar seine Angehörigen herauszufinden, zu denen ich mich nicht zählte. Niemand wollte die Sachen haben. »Werfen Sie das Zeug in den Altpapiercontainer«, meinte sein Sohn.

Nach einem Monat Sortieren, Lesen, Staunen, Kopfschütteln weiß ich, weshalb er sich an mich gewandt hat. Juan de la Fuente, dessen Muse ich einst war, hat mich aus dem Grab heraus beauftragt, sein jahrzehntealtes Geheimnis zu lüften. Auch wenn es sich dabei nur um ein Hirngespinst Quijotes vom Ausmaß einer modernen Windkraftanlage handeln kann. Über Miguel de Cervantes lernten wir uns vor Ewigkeiten kennen. Seine Werke lagen in einem der Kartons.

Ich blättere im ersten Band des Don Quijote. Überall Juans Bemerkungen, Verweise, Notizen, Unterstreichungen. Besonders an einer Stelle:

Die Dichtung muss sich mit dem Geiste des Lesers vermählen; das heißt, man muss das Erdichtete so gestalten, dass es das Unmögliche begreiflich macht, das allzu Hohe ebnet, die Geister in Spannung versetzt und mithin uns in solchem Grade Staunen abnötigt, uns aufregt und unterhält, dass Verwunderung und frohe Stimmung stets gleichen Schritt halten.

Ich klappe den abgegriffenen Band zu und schiebe mir die Lesebrille ins Haar. In den vergangenen vier Wochen habe ich mich durch tausende jungfräulicher Seiten hindurchgearbeitet. Nichts aus der Feder von Juan de la Fuente, dem Literaten, Lebenskünstler, Träumer, ist je eröffentlicht worden. Außer ihm selbst hat vermutlich niemand je eine Seite davon gelesen. Nicht die Manuskripte, nicht das Tagebuch seiner Flucht, nicht die Dramen seines Lebens – und auch nicht den Brief, in dem er ein spektakuläres Geheimnis lüftet.

Seit ich mich entschieden habe, Juans posthumem Wunsch nachzukommen, ist mein Leben … unruhiger. Auch wenn das für Außenstehende nicht zu erkennen wäre. Davon abgesehen gibt es in meinem Leben ohnehin keine Außenstehenden. Dazu müsste ich ja erst nach draußen gehen. Eine grauenhafte Vorstellung. Wozu auch? Seit das Internet es ermöglicht, verlasse ich meine Wohnung kaum noch. Bücher, Lebensmittel, Kleidung und sonstige Dienstleistungen bestelle ich online.

Agoraphobie. So nennt man sie, die am weitesten verbreitete Phobie Deutschlands mit etwa drei Millionen Betroffenen. Angst vor Menschenmassen, weiten Plätzen und fehlenden Rückzugsmöglichkeiten. Trotz meines Fachwissens als Psychologin habe ich mir eingeredet, es sei meine freie Entscheidung, das Haus nicht zu verlassen. Ich hatte mich damit arrangiert. Und nun das: Juan de la Fuente, den ich seit vierzig Jahren zu vergessen suche, weht plötzlich als Schachtelgeist durch meine Wohnung, verfolgt mich bis in meine Träume und stiftet Unruhe.

Ich stehe in der Küche und weiß nicht, weshalb. Um Tee zu kochen? Wasser zu trinken? Hunger? Oder ist die Küche eine weitere Station auf einem gedankenverlorenen Rundgang durch die Wohnung? Ich fülle Wasser in den Kocher und starre in meine Vergangenheit. Wir haben uns im Berliner Literaturhaus kennengelernt, bei einer Veranstaltung über Cervantes. Juan konnte kaum Deutsch. Er hatte in Spanien etwas Politisches geschrieben, auf eigene Kosten gedruckt und verbreitet. Seine einzige Veröffentlichung. Das Franco-Regime fühlte sich von dem Pamphlet wenig geschmeichelt, es folgten Gefängnis und Folter. Ihm gelang die Flucht nach Berlin.

Kurz darauf fand die Veranstaltung im Literaturhaus statt, wo wir ins Gespräch kamen. Ich konnte damals bereits etwas Spanisch, eben wegen Cervantes. Juan wusste alles über Spaniens Nationaldichter und dessen Werke. Zudem wiesen ihre Biografien erstaunliche Parallelen auf. Juan war Cervantes. Zumindest für mich. Ich war etliche Jahre jünger als er und bislang ungeküsst. Als ich seine Musa wurde, dachte ich bloß an den kulturellen Austausch über spanische Klassiker. Juan hingegen war bald schon am klassischen Austausch zwischen Mann und Frau interessiert. Cervantes verkam zum Bettgeflüster. Als ich Mo-nate später die ganze Wahrheit über Juan de la Fuente aus Granada erfuhr, war es zu spät. Ich war ihm verfallen. Und im fünften Monat schwanger. Jetzt ist er tot.

Brodelndes Wasser unterbricht meine Gedanken. Ich brühe ChaiTee auf und gehe ins Wohnzimmer. Die Kartons stapeln sich auf einer Kommode, deren Oberfläche andernorts Familienfotos vorbehalten wäre. Jahrzehnte ohne Lebenszeichen. Dann drei Kartons und der Begleitbrief eines Notars, aus dem hervorging, dass Juan mir alle seine Manuskripte vermachte.

Offenbar war er all die Jahre über in Berlin geblieben und hatte tausende Seiten geschrieben. Ich nippe am Chai-Tee. Juans in spanischer Sprache verfassten hochliterarischen Texte waren nicht für die in seinen Augen verständnislose Masse geeignet. Selbst ich verzweifelte an vielen Passagen. Seine Frühwerke sandte Juan nach dem Ende des Franco-Regimes an Verlage in der alten Heimat. Die Absageschreiben hat er in zwei Aktenordnern abgeheftet. Irgendwann hatte er aufgegeben und nur noch für sich selbst geschrieben. Und anscheinend auch für mich.

Es blieb mir nichts anderes übrig, als seinen delikaten Auftrag anzunehmen. Seitdem befällt mich immer wieder diese Unruhe. Sogar die Albträume sind zurück. Insbesondere der mit dem offenen Schlafzimmerfenster. Ich führe die Tasse zum Mund und erschrecke von der Türglocke, die in diesen Wänden ausschließlich Paketboten ankündigt. Jedoch nicht um diese Uhrzeit. Erneutes Klingeln. Ohne Hast gehe ich zur Tür und drücke die Taste der Gegensprechanlage.

»Ja, bitte?«

»Ähm … Hi, ich bin’s, Ben! Wir haben …«

Ich betätige den Türöffner.

2

Ben

Was soll eigentlich auf deinem Grabstein stehen?«, fragt Lukas und unterbricht mein Spiel mit Leandra. Der Tod ist sein Lieblingsthema. Kein Wunder, bei dem inoperablen Geschwür in seiner Birne.

»Ich will keinen Grabstein«, erkläre ich.

»In eine Urne kann man auch was einritzen.«

Sarg, Beerdigung, Urne, Asche – aber wer will auf einer Party schon ans Aufräumen am nächsten Morgen denken? Nur ist mein Leben leider alles andere als eine Party.

»Sein Leben fuhr im Leerlauf rasend schnell dem Ende entgegen«, dichte ich spontan. »Und bei dir?«

»Das klingt ja mega. Darf ich den Spruch auch verwenden?«, will Lukas wissen. Sein Kopf wirkt täglich größer, und seine Augen treten immer weiter hervor. Sie müssen seinen Pyjama zweimal am Tag wechseln. Irgendein Drüsenproblem. Oder Angstschweiß. Seit man dem Jungen seine roten Borsten geschoren hat, überziehen kleine Tropfen seine rosige Glatze wie Kondensat.

»Klar. Bist ja mein kleiner Bruder.«

Lukas kritzelt den Grabsteinspruch auf ein Blatt Papier. Dann starrt er wieder auf sein Handy.

Ich wende mich im Bett um. Beschäftige mich mit meinem Smartphone, habe das Bild von Leandra vor mir auf dem Display. Ich lege Leandra Daumen und Zeigefinger an den Hals und spreize sie langsam. Ihr Lächeln wird breiter. Die Augen verlieren an Schärfe. Noch mal. Ich schiebe mit den Fingern ihre Lippen auseinander. Leandras Haar verschwindet nach rechts und links, Stirn und Augen nach oben. Ihr Kinn mit dem Grübchen und der offene Kragen ihrer Bluse verlieren sich nach unten. Die Lippen füllen nun alles aus. Wunderschöne Lippen. Etwas schmal, aber trotzdem premium! Kirschrot geschminkt. Eindeutig, trotz SchwarzWeiß-Aufnahme.

Ich küsse sie. Davon schnellt Tinderellas Profilbild zurück auf Originalgröße. Ich kenne jeden Pixel. Keines davon würde ich ändern. Mein Herz pumpt Kirschkerne durch die Adern. Ich rufe den Chatverlauf auf. Jedes Wort kann ich auswendig. Ich überfliege die Zeilen. Zunächst banaler Tinder-Smalltalk, dann die krasse Kehrtwende mit Smileys, Herzchen und Küsschen bis zum Happy End.

Dulcinea: Bis heute Abend! Freu mich!

Darunter sieben grüne Herzchen. Warum ausgerechnet grün? Danach meine Antwort, in der Eile nicht sonderlich kreativ:

Ben: Ja, dann bis heute Abend. Freu mich auch!

Ein cooler Spruch hätte besser gepasst. Ich schickte eine letzte Nachricht mit allen Love-Emojis. Sie antwortete mit einem fetten, pochenden Herzen. Ich krönte den Chat durch ein rosa Herzchen mit goldener Schleife und war schockverliebt.

Es ist nicht mein erster Chat mit Herzchen-Flatrate und Kirschkernkribbeln. Schreiben kann ich ja. Nur der Rest ist schwierig. Ich muss an Marie denken. Ebenfalls ein Tinder-Jackpot. Sie wollte sich im Starbucks am Alex treffen. Ich stahl mich aus diesem Todesbunker davon und versuchte, die ätzende Realität für wenige Stunden hinter mir zu lassen. Mein Herz pochte vor Aufregung, als ich den Alexanderplatz überquerte. Zwei Stunden später raste es – von drei Caramel Macchiato, die ich schlürfte, während ich vergeblich auf Marie wartete.

Nun möchte Dulcinea sich mit mir treffen. Ihr Pseudonym ist der Hammer. Don Quijotes Geliebte. Wissen sicher die wenigsten in meinem Alter. Natürlich musste ich sie anschreiben. Mit einem Zitat aus Don Quijote hatte ich sie gleich am Haken. Über Netflix-Serien kann sie mit jedem Idioten quatschen. Bei Cervantes wird die Luft schon dünner. Am dritten Tag erfuhr ich ihren richtigen Vornamen: Leandra. Aus Straßburg. Mutter Französin, Vater Deutscher und schon länger tot. Zum Glück. Weil gewalttätig und so. Sie verbringt die Sommerferien in Berlin in der Wohnung einer älteren Verwandten und gießt die Pflanzen, weil die Dame verreist ist. Achtzehn Jahre, Single. Anmerkung: keine One-Night-Stands! Soweit Leandras Eckdaten.

Natürlich wollte sie auch meine erfahren. No Problem, darin bin ich geübt: Ben Trempnau. Neunzehn Jahre. Vater Prof. Dr. Clemens Trempnau, Chefarzt. Streng, aber trotzdem eher cooler Daddy als unentspannter Spießer. Mutter Bernadette: Charity, Selbstfindung, Weißwein, Shopping. Mit Schwerpunkt auf den beiden letzten Punkten. Frustriert, aber nur selten ausfallend. Adresse: schicke Villa am Wannsee. Werde vom Chauffeur zur Internationalen Schule kutschiert. Gnadenlos behütet, dennoch kein Helikopterkind. Karriereziel: Vaters Fußstapfen erweitern. Beziehungsstatus: Praktizierte Liebe an mir und für mich, seit meine Ex wegen eines Modeljobs nach Paris gezogen ist. Mein Vorname und die neunzehn Jahre sind nicht mal gelogen.

Ich blicke auf den Stuhl neben meinem Bett. Eben noch saß darauf meine analoge Mutter Rita. Die null Ahnung hat, wie man Charity schreibt, und Shopping nur von fern aus den Schönhauser-Allee- Arcaden kennt, weil ihr in den Doppelschichten an der Kaffeemaschine einer Bäckereifiliale für Selbstfindung keine Zeit bleibt. »Muss auf Arbeit«, war in meiner Kindheit der meistgehörte Satz meiner Mutter. »Muss kurz weg«, sagte mein Dad – den Satz hörte ich allerdings nur einmal, als ich keinen Meter hoch war, denn er kam nicht wieder. Seitdem schiebt meine Mom Doppelschichten, die sie heute für einen wichtigen Termin bei meinem Doktor unterbrochen hat. Es sei »janz jut« verlaufen, meinte sie. Dennoch war sie wortkarg und starrte auf meine Apparaturen, anstatt mich anzusehen. Belog sie mich? Ihr Haar roch nach Cappuccino, als sie meine Stirn küsste. Eine ihrer Tränen tropfte mir zwischen die Lippen.

»Muss zurück auf Arbeit. Wird allet jut, meen Junge.«

»Klar, Mom.«

Das war vor zehn Minuten. Mein Blick verliert sich im Fenster hinter Lukas’ Bett. Es ist gekippt und lässt sich nicht öffnen. Wegen oberster Etage und so. Habe bei meiner Einlieferung sämtliche Hebelstellungen probiert. Nur für den Fall der Fälle.

Ich spiele das Geräuscherkennungsspiel. Idee meiner Mutter, um auf andere Gedanken zu kommen. Sie meint es doch nur »jut« mit mir. Ich komme auf acht: Martinshorn, Flugzeug im Landeanflug, zuschlagende Autotür, bremsende Straßenbahn, Presslufthammer. Bislang simpel, weil immer da. Außerdem: Gebell eines großen Hundes, Trompete eines Straßenmusikers, Warnsignal eines LKW beim Rückwärtsfahren und Schluchzen – was allerdings nicht zählt, weil es nicht von draußen kommt, sondern von Leukämie-Maik im Bett schräg gegenüber. Zu Allgemeines wie Straßenlärm oder Windgeräusche gilt auch nicht. So sind eben Moms Regeln. Mein Rekord sind siebzehn erkannte Lärmquellen, darunter ein Auffahrunfall.

Heute bin ich nicht bei der Sache. Ich wische mir mit dem Ärmel über die Augen. Mein Blick wird scharf. Hinter dem Fenster ein gerahmter Horizont aus milchiger Atmosphäre, graue Fassaden, dahinter eintönige Menschen, überhaupt: düstere Aussichten. Dennoch gibt es einen Lichtblick. Leandra. Ich präge mir den Weg zu ihrer Adresse ein. Fünf Stationen mit der U9. Dann eine mit der U2. Am Ernst-ReuterPlatz raus. Drei Straßen zu Fuß. Richtige Hausnummer suchen und im zweiten Stock klingeln. Leider hat mein Chauffeur heute frei.

Ich lege das Tablet zur Seite. Zeit, von hier auszuchecken. Die zurechtgelegte Story erscheint mir kaum glaubhafter als ein Privatchauffeur. Ich gebe meinem Fluchthelfer ein Zeichen. Tumor-Lukas stellt den Timer seines Handys ein. In exakt fünf Minuten wird er den Alarmknopf drücken.

Eine halbe Stunde später klettere ich ungelenk über das Drehkreuz, stolpere und remple eine Japanerin an. Sorry. Ich ernte böse Blicke und fühle die Hitze des Adrenalins. Kein Wachmann scheint mich bemerkt zu haben. Ich laufe in Richtung U9, als jemand ruft: »Hey, du da! Stehenbleiben!«

Es folgt das Geräusch trampelnder Schritte. Da vorne ist der Treppenabgang. Ich drängle, zwänge und springe in einer Minute zwischen mehr Menschen hindurch, als mir in den vergangenen beiden Jahren begegnet sind. Die letzten vier Stufen überspringe ich, spurte zum Zug, hüpfe als Letzter hinein, durchquere zwei Waggons, finde einen Platz, entledige mich meines grauen Kapuzenpullis und gucke, inkognito im blauen T-Shirt, gelangweilt aus dem Fenster.

Krasse Aktion. Zwei Jahre ohne Auslauf und dann gleich eine Verfolgungsjagd. Ich huste mir die verklebten Eingeweide aus dem Leib. Eine kaugummischmatzende, grünhaarige Göre und ein glatzköpfiger Schwarzer mit goldenen Kopfhörern glotzen mich an. Ich hole meinen Inhalator hervor und sprühe mir ein paar Stöße in den Rachen. Mein Atem beruhigt sich erst nach zwei Haltestellen. Wenigstens streunt kein Kontrolleur rum, aber eine Anzeige wegen Schwarzfahren wäre mein kleinstes Problem.

An Geld habe ich bei meiner Flucht ins laute, analoge Leben nicht gedacht. Nur an Leandra. Und an unsere gemeinsame Zukunft. Die es nicht geben wird. Selbst wenn ich mich heute als ihr Traumprinz herausstellen sollte. Selbst wenn sie mir gleich die Klamotten vom Leib reißt. Selbst wenn sie mir meine getunte Biografie nicht übel nehmen sollte.

Meine Augen brennen. Gegen Tränen wirkt der Inhalator leider nicht. Birkenstraße, Turmstraße und Hansaplatz ziehen vorbei. Werbeplakate, Graffiti und Menschenmassen wechseln sich ab mit rußigen Schächten voller Elektrokabel und matten Lampen. Meine Stirn schlägt im ruckeligen Takt der U-Bahn gegen die Scheibe.

Die Flucht war easy. Ich bin mit meinem Körper auf Autonomie gegangen – weg mit der Nadel, den Schläuchen und der Sauerstoffmaske. Dann habe ich um die Ecke des Flurs gespäht und im Behindertenklo auf Lukas’ Auftritt gewartet. Kein Schauspieler könnte glaubhafter epileptische Anfälle simulieren als er. Ich sollte eine Tafel Schokolade für ihn mitgehen lassen. Den allgemeinen Aufruhr habe ich genutzt, um aus dem Gebäude zu spazieren. Ich musste nicht mal meine zurechtgelegte Story aufsagen, werde sie aber für meine Rückkehr im Gedächtnis behalten. Einen fetten Einlauf wird sie mir trotzdem nicht ersparen.

Am Zoologischen Garten steige ich in die U2 um und zwänge mich am Ernst-Reuter-Platz zwischen einem nasebohrenden Bengel und seiner genervten Mutter und einem Typen im Fußballtrikot und fettigen Haaren aus dem Waggon. Wenn man immer dieselben Gesichter sieht, wird selbst eine U-Bahn-Fahrt zum gesellschaftlichen Event.

Draußen muss ich mich erst orientieren. War ich schon mal in der Gegend? Hardenbergstraße, Schillerstraße, Schlüterstraße. Nobles Revier ohne Hundescheiße oder Müll und der Ku’damm gleich um die Ecke. Zwar kein Vergleich zur Villengegend am Wannsee, aber dort bin ich auch noch nie gewesen.

Ich stehe zwanzig Minuten zu früh vor dem Gebäude. Auf der anderen Straßenseite posen zwei Mädels vor einem Haarstyling-Salon und machen Fotos mit dem Selfiestick. Um Punkt achtzehn Uhr sprühe ich mir mit dem Inhalator eine Dosis von meinem Medikament in den Rachen, beschließe, trotz Lampenfieber cool zu bleiben, und drücke den Klingelknopf neben dem angegebenen Namen. Zehn Sekunden, zwanzig Sekunden, dreißig Sekunden.

Hab ich’s mir doch gedacht! Wie mit Marie im Starbucks: totale Verarsche! Ich klingle noch mal. Warte. Shit. Ein drittes Mal. Nichts. Egal. Spare ich mir eben die Aufregung.

»Ja, bitte?«

Leandras Stimme habe ich mir anders vorgestellt – jünger, süßer … irgendwie verheißungsvoller.

»Ähm … Hi, ich bin’s, Ben! Wir haben …«

Klack. War das der Türöffner? Ich drücke gegen die schwarze Haustür, die meterhoch ist, wie der Eingang eines Botschaftssitzes. Tatsächlich. Die Tür geht auf.

Ich nehme die Treppe in den zweiten Stock. Werde kühn. Immerhin bin ich eben schon vor jemandem davongelaufen, der »Hey, du da! Stehenbleiben!« schrie.

Es gibt nur drei Türen pro Stockwerk. Hohe Türen, hohe Decken, Stuckverzierungen, Parkett, sauber, kein orientalischer Küchendunst. Nicht wie bei Mom und mir zu Hause in der Platte. Noch könnte ich mich für die dritte Tür entscheiden – die Aufzugtür. Etwas dönieren und dann mit dem Taxi zurück. Wenn ich Geld dabeihätte. Dann hätte ich auch was mitgebracht. Rosen oder so. Schenkt man einer Achtzehnjährigen Blumen? Keine Ahnung. Wie bei allem, was Mädchen anbelangt. Ehe ich den uncoolen Gedanken weiterspinne, klopfe ich an die Wohnungstür mit dem Namensschild. Sie öffnet sich, ehe ich ein Lächeln aufsetzen kann. Das mir ohnehin sofort vergangen wäre.

»Was willst du?«

»Ähm … ich habe mit Leandra …«

»Wie heißt du?«

»Ben, aber ich …«

»So einer wie du hat mir meine Handtasche geklaut, als ich zuletzt draußen war!«

Auf dem Weg hierher habe ich verschiedenste Szenarien durchgespielt. Dass Leandra mir direkt um den Hals fällt und mich küsst, war mein Favorit. Diese Version hingegen kam nicht vor.

»Wann war das?« Alibis habe ich bei einer 24-Stunden-Überwachung aller wichtigen Körperfunktionen nämlich ohne Ende.

»Vor zwanzig Jahren.«

Echt abgefahren, die Alte. »Da war ich noch gar nicht geboren. Ich wollte zu Leandra. Sie hat gesagt, sie wohnt hier.«

Das kam selbstbewusst. Habe ja nichts zu verlieren.

»Komm erst mal rein. Aber klau mir nicht die Handtasche!«

Ich folge der unerwarteten Lady in ihre Bude, Typ Antiquariat. Kein Flur. Offen und loftig. An den Wänden kein Stück Mauer zu sehen. Nur Buchrücken. In hohen Regalen, auf Tischen, Fenstersimsen, auf dem Boden gestapelt, selbst in der Küchenecke überall Bücher. Hunderte, Tausende. Aber keine Leandra. Nur drei Räume sind abgetrennt. Zwei Schlafzimmer und das Badezimmer? Die Alte bemerkt meinen suchenden Blick.

»Leandra musste weg. Nusslikör?«

Weg? Nusslikör? Während sie zur Hausbar geht, gucke ich ihr nach. Solche Damen sieht man in meinem Ghetto selten. Hosenanzug und echter Schmuck und alles. Typ Ministerin oder Schauspielerin. Kein herausgewachsener grauer Haaransatz wie bei den Aldi-Muttis in meinem Viertel. Zurück schreitet sie wie eine Diva auf dem roten Teppich und trägt dabei die Likörflasche wie eine Trophäe für ihr Lebenswerk vor sich her. Derselbe Eindruck von vorne: Typ aufpolierter Oldtimer – selten, edel, kaum Rost. Ihre Strähnen sind bis zur Wurzel schwarz gefärbt und enden an den Schultern.

Bald halte ich ein Glas mit einer Flüssigkeit in der Farbe von Motoröl in der Hand und werde zu einem Schaukelstuhl geführt. Die Frau nimmt mir gegenüber in einem Ohrensessel Platz und glotzt mich über den Rand ihrer Brille an. Ich fühle mich durchleuchtet wie im Kern-spintomografen. Und jetzt? Muss ich etwas Freundliches, Schlaues, Humorvolles absondern? Ein Kompliment? Schöne Wohnung. Und so viele Bücher. Ich lese auch gerne. Könnte ein Fehler sein. Sie würde wissen wollen, was ich lese, und schon würden wir über Literatur labern. Dabei interessiert mich nur eins.

»Wissen Sie denn, wann Leandra zurückkommt?«

Dabei ist meine Lage ohnehin hoffnungslos. Wo sollte ich hier mit ihr ungestört sein? Und zum Italiener kann ich sie ohne Geld auch nicht einladen.

»Nein. Du kannst aber gerne hier auf sie warten. Prost!«

Ich nippe am Motoröl. Es schmeckt irgendwie medizinisch. Wen wundert’s. Seit meiner Kindheit schmeckt alles irgendwie medizinisch.

»Danke. Sie sind also Leandras Groß…«

»Wage es nicht!«

»Wie bitte?«

»Wage es ja nicht, das Wort Großmutter in den Mund zu nehmen. Du kannst mich duzen. Ich heiße Clara. Mehr musst du nicht wissen. Außer, dass ich nicht bescheuert bin. Du bist hier, um mit Leandra zu kopulieren, und nun fragst du dich, völlig zu Recht, wie das in meiner Anwesenheit klappen soll?«

»Zu kondu…?«

»Um ihr deinen kleinen Freund vorzuführen. Ich spreche auch eine profanere Sprache. Jedoch nur sehr ungern.«

Ist hier irgendwo eine versteckte Kamera? Und warum hat Leandra mich eigentlich nicht benachrichtigt? Wo steckt sie nur?

Clara hält mir ihr Glas entgegen. »Cheers!«

Ich kippe den Inhalt hinter meine Mandeln. Der Alkohol steigt mir sofort zu Kopf. Ich wippe mit dem Schaukelstuhl und antworte auf Claras heikle Fragen.

Wie wir uns kennengelernt haben? Über Tinder.

Was das ist? Ich erkläre ihr das Wisch- und Weg-Prinzip.

Wie oft wir uns begegnet sind? Noch nie.

Ob ich studiere? Medizin nach den Sommerferien.

Wie alt? Neunzehn.

Wo ich wohne? Am Wannsee.

Wie beim Bewerbungsgespräch für den Job des Großnichten-Lovers.

Ich schlage mich gut, und weitere Bewerber gibt es nicht.

»Rauchst du Cannabis oder nimmst du andere Drogen?«

»Niemals!«

»Schade.«

»Wie bitte?«

»Ich dachte, du hättest vielleicht etwas Gras dabei.«

Clara schenkt Medizin nach. Ich sitze nun schon seit einer halben Stunde im Schaukelstuhl und werde zunehmend seekrank, während sie mich über Leandra zutextet. Ganz wunderbares Mädchen, meint die, die es wissen muss. Da hätte ich wirklich Glück. Mal abwarten, denke ich, während sie über die Liebe junger Männer referiert und dabei Cervantes zitiert: »Da bei jungen Männern die Liebe meistenteils keine wirkliche ist, sondern Begierde, die, weil sie zum letzten Zweck den Genuss hat, endet, sobald sie ihn errungen; und was Liebe schien, weicht alsdann immer mehr zurück, weil es nicht über das Ziel hinaus kann, das die Natur ihm gesetzt, ein Ziel, das sie der wahren Liebe nicht gesetzt hat.«

»Doch keine Bange – Leandra ist zu jung, um das zu wissen.« Dann stellt sie weitere Fragen. Philosophische.

»Was erwartest du vom Leben? Was sind deine Träume?«

»Keine Ahnung.«

Das geht sie nichts an, und wenn sie die Wahrheit über mich wüsste, würde sie mich das nicht fragen.

Doch sie lässt meine Antwort nicht durchgehen und bohrt weiter. Total gestört. Was will sie hören? Die ungezuckerte Realität? Dass ich vom Leben nur etwas erwarte, was für Jungs meines Alters als so gegeben gilt wie die Grundakustik Berlins? Ich leere das dritte Glas und frage nach der Toilette. Erwartungen? Träume? Die gibt es tatsächlich. Es hat mich bloß noch niemand danach gefragt. Du musst tapfer sein und kämpfen!, musste ich mir stattdessen von allen Seiten anhören.

Es kitzelt an der Wange, und ich kratze mit dem Daumen drüber. Danach lässt sich mit der feuchten Kuppe das Handy nicht entriegeln. Ich wische den Bildschirm an der heruntergelassenen Jeans ab und tippe auf unseren Chat. Leandra zuletzt online heute um 15:43.

Während ich pinkle, schreibe ich.

Hi. Bin schon hier. Nusslikör mit Clara. Also mach bitte schnell. Daneben ein Smiley und ein Herz. Kein Vorwurf. So was kommt niemals gut an. So viel zumindest weiß ich vom anderen Geschlecht.

Senden.

Ein schwarzer Haken.

Zwei schwarze Haken.

Ich krame meinen Inhalator hervor und verpasse mir eine Dosis.

Zwei blaue Haken.

Leandra ist online.

Leandra schreibt …

Zwei Minuten lang starre ich auf den Bildschirm. Zu lange für ein Bin in 5 min da oder Komme gleich.

Megasorry, Ben. Meine Mutter liegt im Krankenhaus, und ich musste nach Straßburg, auf meine kleine Schwester aufpassen. Mein Handy hatte keinen Saft mehr, und ich musste sofort in den Flieger.

Das tut mir leid zu hören. Hoffentlich nichts Schlimmes?, tippe ich artig. Trotz Megagroll. Lässt mich hier einlaufen und verzieht sich nach Straßburg. Voll Tindergarten.

Nein. Sie muss aber ein paar Tage in der Klinik bleiben. Warum kommst du nicht her? Sind doch Ferien. Wir machen uns eine geile Zeit hier.

Spontaneität ist was für andere. Für reiche Söhne renommierter Chefärzte. Ich kann nicht mal spontan in eine Burgerbude.

Das geht leider nicht, lösche ich wieder, ebenso wie: Ich würde gerne, aber … Als mir kein Satzende einfällt, schreibe ich stattdessen: Coole Idee. Muss ein paar Dinge checken und meld mich wieder. Was ich nicht tun werde.

Auf dem Beistelltisch neben dem Schaukelstuhl wartet das nächste Glas Nusslikör. Die Situation ist ohnehin betrinkenswert.

»Leandra musste spontan nach Straßburg. Wusstest du das gar nicht?«

»Das kann nicht sein«, murmelt die Alte, erhebt sich aus dem Ohrensessel und bedeutet mir, ihr zu folgen. Sie öffnet die Tür des einen Schlafzimmers. Es ist aufgeräumt und das Bett gemacht. Sie guckt in einen antiken Schrank.

»Tatsächlich!«, raunt sie der verwaisten Kleiderstange und den leeren Schrankfächern zu. »Ihre Sachen sind weg.«

Das Holz des Bettes hat denselben dunklen Farbton wie der Schrank. Eiche oder Mahagoni, keine Ahnung, sicher ist nur: nix Ikea. Dazu mintgrüne Bettlaken und Kopfkissen. Ich stelle mir vor, mich mit Leandra in dieser mintgrünen Oase … Stattdessen: Schwachsimpeln mit Rentnerbarbie.

Auf dem Nachttisch liegt ein Blatt Papier. Die Nachricht beginnt mit Liebe Clara. Ich reiche sie weiter. Clara liest die Zeilen und gibt mir den Zettel zurück. Darin steht nichts Neues. Leandra musste dringend weg, weil ihre Mutter überraschend in die Klinik eingeliefert wurde und sie in der Zwischenzeit auf ihre jüngere Schwester aufpassen muss. Sie bedankt sich bei Clara und hofft, sie bald wiederzusehen. Ich frage mich, warum die beiden Briefchen austauschen und keine WhatsApps? Total Achtziger. Aber das geht mich nichts an. Ich will nur von hier auschecken und Leandra mitsamt der schrägen Alten in meinen mentalen Spamordner verschieben. Stattdessen setze ich mich wieder in den Schaukelstuhl und erzähle Clara, dass Leandra mich nach Straßburg eingeladen hat.

»Tolle Stadt. Warst du schon mal dort?«, fragt sie mich.

Ich schüttle den Kopf. Meine exotischsten Trips bisher waren eine Klassenfahrt nach Hamburg und eine Reise mit Großvater nach Leipzig zur Buchmesse.

»Dann schlage ich vor, wir reisen gemeinsam dorthin. Ich habe Françoise, Leandras Mutter, ewig nicht gesehen. Und du kannst mit Leandra durch die Stadt flanieren. Entlang des Kanals ist das gerade spätabends sehr romantisch.«

Ich nippe am Likör und lasse mir das tatsächlich durch den Kopf gehen. Was wohl am Alkohol liegt.

»Ich zahle die Reisespesen«, fährt Clara fort. »Wir werden auf dem Weg dorthin jedoch nicht in Hotels der gehobenen Kategorie schlafen.«

»Schön – aber ein Flug dorthin dauert höchstens anderthalb Stunden. Wozu also Hotels?«

»Sagt dir der Begriff Agoraphobie etwas?«

»Angst vor Langhaarkatzen?«

In Claras Lächeln blitzt eine flüchtige Ähnlichkeit mit Leandra auf. Wird Leandra eines Tages auch so aussehen? Etwas zerknautscht, aber in ihrer Grazie die Schönheit ihrer Jugend widerspiegelnd? Mit diesem Glanz in den Augen? Nicht so wie bei Mom, die viel jünger ist als Clara, deren Linsen aber getrübt sind durch den Mehlstaub von hunderten Doppelschichten.

»Nein. Das bedeutet, ich habe nicht gerne viele Menschen um mich. Nicht auf Plätzen, Straßen oder Märkten und schon gar nicht in Flugzeugen, Zügen oder Bussen. Außerdem besitze ich mangels Notwendigkeit keinen Reisepass. Wir müssen also eine andere Möglichkeit finden, um nach Straßburg zu gelangen.«

»Was schwebt dir also vor? Sollen wir hinlaufen?«

Sie wölbt die linke Braue und schiebt damit ein paar Falten hoch.

»Hast du denn kein Auto?«

»Nein.« Dafür aber einen Rollstuhl für die schlimmen Tage.

Ich sehe zu, wie der letzte Tropfen Motoröl auf meine rausgestreckte Zunge fällt, und mühe mich aus dem Schaukelstuhl.

»Ich muss dann los …«

Ihr Lächeln verschwindet, und Gewitterfalten ziehen auf.

»Du wolltest Leandra einfach nur flachlegen. Mehr kann nicht dahinterstecken, ansonsten würdest du ihr nach Straßburg folgen.«

»Das ist es nicht … Ich kann …«

Soll ich ihr die Wahrheit erzählen? Damit sie mich in Ruhe lässt und mir ein Taxi zahlt? Nein. Ich brauche ihr Mitleid nicht.

»Wenn du kein Auto hast, mieten wir eben eins. Du fährst. Ich habe keinen Führerschein.«

Ich winke ab. Sie begleitet mich zur Tür und zitiert erneut aus Cervantes: »Wer schwelgt in trägem Frieden, wird nie des Sieges Ruhm und Preis erjagen; Vom Glück sind stets gemieden, die feig mit dem Geschick den Kampf nicht wagen, auf Mannesehr verzichten, und nur auf süße Ruh die Sinne richten.«

Daraufhin reicht sie mir ihre Hand – ein beinahe transparentes Geflecht aus Adern, Sehnen und Knochen. Statt sie zu schütteln, lehne ich meine Stirn gegen den Türrahmen. Ich will nicht zurück. Wer will dorthin schon zurück? Ich mache es nur für Mom. Damit sie sich nicht sorgt. Für Tumor-Lukas, der mich seinen großen Bruder nennt. Und für Leukämie-Maik, der sich in Comics flüchtet.

»Ich würde Leandra wirklich gerne besuchen, aber leider ist mir das nicht möglich. Ich kann nicht für längere Zeit weg aus Berlin. Ich bin … ich sollte nicht mal … Egal!«

Meine Stimme klingt krass weinerlich. Sie legt mir die Hand auf die Schulter. Verständnisvoll und tröstend. Fragt aber nicht nach.

Meine Gedanken schweifen ab. Der orangefarbene Renault meines Großvaters kommt mir in den Sinn. Und wie er mir mit der fünfundvierzig Jahre alten Kiste auf brandenburgischen Forstwegen das Fahren beibrachte. Eine der wenigen schönen Erinnerungen. Ich habe mich so frei gefühlt. »Ich schenk ihn dir. Bin ohnehin zu alt zum Fahren«, sagte Großvater nach einer dieser Spritztouren. Bald darauf war er tot. Die Karre habe ich vergessen. Was sollte ich auch mit der alten Kiste? Sie fährt zwar noch, aber das ist auch schon alles. Der R4 bräuchte neue Reifen und einen Service. TÜV und Versicherung sind längst abgelaufen. Ein Auto kann ich nicht mieten, selbst wenn Clara dafür zahlt, denn auch ich habe keinen Führerschein. Großvaters Renault wäre die einzige Möglichkeit, wenn Bus, Bahn und Flugzeug nicht infrage kommen. Zugleich wäre es ausgesprochen kühn.

Die Alte traut es mir sicher nicht zu, aber auch ich könnte Cervantes zitieren: Denn nach meiner Meinung gibt es auf Erden kein Glück, das sich mit dem Wiedergewinn der verlorenen Freiheit vergleichen ließe. Was habe ich schon zu verlieren? Mein Schicksal kann ich nicht mehr ändern. Ich kann nur die Zeitspanne bis zum Tag X beeinflussen. Und diejenigen, die es mir verbieten wollen, werde ich nicht um Erlaubnis bitten. Ja, ich sollte alle Hebel des Renault 4 in Bewegung setzen, um Dulcinea in Straßburg zu treffen. Claras Hand fällt von meiner Schulter, als ich mich zu ihr umdrehe. Ihre Haare riechen nach Honigshampoo.

»Ich habe doch ein Auto«, höre ich mich sagen.

3

Clara

Der Aufbruch geschehe sonach auf der Stelle, denn nur das alte, viel angeführte Wort: Nur im Zaudern steckt die Gefahr! beflügelt mir schon den Wunsch auf die Reise. An diese Worte aus Don Quijote muss ich nun denken. Bereits morgen ist es so weit. Zum Glück entschied sich der Junge doch für die Reise nach Straßburg. Selbstverständlich verfolgt er andere Interessen als ich, aber so war das auch bei den abenteuerlichen Reisen von Don Quijote und Sancho Panza. Die spitzbübischen Helden in Cervantes’ Romanen nahmen es, wie auch ihr Verfasser, mit der Wahrheit nicht immer so genau. Mit fortschreitendem Alter ist das bei mir ebenso. Ich ziehe die Grenze zwischen Fiktion und Fakten nicht an derselben Stelle wie andere. Ich erschaffe mir lieber meine eigenen Realitäten.

Davon habe ich Ben natürlich nichts erzählt. Er wird es bald genug herausfinden. Irgendwann wird er mir vielleicht sogar verzeihen. Wir besprachen die Einzelheiten bis nach Mitternacht, dann rief ich dem Jungen ein Taxi und gab ihm Geld für die Fahrt zum Wannsee. Ich muss sein Spiel mitspielen. Vorerst. So wie er meines mitspielt – ohne davon zu wissen.

Meine Unruhe ist zurück. Es läuft nach Plan, dennoch ist an Schlaf kaum zu denken. Dabei kenne ich die Erde wie kaum jemand: USA, Kanada, Mittelamerika, Südamerika, Russland, ganz Europa, den Balkan, viele Länder Asiens und einige afrikanische Staaten, Australien, Neuseeland. Ich habe selbst die entlegensten und unwirtlichsten Orte bereist: Wüsten und Regenwälder, die Arktis und den Nordpol, die Tiefen der Meere und die höchsten Berge. Dazu sämtliche Zeitzonen: von der Antike übers Mittelalter in die Renaissance, von der Aufklärung ins Goldene und Viktorianische Zeitalter, vom 19. ins 21. Jahrhundert. Doch dafür musste ich keine Koffer packen. Ich musste mich nur dem Zauber der Werke hingeben, die mich an jene Orte entführten.

Am häufigsten zog es mich in mein geliebtes Spanien. Natürlich nicht mit Ryanair, sondern mit Cervantes. Nun stehe ich zum ersten Mal vor einer nichtliterarischen Reise. Diesmal bin ich die Autorin. Zum ersten Mal raus aus Berlin, ganz ohne umzublättern. Hinaus aus Deutschland, wenn auch nicht weit. Nur hinter die Grenze nach Straßburg. Zumindest im ersten Kapitel. Dass es davon mehrere geben wird, weiß der Junge auch noch nicht.

4

Ben

Noch immer wummert mir der Schädel von diesem verdammten Nusslikör. Als ich nachts zurückkam, hat der Pfleger Ayaz um die Ecke geguckt. Er mag mich. Erst hat er mir einen tadelnden Blick zugeworfen, dann hat er den Zeigefinger an den Mund gelegt und mir zugezwinkert.

Leandra. Was tun? Jeder Gedanke an sie ist ein Stich ins Herz. Heute Morgen schrieb sie mir. Dulcinea findet es voll mega, dass ich sie gemeinsam mit Clara besuchen werde. Freu dich nicht zu früh, denke ich. Gestern Abend, benebelt vom Nussfusel, fühlte ich mich wie Chuck Norris. Und heute? Katerstimmung. Für wenige Stunden auschecken war ja noch okay, aber für eine ganze Woche?

Was ist mit der Medikamentenversorgung? Und mit dem Renault? Der wurde seit Ewigkeiten nicht bewegt. Es wäre ein Wunder, wenn ich damit aus der Garage rollen würde, in der die Kiste neben Großvaters Bude in Wandlitz vor sich hin rostet. Auch dort müsste ich erst mal hinkommen. Ich öffne den Routenplaner meines Tablets. Zuerst nach Hause, um die Schlüssel zu holen. Dann mit der S2 bis Karow und weiter mit der Regionalbahn bis Wandlitz. Dann noch zwei Kilometer zu Fuß bis zum Haus. Dafür muss man kein Chuck Norris sein. Und Clara hat mir gestern ein paar Scheine mitgegeben.

Um Punkt 14 Uhr soll ich die Alte in der Schlüterstraße abholen. Dann raus aus Berlin und auf Landstraßen Richtung Südwesten. Autobahnen kommen für sie nicht infrage. Zu viel Verkehr, lärmende LKW und Menschenmassen in Raststätten oder auf Tankstellen. Das war nun mal der Deal, auf den ich mich gestern eingelassen habe. Klar kann ich mich noch anders entscheiden. Zumindest über so viel Freiheit verfüge ich.

Aber was wird in diesem Bunker aus meiner Freiheit? Mache ich mich vom Acker, werde ich einige Menschen enttäuschen. Dafür werde ich Leandra nie begegnen. Ich könnte weiter hier dahinvegetieren und hoffen. Aber kann ich das nicht auch auf idyllischen Landstraßen Richtung Frankreich? Allein nach Straßburg zu fliegen, ohne Clara und ihre Paranoia, würde auch nicht funktionieren. Ich habe nämlich keinen gültigen Ausweis und auch keine Kreditkarte. Also bleibt nur, Clara eine Weile zu ertragen. Dafür übernimmt die Alte die Reisekosten.

Der entscheidende Gedanke am heutigen Freitag, dem 6. Juli um zehn Uhr morgens lautet aber: Leandra würde mich niemals nach Straßburg einladen, um mich dann nicht ranzulassen. Meine Biografie musste ich ein klein wenig mit Sahne garnieren. Ging ja nicht anders. Aber mein Profilbild ist kein Fake. Ich muss nur weiterhin den coolen Chefarztsohn spielen und habe nichts zu befürchten. Sogar Clara hat mir meine Story geglaubt. Es besteht also die Möglichkeit, wenigstens einen Punkt meiner To-do-Liste abzuarbeiten. Den wichtigsten, weil: Als Jungfrau ins Jenseits zu marschieren ist so, als hätte man niemals existiert. Dafür muss ich nach Straßburg. In Großvaters Oldtimer und mit Leandras paranoider Großirgendwas an meiner Seite.

Die Entscheidung ist gefallen. Ich werde es durchziehen! Jetzt den Schwanz einzuziehen, würde ich mein restliches Leben lang bereuen. Und das könnten durchaus noch einige Monate sein. Ich werde etwas total Abgefahrenes tun. Zum ersten Mal. Mit einer alten Karre und einer noch älteren Verrückten nach Frankreich tingeln und dort das schönste Mädchen der Welt lieben.

Eine seltene Energie durchströmt mich. Euphorie? Chefarzt Prof. Clemens Trempnau wird nachmittags zur Visite kommen. Er ist total nett zu mir. Deshalb habe ich ihn auch als meinen virtuellen Vater adoptiert. Dad wird es verstehen. Soll ich dem Doc eine Nachricht hinterlassen? Besser nicht. Nur Mom. Ich schreibe ihr eine WhatsApp: Geh für ein paar Tage zu einem Kumpel. Fühl mich super, muss aber eine Weile raus. Medikamente hab ich dabei. Mach dir bitte keine Sorgen. Natürlich wird sie sich Sorgen machen. Aber was soll ich sonst schreiben?

Ich gehe zu Leukämie-Maik. Die Krankheit ersetzt auf unserer Station den Nachnamen. Nur meinen nicht. Meine Krankheit kann sich von den Jungs niemand merken. Maik sieht mich wegen des Comics vor seinem Gesicht nicht kommen und erschrickt, als ich mich auf sein Bett setze. Ich ziehe ihn hoch und nehme ihn in den Arm. Das habe ich noch nie gemacht. Er weiß nicht, wohin mit seinen Kinderhänden. Zögerlich legt er sie auf meinen Rücken.

»Ich werde eine Weile verschwinden. Mach’s gut, Spiderman.«

So nenne ich den Elfjährigen manchmal, obwohl er es ohne fremde Hilfe nicht mal zur Toilette schafft. Aber es gefällt ihm. Maik nickt und stellt keine Fragen.

Tumor-Lukas dafür umso mehr. Er möchte nicht, dass ich gehe, und fragt mich, ob er mitdarf. Der Junge macht es mir echt schwer. Ich streiche ihm über seine schweißnasse, kahle Birne und bitte ihn um Hilfe. Gebongt. Wir stellen die Timer unserer Smartphones auf fünf Minuten. Es bleibt noch Zeit für eine letzte Umarmung.

»Auf Wiedersehen, Bro.« Wie schwer die Worte auf dieser Station auszusprechen sind. Und wie höhnisch sie klingen.

Das weiß auch Lukas. »Ciao. Bis bald«, stammelt er.

Ich darf nichts mitnehmen. Mit einer Tasche rauszuspazieren wäre viel zu auffällig. Im Flur klimpere ich laut mit Münzen für den Kaffeeautomaten und nicke zwei Pflegern zu, die sich bei diesen Temperaturen sicher über meinen Parka wundern. Schräg gegenüber vom Automaten liegt das Schwesternzimmer. Ich warte, bis der Timer zwei Minuten anzeigt, und klopfe gegen die Tür. Das muss klappen, ansonsten kippe ich noch vor Leipzig um.

»Herein!«

Ich öffne die Tür und halte die Verpackung eines Schmerzmittels hoch. Diese Schwester muss neu sein. An ihre Pickelvisage und das rote Igelhaar würde ich mich erinnern. Zum Glück ist sie allein im Zimmer.

»Guten Tag, Schwester. Die Pillen hier sind mir ausgegangen.«

»Welches Zimmer?«

»314.«

»Hast du mit deinem Arzt gesprochen?«

»Nein, ich …«

»Dann warte bitte auf deinem Zimmer.«

»Nein, bitte! Es ist … dringend!«

Ich krümme mich und stütze mich an der Wand ab.

»Ayaz gibt sie mir immer gleich.«

Ich schätze, es sind noch sechzig Sekunden, ehe Lukas hoffentlich den Alarm auslöst.

»Schwester, das geht schon in Ordnung, fragen Sie Ayaz.«

»Ich darf dir nicht einfach …«

Die Zeit verrinnt. Wenn Lukas’ Alarm zu früh ertönt, kann ich Leandra vergessen. Dann habe ich nie existiert. Ayaz betritt den Raum. Das ist nicht gut.

»Hi Kumpel. Meine Schmerzkiller sind alle. Hast du eine Packung für mich?« Ich stöhne wie ein Pornostar und presse meine Faust in den Unterleib. Auch Ayaz darf das nicht ohne Rücksprache mit dem Arzt, aber er nimmt es nie so genau. Trotzdem scannt er mich skeptisch. Immerhin bin ich ihm gestern Nacht in die Arme gelaufen.

Noch zwanzig Sekunden. Wenn überhaupt. Ayaz zieht den Schlüsselbund hervor und öffnet den Schrank. Er greift nach dem Medikament und reicht es mir. In dem Moment ertönt ein Alarm. Danke, Lukas. Auf ihn ist Verlass. Trotz des tennisballgroßen Geschwürs im Kopf.

Ayaz scheucht mich aus dem Raum und läuft mit der Schwester zu Lukas. Ich wende mich dem Kaffeeautomaten zu und peile die Lage. Niemand kümmert sich um mich. Ich schlüpfe wieder ins Schwesternzimmer und gehe methodisch vor. Auf die Schnelle finde ich keinen Inhalator, aber in meinem sind noch genug Dosen drin. Die dürften ewig reichen. Die Verpackungen sehen fast alle gleich aus. In der Hektik greife ich zu den falschen Tabletten und lege sie zurück in den Schrank. Dabei werfe ich ein braunes Fläschchen um. Es fällt mit einem lauten Knall zu Boden und zerbricht. Ich wische mir die Stirn ab und finde den Schleimlöser, von dem ich vier Packungen zusammen mit meinen anderen Tabletten in die Jackentasche stopfe. Fehlt nur noch das Schmerzmittel. Mit der einen Packung komme ich nicht weit. Wo hat Ayaz eben hingelangt? Nach links oder rechts hinten? Ich finde nur Blutdrucksenker, Schlaftabletten und anderen nutzlosen Kram und stelle alles mit zitternden Händen zurück. Da! Perfekt. Ein Stapel mit den richtigen Pillen. Ich greife zu.

»Hey, was machst du da?«, ruft jemand hinter mir.

5

Clara

Derjenige, der Wohlstand verliert, verliert viel; derjenige, der einen Freund verliert, verliert mehr; doch derjenige, der seinen Mut verliert, verliert alles. Diese Worte aus Miguel Cervantes’ Feder muss ich mir wieder und wieder in Erinnerung rufen. Ich verschließe die Kühltasche, in der mein Supermarkt Tiefkühlprodukte anliefert. Koffer und Reisetaschen besitze ich nicht. Ich nehme nur so viel mit, als würde ich den Jakobsweg pilgern: etwas Wäsche, Kosmetika, Handy, Tablet, Ladekabel, Powerbank. Und Juans Brief. Auf der Küchenwaage wiegt alles zusammen 6326 Gramm.

Ich ziehe meine Wanderschuhe aus dem Regal. Bestellt habe ich sie vor vier Jahren, als das Runtertragen des Mülls zweimal hintereinander gut klappte und ich euphorisch wurde. Ich wollte aufs Land: Über Wiesen, Felder und durch Wälder wandern, die Weite Brandenburgs fühlen, Himmel und Horizont bestaunen – ich wollte es überwinden. Straßenstaub haftet an der Sohle, ansonsten kein Kratzer. Ich bin bis zur Hausnummer 35 in meiner Straße gekommen. Vor der Apotheke klappte ich zusammen. Zum Glück kam gerade ein Sanitäter raus.

Ich schlüpfe in die Schuhe. In drei Stunden wird Ben klingeln. Seltsam. Nach all den Jahren kann ich plötzlich keine drei Stunden länger untätig hier sein. Ich nähere mich der Wohnungstür. Dreimal kontrolliere ich, ob ich den Schlüssel eingesteckt habe. Ich drücke die Klinke nach unten, spähe in den handbreiten düsteren Spalt. Nach wenigen Sekunden drehe ich mich wieder um – zu meinen Büchern, meinem Gehäuse, ohne dass ich mich wie eine Nacktschnecke beim Überqueren einer Autobahn fühle, und schließe die Tür zur unwirtlichen Welt da draußen. Dabei wäre es so einfach: Ich schreibe Ben eine kurze Absage und könnte in meinem Lesestuhl eine weitere Reise antreten – mit regulärem Atem und normaler Herzfrequenz und ohne mein Deodorant zu überfordern.

Ich betrachte die Kartons auf der Kommode, mit denen die Unruhe per Bote frei Haus geliefert kam. Ich könnte Juans schweres Erbe ablehnen und die Pakete ins Notariat zurücksenden. Wie oft habe ich in den vergangenen Wochen mit dem Gedanken gespielt und es doch nicht getan, weil ich endlich gegen meine inneren Windmühlen ankämpfen muss?

Der nächste Anlauf. Ich drücke die Klinke, schließe die Augen und taste nach dem Lichtschalter im Flur. Ich greife mehrmals zum Schlüssel in der Hose, schiebe mich am Türrahmen vorbei und warte, bereits im Draußen, auf die Attacke meiner Sinnesorgane: Ich fühle den Schweißfilm zwischen der Hand und dem Messingknauf, an den ich mich klammere wie eine Ertrinkende an eine Boje, höre eine Beethoven- Sonate in der Nachbarwohnung, gewichtig und düster und im Crescendo Unheil verkündend, und den antiquierten Aufzug, der in den Abgrund ruckelt wie ein schlecht geöltes Schafott. Ich widerstehe dem Drang zum Rückzug und ziehe die Tür bis auf einen kleinen Spalt zu. Dann setze ich mich in Bewegung.

»Einen Schritt nach dem anderen, Clara. Selbst die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt«, flüstere ich mir Mut zu. Mit einer Handfläche streiche ich an der Wand entlang. Parkett knarzt unter meinen Füßen. Kaum zwei Minuten später erreiche ich die Messingkugel des Treppengeländers – mein erstes Etappenziel. Ich umschließe den Kugelhals, als wolle ich sie erwürgen. Nach einer Weile setze ich den linken Fuß auf die erste Stufe und ziehe den rechten nach. Eine kurze Pause, dann wiederhole ich den Vorgang. Und gleich noch mal.

Auf einmal vernehme ich Schritte von unten. Dem Staccato nach trabt ein junger Mann die Treppe hoch. Sicherlich ein Paketbote. Ich kralle mich mit beiden Händen am Treppenlauf fest und starre auf die Wanderschuhe. Im Augenwinkel erscheint der großgewachsene österreichische Student, der meine Bücher liefert. Er bleibt zwei Stufen unter mir stehen – auf Augenhöhe.

»Guten Tag, gnädige Frau. Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragt er mit Wiener Akzent.

Bestimmt erwecke ich den Eindruck, als wäre mein Rollator beim Service oder mein Schnapsvorrat alle. Ich nicke und zwinge meinen Blick in seine Richtung. Er trägt eine schwarze Baseballkappe mit der Aufschrift Whatever, hat Aknenarben im Gesicht und einen BMI wie ein Skispringer im Hungerstreik.

»Darf ich Ihnen das gleich hier überreichen?«

Er hält mir einen Plastikstift vor die Brust, mit dem ich auf dem Display seines Tablets unterzeichnen soll. Im Türrahmen meiner sicheren Wohnung wäre das kein Problem.

»Nein!«

Der Stift weicht einem braunen Paket.

»Aber das ist für Sie.«

Zum Glück spart er sich die »gnädige Frau«.

»Legen Sie es in meinen Flur, die Tür steht offen. Ich muss weg!«

»Sehr gerne, gnädige Frau. Wenn Sie mir nur kurz den Empfang bestätigen könnten …«

Ich löse eine Hand vom Geländer und versuche, den Stift zu fassen. Vergeblich. Whatever drückt ihn mir in die Hand.

»Alles in Ordnung?«, fragt er.

»Ja«, lüge ich. Die Treppe schwankt wie ein Schiff im Orkan. Ich kritzle etwas auf das Display, taste nach dem Handlauf und sinke auf die Stufe. Ich schließe die Augen und warte, bis der Sturm vorbeizieht.

Umkehren! Sofort umkehren!, brüllt eine allzu vertraute Stimme in meinem Kopf.

»Soll ich einen Arzt rufen, gnädige Frau?«, fragt der Bote.

»Nein!«, antworte ich ihm und der Stimme im Kopf so laut wie möglich. Whatever gibt sich geschlagen und verschwindet. Meine innere Stimme nicht. Das tut sie nie. Seit zwei Jahrzehnten übertönt sie alle anderen Stimmen.

Es mögen zwanzig Minuten vergangen sein, als ich erneut Stufe für Stufe die Treppe hinabtappe. In der ersten Etage ziehe ich Bilanz: Ich habe ein menschliches Hindernis überwunden und die omnipräsente Stimme im Kopf ignoriert. Die verbleibenden einundzwanzig Treppenstufen ins Erdgeschoss überwinde ich in nur zehn Minuten. Links liegt der Innenhof mit den Mülltonnen. Dorthin habe ich es bereits mehrmals geschafft. Bis zu jenem Tag, als ich in meiner Euphorie Wanderschuhe bestellte und nach zweihundert Metern vor der Apotheke die Segel streichen musste.

Jetzt muss ich nur noch sechs Treppenstufen überwinden, die Haustür öffnen und auf die Straße treten. Der nächste Schritt wäre, mich wenigstens eine halbe Stunde auf Straßen oder belebten Plätzen aufzuhalten. Und die Krönung wäre es, wenn ich Orte ohne Rückzugsmöglichkeiten aufsuchen könnte, ohne in Panik zu geraten. Dazu zählt alles, was eine Tür hat, durch die man nicht ohne Weiteres flüchten kann, wie ein Bus oder eine S-Bahn.

Indem ich mich auf die Straße wage, würde ich den Grad meiner Agoraphobie von Stufe acht auf Stufe sieben senken. Als Psychologin darf ich diese Selbstdiagnose stellen, deren Abstufungen ich einst in einem Fachartikel veröffentlicht habe. Stufe 1 bedeutet demnach ein mulmiges Gefühl beim Verlassen der eigenen vier Wände. Stufe 10 heißt, dass man sein Heim aus Angst vor dem Draußen selbst dann nicht verlässt, wenn es in Flammen steht.

Umkehren!, brüllt die Stimme in mir.

Halt die Klappe!, entgegne ich und wende mich nach rechts zur Haustür. Wenn ich von Stufe acht auf Stufe sieben gelange, ist die Stufe fünf nicht mehr weit, und die wäre für die anstehende Reise vorteilhaft. In Begleitung fällt sicherlich manches einfacher, worauf ich in jenem Artikel mangels Erfahrungswerte nicht eingegangen bin.

Ich überwinde die Treppenstufen bis auf Straßenhöhe in gewohnter Manier. Als ich die letzte hinter mich gebracht habe, schwingt die Haustür auf. Eine Frau um die vierzig schiebt ein Fahrrad hindurch und hält mir die Tür auf. Ich winke ab. Sie lehnt das Rad an die Wand und lässt die Tür ins Schloss fallen. Im Fahrradkorb steckt eine Jutetasche voller Gemüse. Das knöchellange Kleid der Frau sieht aus, als hätte sie es aus DDR-Gardinen genäht. Obwohl ich kaum Fleisch esse, wünsche ich mir in diesem Moment einen triefenden Döner herbei, um den bevorstehenden Small Talk mit der Nachbarin zu vermeiden.

»Hach, schönes Wetter heute, nicht? Frau …?«, sagt sie und kontrolliert ihren Briefkasten. Ich nicke bloß. Das Fahrrad steht mir im Weg. Ich lasse das Ende des Treppengeländers los und drücke mich am Rad vorbei. Die Tür scheint mir auszuweichen. Ich starre auf die Platten aus dunklem und hellbraunem Marmor. Der Bodenleger muss ein Faible für Schach gehabt haben. Das fällt mir erst jetzt auf – nach drei Jahrzehnten. Die Felder beginnen sich im Kreis zu drehen. Ich ziehe einen Fuß auf die D4 vor. Ein unüberlegter Zug, der mich in Bedrängnis bringt. Ich strauchle und versuche, mich festzuhalten. Ohne Taktik ziehe ich den zweiten Fuß auf die E3 nach. Dann fällt die Dame. Schachmatt! Zucchini, Tomaten und Karotten kullern auf den Boden.

»Oh mein Gott! Fühlen Sie sich nicht wohl?«, fragt die Frau, deren Talent es sein muss, dämliche Fragen zu stellen.

»Nichts passiert, Schätzchen. Es ist nur der Wodka.«

Die Wirkung ist phänomenal. Die Nachbarin richtet ihr Fahrrad auf, erntet in aller Eile ihr Gemüse vom Boden und macht sich vom Acker, ohne mir aufzuhelfen.

Umkehren, umkehren, sofort umkehren!, brüllt meine innere Stimme. Ich rolle auf den Rücken und betrachte die Ranken, Blätter und Rosetten des Deckenstucks, in denen sich ein übermotivierter Leonardo-da-Vinci-Maurer in den Nachkriegsjahren verewigt hat. Maliziöse Engelsgesichter grinsen hämisch auf mich herab. Zum Glück herrscht in dem Gebäude um diese Tageszeit kein großes Kommen und Gehen.

Nach einer Weile krieche ich zur Tür, erreiche deren Klinke und ziehe mich hoch. Minuten später öffne ich sie und trete einen Schritt vor. Eine letzte Treppenstufe trennt mich von der Straße. Ich schiebe den linken Fuß an den Rand. So muss man sich vor dem Bungee-Jumping aus hundert Metern Höhe fühlen. Ein imaginäres Seil lässt meinen Absprung nicht zu und zerrt mich ins Gebäudeinnere zurück. Ich schlage die Tür zu.

Irgendwann öffne ich sie erneut – und plötzlich, nach dem dritten Anlauf, stehe ich mit beiden Beinen auf der Schlüterstraße. Nach Jahren, in denen ich die Welt nur durch den Türspion betrachtet habe. Ich schleiche in winzigen Schritten dicht an der Hauswand entlang, so wie ich es frühmorgens in meiner Wohnung geübt habe. Bloß nicht umgucken, denke ich und senke den Blick. Mein Horizont ist so weit wie der Schatten, den ich werfe. Dadurch blende ich die meisten Angstquellen und Störfaktoren aus. Ich streichle über die Gebäudewand. Der Druck auf meiner Brust nimmt ab. Ich höre Autos, Schritte, Kindergelächter und ein Ampelsignal. Etwas geschieht mit meinen Gesichtszügen. Lächle ich etwa? Die Geräusche bleiben isoliert und vereinen sich nicht zu einer diabolischen Kakofonie, die mich umwerfen würde. Ein Yorkshireterrier gerät in mein Blickfeld. Er pinkelt gegen die Hausmauer. Dann will er an mir vorbei, aber seine Leine schlingt sich um meine Beine. Ein Mann entschuldigt sich und zieht seinen Hund fort. Ich atme tief durch.

Von Stufe acht auf die Sieben? Ach was – ich marschiere auf direktem Weg zur Fünf durch! Sogar die Bahnunterführung durchquere ich, ohne wie eine Sally Bowles den darüberfahrenden Zügen Schreie entgegenzuschmettern. Es kommt aber auch gerade kein Zug. Ich werde mutiger: Streiche nicht mehr mit der Hand über die Wand, mache größere Schritte und erweitere mein Blickfeld.

Bis ich zur Kantstraße gelange. Diese Verkehrsader ist sehr breit und viel befahren – mit einem Grünstreifen in der Mitte. Ausgeschlossen, sie in nur einer Ampelphase zu überqueren, ohne mich dabei an etwas entlangtasten zu können. Der Druck in der Brust kehrt zurück. Ich senke den Blick und biege um eine Ecke. Nun muss ich mich wieder vorankämpfen. Etwas ist jetzt anders. Nein, alles ist anders. Die Sonne fehlt auf meiner Straßenseite und somit auch der Schatten vor mir, der mir als Horizont dient.

Umkehren, umkehren, sofort umkehren!

Dabei bin ich schon so weit gekommen. Von der Acht fast auf die Fünf auf meiner zehnstufigen Phobieskala. Nun aber höre ich besser auf die innere Stimme. Ich sollte mein Glück nicht herausfordern. An der Ecke befindet sich das Restaurant Funky Fisch, früher legendär als Kant-Café. Vor mir hält ein Bus. Aus- und einsteigende Menschen versperren meinen Rückzugsweg. Ein Einsatzfahrzeug mit Martinshorn nähert sich, ein Auto hupt. Eine Gruppe junger Leute strömt offensichtlich euphorisch und gut gelaunt aus dem Lokal und vermengt sich mit den Fahrgästen. Ich presse die Hände an die Ohren, fühle mich umzingelt, angerempelt, angepöbelt, wanke, kollabiere. Oder werde umgestoßen. Der Aufschlag raubt mir den Atem und beendet mein Geschrei.

Das Rad des Glückes dreht sich hurtiger als ein Mühlrad, und wer gestern obenauf war, liegt heut am Boden.

Quijote trifft es wieder mal auf den Punkt, denke ich noch, und: Stufe fünf war doch etwas zu voreilig. Dann verlieren sich meine Sinne im Nichts.

6

Ben

Was machst du da?«, fragt die Pflegerin mit der roten Igelfrisur schon zum zweiten Mal. Ich lange in den Medikamentenschrank und zeige ihr die Schmerztabletten, die Ayaz mir vorhin gegeben hat.

»Mir ist eben eingefallen, dass mir von diesen Pillen letztes Mal krass übel geworden ist. Sie haben völlig recht, Schwester, ich werde erst mit dem Doc sprechen. Beim Zurückstellen ist leider dieses Fläschchen runtergefallen, sorry.«

Sie versperrt mir den Weg und starrt auf meine Parkataschen, die ausgebeult sind wie bei einem Penner, der aus dem Späti kommt.

»Du lügst!«

»Komm, lass uns tanzen!«

Ich ergreife ihre Hand, die nach meiner Jackentasche langt, und lege die andere um ihre Hüfte. Dann führe ich sie in einer Walzerdrehung herum, bis ich mit dem Rücken zur Tür des Schwesternzimmers stehe.

»Ich check mal die Drinks«, sage ich. Schon bin ich draußen auf dem Flur und sprinte um die Ecke in Richtung Treppe. Inzwischen hat sie sicher geschnallt, was los ist. Das juckt mich nicht. Ihre Birkenstocks gegen meine Air Max? Never! Aber brüllen kann sie. Eben noch war der Flur menschenleer, und jetzt scheint eine Einheit amerikanischer Bodentruppen hinter mir her zu sein. Ayaz’ Stimme übertönt den Tumult hinter meinem Rücken.

»Ben! Stehenbleiben!« Seine Hufe stecken ebenfalls in Air Max. Noch ist er nicht um die Ecke. Bis zur Treppe holt er mich aber ein. Ich öffne eine Tür und schlüpfe in den Wäscheraum: Regale, Handtücher, Bettlaken und ein Rollkorb, hinter dem ich mich verstecke. Ich fummle den Inhalator hervor und sprühe meine Bronchien geschmeidig.

Es ist zum Kotzen. Das ist weder ein Gefängnis noch eine geschlossene Anstalt, trotzdem muss ich von hier auschecken wie aus Alcatraz. Medikamentenklau. Da kann selbst Ayaz nicht weggucken. Gleich wird die Tür zum Wäscheraum auffliegen, und ich werde wie ein Schwerverbrecher ans Bett geschnallt. Stattdessen Serengeti. Elefanten und Nashörner scheinen draußen vorbeizutrampeln. Ich warte, bis mein Keuchen nachlässt, und rubble mit einem Handtuch den Kopf trocken. Als es ruhig wird, schiebe ich die Tür auf und gucke nach draußen. Die Bodentruppen sind Richtung Hauptausgang gestürmt. Und nun? Ich könnte die Medikamente zurückstellen und mich im Zimmer artig ins Bett legen. Sorry, Freunde, war nur ein kleiner Aprilscherz im Juli.

Doch für Rückzieher ist es zu spät. Ich habe mich für Leandra entschieden, mit allen Konsequenzen – die ich mir nicht ausmalen möchte. Von Null zum flüchtigen Outlaw in unter zehn Sekunden. Krasse Nummer. Ich muss dringend mein Hirn ankurbeln.

Am Haupteingang und im Grünpark dieses Bunkers wird man zuerst nach mir suchen. Also hinten raus. Durch den Enddarm des Gebäudes. Aber wo soll der sein? Ich trabe zur Ecke des Flurs, der zu meinem Zimmer führt, und sehe mich um. Nur ein Greis aus der Nachbarstation, der mit seinem Infusionsständer Gassi geht. Sein Krankenhemd ist schlampig gebunden. Ich kann seinen faltigen Arsch sehen, als ich an ihm vorbei zum Ostteil spurte. Dort muss es eine weitere Treppe geben und hoffentlich einen zweiten Ausgang.

Ich biege um die Ecke in einen Flur, der an Flügeltüren mit Bullaugen aus getöntem Glas endet. Ich linse hinein und sehe zwei Individuen im Ganzkörperschutzanzug. Wie Seuchenstation meets Atomreaktor. Ich versuche erst gar nicht, die Tür zu öffnen, dabei sollte ich mich schleunigst kernspalten. Dann höre ich, wie jemand meinen Namen ruft, und laufe zurück. Ich schiele um die Ecke. Zwei Pfleger öffnen der Reihe nach Türen. Mir gegenüber befindet sich eine Tür mit einem roten Bügel in der Mitte. Darüber ein grünes Schild mit einem weißen Männchen. Notausgang. Alarmgesichert. Missbrauch strafbar, steht dort.

Ich muss diese Flurbiegung überqueren und hoffen, dass die Typen in dieser Sekunde nicht in meine Richtung gucken. Ich warte, bis die Luft rein ist, spurte auf die Tür zu und drücke gegen die Klinke. Bei meinem bekackten Karma ist der Notausgang bestimmt verriegelt. Ist er nicht. Dafür alarmgesichert. Es klingt so, als rase ein Feuerwehrauto durch den Flur.

Während ich die drei Etagen ins Erdgeschoss laufe, nehme ich mehrere Stufen auf einmal. Wieder eine Stahltür, diesmal mit normaler Klinke. Ich schlüpfe hindurch und stehe in der Cafeteria. Eine andere Tür führt zum Flur in Richtung Haupteingang, durch den sicher gerade ein SEK-Team robbt.

Ich hetze zwischen den Tischen zu einem Fenster und biete den Kaffeetanten den Höhepunkt ihres Tages. Leider lässt es sich nicht öffnen. Inzwischen sind meine Atemwege arg in Bedrängnis. In diesem Moment kommt ein Kellner aus einer Schwingtür hinter dem Tresen. In Actionfilmen führen Verfolgungsjagden immer durch Küchen. Dort muss es einen Lieferanteneingang geben. Ich warte, bis der Typ eine Coke zu den Chickenwings auf dem Tablett stellt und auf einen Tisch zusteuert.

»Da ist er! Sofort stehen bleiben!«, brüllt ein Typ in der grauen Uniform eines Wachdienstes und stürmt in Begleitung von zwei Weiß-kitteln auf mich zu. Ich denke kurz daran, mich zu ergeben. Doch so enden Verfolgungsjagden in Filmen nie. Also laufe ich um den Tresen herum und remple den Kellner an. Die Chickenwings flattern ihm um die Ohren. Jetzt bin ich tatsächlich im Actionkino gelandet. Am Herd rührt eine dicke karibische Mami in einem Topf und glotzt mich an wie einen Geiselnehmer. Keine üble Idee. Küchenmesser an den Hals und Forderungen stellen: Eine Million in unmarkierten Scheinen und einen Helikopter nach Straßburg! Aber das wäre doch einen Tick zu viel für einen Schisser wie mich. Außerdem steht über der Anrichte ein Fenster offen.

Ich wische leere Pfannen weg und springe hinauf. Die Köchin läuft mit einer Kelle bewaffnet auf mich zu. Ich gucke hinaus. Oder besser hinunter. Von wegen Erdgeschoss! Bei diesen Deckenhöhen reicht ein Sprung aus dem Hochparterre locker für einen Beinbruch. Der Wachmensch drängt durch die Küchentür, und mir bleibt nichts anderes übrig, als zu springen. Sogar Zeit zum Denken bleibt, während die Windgeräusche im Flug zunehmen. Leandra.

Die Beine halten dem Druck nicht stand, als ich aufschlage, federn aber vieles ab. Den Rest übernehmen Hüfte, Schulter und Kopf. Trotzdem ein fetter Pluspunkt für mein Karma: Ziellandung im Blumenbeet. Ich rapple mich auf und gucke zu drei grimmigen Gesichtern hoch. Sie zücken ihre Handys, aber niemand hat die Eier zu springen. Ich laufe zum Augustenburger Platz und verschwinde im U-Bahnhof Amrumer Straße.

Erst nach dem zweiten Umsteigen am Gesundbrunnen lässt mein Zittern und Keuchen etwas nach. Niemand ist mir gefolgt, und ich habe sogar eine Fahrkarte. In der S85 Richtung Pankow wird mir erst bewusst, was nun Sache ist. Bislang dachte ich nur an meine Flucht und erst jetzt an ihre Konsequenzen. Gestern habe ich für wenige Stunden ausgecheckt – mit dem Wissen, dass das nicht erlaubt ist, ich aber mit einer Entschuldigung jederzeit zurückdürfte. Und jetzt? Spektakulärer Medikamentenraub! Dachte, ich lange mal eben in den Schrank, fällt ja keinem auf. Von wegen …

Man wird nach mir suchen. Zuallererst bei Mom zu Hause, die sie sicher längst alarmiert haben – und wo ich jetzt hinmuss, um Opas Schlüssel zu holen. Sollte ich der Polizei dort nicht in die Arme laufen, werden sie nach mir fahnden. Inklusive Handyortung und allem. Neuer Status: Flüchtling. Zurück zur Klinik kann ich nicht, und ich habe keine Ahnung, wie lange die Medikamente reichen werden. Ich weiß nur, was ohne Medikamente geschieht: qualvolles Ersticken! Daran habe ich vor der Flucht nicht gedacht, ich verliebter Vollidiot.

Zwanzig Minuten später beobachte ich im Schutz einer Hecke die Fenster unserer Wohnung und sehe nichts Verdächtiges. Ich schließe die Haustür auf und betrete das Hartz-4-Resort. Auf die Aufzugstür hat während meiner monatelangen Abwesenheit jemand einen Pimmel gemalt und Ich fike alles Muschi geschrieben. Drinnen riecht es nach Katzenpisse, Zigarettenrauch und verlorenen Hoffnungen. Acht Etagen lang im Aufzug die Luft anzuhalten, ist mir noch nie gelungen. Ich atme durch den Ärmel und sehe zu, wie die Nummern hochzählen. Im Hausflur wabern Küchendünste aus einem Dutzend Nationen unter den Türen hervor. Vor einer Wohnung lagert eine Menge leerer Bierdosen, als wäre drinnen kein Platz mehr. Hier haust der einzige Nachbar, den ich kenne. Als ich elf Jahre alt war, lud er mich zu sich nach Hause ein. Er hätte eine Menge Comics und so. Ich erzählte Mom davon, und sie ist total ausgetickt. Sie hämmerte gegen die Tür des Mannes, und als er nicht öffnete, schrie sie: »Du perverser Kinderficker! Ick schneid dir die Klöten ab!« Seitdem grüßt er mich nicht mehr.