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Im düsteren Licht der Mitternachtssonne verschwindet ein Mädchen ...
Drei Jahre ist es her, dass Lelles Tochter in Norrland, einem abgelegenen Teil Nordschwedens, spurlos verschwand. Seither fährt er jeden Sommer im düsteren Licht der Mitternachtssonne die Straße ab, an der Lina zuletzt gesehen wurde. Nacht für Nacht sucht er verzweifelt nach seiner Tochter, nach der erlösenden Wahrheit. Und als sich die Dunkelheit des aufkommenden Herbstes über das Land legt, verschwindet ein weiteres Mädchen ...
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Seitenzahl: 408
Veröffentlichungsjahr: 2019
Buch
Die Mitternachtssonne erleuchtet den Himmel, als Lelle Gustafsson auf dem gesprungenen Asphalt einer Straße in Norrland entlangfährt und nach seiner Tochter Lina sucht, die drei Jahre zuvor auf derselben kaum befahrenen Straße, dem Silvervägen, verschwand. Er sucht sie seitdem jede Nacht, solange die Bedingungen es zulassen – in den Ruinen verlassener Dörfer, in baufälligen Bauernhäusern und auf einsamen Straßen, die ins Nirgendwo führen.
Etwa zur gleichen Zeit reisen die siebzehnjährige Meja und ihre Mutter Silje nach Norrland. Sie werden am Bahnhof von Torbjörn, Siljes Freund, begrüßt, der sie in ihre neue Heimat bringt, einen baufälligen Bauernhof in Glimmersträsk. Hier ist Meja den Launen der Erwachsenen ausgeliefert, und um der erbärmlichen häuslichen Umgebung zu entkommen, flüchtet sie in die umliegenden Wälder. Dort trifft sie einen jungen Mann, Carl-Johan, und seine Brüder Göran und Pär und freundet sich mit ihnen an. Doch die Familie verbindet ein dunkles Geheimnis.
Und dann verschwindet eine weitere junge Frau am Silvervägen …
Autorin
Stina Jackson stammt aus Skellefteå in Nordschweden. Vor mehr als einem Jahrzehnt zog sie nach Denver, Colorado. Hier schrieb sie auch ihren Debütroman »Dunkelsommer», mit dem sie sich sofort als aufstrebender neuer Stern am Himmel der nordischen Spannung etablierte.
Stina Jackson
Dunkelsommer
Roman
Aus dem Schwedischen
von Kerstin Schöps
Die schwedische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
»Silvervägen« bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm, Schweden.
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Deutsche Erstveröffentlichung August 2019
Copyright © der Originalausgabe 2018 by Stina Jackson
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Published by arrangement with Bonnier Rights, Stockholm.
Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH
Covermotiv: FinePic®, München
Redaktion: Julie Hübner
AG · Herstellung: kw
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-23963-3 V004
www.goldmann-verlag.de
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Für Robert
TeilI
Es war das Licht, die Art, wie es stach und brannte und an ihm zerrte. Es legte sich über die Wälder und Seen wie eine Aufforderung weiterzuatmen, wie ein Versprechen auf ein neues Leben. Das Licht füllte seine Adern mit Unruhe und raubte ihm den Schlaf. Es war erst Mai, aber er lag bereits wach, als die Morgendämmerung sich durch die Gardinen und Fensterläden zwängte. Er hörte, wie der Bodenfrost seinen Griff löste und der Winter langsam ausblutete. Er hörte die Bäche und Flüsse rauschen, als die Berge ihre Mäntel abstreiften. Bald würde das Licht auch die Nächte bekleiden, sich ausbreiten und blenden, alles mit Leben überschütten, was bis dahin unter dem vermoderten Laub gelegen hatte. Es würde die Baumwipfel wärmen, bis sie explodierten und der Wald überlaufen würde von dem lauten, hungrigen Schrei des neuerweckten Lebens. Die Mitternachtssonne würde die Menschen aus ihren Höhlen jagen und sie mit Sehnsucht erfüllen. Sie würden lachen und sich lieben und verrückt werden und sich Gewalt antun. Manche würden vielleicht sogar verschwinden. Sie würden geblendet werden und sich verirren. Aber er wollte nicht daran glauben, dass sie starben.
Er rauchte nur, wenn er unterwegs war und nach ihr suchte.
Lelle sah sie jedes Mal neben sich auf dem Beifahrersitz sitzen, wenn er sich eine neue ansteckte. Sie schnitt eine Grimasse und sah ihn über den Rand ihrer Sonnenbrille durchdringend an.
»Ich dachte, du hast aufgehört zu rauchen.«
»Ich habe aufgehört. Das ist nur eine Ausnahme.«
Er sah, wie sie den Kopf schüttelte und ihre spitzen Eckzähne zeigte. Die sie nicht leiden konnte. Am deutlichsten sah er sie, wenn er nachts durch die Gegend fuhr und das Licht nicht verschwinden wollte. Ihr Haar wirkte in der Mitternachtssonne fast weiß, auf der Nase hatte sie dunkle Sommersprossen, die sie seit ein paar Jahren mit Schminke abdeckte, und ihre Augen sahen alles, obwohl sie immer so tat, als würde sie nicht hingucken. Sie sah Anette viel ähnlicher als ihm, was ein großes Glück war, denn er hatte keine Schönheitsgene zu vergeben. Sie war hübsch, und das fand er nicht nur, weil sie seine Tochter war. Die Leute hatten sich schon immer nach Lina umgedreht, schon als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Sie war ein Kind, das auch dem unglücklichsten Menschen ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Aber jetzt sah ihr niemand mehr hinterher. Seit drei Jahren hatte sie niemand gesehen, zumindest niemand, der sich zu erkennen geben wollte.
Die Schachtel Zigaretten war leer, bevor er in Jörn ankam. Lina saß nicht mehr neben ihm. Der Wagen war leer und still, und er hatte fast vergessen, wo er war. Er hielt die Augen auf die Straße gerichtet, aber er sah sie nicht. Er war diese Straße, die im Volksmund Silvervägen, die Silberstraße genannt wurde, schon so oft entlanggefahren, dass er sie in- und auswendig kannte. Jede Kurve und jede Öffnung im Wildzaun, wo die Elche und Rentiere die Straße überquerten, waren ihm vertraut. Er wusste, wo sich der Regen sammelte und wo der Nebel über dem Asphalt aufstieg und die Welt verzerrte. Die Straße war das Echo einer untergegangenen Zeit, als noch Silber vom Nasafjäll bis nach Bottenviken transportiert wurde. Sie wand sich wie ein Fluss durch die Berge bis hinunter zur Küste und verband Glimmersträsk mit den anderen kleinen Ortschaften auf ihrem Weg. Sosehr er es auch verabscheute, wie die Straße durch den dichten Wald führte, er würde das Fahren niemals aufgeben. Denn hier war sie verschwunden, diese Straße hatte seine Tochter verschlungen.
Niemand wusste, dass er nachts die Straße abfuhr und nach Lina suchte. Niemand wusste, dass er im Auto Kette rauchte, seinen Arm auf die Rückenlehne des Beifahrersitzes legte und sich mit seiner Tochter unterhielt, als würde sie neben ihm sitzen, als wäre sie nie verschwunden. Er konnte es auch niemandem erzählen. Nicht, seit Anette ihn verlassen hatte. Sie hatte ihm von Anfang an die Schuld gegeben. Er hatte Lina an diesem Morgen zur Bushaltestelle gebracht. Er war dafür verantwortlich.
Gegen drei Uhr morgens kam er in Skellefteå an und hielt bei der Tankstelle, um vollzutanken und seine Thermoskanne mit Kaffee aufzufüllen. Trotz der Uhrzeit hatte der junge Mann hinter der Kasse wache Augen und war ganz aufgekratzt, seine rötlichen Haare trennte ein Seitenscheitel. Er war jung, nicht älter als neunzehn, zwanzig Jahre. So alt, wie Lina jetzt wäre. Obwohl es ihm schwerfiel, sich seine Tochter als Erwachsene vorzustellen. Er kaufte sich noch eine Schachtel Zigaretten, obwohl ihn das schlechte Gewissen quälte. Sein Blick fiel auf einen Karton mit Mückenspray, der an der Kasse stand. Umständlich holte er seine EC-Karte aus dem Portemonnaie. Alles erinnerte an Lina. Sie hatte sich an ihrem letzten Morgen mit viel zu viel Mückenspray eingesprüht. Das war das Einzige, an das er sich erinnern konnte. Er hatte alle Fenster im Wagen heruntergelassen, um zu lüften, als sie an der Bushaltestelle ausgestiegen war. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, worüber sie geredet hatten, ob sie fröhlich oder niedergeschlagen gewesen war, was sie gefrühstückt hatten. Was danach passiert war, hatte alles andere verdrängt, und er erinnerte sich nur noch an den Geruch von Mückenspray. Und Anette hatte ihn angesehen wie einen Fremden, wie jemanden, für den sie sich schämte. Das wusste er auch noch.
Er riss die neue Schachtel auf und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, wartete, bis er wieder auf der Straße Richtung Norden war. Der Rückweg nach Hause fühlte sich immer kürzer an, mutloser. Linas silberner Herzanhänger hing an einer Kette am Rückspiegel und reflektierte das Sonnenlicht. Sie saß wieder neben ihm, das weißblonde Haar hing ihr wie eine Gardine vorm Gesicht.
»Papa, weißt du eigentlich, dass du einundzwanzig Zigaretten hintereinander geraucht hast?«
Lelle schnippte die Asche aus dem Fenster und blies den Rauch hinterher. »Sind es wirklich so viele gewesen?«
Lina legte den Kopf in den Nacken, als wollte sie höhere Mächte anrufen. »Weißt du, dass du pro Zigarette neun Minuten kürzer lebst? Heute Nacht hast du dein Leben also um einhundertneunundachtzig Minuten verkürzt.«
»Oha«, sagte Lelle. »Aber was habe ich bitte noch für einen Grund zu leben?«
Ihre Augen waren ganz vorwurfsdunkel, als sie ihn ansah. »Du musst mich finden. Nur du kannst mich finden.«
*
Meja hatte ihre Hände auf den Bauch gelegt und versuchte, die Geräusche zu ignorieren. Den Hunger, der unter ihren Fingern knurrte, und die anderen, ekligen Laute, die von unten durch den Holzfußboden drangen. Siljes Stöhnen und das von dem Mann, dem neuen Typen. Das Quietschen des Bettgestells. Dann fing der Hund an zu bellen. Sie hörte, wie der Mann ihn anbrüllte, still zu sein und sich hinzulegen.
Es war mitten in der Nacht, aber die Sonne schien unerbittlich durch das kleine Fenster. In goldenen, warmen Streifen fiel es auf die grauen Wände. Sie kniete sich vor das Fenster und entfernte die Spinnweben. Draußen schimmerten ein strahlend blauer Nachthimmel und ein bläulicher Wald, so weit das Auge reichte. Wenn sie den Hals reckte, konnte sie eine Ecke des Sees erkennen, schwarz und still und lockend. Sie fühlte sich wie eine entführte Prinzessin, wie in einem Märchen. Eingesperrt in einem kargen Turm, umgeben von tiefem, dunklem Wald und dazu verdammt, den widerlichen Sexspielen ihrer Stiefmutter zuzuhören. Mit dem Unterschied, dass Silje nicht ihre Stiefmutter, sondern ihre richtige Mutter war.
Sie waren vorher noch nie in Norrland gewesen. Im Laufe der stundenlangen Zugfahrt hatte sie beide ein schrecklicher Zweifel beschlichen, und sie hatten gestritten und geweint und schweigend im Abteil gesessen, während der Wald draußen immer dichter und die Abstände zwischen den Bahnhöfen immer größer wurden. Silje hatte ihr versprochen, dass es ihr letzter Umzug werden würde. Der Mann, den sie übers Internet kennengelernt hatte, hieß Torbjörn und lebte auf seinem Hof in einem Ort namens Glimmersträsk. Sie hatten stundenlang miteinander telefoniert. Meja hatte seine Stimme und seinen starken norrländischen Dialekt gehört und Fotos von einem stiernackigen Mann gesehen mit Schnurrbart und Augen, die zu schmalen Schlitzen wurden, wenn er lachte. Auf einem der Fotos hielt er ein Akkordeon in den Händen, auf einem anderen saß er vor einem Eisloch und hielt einen Fisch mit roten Schuppen in die Luft. Torbjörn war ein richtiger Mann, hatte Silje gesagt, einer, der auch die schwierigsten Situationen zu meistern wusste und auf sie aufpassen konnte.
Die Haltestelle, an der sie ausstiegen, bestand nur aus einer Holzhütte im Wald, und als sie die Türklinke des Stationshäuschens herunterdrückten, war diese verschlossen. Es war sonst niemand ausgestiegen, und als der Zug zwischen den Bäumen verschwand, blieben sie ratlos auf dem Bahnhof stehen. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte und dröhnte noch lange nach. Silje zündete sich eine Zigarette an und zerrte ihren Koffer über den heruntergekommenen Bahnsteig hinter sich her. Meja blieb stehen und lauschte dem Rauschen der Bäume und dem Surren der Millionen frisch geschlüpften Mücken. Sie spürte, wie sich tief in ihrem Inneren ein Schrei formierte. Sie wollte Silje nicht folgen. Auf der anderen Seite des Bahnhofs erhob sich der Wald wie ein dunkelgrüner, dichter Vorhang, in dem sie Tausende dunkler Schatten ahnte. Sie konnte kein einziges Tier sehen, fühlte sich aber so beobachtet, als würde sie auf einem vollen Marktplatz stehen. Hunderte von Augenpaaren krabbelten über ihre Haut.
Silje hatte ihren Koffer schon bis zum Parkplatz geschleppt, auf dem ein verrosteter Ford stand. Ein Mann, dessen Gesicht vom Schirm seiner Kappe verdeckt wurde, lehnte sich gegen die Motorhaube. Er stellte sich aufrecht hin, als er sie kommen sah, und lächelte sie mit Kautabak im Mund an. Torbjörn sah live noch viel breiter aus als auf den Fotos, irgendwie kräftiger. Seine Bewegungen hatten etwas Linkisches und Friedfertiges, als wäre er sich seiner Erscheinung und Größe nicht bewusst. Silje ließ ihren Koffer los und umarmte ihn, als wäre er eine Boje mitten in diesem Meer aus Wald. Meja stellte sich daneben und starrte auf die Risse im Asphalt, aus denen Löwenzahn wuchs. Sie hörte, wie die beiden sich küssten, wie sich ihre Zungen tief in den Mund des anderen gruben.
»Das ist meine Tochter Meja.«
Silje wischte sich den Mund ab und zeigte auf Meja. Torbjörn musterte sie unter dem Schirm seiner Mütze und hieß sie herzlich willkommen. Sie aber hielt den Blick fest auf den Boden gerichtet, um unmissverständlich klar zu machen, dass all das hier gegen ihren Willen geschah.
Sein Auto roch nach feuchtem Hund, und auf dem Rücksitz lag ein kratziges, graues Fell. Die Rückenlehne war an mehreren Stellen aufgeplatzt, und die Füllung quoll hervor. Meja setzte sich so weit an den Rand wie möglich und atmete durch den Mund. Silje hatte gesagt, dass Torbjörn wohlhabend sei, aber dem Auto nach zu urteilen war das eine maßlose Übertreibung gewesen. Auf dem Weg zu seinem Hof sah sie nichts außer dem dunklen Wald, der von Kahlschlagflächen unterbrochen wurde, und kleinen, einsamen Seen, die wie Tränen zwischen den Bäumen hindurchschimmerten.
Als sie in Glimmersträsk ankamen, hatte Meja einen dicken, brennenden Kloß im Hals. Torbjörn hatte eine Hand auf Siljes Oberschenkel gelegt, die er nur wegnahm, um ihnen vermeintlich wichtige Details zu zeigen – einen Supermarkt, eine Schule, eine Pizzeria, die Post und die Bank. Er schien wahnsinnig stolz darauf zu sein. Die Häuser waren alle groß und lagen weit verstreut. Je länger sie fuhren, desto größer wurden die Abstände zwischen ihnen. Und es schoben sich immer mehr Wald, Äcker und Weiden dazwischen. Ab und zu hörte man das Bellen eines Hundes. Das Rot auf Siljes Wangen wurde zunehmend dunkler.
»Sieh doch, Meja, wie schön es hier ist. Wie in einem Märchen!«
Torbjörn sagte, sie solle sich beruhigen, denn er wohne auf der anderen Seite des Sees. Meja fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Die Straße wurde immer schmaler, der Wald kam immer näher, und es legte sich eine schwere Stille über die Passagiere des Wagens. Meja hatte beim Anblick der hohen Tannen, die vorbeiflogen, Schwierigkeiten zu atmen.
Torbjörns Haus stand auf einer Lichtung, einsam und verlassen. Ein zweistöckiges Haus, das früher einmal ganz stattlich ausgesehen haben mochte, sich aber langsam häutete – die rote Farbe blätterte ab, und es schien, als wäre es im Begriff, im Boden zu versinken. Ein strubbeliger Hund zerrte an seiner Kette und bellte, als sie ausstiegen. Bis auf den Wind, der an den Baumwipfeln riss, war es still. Mejas Knie wurden ganz weich, als sie sich umsah.
»Ja, also, das ist es«, sagte Torbjörn und warf die Arme in die Luft.
»Wie still und friedlich es hier ist«, sagte Silje, aber ihre Begeisterung war verschwunden.
Torbjörn trug ihr Gepäck ins Haus und stellte es auf den Boden, der schwarz vor Dreck war. Es stank nach ungelüftetem Zimmer, Qualm und altem Bratfett. Abgewetzte Polstermöbel aus einem längst vergangenen Jahrzehnt starrten ihr entgegen. An den braungestreiften Tapeten hingen Geweihe und Messer in gebogenen Scheiden. So viele Messer hatte Meja noch nie auf einmal gesehen. Sie versuchte, mit Silje Augenkontakt aufzunehmen. Aber die hatte ihr ganz bestimmtes Lächeln aufgesetzt, und das bedeutete, sie war bereit, nahezu alles zu ertragen, und weit davon entfernt, sich einen Fehler einzugestehen.
Das Stöhnen aus dem Erdgeschoss war endlich verstummt und hatte dem Gesang der Vögel Platz gemacht. Sie hatte so ein Vogelgezwitscher noch nie gehört, es klang total hysterisch, unangenehm, überhaupt nicht fröhlich. Das Dach in ihrem Zimmer lief spitz zu, es war voller Astlöcher, die sie anstarrten. Torbjörn hatte es das Dreieckszimmer genannt, als er die Treppe hochzeigte und sagte, sie würde dort oben wohnen. Ein eigenes Zimmer oben unterm Dach. Es war lange her, dass sie ein eigenes Zimmer gehabt hatte. Meistens hatte sie nur ihre Hände gehabt, hinter denen sie sich hatte verstecken können. Vor den widerlichen Geräuschen der Erwachsenen, vor ihrer Verzweiflung und den Körpern, die ineinanderdrangen. Wohin sie auch zogen, diese Geräusche folgten ihnen.
*
Lelle bemerkte seine Müdigkeit erst, als er fast von der Straße abkam und die Reifen auf dem Fahrbahnrand ein lautes Brummen erzeugten. Er bremste, öffnete das Fenster und ohrfeigte sich, bis die Haut brannte. Der Beifahrersitz war leer, Lina war verschwunden. Sie würde es nicht gutheißen, dass er nachts durch die Gegend fuhr. Er zündete sich eine Zigarette an, um wach zu bleiben.
Seine Wangen brannten, als er in Glimmersträsk ankam. Er hielt bei der Bushaltestelle an. Misstrauisch musterte er das kleine Glashäuschen, das mit Graffiti und Vogelkacke verziert war. Es war früh am Morgen, und der erste Bus war noch nicht gefahren. Lelle stieg aus und lief zu der zerkratzten Holzbank. Bonbonpapier und Kaugummireste klebten auf dem Boden. Die Mitternachtssonne spiegelte sich in den Pfützen. Lelle konnte sich nicht daran erinnern, dass es geregnet hatte. Er lief ein paarmal um das Wartehäuschen herum und stellte sich dann wie immer an die Stelle, an der Lina gestanden hatte. Lehnte sich gegen das schmutzige Glas, so wie sie es getan hatte. Ein bisschen gelangweilt, als wollte sie unterstreichen, dass es kein großes Ding war. Der erste große Ferienjob. Bäume pflanzen oben in Arjeplog. Gutes Geld verdienen, bevor die Schule wieder anfing. Das war ja wohl nichts Besonderes.
Es war seine Schuld gewesen, dass sie so früh dran gewesen waren. Er hatte Angst gehabt, dass sie den Bus verpassen und an ihrem ersten Arbeitstag zu spät kommen würde. Lina hatte sich nicht beschwert. An diesem Morgen im Juni war es herrlich warm gewesen, und die Vögel zwitscherten. Er hatte sie dort zurückgelassen, ganz allein mit seiner alten Pilotenbrille, um die sie ihn angebettelt hatte, obwohl sie ihr viel zu groß war und die Hälfte ihres Gesichts bedeckte. Vielleicht hatte sie ihm zum Abschied gewunken, vielleicht hatte sie ihm sogar eine Kusshand zugeworfen. Das hatte sie manchmal getan.
Der junge Polizist hatte dieselbe Brille aufgehabt. Er hatte sie sich in die Stirn geschoben, als sie ins Haus gekommen waren, und Lelle und Anette fest in die Augen gesehen.
»Eure Tochter ist heute Morgen nicht mit dem Bus gefahren.«
»Das kann nicht sein«, hatte Lelle gesagt, »ich habe sie an der Bushaltestelle rausgelassen!«
Der Polizist hatte den Kopf geschüttelt, dabei war ihm die Sonnenbrille von der Stirn gerutscht. »Eure Tochter war nicht in dem Bus, wir haben den Busfahrer und die anderen Passagiere befragt. Niemand hat sie gesehen.«
Schon damals hatten sie ihn merkwürdig angesehen. Das hatte er genau gespürt. Sowohl der Polizist als auch Anette. Ihre Vorwürfe hatten ihn durchbohrt, bis alle Kraft aus ihm herausgesickert war. Er hatte sie als Letzter gesehen, er hatte sie gefahren, er hatte die Verantwortung gehabt. Sie stellten ihm immer wieder dieselben Fragen, wollten alles bis auf die Minute genau wissen, wollten wissen, in welcher Verfassung und Stimmung Lina gewesen war. Hatte sie sich zu Hause wohl gefühlt? Hatten sie vorher Streit gehabt?
Am Ende war er durchgedreht, hatte einen Küchenstuhl genommen und ihn auf einen der Polizisten, einen behaarten Idioten, geworfen. Der war sofort rausgerannt und hatte Verstärkung angefordert. Lelle spürte noch die Holzplanken an seiner Wange, nachdem sie ihn zu Boden geworfen und ihm Handschellen angelegt hatten. Er erinnerte sich auch an Anettes Tränen, als sie ihn aus dem Haus schleppten. Sie hatte ihn nicht verteidigt, weder damals noch heute. Ihr einziges Kind war verschwunden, und sie hatte niemanden, dem sie sonst die Schuld dafür geben konnte.
Lelle startete den Motor, fuhr los und ließ die verlassene Bushaltestelle hinter sich. Drei Jahre war es her, dass sie ihm hinterhergesehen und gelächelt hatte. Drei Jahre war es her, und er war auch heute noch der Letzte, der sie lebend gesehen hatte.
*
Meja wäre am liebsten für immer in ihrem Dreieckszimmer geblieben, wenn sie nicht so einen schrecklichen Hunger gehabt hätte. Diesen Hunger wurde sie nie los, ganz egal, wohin sie zogen. Sie drückte sich eine Hand auf den Bauch, damit man das Knurren nicht hören konnte, als sie die Tür einen Spalt aufschob. Die Treppenstufen waren so schmal, dass sie auf Zehenspitzen laufen musste. Immer wieder knarrte und knackte eine unter ihrem Gewicht und machte das Schleichen eigentlich überflüssig. In der Küche war es dunkel, die Tür zu Torbjörns Schlafzimmer war verschlossen. Der Hund lag ausgestreckt im Flur und beobachtete sie wachsam, als sie an ihm vorbeischlich. Als sie die Haustür öffnete, sprang er auf und schlüpfte zwischen ihren Beinen hindurch nach draußen, bevor sie reagieren konnte. Er hob das Bein an einem der Johannisbeersträucher und drehte mehrere Runden mit der Schnauze dicht über dem Boden.
»Warum hast du den Hund rausgelassen?«
Meja hatte sie nicht gesehen, Silje saß in einem Liegestuhl an der Hauswand. Sie rauchte und trug ein Flanellhemd, das Meja noch nie gesehen hatte. Ihre Haare sahen aus wie eine Löwenmähne, und ihre Augen verrieten, dass sie nicht geschlafen hatte.
»Das wollte ich nicht, er ist einfach rausgerannt.«
»Das ist eine Hündin, und sie heißt Jolly.«
»Jolly?«
»Hm.«
Die Hündin reagierte auf ihren Namen und kam zu ihnen zurückgelaufen. Sie legte sich auf die dunklen Holzplanken und sah sie an, die Zunge hing wie eine Krawatte aus ihrem Maul. Silje hielt die Zigarettenpackung hoch, dabei sah Meja die roten Flecken an ihrem Hals.
»Was hast du da gemacht?«
Silje verzog das Gesicht. »Frag nicht so dumm.«
Meja nahm eine Zigarette, obwohl sie eigentlich nur hungrig war. Sie hoffte, dass Silje sie mit Einzelheiten verschonen würde. Sie sah hinüber zum Wald. Da bewegte sich etwas. Niemals würde sie dorthin gehen. Sie zog an der Zigarette und hatte wieder dieses Erstickungsgefühl, als wäre sie eingesperrt, gefangen.
»Müssen wir wirklich hier wohnen?«
Silje legte ihr Bein über die Stuhllehne und wippte mit dem Fuß. Meja konnte ihre schwarze Unterhose sehen.
»Wir müssen ihm doch eine Chance geben.«
»Warum?«
»Weil wir keine andere Wahl haben.«
Silje sah sie nicht an. Die Euphorie vom Tag der Anreise war verflogen, der Glanz in ihren Augen hatte nachgelassen, aber ihre Stimme klang entschlossen.
»Torbjörn hat Geld. Er hat einen Hof und eine Festanstellung. Wir werden hier ein gutes Leben führen können und müssen uns keine Sorgen um die nächste Monatsmiete machen.«
»In einer Bruchbude am Arsch der Welt zu wohnen würde ich jetzt nicht gerade ein gutes Leben führen nennen.«
Siljes Hals wurde ganz rot, sie legte eine Hand auf ihr Schlüsselbein, um die inneren Flammen zu ersticken. »Ich habe keine Kraft mehr. Ich habe keine Lust mehr, arm und mittellos zu sein. Ich brauche einen Typen, der sich um uns kümmert, und Torbjörn hat Lust dazu.«
»Bist du dir da sicher?«
»Wie meinst du das?«
»Ob er wirklich Lust dazu hat?«
Silje verzog den Mund zu einem Lächeln. »Ich werde schon dafür sorgen, dass er Lust dazu hat, mach dir darüber mal keine Gedanken.«
Meja trat die Zigarette mit ihrer Schuhsohle aus. »Gibt es hier was zu essen?«
Silje nahm einen tiefen Zug. »In dieser Bruchbude gibt es mehr Essen, als du jemals in deinem Leben gesehen hast.«
*
Lelle wachte vom Vibrieren seines Handys in der Jackentasche auf. Er saß im Liegestuhl neben dem Fliederbusch. Sein ganzer Körper schmerzte, als er sich das Handy ans Ohr hielt.
»Lelle, hast du geschlafen, habe ich dich geweckt?«
»Nein, natürlich nicht«, log er. »Ich bin im Garten.«
»Sind die Erdbeeren schon so weit?«
Lelle hob den Kopf und musterte die zugewucherten Erdbeersträucher. »Nein, aber es dauert nicht mehr lange.«
Er hörte Anettes Atem am anderen Ende der Leitung, als würde sie sich zusammenreißen. »Ich habe die Details wegen der Totenwache am Sonntag auf Facebook gepostet.«
»Totenwache?«
»Zum Dreijahrestag? Hast du das etwa vergessen?«
Der Liegestuhl unter ihm knackte, als er aufstand. Ihn packte der Schwindel, und er streckte den Arm Richtung Verandadach. »Natürlich habe ich das nicht vergessen, verdammt nochmal!«
»Thomas und ich haben Kerzen gekauft, und Mamas Nähclub hat T-Shirts bedruckt. Wir wollten an der Kirche starten und dann zur Bushaltestelle laufen. Du kannst ja ein paar Worte vorbereiten, wenn du was sagen willst.«
»Ich muss nichts vorbereiten. Alles, was ich sagen will, ist schon in meinem Kopf.«
Als Anette darauf antwortete, klang ihre Stimme müde. »Ich fände es am besten, wenn wir eine Einheit bilden würden«, sagte sie. »Für Lina.«
Lelle rieb sich die Schläfe. »Sollen wir auch Händchen halten – du, ich und Thomas?«
Er hörte ein lautes Seufzen. »Wir sehen uns Sonntag. Und, Lelle?«
»Ja?«
»Du fährst doch nachts nicht mehr durch die Gegend, oder?«
Er verdrehte die Augen und sah in den Himmel, wo die Sonne hinter den Wolken wartete. »Bis Sonntag«, sagte er und legte auf.
Es war halb zwölf, er hatte nach seiner nächtlichen Tour also vier Stunden im Liegestuhl geschlafen. Mehr als sonst. Es juckte am Hinterkopf, und als er Blut unter seinen Nägeln entdeckte, wusste er, dass er sich einen Mückenstich aufgekratzt hatte. Er setzte Kaffee auf, wusch sich das Gesicht über der Spüle und trocknete es mit dem Geschirrhandtuch ab. Er konnte Anettes Proteste förmlich hören. Geschirrhandtücher waren für Porzellan und andere glatte Oberflächen gedacht, und nicht für raue Haut. Und nach Lina sollte die Polizei suchen, und nicht der von Angst zerfressene Vater.
Anette hatte ihm mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen und ihn angeschrien, dass es seine Schuld war, dass er hätte warten müssen, bis sie in den Bus eingestiegen war, dass er ihr die Tochter weggenommen hätte. Sie hatte ihn geschlagen und gekratzt, bis er ihre Arme zu packen bekam und sie ganz lange ganz fest umarmte, bis er spürte, dass sich ihre Muskeln entspannten und sie in seinen Armen weich wurde. Der Tag von Linas Verschwinden war auch der Tag, an dem sie sich das letzte Mal berührt hatten.
Anette ging mit ihrer Trauer nach außen, sie sprach mit Psychologen, Freunden und Journalisten. Und mit dem Therapeuten Thomas, der sie mit offenen Armen und einer großen Erektion empfing. Ein Mann, der bereit war, sich ihre Probleme und Sorgen anzuhören und sie wegzuvögeln. Anette nahm Schlaf- und Beruhigungstabletten, die ihren Blick verstellten. Sie redete zu viel. Sie richtete auf Facebook eine Seite für Lina ein, organisierte Treffen und gab Interviews, in denen sie Sachen preisgab, bei denen sich ihm die Haare auf den Armen aufstellten. Details aus ihrem Privatleben. Details über Lina, die er schützen wollte.
Er selbst hatte mit niemandem gesprochen. Er hatte keine Zeit dafür. Er musste Lina finden. Die Suche nach ihr war das Einzige, was ihn noch interessierte. Mit den Fahrten über den Silvervägen begann er im Sommer ihres Verschwindens. Er hielt an jeder Mülltonne, grub sich mit bloßen Händen durch die Container am Wegesrand, durchkämmte stillgelegte Minen und sumpfige Moore. Er saß stundenlang am Computer und las die langen Berichte von Fremden, die Theorien über das Verschwinden seiner Tochter posteten. Eine lange furchtbare Kette von Möglichkeiten: Sie war abgehauen, ermordet, entführt, zerstückelt worden, sie hatte Selbstmord begangen, war ertrunken, überfahren oder zur Prostitution gezwungen worden, und noch weitere Albtraumszenarien, die er kaum aushalten konnte, aber trotzdem las. Fast täglich hatte er bei der Polizei angerufen und die Beamten angebrüllt, dass sie gefälligst ihren Job machen sollten. Er schlief nicht mehr und aß nichts mehr. Er kam nach langen Tagen der erfolglosen Suche mit verdreckten Klamotten und Schnitten im Gesicht nach Hause, die er nicht erklären konnte. Anette hörte auf, Fragen zu stellen. Wahrscheinlich war er sogar dankbar, als sie ihn schließlich verließ und zu Thomas zog, weil er sich danach ganz der Suche widmen konnte. Die Suche nach Lina war alles, was er noch hatte.
Lelle setzte sich mit seinem Kaffeebecher vor den Rechner. Lina lächelte ihn vom Bildschirmschoner an. Die Luft im Zimmer war stickig. Die Jalousien waren heruntergelassen, der Staub wirbelte in dem wenigen Licht, das durch die Ritzen fiel. Auf dem Fensterbrett starb schweigend eine Topfpflanze. Überall gab es traurige Zeugen seines Verfalls. Er loggte sich bei Facebook ein und las die Einladung zu Linas Totenwache. Einhundertdrei Personen hatten die Veranstaltung geliked und vierundsechzig hatten sich angemeldet. Lina, wir vermissen dich und geben die Hoffnung niemals auf, hatte einer ihrer Freunde geschrieben und den Satz mit mehreren Ausrufezeichen und weinenden Smileys versehen. Dreiundfünfzig Personen hatten das geliked. Anette Gustafsson war eine von ihnen. Lelle fragte sich, ob sie jemals ihren Nachnamen ändern würde. Er scrollte weiter, vorbei an Gedichten und Fotos und wütenden Einträgen. Irgendjemand weiß, was mit Lina passiert ist. Es ist Zeit, dass du dich endlich zu erkennen gibst und die Wahrheit sagst! Wütende, rotköpfige Smileys. Dreiundneunzig Likes. Zwanzig Kommentare. Er loggte sich wieder aus. Facebook deprimierte ihn nur.
»Warum bist du nicht in den sozialen Medien aktiv?«, hatte Anette ihn genervt.
»Wobei soll ich aktiv sein? Bei diesem virtuellen Heulkonzert?«
»Es geht da um Lina.«
»Ich weiß nicht, ob du das begriffen hast, aber ich bin aktiv bei der Suche nach Lina, nicht bei der Trauer um sie.«
Lelle nippte an seinem Kaffee und loggte sich im Flashback-Forum ein. Keine neuen Einträge über Linas Verschwinden. Der letzte Post war vom vergangenen Dezember von jemandem, der sich »Wahrheitssucher« nannte:
Die Polizei sollte ausfindig machen, welche Fernlaster an diesem Morgen auf dem Silvervägen unterwegs waren. Alle wissen doch, dass die meisten Serienmörder Fernfahrer sind, seht euch doch mal in den USA und Kanada um. Dort drüben verschwinden jeden Tag Leute auf den Highways.
Von den tausendvierundzwanzig Einträgen auf Flashback schienen sich die anonymen Mitglieder auf fast rührende Weise darüber einig zu sein, dass Lina von jemandem ins Auto gelockt und entführt worden war, bevor der Bus die Haltestelle erreicht hatte. Das entsprach der Theorie der Polizei, nur mit anderen Worten. Lelle hatte alle möglichen Speditionsfirmen angerufen und nachgefragt, welche Fahrer zu diesem Zeitpunkt auf der Strecke unterwegs gewesen waren und Glimmersträsk passiert hatten. Er hatte sogar mit einigen von ihnen Kaffee getrunken, ihre Wagen durchsucht und den Ermittlern einige Namen weitergeleitet. Aber keiner von ihnen schien verdächtig oder hatte etwas gesehen. Den Polizisten gefiel seine Hartnäckigkeit überhaupt nicht. Das hier sei Norrland und nicht Nordamerika, sagten sie. Der Silvervägen sei kein Highway, und hier gäbe es auch keine Serienmörder.
Er stand auf und krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch, es stank nach Zigarettenrauch. Dann stellte er sich vor die Karte von Västerbotten und Norrland und betrachtete die Anhäufungen von Stecknadelköpfen, die das Landesinnere zierten. Er nahm eine weitere Nadel aus seiner Schreibtischschublade und steckte sie an die Stelle, die er in der Nacht abgefahren hatte. Er würde nicht aufhören. Bevor nicht jeder Millimeter auf der Karte bedeckt war, bevor er nicht jede Sackgasse, jeden Wendehammer und jeden noch so zerfallenen Verschlag durchsucht hatte. Mit blutigem Nagel strich er über die Karte, auf der Suche nach dem nächsten entlegenen Nest, das er überprüfen würde. Er notierte sich die Koordinaten im Handy und griff nach den Autoschlüsseln. Er hatte schon genug Zeit verplempert.
*
Siljes Augen hatten wieder diesen etwas verrückten Glanz. Als wäre alles möglich, als könnte auch eine alte Bruchbude mitten im Wald die Erfüllung ihrer Träume sein. Ihre Stimme war um einige Oktaven höher als sonst, sie klang klar und melodisch. Die Worte stolperten förmlich übereinander, wenn sie sprach. Als hätte sie nicht genug Zeit, um alles sagen zu können. Torbjörn schien es zu genießen. Er schwieg zufrieden vor sich hin, während Silje zwitscherte und schnatterte und flötete, wie sehr sie das alles liebte, ihn und seinen Hof, den gemusterten Linoleumfußboden und die geblümten Gardinen. Ganz zu schweigen von dieser Natur, von der sie umgeben waren, genau wie in ihren Träumen. Sie machte ein großes Gewese daraus, ihre Staffelei aufzubauen und die Farben und Pinsel auszupacken. Und sie schwor, dass sie hier, in diesem seltsamen Licht nachts ihr bestes Bild malen würde. Hier draußen würde ihre Seele endlich Luft zum Atmen haben, hier würde sie zu ihrer Schaffenskraft finden. Die Begeisterung machte sie distanzlos und aufdringlich. Jede Ausführung wurde mit Küssen, Streicheleinheiten und ausgiebigen Umarmungen hervorgehoben. Die ungewohnte Energie machte Meja Angst, denn sie wusste, dass sie der Vorbote für eine neue Hölle war.
Bereits am zweiten Abend landeten die Tabletten im Mülleimer. Halbvolle Packungen starrten Meja zwischen Kartoffelschalen und benutzten Kaffeefiltern an. Starke Tabletten in harmlosen Pastellfarben. Kleine chemische Wunderwerke, die dem Wahnsinn und der Dunkelheit die Stirn bieten konnten. Die einen Menschen am Leben halten konnten.
»Warum hast du die Tabletten weggeworfen?«
»Weil ich sie nicht mehr brauche.«
»Wer sagt, dass du sie nicht mehr brauchst? Hast du mit einem Arzt darüber gesprochen?«
»Ich muss mit keinem Arzt reden. Ich kann spüren, dass ich sie nicht mehr brauche. Hier draußen bin ich in meinem Element. Hier kann ich endlich die sein, die ich bin. Die Dunkelheit kann mich hier nicht erreichen.«
»Hörst du selbst, wie das klingt?«
Silje lachte ihr Violinenlachen. »Dass du dir immer so viele Gedanken machen musst. Du musst dich mal entspannen, Meja.«
In den unendlich langen, hellen Nächten lag Meja wach und betrachtete den Rucksack, in dem sie ihre Sachen aufbewahrte. Sie könnte ein bisschen Geld klauen und wieder nach Süden fahren. Bei Freunden schlafen und sich einen Job suchen. Und wenn es nicht anders ging, würde sie Sozialhilfe beantragen. Die wussten ja, wie Silje war, wie destruktiv sie sein konnte. Aber Meja wusste auch, dass sie es nicht durchziehen würde. Sie musste auf Silje aufpassen, die nur noch Plattitüden von sich gab. »Ich habe noch nie in meinem Leben so frische Luft eingeatmet! Ist diese Stille nicht einfach wunderbar?«
Für Meja war es alles andere als still. Im Gegenteil, der Wald war so voller Geräusche, die ihre Gedanken übertönten. Nachts war es am schlimmsten, das Summen der Mücken, das Zwitschern der Vögel, und der Wind, der an den Bäumen zerrte und sie zwang, sich zu krümmen. Dazu kamen die Geräusche aus dem Zimmer unter ihr. Die Schreie, das Keuchen und die unnatürlichen Laute. Am lautesten hörte sie natürlich Silje, Torbjörn gehörte eher zu der stillen Sorte. Erst nachdem sie endlich verstummt waren und nur noch Torbjörns Schnarchen ertönte, wagte sie sich in die Küche. Dann trank sie die Weinreste aus, die Silje stehen gelassen hatte. Wein war das Einzige, was gegen die Geräusche half.
*
Lelle schlief in den Sommernächten nicht. Nicht mehr. Er gab dem Licht die Schuld, der Sonne, die niemals unterging und sich durch den schwarzen Stoff der Gardinen zwängte. Er gab den Vögeln die Schuld, die nachts lärmten, und dem Summen der Mücken, die seinen Kopf umkreisten, sobald er ihn aufs Kissen legte. Er gab allem die Schuld, außer der einzigen Sache, die ihn tatsächlich wachhielt.
Die Nachbarn saßen auf ihren Terrassen, lachten und klimperten mit dem Besteck. Lelle duckte sich, wenn er zu seinem Wagen ging, damit sie ihn nicht sehen konnten. Er rollte so weit wie möglich die Auffahrt hinunter, ehe er den Motor startete. Obwohl er sich ziemlich sicher war, dass die Nachbarn wussten, dass er nachts durch die Gegend fuhr, dass sie seinen Volvo über den Kies fahren hörten, sobald die Nacht hereinbrach.
Es war ruhig im Ort, die Häuser leuchteten in der Abendsonne. Als er sich der Bushaltestelle näherte, begann sein Herz zu pochen. In ihm lebte ein kleiner Teufel namens Hoffnung, der jedes Mal erwartete, Lina dort stehen zu sehen, mit vor der Brust verschränkten Armen, so wie er sie dort zurückgelassen hatte. Drei Jahre war das jetzt her, aber diese verdammte Bushaltestelle schaffte es immer wieder, ihm den Atem zu rauben.
Die Polizei hatte die Theorie verfolgt, dass jemand auf seiner Fahrt über den Silvervägen an der Bushaltestelle angehalten und sie mitgenommen hatte. Entweder hatte diese Person ihr angeboten, sie mitzunehmen, oder sie mit Gewalt gezwungen einzusteigen. Es gab keine Zeugen, die diese Theorie bestätigen konnten, aber es war die einzige Erklärung dafür, wie sie so schnell und spurlos hatte verschwinden können. Lelle hatte Lina gegen zehn vor sechs an der Bushaltestelle abgesetzt. Der Bus war dem Fahrer zufolge fünfzehn Minuten später eingetroffen, aber da war Lina nicht mehr da gewesen. Es handelte sich also um ein Zeitfenster von fünfzehn Minuten. Nicht mehr und nicht weniger.
Sie hatten Glimmersträsk durchkämmt. Alle Einwohner hatten mitgemacht. Sie hatten alle Flussläufe abgesucht, hatten Menschenketten gebildet und waren kilometerweit in alle Himmelsrichtungen ausgeschwärmt. Hunde, Hubschrauber und Freiwillige aus der ganzen Gemeinde hatten sich an der Suche beteiligt. Aber Lina hatten sie nicht gefunden. Keine Lina weit und breit. Bis heute nicht.
Er weigerte sich zu glauben, dass sie tot sein könnte. Für ihn war sie so sehr am Leben wie an dem besagten Morgen. Es kam vor, dass ihm aasfressende Journalisten oder taktlose Fremde diese Frage stellten.
»Glauben Sie, dass Ihre Tochter noch am Leben ist?«
»Ja, das glaube ich.«
Lelle schaffte es, auf der Strecke bis Arvidsjaur sechs Zigaretten zu rauchen. In der Tankstelle dort war nichts los. Kippen, der Tankwart, stand mit dem Rücken zum Eingang und wischte den Boden. Seine Glatze glänzte im Licht der Neonröhre. Lelle tippelte auf Zehenspitzen zur Kaffeemaschine und goss sich einen Pappbecher bis zum Rand voll.
»Ich habe mich gerade gefragt, wo du bleibst.« Kippen stützte seinen schweren Körper auf den Schaft des Wischmopps. »Ich habe den Kaffee frisch gemacht, nur für dich.«
»Herzlichen Dank«, sagte Lelle, »wie läuft es?«
»Na ja, man soll ja nicht klagen. Wie ist es bei dir?«
»Ich lebe.«
Kippen stellte Lelle nur die Zigaretten in Rechnung. Der Kaffee war umsonst, und dazu gab es noch eine Zimtschnecke vom Vortag. Lelle brach ein Stück vom trockenen Rand ab und tauchte es in den Kaffee, während Kippen sich wieder dem Wischen widmete.
»Du bist also heute Nacht unterwegs.«
»Ja, heute Nacht bin ich unterwegs.«
Kippen nickte und sah ihn traurig an. »Der Jahrestag nähert sich.«
Lelle senkte den Kopf, sah auf den nassen Boden. »Drei Jahre. Manchmal fühlt es sich an, als wäre es gestern gewesen, und manchmal fühlt es sich an, als wäre ein ganzes Leben an mir vorbeigezogen.«
»Und was macht die Polizei?«
»Das weiß der Teufel.«
»Aber du hast doch nicht aufgegeben, oder?«
»Viel Neues passiert nicht, aber ich bleibe dran.«
»Gut so. Wenn du Hilfe brauchst, weißt du, wo du mich findest.«
Kippen tauchte den Wischmopp in den Eimer und wrang ihn aus. Lelle steckte die Zigaretten in die Jackentasche und legte die Zimtschnecke auf den To-go-Becher. Auf dem Weg nach draußen klopfte er Kippen mit der freien Hand auf die Schulter.
Er war von Anfang an für ihn da gewesen. Er hatte nach Linas Verschwinden ganze Tage damit zugebracht, alle Kameraaufzeichnungen der Tankstelle nach Spuren durchzusehen, die zu ihr führen konnten. Wenn sie jemand mitgenommen oder sogar entführt hatte, bestand wenigstens die Möglichkeit, dass er an der Tankstelle angehalten hatte. Sie hatten nichts entdeckt, aber Lelle hatte das sichere Gefühl, dass Kippen niemals aufhören würde, Ausschau zu halten. Und solche Leute musste man sich warmhalten.
Lelle stieg ins Auto, tunkte das letzte Stück der Zimtschnecke in den Kaffeebecher und betrachtete die trostlosen Tanksäulen, während er aß. Er hatte ausgerechnet, wie weit Linas Entführer mit einem vollen Tank von Glimmersträsk hätten kommen können. Mit einem großen Tank hätten sie es weit in die Fjälls schaffen können, über die norwegische Grenze in die Berge. Natürlich nur, wenn sie den Silvervägen weitergefahren waren. Sie hätten auch jederzeit auf kleinere, unbekannte Seitenstraßen abbiegen können, wo es weder Verkehr noch Häuser gab. Erst am Abend war Linas Verschwinden aufgefallen, zwölf Stunden später. Damit hatten die Entführer, wenn es denn mehrere waren, einen großen Vorsprung.
Lelle wischte sich die Hand an seiner Jeans ab, zündete sich eine Zigarette an und startete den Motor. Er ließ Arvidsjaur hinter sich und tauchte ein in die Einsamkeit der Straße und des Waldes. Das Fenster ließ er einen Spalt offen, damit er den Duft der Tannennadeln riechen konnte. Wenn Bäume doch nur sprechen könnten, dann hätte er Tausende von Zeugen.
Der Silvervägen war die Hauptschlagader, die Lelle mit einem verzweigten System aus kleineren Gefäßen und Kapillaren verband, die ihre Spuren durch das Land zogen. Es gab zugewachsene Holzfällerwege, Pfade für Scooter und Stege, die sich zwischen verlassenen Orten und geschrumpften Siedlungen hindurchwanden. Es gab Seen und Flüsse, kleine, reißende Bäche, die überirdisch und unterirdisch flossen. Dazwischen lagen dampfende Moore, die sich wie offene Wunden oder tiefschwarze, bodenlose Teiche über die Landschaft legten. Einen Menschen zu finden, der in dieser Gegend verschwand, war eine Lebensaufgabe.
Die Abstände zwischen den einzelnen Gebäuden waren groß sowie auch die Abstände zwischen den einzelnen Menschen, die sich auf dieser Straße bewegten. Jedes Mal, wenn ihm ein Wagen entgegenkam, spürte er wie sein Herz raste, als würde er erwarten, Lina auf dem Rücksitz zu sehen. Er hielt an verlassenen Rastplätzen, durchsuchte die Mülltonnen, wie schon so oft zuvor, immer noch mit pochendem Herzen, als wäre es das erste Mal. Es würde sich niemals ändern.
Kurz vor Arjeplog bog er auf eines der kleineren Kapillargefäße ab, der Weg war nicht viel breiter als sein Wagen. Lelle rauchte, ohne die Hände vom Steuer zu nehmen. Die Nebelschwaden huschten wie Gestalten zwischen den Tannen umher. Er starrte durch die Windschutzscheibe, um den Weg vor sich besser sehen zu können. Es war unmöglich, hier zu wenden, er würde rückwärts wieder rausfahren müssen. Aber so einer war Lelle nicht, nicht mehr. Der Volvo musste sich über den holprigen und knorrigen Boden kämpfen, während die Asche unbemerkt auf seinem Hemd landete. Er wurde erst langsamer, als er zwischen den Baumstämmen ein Haus sah. Ein verfallener Hof, der bis zu den Fensterrahmen zugewachsen war, Türen und Fenster stellten nur noch gähnende Löcher dar. Auf dem Weg folgten noch zwei weitere Holzskelette, die im Begriff waren, vom Wald verschluckt zu werden. Verwilderte Höfe, in denen seit Jahrzehnten niemand mehr wohnte.
Lelle hielt an. Umgeben von Einsamkeit saß er eine Weile still da, dann holte er tief Luft und nahm seine Beretta aus dem Handschuhfach.
*
Meja hatte gelernt, sich von Siljes Männern fernzuhalten. Sie vermied es immer, allein mit ihnen zu sein, denn sie wusste, dass sie selten nur etwas von Silje wollten. Immer wieder war es geschehen, dass sie sich an sie drückten, ihren Hintern tätschelten oder ihren Busen berührten, sogar bevor sie überhaupt einen gehabt hatte.
Torbjörn aber würde sie niemals anfassen, das wurde ihr schon am dritten Abend in der Bruchbude klar. Sie war nach unten gegangen, um draußen auf der Terrasse eine Zigarette zu rauchen. Er hatte in der Küche gesessen und seinen Kaffee geschlürft, und sie war so leise wie möglich an ihm vorbeigeschlichen, hatte so getan, als hätte sie ihn nicht gesehen. Sie hatte sich gerade die Zigarette angezündet, als er ebenfalls hinauskam und fragte, ob sie Lust auf Abendbrot hätte. Sie sah die Falten in seinem Gesicht, er war älter, als sie zunächst gedacht hatte, auch viel älter als Silje. Er könnte ihr Großvater sein.
Dann verschwand er wieder im Haus, sie hörte ihn pfeifen. Sie rauchte und behielt die ganze Zeit den Wald im Auge, aus Sicherheitsgründen. Es war ihr unbegreiflich, wie man hier freiwillig leben konnte. Es raschelte im Unterholz, darüber tanzten die Baumwipfel. Plötzlich stieg ihr ein übler Geruch in die Nase. Dann hörte sie die Krallen des Hundes auf dem Holz kratzen, er lief über die grauen Holzplanken und legte sich auf ihre Füße, sie spürte sein Fell an den Zehen. Ab und zu hob Jolly den Kopf und sah hinüber in den Wald, als hätte sie etwas in der tiefen Dunkelheit gehört. Jedes Mal zog sich alles in Meja zusammen, und ihr Herz fing an zu rasen. Am Ende hielt sie es nicht mehr aus. Der fremde Typ in der Küche war besser als all das, was sie hier draußen nicht sehen konnte.
Torbjörn hatte den Tisch gedeckt und Becher, Brot und Aufschnitt hingestellt.
»Ich habe leider nichts Süßes da.«
Meja stand in der Tür und zögerte noch. Ihr Blick wanderte von der geschlossenen Schlafzimmertür, hinter der sich Silje versteckte, zu dem gedeckten Tisch.
»Abendbrot ist prima.«
Sie setzte sich an den Tisch, den Blick gesenkt und auf die zerkratzte Oberfläche geheftet. Er goss Kaffee ein, der so heiß war, dass der Dampf wie ein Schleier zwischen ihnen stand.
»Du trinkst doch Kaffee?«
Meja nickte. Sie hatte Kaffee getrunken, seit sie denken konnte. Entweder Kaffee oder Alkohol, aber das würde sie niemals offen zugeben. Das Brot war weiß, weich und schmolz auf ihrer Zunge. Sie strich sich eine Scheibe nach der anderen, ihr Hunger war so groß, sie konnte einfach nicht aufhören. Torbjörn schien das nicht zu merken oder zu stören, er sah aus dem Fenster, zeigte nach draußen und redete. Er wies in den Wald und erzählte von den Wegen, die durch ihn hindurchführten. Er deutete auf den kleinen Schuppen an der Ecke, in dem sich Fahrräder, Angelruten und noch anderes Zeug befanden, mit dem sie vielleicht etwas anfangen könnte.
»Du darfst alles benutzen, was du hier auf dem Hof findest. Das ist dein neues Zuhause. Ich will, dass du das weißt.«
Meja kaute weiter, während sie ihm zuhörte, auf einmal hatte sie Schwierigkeiten zu schlucken. »Ich war noch nie angeln.«
»Kein Problem, das bringe ich dir ganz schnell bei.«
Sie mochte seine Lachfalten und die abgehackte Melodie seiner Worte. Er sah sie immer nur kurz an, als wollte er auf keinen Fall aufdringlich wirken. Meja entspannte sich, sie fühlte sich so sicher, dass sie es sogar wagte, nach der Kaffeekanne zu greifen, obwohl sie sich dafür über den Tisch lehnen musste. Eigentlich sollte sie so spät keinen Kaffee mehr trinken, aber die Sonne schien, und sie würde sowieso nicht schlafen können.
»Ach so, hier sitzt ihr also und macht es euch gemütlich.«
Silje stand nur in Unterhose in der Tür, ihre Brüste waren schlaff und bleich in dem kalten Licht. Meja wandte den Kopf ab.
»Komm und setz dich zu uns, bevor deine Tochter das ganze Polarbrot aufgegessen hat.«
»Meja frisst dir die Haare vom Kopf, wenn du sie lässt.«
Siljes Stimme war scharf und schneidend, und Mejas Magen zog sich zusammen. Ihre Mutter schlurfte ins Zimmer, stellte sich unter den Ventilator, zündete sich eine Zigarette an und nahm einen so tiefen Zug, als würde sie ihn hinunter zu den Zehen schicken wollen. Meja sah sie wie durch eine Lupe, den Glanz in ihren Augen, die Schlüsselbeine, die sich angestrengt hoben und senkten. Hatte sie schon erste Entzugserscheinungen? Meja wollte sie das nicht vor Torbjörn fragen. Darum hob sie die Kaffeekanne hoch und sah Silje fragend an.
»Ich habe gerade zu Meja gesagt, dass sie sich gerne auf dem Hof umsehen darf, ich habe Fahrräder da, falls sie runter zum See oder in den Ort fahren will.«
»Hast du das gehört, Meja? Warum gehst du dich nicht ein bisschen umsehen?«
»Morgen vielleicht.«
»Du hast doch nichts anderes vor, oder? Fahr mit dem Rad in den Ort, vielleicht triffst du ein paar Gleichaltrige. Es ist schließlich Sommer, du kannst nicht die ganze Zeit deprimiert hier herumsitzen und Däumchen drehen.« Silje drückte ihre Zigarette aus und griff nach ihrem Portemonnaie, holte einen Schein heraus und reichte ihn Meja. »Kauf dir ein Eis oder irgendetwas.«
»Um diese Uhrzeit ist da alles zu«, sagte Torbjörn. »Aber die jungen Leute treffen sich trotzdem im Ort. Die freuen sich bestimmt über einen Neuzugang.«
Unwillig stand Meja auf und nahm das Geld. Silje begleitete sie nach draußen.
»Torbjörn und ich brauchen ein bisschen Zweisamkeit«, flüsterte sie. »Du kannst dich doch mal ein paar Stunden selbst beschäftigen? Zieh los und hab Spaß!«
Sie drückte ihre Lippen auf Mejas Wange und steckte ihr noch zwei Zigaretten zu, bevor sie die Tür zuzog und abschloss. Meja blieb wie erstarrt vor der verschlossenen Tür stehen. Hinter ihr raschelten die Bäume, als würden sie sie auslachen. Langsam drehte sie sich um. Jetzt waren es nur noch sie und der Wald. Genau das, wovor sie am allermeisten Angst gehabt hatte.
*
Ihn interessierten vor allem die verlassenen Gegenden. Verfallene Höfe und zugewachsene Wege. Eine Weissagerin aus Kemi hatte gesagt, dass er dort seine Tochter finden würde. »Im dichten Wald und bei den Holzruinen, die von Menschen zurückgelassen wurden.« Lelle hielt nicht so viel von Weissagerinnen, aber er musste nehmen, was da war, und weigerte sich nicht mehr, nach jedem Strohhalm zu greifen.
Er war dankbar für das Mittsommerlicht, das ihn begleitete, wenn er nachts in Häuser einstieg, sich an Türen vorbeischob, die schief in den verrosteten Scharnieren hingen. Wenn er über knarrende Böden lief, die Zeit und Feuchtigkeit ganz fleckig gemacht hatten. Wenn er seinen Blick über verschlissene Möbel, Holzöfen und Lampenschirme wandern ließ, die von Spinnweben und Staub überzogen waren. Einige Häuser waren ganz leer geräumt und hallten, andere schienen übereilt verlassen worden zu sein, das Geschirr stand noch in den Regalen, und an den Wänden hingen gestickte, gerahmte Weisheiten:
Liebe mich dann, wenn ich es am wenigsten verdient habe, denn dann brauche ich es am meisten.
Kleines kann große Freuden bringen, zu Großes kann den Frieden niederringen!
Das Glück lacht, wenn du die Freude auch im Herzen trägst.
Kein Wunder, dass die abgehauen waren. Er stellte sich die apfelbackigen Frauen vor, die in den dunklen Winternächten mit Nadel und Faden neben der Petroleumlampe gesessen hatten. Und er fragte sich, ob ihnen die einfachen Zeilen und Reime in ihrem kargen Alltag hatten Trost spenden können. Ob nur er allein das Problem war, weil er sie schnöde und banal fand.