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Nach dem Tod ihrer Mutter zieht Emily Dahl mit ihrem Vater in die Wildnis Nordnorwegens. Dunkelheit und Kälte empfangen sie in dieser Einöde und stellen ihr ohnehin schon angeschlagenes Gemüt auf eine Zerreissprobe. Eines Tages findet sie in einem alten, zerfallenen Haus ein Tagebuch. Neugierig beginnt sie darin zu lesen und bald findet sie sich in einer unglaublichen Geschichte eines kleinen Mädchens Namens Mari wieder. Mit jeder Seite erfährt sie mehr über Maris tragisches Leben. Emily möchte mehr über Mari erfahren und wendet sich an ihren Nachbar Loar. Von ihm erfährt sie, dass Mari vor zwanzig Jahren über Nacht spurlos verschwunden ist. Mit Hilfe des Tagesbuchs versucht Emily hinter Maris Geheimnis zu kommen. Bis sie eines Nachts im Garten einem Mädchen im weissen Nachthemd gegenübersteht, die behauptet, ihr Name sei Mari.
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Seitenzahl: 138
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Keiner der des Winters Lichte sah, die Ruhe und Jungfräulichkeit der Natur, wird anderswo Vergleichbares finden.
Prolog
Entscheidung
Erinnerungen
Unruhe
Begegnungen
Dunkle Gedanken
Das Tagebuch
Tränen
Annäherung
Die weisse Gestalt
Angst
Bettruhe
Sehnsucht
Knochen
Wiedergutmachung
Erlösung
Epilog
Seit Stunden fiel Schnee in dicken Vorhängen vom Himmel und verwandelte die Landschaft in eine schier undurchdringbare Schneewüste. Hin und wieder ruhten sich die Wolken aus und gaben die Bühne einem funkelnden Sternenmeer frei.
Es war Nacht im Norden Norwegens. Diese dauerte zu der Jahreszeit fast den ganzen Tag. Die Polarnacht hatte ihren Schatten über die Fjorde gelegt und verwandelte die Landschaft mit ihren hohen Bergen in eine geheimnisvoll anmutende Szenerie.
Der Schnee verschluckte sämtliche Geräusche und man fühlte sich, als hätte man Watte in den Ohren. Nur das leise Säuseln der Schneeflocken konnte man hören, wie Geister, die sich im Dunkeln etwas zuflüsterten.
Ein Fuchs im flauschigen Winterfell stellte seine Ohren auf und hielt in seinen Bewegungen inne. Lautes Keuchen und Schluchzen durchbrachen die Melancholie der Nacht. Alarmiert ergriff er die Flucht und verschwand im Dickicht eines nahen Waldes. Eine weisse Gestalt bewegte sich mühsam durch die kniehohe Schneeschicht.
Es war ein junges Mädchen im Nachthemd, die blonden Haare standen ihr wirr vom Kopf ab. Jeder Schritt schien qualvoller als der vorherige zu sein, doch pure Angst schien sie voranzutreiben. Immer wieder blickte sie über ihre Schulter nach hinten und drängte danach noch energischer vorwärts.
Mari spürte, wie ihre Oberschenkel zu brennen begannen und auch der Schnee war bei jedem Schritt wie tausend Nadeln, die sich in ihre nackten Füsse zu bohren schienen. Mehrmals stolperte sie, fiel hin, rappelte sich wieder auf und lief weiter in die verschneite Nacht. Hinter ihr konnte sie den Verfolger hören, wie er ihren Namen rief und Verwünschungen ausstiess. Übelkeit überkam sie. Sie versuchte noch schneller zu rennen, aber ihre Beine hatten kaum noch Kraft.
Der Schnee schien sie am Weitergehen hindern zu wollen. Vor ihr tauchte ein Wald auf, dunkel und bedrohlich schälte er sich aus dem Schnee. Sie blickte zurück und sah ihren Verfolger, der ungefähr noch fünfzig Meter von ihr entfernt war und schnell näherkam.
Ausser Atem erreichte sie die ersten Bäume des Waldes. Dunkelheit umschloss sie, doch immerhin wurde es nun einfacher vorwärts zu kommen, der Schnee lag hier nicht ganz so hoch. Sie blickte sich um und suchte nach einem geeigneten Versteck, konnte aber wegen der Dunkelheit kaum etwas erkennen. Sie blickte hoch, vielleicht konnte sie auf einen Baum klettern. Doch die ersten Äste waren so hoch, dass sie diese mit ihrem kleinen Körper nie hätte erreichen können. Tränen flossen ihr über die brennenden Wangen und ihre Beine fühlten sich an wie Pudding. Erneut begann sie zu rennen. Das Terrain wurde nun steiler und sie musste sich einen Abhang hinaufkämpfen. Mehrmals stachen ihr Wurzeln und abgebrochene Äste in die Fusssohlen. Sie spürte, wie ihre Beine langsam den Dienst versagten. Ihre Lunge brannte wie Feuer von der kalten Luft, die sie nun in gierigen Zügen einsog. Kleine Äste schlugen ihr ins Gesicht, rissen die Haut auf, und sie spürte ein warmes Rinnsal den Hals hinunterfliessen.
Weiter unten konnte sie hören, dass ihr Verfolger ebenfalls den Wald erreicht hatte. Äste knackten, ein dumpfer Schlag ertönte und danach Flüche. Er war hingefallen. Sie gewann dadurch etwas Zeit. Doch er würde nicht lange liegen bleiben.
Dann stand sie plötzlich an der Baumgrenze. Weiter oben hatte es keine Bäume mehr, nur tief verschneite Hänge. Sie kannte den Ort nur allzu gut.
Es hatte aufgehört zu schneien und sie konnte Sterne über sich funkeln sehen. Ein schmales, smaragdgrünes Band schlängelte sich über den Himmel; das Nordlicht. Sie stand auf einem vorgelagerten Hügel. Unter ihr sah sie das Ende des Fjords und zwei kleine Häuser. Ihr Zuhause.
Sie blickte nach oben und verlor sich trotz pochendem Herzen in den grünen Tiefen des Nordlichts.
Schreie ertönten. «Wo steckst du, du Verräterin? Antworte mir!» Sie sah, wie er die letzten Bäume des Waldes hinter sich liess und in den Schnee hinaustrat. Er schaute in alle Richtungen, dann entdeckte er ihre Fussspuren. Ihre Blicke trafen sich.
«Habe ich dich», schrie er, hob einen Ast vom Boden auf und stapfte auf sie zu.
Mari rang mit dem Gedanken, ob sie weiterlaufen oder einfach stehen bleiben sollte. Ihre Beine brannten wie Feuer und sie gehorchten ihr kaum noch. Selbst wenn sie jetzt flüchtete, hätte er sie ohnehin nach ein paar Metern eingeholt. Die Kraft entwich ihr wie die Luft einem Ballon.
Rücklings liess sie sich in den Schnee fallen und blickte nach oben in die wabernden Nordlichter. Immer schneller wechselten diese ihre Formen und tauchten die Landschaft in ein Licht, das nicht von dieser Welt zu sein schien. Diesen Anblick würde sie am meisten vermissen, dachte sie. Nichts konnte diesen Moment ersetzen. Die Stille der Nacht, die flackernden Lichter, die Kälte des Schnees und ihre Atemwolken, die stossweise gegen den grünen Himmel davonschwebten.
Dann hörte sie das schwere Keuchen ihres Vaters neben sich. Begleitet von einem beissenden Gestank. Ihre Blicke trafen sich und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, so hämisch und selbstgefällig, wie immer, wenn er sie in die Ecke getrieben hatte.
«Verraten wolltest du mich also?» Ihr Vater stand neben ihr, sein Gesicht war rot vor Wut. Speichel lief ihm aus dem Mund und die gelben Zähne sahen aus, als würden sie zu einem bösen Biest gehören.
Zum ersten Mal seit Wochen fühlte sie sich innerlich ruhig. Die Anspannung und Angst liessen von ihr ab. Mit einem Lächeln im Gesicht wandte sie sich von ihm ab und schaute in den tanzenden Himmel.
Dann hob er seinen Arm und liess den Ast auf sie niedersausen. Danach verschwanden die Lichter am Himmel und es wurde schwarz und ruhig.
~
Skarsfjord, 25. November 1998
Das alte Haus hatte schon viele Winter durchs Land gehen sehen. Es ächzte und stöhnte bei jedem Windstoss und die Dachbalken protestierten mit lautem Knarzen gegen den Zerfall.
Ein blondes Mädchen im weissen Nachthemd streifte durch die Ruine, auf einer aussichtslosen Suche nach etwas, das der Welt verborgen blieb. Wie auf jedem ihrer Streifzüge, blieb sie an einem Fenster im oberen Stock stehen und blickte auf den Fjord. Das tat sie manchmal stundenlang. Warum sie das tat, wusste niemand. Es sah sie ja auch niemand. Sie war unsichtbar für den Rest der Welt. Und auch die Spiegel und Fenster im Haus vermochten das Bild des Mädchens nicht preisgeben, so als wäre sie Luft.
Seit Jahren verbrachte sie ihre Tage nach immer demselben Muster. Sie würde hier für immer wandern, rastlos, und ohne Hoffnung. Was einst war, hatte die Zeit schon lange mitgenommen und zurück blieb nur Leere und Zerfall.
Doch eines Tages, als sie wieder an ihrem Fenster stand, fuhr beim Nachbarhaus ein Auto vor. Ein Mädchen mit überaus langen, braunen Haaren stieg aus und blieb mit einem Mann vor dem Haus stehen. Eine Weile bestaunte das Mädchen das Haus von oben bis unten und schien die Kälte des Winters nicht zu spüren.
Gemeinsam mit dem Mann, wahrscheinlich dem Vater, und einer Dame die aus dem Haus geeilt gekommen war, gingen sie in Richtung Haustür. Das blonde Mädchen beobachtete die neuen Ankömmlinge akribisch, die Handflächen von Innen an die Scheiben gepresst, die Nase berührte die Fensterscheibe, hinterliess jedoch keinen Atemabdruck.
Das braunhaarige Mädchen stieg die Stufen der Veranda hoch und näherte sich der Eingangstür. Doch bevor sie über die Schwelle trat, blickte sie zu ihr hinüber. Das blonde Mädchen spürte den Blick. Die jahrelange Kälte in ihrem Körper war für einen kurzen Moment verschwunden. Eine verloren geglaubte Hoffnung blitzte für eine Sekunde auf.
Dann sah sie zu, wie das Mädchen das Haus betrat und die Kälte kehrte zurück.
Ringvassøya, 25. November 1998
Emily Dahl sass auf dem Beifahrersitz neben ihrem Vater Gunnar und blickte auf die vorüberziehende Landschaft. Die Strasse war schneebedeckt und ihr Vater umklammerte krampfhaft das Lenkrad.
Die Strasse bot sich abenteuerlich und forderte seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Emily war so müde, dass sie nur noch einen Wunsch hatte; so bald wie möglich unter die warme Bettdecke schlüpfen. Das Holpern des Wagens übertrug sich auf sie und sie musste gegen ein eisernes Schlafbedürfnis ankämpfen. Seit sechs Uhr in der Früh war sie schon unterwegs. Von Solothurn nach Zürich, weiter über Oslo bis nach Tromsø. Die Reise schien kein Ende zu nehmen. Und dann war da diese Dunkelheit.
Strassenlaternen schien es hier nicht zu geben. Das einzige Licht spendeten die Autoscheinwerfer.
Seufzend zupfte sie an ihren langen, braunen Haaren, um sich die Zeit zu vertreiben. Im Seitenfenster sah sie ihr Spiegelbild und blieb darin hängen. Sie betrachtete ihre Nase. Sie hatte dieselbe schmale Form wie die ihrer Mutter. Auch die Grübchen hinter den Mundwinkeln hatte sie von ihr geerbt. Ihr Vater sagte ihr immer, dass er diesen Gesichtszug an ihr liebte.
Ihr Blick blieb an dem kleinen Muttermal unterhalb der Lippen hängen. Früher hatte sie das nicht gestört, doch in letzter Zeit hatte sie vermehrt darauf geachtet und es störte sie jetzt.
Der Wagen holperte auf einmal und Emily wurde für kurze Zeit aus dem Sitz gehoben.
«Meine Güte, was für eine Strasse», sagte ihr Vater und umklammerte das Lenkrad noch fester.
Emily schaute ihren Vater von der Seite an und bemerkte, wie er seine Stirn in tiefe Falten gelegt hatte. Sie hatte ihn immer für seinen rauen Gesichtsausdruck bewundert. Sie erinnerte sich an ihre Freunde, als sie ihm zum ersten Mal gegenüberstanden. Kaum einer brachte ein Wort über die Lippen. Ihr Vater hatte dabei Emily immer zugezwinkert und sie musste schmunzeln. Mit den rötlichbraunen Haaren und dem Bart, wirkte er wie ein Krieger aus einem Wikingerfilm. Jetzt trug er allerdings einen nordischen Wollpullover und hätte damit ein Porträt für eine skandinavische Reisezeitschrift abgeben können.
Emily blickte wieder zum Fenster raus. Sie hatte zu viel Zeit zum Nachdenken. Das war nicht gut. Allzu schnell war der Gedanke an Mutter wieder präsent. Genau das wollte sie eigentlich vermeiden. Seit neun Monaten folterten diese Gedanken sie von morgens bis abends. Mutters Tod hatte sie in eine Spirale von Trauer und Erinnerungen gerissen. Alles um sie hatte sich verändert, und dies nicht zum Guten. Die Schulnoten tauchten auf ein historisches Tief.
Mehr als einmal musste ihr Vater beim Lehrer vorsprechen und jedes Mal endete das darauffolgende Gespräch zwischen ihnen mit einem Streit. So war es nicht verwunderlich, dass sie sich am liebsten in ihr Zimmer zurückzog, in ein Buch eintauchte und die Aussenwelt ausschloss. Ihr Vater hatte es aufgegeben, danach mit ihr noch ein versöhnliches Gespräch zu führen. Sie liess ihn nicht an sich ran.
Das schien dann der Auslöser gewesen zu sein, dass er abends immer länger arbeitete. Das Abendessen ass sie an mehr als einem Abend der Woche alleine. Meistens entschuldigte er sich dann bei ihr, dass er schon wieder so lange arbeiten musste. Er hatte dadurch auch oft schlechte Laune gehabt und gab ihr Schelte, wenn ihr Zimmer aussah wie ein Schweinestall, wie er es nannte.
Wie oft hatte sie sich in den Schlaf geweint. Aber da war sie nicht die Einzige. An unzähligen Abenden konnte sie ihren Vater heimlich weinen hören. In diesen Momenten konnte sie die Trauer kaum noch aushalten. Sie wurde innerlich förmlich zerrissen.
Dann, eines Abends, sie lag im Bett und las in einem Buch, setzte er sich zu ihr ans Bett. Mit ernster Miene schaute er sie an.
«Das Leben ist grade sehr schwer für uns, nicht wahr?» Emily nickte nur kurz und las weiter. Ihr Vater drückte sanft das Buch nach unten und forderte sie so auf, ihn anzusehen.
«Du und ich machen eine schwere Zeit durch. Wir sind beide von der Trauer wie gelähmt. Wir funktionieren nicht mehr so wie vorher. So vieles ist anders geworden. Die vielen Überstunden, die Arbeit hier Zuhause, deine Noten, die Leute die immer und immer wieder über Mama reden wollen. Das alles ist schlimm. Aber nicht so schlimm, wie die Tatsache, dass wir uns immer weiter voneinander entfernen. Das tut mir am meisten weh. Und, dass ich deinen Schmerz sehe.» Er machte eine Pause und streichelte ihr die Hand.
Emily wollte weiterlesen, aber sie fühlte, dass es nicht richtig wäre.
«Ich glaube es ist jetzt Zeit, dass wir aufstehen, den Staub abschütteln und unseren beiden Leben eine Änderung gönnen. Was hältst du davon, wenn wir von hier weggehen. Wir kaufen uns ein schönes Haus, mit einem grossen Garten und Blick aufs Wasser.
Was meinst du?»
Emily sah ihn mit grossen Augen an. «Du willst weg von hier?
Wohin denn?», sagte sie in einem etwas trotzigen Tonfall.
«Norwegen. Ganz in den Norden. Weisst du noch unsere Ferien in Norwegen, in dem kleinen Holzhaus am See?»
Emily erinnerte sich. Sie hatte die Ferien in Norwegen immer genossen. Aber das waren schliesslich Ferien gewesen. Dort leben wäre eine komplett andere Geschichte. Hier hatte sie ihre gewohnte Umgebung, Freunde, ihr Zuhause. Und noch viel wichtiger - die Erinnerungen an ihre Mutter. Aber sie wusste auch, dass es um genau diese Erinnerungen ging, denen ihr Vater entfliehen wollte. Er hatte ihr in den letzten Monaten schon oft gesagt, dass Erinnerungen zwar schön sind, aber sie können einen gerade so gut auch ins Elend stürzen. Er litt genau so wie sie. Hinzu kam, dass er seine Heimat vermisste. Sie hatte des Öfteren Diskussionen über selbiges Thema zwischen ihm und Mutter mitbekommen.
Trotz allem fühlte sie, dass sie nicht einfach von hier wegziehen konnte.
Ihr Vater blickte sie aus seinen kastanienbraunen Augen an. «Ich weiss, dass du unter dem Verlust sehr zu kämpfen hast. Das habe ich auch. Und ich verstehe dich sehr gut, dass du dich zurückgezogen hast. Das ist nur natürlich. Aber ich weiss auch, dass es dich auf Dauer auffrisst. Wir müssen in unserem Leben etwas ändern. Wir haben beide einen schweren Schicksalsschlag erlitten, umso wichtiger ist es jetzt, dass wir zusammenhalten. Dass wir zusammen weitergehen. Ich weiss aus eigener Erfahrung, dass die Erinnerungen uns hier zermürben. Jeder noch so kleine Gegenstand erinnert uns an Mama.» Er machte eine kleine Pause. «Vielleicht wäre es um unser beider Willen am besten, wenn wir woanders ein neues Leben beginnen.»
Emily zuckte mit den Achseln und schaute vor sich hin. Ihr Vater gab ihr einen Kuss auf die Stirn, stand auf und blieb in der Tür stehen. «Ich müsste dort nicht so viel arbeiten und hätte mehr Zeit für dich. Und das beste am Ganzen, Grossmutter wäre in der Nähe und du könntest sie so oft sehen wie du willst.» Er blickte sie eine Weile an und seufzte dann leise. «Ich möchte dir keinen Druck aufsetzen. Lass es dir durch den Kopf gehen, und wenn du bereit bist, reden wir wieder darüber, ok?»
Emily nickte und drehte sich auf die andere Seite. Ihr Vater zog die Tür zu und Emily blieb allein mit ihren Gedanken zurück.
Was sollte sie denn am Ende der Welt? Wahrscheinlich gab es da nicht mal ein Kino oder ein Einkaufszentrum. Geschweige denn ihre Freunde. Allerdings musste sie sich auch eingestehen, dass ihre eigenen vier Wände zu ihren Freunden geworden sind. Sie war abhängig geworden von den Erinnerungen an ihre Mutter. Sie verkroch sich in ihren Abenteuerbüchern und stellte sich vor, sie wäre jetzt mit Tom Sawyer auf Erkundungstour oder erforschte geheimnisvolle Häuser mit den drei Fragezeichen. Da fühlte sie sich wohl, behütet und beschützt.
Lange vier Wochen hatte sie tagtäglich mit den Gedanken an einen Wegzug gerungen. Ihr Vater hatte sie nur sehr selten darauf angesprochen und gab ihr die Zeit, die sie brauchte.
Dann, an einem regnerischen Septembertag passierte es, dass sie auf dem Friedhof von einer alten Dame mit Spazierstock angesprochen wurde. Sie trug ein langes Kleid mit rotem Blumenmuster und sie hatte wallendes, schneeweisses Haar. Sie fand es seltsam eine so alte Dame mit langen Haaren zu sehen.
«Hallo!», sagte die Frau mit einer Stimme, der man ein langes Leben anhören konnte. «Dich sehe ich hier aber oft. Wen besuchst du denn?»
Emily hatte eigentlich keine Lust mit jemandem zu reden. Doch die alte Dame versprühte eine merkwürdige Anziehungskraft.
«Ich besuche meine Mutter», antwortete Emily.
«Ah», sagte die Frau nur.
Emily wartete ob sie noch etwas sagen wollte, doch die Dame blickte nur gedankenverloren auf die vielen Grabsteine.
«Wen besuchen sie denn?», fragte Emily schliesslich.
«Meine Familie. Mein Sohn starb als er noch ein Kind war.»