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Das kleine Dorf Halvik im Norden Norwegens ist bekannt für seine Ruhe und Abgeschiedenheit, die Nähe zum Meer und die Tradition des Fischens. Als jedoch bei einem Sturm auf See drei Fischer ihr Leben lassen, machen im Dorf schnell Gerüchte die Runde, dass nicht der Sturm die Unglücksursache gewesen war. Jahre später versucht Harald Strøm, Journalist bei der Lokalzeitung aus Tromsø, den Fall nochmals aufzurollen und beginnt innerhalb der Dorfgemeinschaft zu recherchieren. Bald muss er aber feststellen, dass seine Nachforschungen bei der Bevölkerung von Halvik nicht gern gesehen werden. Hinter den Fassaden der Häuser schlummern dunkle Geheimnisse, die um jeden Preis bewahrt werden wollen.
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Seitenzahl: 387
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Anmerkungen und Dank
Halvik, Nordnorwegen, 23. August 1993
Leichter Nebel schwebte über dem Fjord bei Halvik, ein Zeichen, dass der Sommer sich dem Ende zuneigte und die Bühne einem kurzen, aber farbenfrohen Herbst überliess. Der Winter war nah und die Landschaft rund um Halvik würde sehr bald in eine Starre versetzt werden, die sich erst gegen Ende April wieder auflöste.
Als Linus Pettersen an diesem Morgen erwachte und die letzten Traumfetzen sich vor seinem inneren Auge verflüchtigten, konnte er noch nicht ahnen, dass heute sein Leben eine entscheidende Wendung nehmen würde.
Es war der erste Schultag nach den Sommerferien und wenn es nach Linus ginge, erfüllte dieser Tag jede Voraussetzung, um als Trauertag im Kalender markiert zu werden. Er hatte das Gefühl, als wäre er erst gestern aus dem Schulzimmer getreten, frei, sorglos und voller Tatendrang. Nun aber gehörte die Zeit des Ausschlafens, des Spielens und des Angelns der Vergangenheit an.
Jetzt, als er sich auf dem Schulweg befand, seufzte er laut vor sich hin, kickte einen Stein vom Gehsteig und schaute dabei sehnsüchtig aufs Meer hinaus. In Gedanken sah er sich auf dem Boot seines Vaters, die Angelrute in den Händen, er spürte das sanfte Schaukeln, das leise Klatschen der Wellen gegen die Bootswand, und er roch die salzgeschwängerte Luft. Was gab es Schöneres im Leben?
Die Bilder verschwommen und er betrachtete die Gipfel der Lyngenalpen auf der gegenüberliegenden Uferseite, wie sie langsam von der aufgehenden Sonne in goldenes Licht getaucht wurden. Einige Seemöwen zogen lärmend ihre Bahnen und er wünschte sich, er wäre so frei wie eine von ihnen.
Von weitem drangen Kinderstimmen an sein Ohr und er ging widerstrebend weiter. Kurze Zeit später tauchte das Schulgebäude in sein Blickfeld. Das Gejohle seiner Mitschüler wurde immer lauter und er wünschte sich an den Anfang des Sommers zurück. Warum konnte er nicht einfach die Schule sausen lassen und stattdessen ständig mit seinem Papa zum Fischen rausfahren? Die Schule konnte ihm gestohlen bleiben, er brauchte sie nicht, genauso wenig wie er Gemüse brauchte.
In sicherem Abstand beobachtete er die umherrennenden Klassenkameraden und fragte sich, wie um alles in der Welt sie eine solche Freude an den Tag legen konnten. Alle waren sie hier: Aksel, der ständig erkältet war und auch jetzt seine Nase putzte. Magnus, der übergewichtige Schüler, der in jeder freien Minute etwas Essbares in sich hineinstopfte. Alma, die Streberin, die allen um Armlängen voraus war. Und …! Moment, wer war das denn? Sein Blick blieb an einem Mädchen hängen, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Sie hatte braune, wellenförmige Haare, Wangengrübchen (soweit er dies aus der Entfernung beurteilen konnte), sie trug ein weisses Engelskleid und beige Turnschuhe. Obwohl es nicht sehr warm war, stand sie ohne Jacke da. Das schien sie aber nicht zu stören. Sie lächelte schüchtern und genauso wie er, beobachtete sie das Geschehen aus der Ferne. Linus fand sie auf Anhieb wunderschön. Er konnte seinen Blick nicht mehr von ihr abwenden, so als wäre sie ein heller Stern an einem sonst dunklen Himmel. Die lauten Stimmen und Schreie verstummten. Er sah auch seine Mitschüler nicht mehr, alles wurde unscharf, blass. Nur sie nicht. Sie stand im Mittelpunkt, es gab nur noch sie. Sie erinnerte ihn an eines der graziösen Fabelwesen aus seinen Geschichten, die er so gerne las. An eine Elfe oder eine Fee vielleicht.
Sie bewegte den Kopf, schaute mal hier hin, mal da hin. Sie machte einen Schritt vorwärts, blieb wieder stehen, wirkte unsicher. Dann wandte sie sich von dem Getümmel ab, bewegte sich in seine Richtung, blieb ungefähr fünf Meter vor ihm stehen, bemerkte ihn dabei jedoch nicht. Stattdessen blickte sie auf den Fjord hinaus, reglos und gedankenverloren. Linus folgte ihrem Blick, aber auf dem Meer war nichts zu sehen, was ihre Aufmerksamkeit hätte anziehen können. Sie starrte einfach nur in die Ferne und in ihren Augen lag ein Hauch von Traurigkeit, wie Linus fand. Er wurde etwas nervös. Er wusste nicht, ob er stehenbleiben oder davonlaufen sollte. Seine Füsse waren wie angewurzelt. Sie drehte sich ein wenig in seine Richtung und jetzt konnte er auch die Farbe ihrer hellen Augen sehen und er verlor sich in ihrem Blick, was er als angenehm und unheimlich zugleich empfand. Das war ihm noch nie passiert.
Auf einmal drehte sie sich zu ihm um, schaute ihm direkt in die Augen und lächelte mit dem bezauberndsten Lächeln, das er je gesehen hatte. Er wollte es erwidern, aber bevor er dazu hatte ansetzen können, hatte sie sich schon wieder abgewandt und schlenderte Richtung Schulhaus davon.
«Linus, träumst du?»
Er zuckte zusammen. Sein Lehrer stand in der Eingangstür und winkte ihn herein.
Linus sah gerade noch, wie das Elfenmädchen im Gebäude verschwand und eilte ihr hinterher. Als er das Klassenzimmer betrat, hatten die meisten Schüler bereits Platz genommen. Das Mädchen stand etwas unschlüssig vor einer freien Schulbank, blickte sich scheu nach allen Seiten um und setzte sich schliesslich auf einen Stuhl in der zweiten Reihe, weiter von ihm weg, als ihm lieb war. Enttäuscht nahm er seinen Platz ein und schielte sie von der Seite an. Der Lehrer betrat den Raum und begrüsste alle zum ersten Schultag. Nach seiner Begrüssungsrede zeigte er auf die neue Mitschülerin und stellte sie als Jonna Lundberg vor. Sie sei zwölf Jahre alt, vor kurzem mit ihrer Familie hergezogen und würde von nun an zu dieser Klasse gehören. Linus hing an den Lippen des Lehrers. Er wollte kein Detail über Jonna verpassen. Aber leider musste er sich mit den wenigen Worte des Lehrers begnügen. Dieser forderte Jonna nun aber auf, zur Freude von Linus, sich noch selber vorzustellen.
Mit Argusaugen beobachtete Linus, wie sie sich von ihrem Stuhl erhob und der Klasse erzählte, dass sie bisher in Alta gelebt habe und jetzt aufgrund von Vaters Arbeitsstelle nach Halvik gezogen sei. Sie finde den Ort sehr schön, vermisse aber ihre Freunde aus Alta. Der Lehrer versicherte ihr, dass sie hier bestimmt bald neue Vertraute finden würde.
Linus lauschte Jonnas Engelsstimme, die so klang, als wäre sie aus Seide. Er hätte ihr noch stundenlang zuhören können. Hinzu kam ihr scheues, aber bezauberndes Lächeln, das ihn mehr als stark berührte.
Urplötzlich sah sie ihn an. Genauso wie zuvor auf dem Pausenplatz. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sek…; schon schaute sie wieder zum Lehrer. Aber es waren drei Sekunden gewesen – drei lange Sekunden.
Ein Schlag in die Rückenlehne liess Linus zusammenfahren. Er drehte sich um und blickte in das grinsende Gesicht seines Bruders Arne.
«Sie gefällt dir wohl, was?», flüsterte er spöttisch.
«Halt die Klappe!», zischte Linus zurück.
«Was gibt es denn zu bereden, Linus?», fragte der Lehrer und schaute ihn streng an. «Möchtest du Jonna eine Frage stellen?»
Linus wurde rot wie eine Tomate und spürte sämtliche Blicke der Klassenkameraden auf sich, auch den von Jonna. Er schielte zu ihr rüber, ihr Gesichtsausdruck war undefinierbar.
«Nein, ich habe keine Frage», antwortete er kleinlaut.
Linus hörte das einfältige Gekicher seines Bruders und auch das seiner Freunde Michel und Ole.
Idioten!, dachte Linus. Das wollte er Arne heimzahlen.
Nach der letzten Unterrichtsstunde packten die Schüler ihre Bücher zusammen und verliessen das Klassenzimmer. Sein Bruder Arne bückte sich im Vorbeigehen kurz zu ihm runter und flüsterte: «Los, schnapp sie dir.» Er lachte dabei dämlich und gesellte sich zu seinen Freunden auf dem Flur. Linus hängte sich kopfschüttelnd seinen Rucksack um und sah gerade noch, wie Jonna das Zimmer verliess. Er beeilte sich und trat ebenfalls auf den Flur hinaus. Da war sie. Sie schlenderte dem Ausgang entgegen und unterhielt sich mit Ellinor. Linus folgte ihnen in einigem Abstand. Arne war glücklicherweise schon verschwunden. Die beiden Mädchen traten vors Schulgebäude und blieben stehen. Linus hielt neben der Eingangstür inne und blickte durch ein Fenster auf die Strasse hinaus. Die Sonne stand tief und die Lyngenalpen erstrahlten in orangen Farbtönen. Doch das magische Lichtspiel liess ihn kalt. Er hatte nur Augen für Jonna. Jetzt stülpte sie sich eine grüne Wollmütze über, dabei fiel ihr eine Strähne ihres Haars ins Gesicht.
Sie ist so wunderschön, dachte Linus. Noch nie hatte er in seinem kurzen Leben etwas so Bezauberndes gesehen.
«Aus dem Weg, Trottel.» Linus wurde unsanft weggeschubst. Michel warf ihm einen vernichtenden Blick zu und zusammen mit Arne verliessen sie das Schulgebäude in Richtung Hauptstrasse. Linus schaute ihm hinterher.
Er hasste Michel. Und Ole auch. Warum machten sie ihm immer das Leben schwer? Zu allem Übel hing Arne auch mit diesen Idioten ab.
Er wandte seinen Blick wieder Jonna zu und erschrak. Sie war weg. Halt … nein, sie war nicht weg, sie bewegte sich in Richtung Dorfausgang, und sie war allein. Unsicher schaute er ihr hinterher. Sie entfernte sich immer weiter vom Schulgebäude, bald würde sie aus seinem Blickfeld verschwunden sein. Eigentlich müsste er nach Schulschluss gleich nach Hause gehen. So war die Regel in seinem Elternhaus. Heute jedoch pfiff er auf diese Regel. Er musste unbedingt herausfinden, wo Jonna wohnte. Also lief er ihr im Eiltempo hinterher.
Auf der Hauptstrasse tauchte sie wieder in seinem Blickfeld auf. Er folgte ihr, so unauffällig wie möglich, vorbei am Café Kystenshuset, am Dorfladen und der Kirche. Einmal drehte sie sich um, und Linus blieb augenblicklich stehen. Umständlich band er sich die Schnürsenkel und hielt dabei den Kopf gesenkt, um nicht aufzufallen. So hatte er es jedenfalls mal in einem Film gesehen. Nach einer Weile wagte er einen Blick nach vorne und erstarrte …!
Sie war verschwunden.
Hilflos schaute er sich nach allen Seiten um, fand sich aber allein auf der Strasse.
Wohin war sie nur so schnell verschwunden? War sie etwa in ein Haus gegangen und er hatte es verpasst?
Er hätte sich die Haare ausreissen können.
Zaghaft folgte er dem Gehsteig noch einige Meter weiter und blieb vor einer kleinen Scheune stehen. Ein Trampelpfad führte links an der Scheune vorbei hinunter ans Wasser. Aber dort unten stand niemand.
«Warum verfolgst du mich?»
Erschrocken fuhr er herum und blickte in das Antlitz eines Engels. Er brachte kein Wort über die Lippen.
«Warum verfolgst du mich?», fragte Jonna nochmal.
«I-ich … äh … Ich verfolge dich nicht.»
«Lügen tust du auch.»
Er schüttelte den Kopf.
«Warum bist du dann hier?»
Linus’ Gedanken überschlugen sich. Er wollte das Richtige sagen, das Richtige tun, hatte aber keine Ahnung, was das Richtige war. «B-bin auf dem Nachhauseweg», stotterte er als Antwort.
«In welchem Haus wohnst du?»
Mist, jetzt hatte er sich ins Abseits manövriert.
«Oben, auf dem Hügel.» Seine Augen schweiften den Abhang hinauf zu mehreren Häusern. Jonna folgte seinem Blick.
«Da oben wohne ich auch. In dem roten mit den zwei Tannen auf der linken Seite. Welches ist deins?»
Unsicher schaute er zwischen ihr und den Häusern hin und her. Was sollte er ihr jetzt erzählen? Verflixt. Er wohnte am anderen Ende des Dorfes, das würde sie wohl selbst bald herausfinden. Er konnte sie jetzt also schlecht anlügen.
«Du wohnst gar nicht hier, stimmts?»
«Nein», sagte er kleinlaut. «Ich wohne dort drüben, hinter der Kirche.»
Sie nickte und schaute in die angezeigte Richtung. «Wie heisst du?»
«Linus.»
«Ich habe dich in der Schule gesehen.»
Er nickte.
«Der Lehrer ist nett», sagte sie und lächelte, dieses Mal ohne Schüchternheit.
«Ich finde ihn auch ganz okay.»
«Bist du hier geboren?»
«Nein. In Tromsø. Du, in Alta?
Sie nickte.
«Warum seid ihr hergezogen?», fragte er, wohlwissend, dass sie das bereits in der Schule erklärt hatte. Es fiel ihm aber gerade nichts Besseres ein, und er wollte das Gespräch um jeden Preis weiterführen.
«Mein Vater hat eine Stelle in Tromsø angenommen. Er verdient hier besser.»
«Was arbeitet er denn?»
«Er ist Arzt. Er arbeitet im Krankenhaus.»
Linus machte grosse Augen. «Ein Arzt? Das ist aufregend.»
Sie verzog den Mund. «Geht so. Er arbeitet viel und ist dadurch nicht oft zuhause.»
Linus nickte.
«Was arbeitet dein Papa denn?», wollte Jonna wissen.
«Er ist Fischer.»
Ihre Augen richteten sich auf den Fjord hinaus. Linus überlegte fieberhaft, wie er die Konversation in die Länge ziehen konnte. Er wollte diesem Mädchen nicht schon auf Wiedersehen sagen. Aber es wollte ihm zum Kuckuck nichts Gescheites einfallen. Er sah, wie sie ihre Augen etwas zusammenkniff, als hätte sie Schmerzen. Sie nahm einen tiefen Atemzug und liess die Luft langsam wieder entweichen. Er konnte ihr ansehen, dass sie in Gedanken war und er wusste nicht, ob sie auf eine Frage von ihm wartete oder an etwas Anderes dachte.
«Sitzt du gerne auf einem Bootssteg?», fragte sie plötzlich und erlöste Linus von seinen Leiden.
Die Frage verwunderte ihn. Das hatte ihn noch nie jemand gefragt. Darüber Gedanken gemacht hatte er sich auch noch nie. Natürlich war er schon oft auf einem Bootssteg gewesen, schliesslich fuhr er mit seinem Papa oft genug zum Fischen. Aber ob er sich gerne auf einem Bootssteg aufhielt?
«Ich weiss nicht», antwortete er «Ich denke schon.»
«Ich mag Bootsstege», sagte sie und lächelte dabei verträumt. «Es ist, als würde man aufs Wasser hinauslaufen und die Welt hinter sich lassen. Ich mag die Ruhe am Ende des Steges und die Seemöwen, die auf den Wellen auf und ab schaukeln. Ich liebe die Geräusche des Wassers und des Windes. Man fühlt sich eins mit dem Meer.»
Linus dachte über ihre Worte nach. Alles richtig, was sie sagte. Er hatte diesen Wahrnehmungen jedoch selbst noch nie bewusst Beachtung geschenkt.
«Da unten gibt es doch einen Bootssteg, oder?» Sie zeigte Richtung Wasser.
Linus nickte.
«Lass uns hingehen.»
«Jetzt?»
«Ja, klar. Warum nicht?»
Ihm kamen gleich mehrere Gründe in den Sinn, die dagegensprachen: Seine Mutter, die zuhause mit dem Abendessen auf ihn wartete, die Rechenaufgaben in seinem Rucksack, die auf Lösungen warteten. Der triftigste Grund jedoch war, dass er so nervös war, wie wohl noch nie in seinen bisherigen zwölf Lebensjahren. Er hatte das Gefühl, als müsse er sich gleich übergeben. Seine Beine waren kurz davor, ihren Dienst zu quittieren und sein Herz hämmerte in der Brust, als hätte er soeben einen steilen Berg erklungen.
«Also schön, ich komme mit», hörte er sich sagen.
Sie verliessen die Strasse und stiegen einen kleinen Abhang hinunter, durch Buschwerk und hohes Gras. Hinter dem Bootshaus kam der Steg zum Vorschein. Linus folgte Jonna auf die Holzplanken hinaus, sah, wie sie sich am Ende hinsetzte und die Beine baumeln liess. Er setzte sich neben sie, aber nicht zu nahe.
Das Geräusch der Wellen, die an die Pfosten des Steges schwappten, drang nach oben. Ein Windstoss kräuselte die Oberfläche des Wassers, aber Linus und Jonna blieben stumm. Linus, weil er nicht wusste, über was er mit ihr reden sollte, Jonna, weil sie sich wohl den Geräuschen der Umgebung hingab. Das dachte Linus zumindest. Er schielte sie von der Seite an. Ihr Gesicht leuchtete im Abendlicht und er hätte sie am liebsten auf die Wangen geküsst. Er prägte sich jedes Detail ihres Gesichtes ein; die feinen Härchen auf ihrer Wange, die Wangengrübchen, die nach oben gebogenen Wimpern. Die Augen glänzten wie Smaragde.
«Hörst du’s?», fragte sie plötzlich und er zuckte zusammen.
«Was soll ich hören?»
«Na das, worüber wir vorhin gesprochen haben …»
Worüber hatten sie vorhin gesprochen? Ah ja, richtig. Über Wasser, Wind, Seemöwen.
«Komm, schliess deine Augen», sagte sie und sah ihn auffordernd an. Er lächelte kurz, wandte den Kopf dem Fjord zu und schloss seine Augen.
«Jetz konzentriere dich auf die Natur. Sie redet mit dir.»
Linus tat wie ihm geheissen. Er getraute sich kaum zu atmen, fokussierte sich stattdessen auf die Umgebungsgeräusche.
Da war ein ratternder Generator, irgendwo in der Ferne, eine Geräteschaufel, die über asphaltierten Boden schepperte, eine Seemöwe, die kreischend über ihre Köpfe hinwegflog. Das Geräusch des Wassers mischte sich hinzu und der Wind, der die Weidegräser am Ufer streichelte. Aber all diese Geräusche wurden zu Nebengeräuschen, zu Störgeräuschen. Denn er hörte Jonnas gleichmässigen Atem. Es war das schönste Geräusch von allen. Selbst mit geschlossenen Augen sah er ihr Gesicht vor sich, hörte ihre Stimme, und in diesem Moment wusste er, dass er sie sein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen würde.
«Hast du’s jetzt gehört?», fragte Jonna nach einer Weile.
Linus öffnete die Augen und sah sie an. «Ja, habe ich.»
Sie öffnete die Augen ebenfalls, lächelte und strich sich eine Strähne ihres Haars aus dem Gesicht. Und als würden auf einmal dunkle Sturmwolken aufziehen, verfinsterte sich ihr Gesicht so schnell, dass Linus erschrak. Sie wandte den Kopf ab und schaute auf den Fjord hinaus. Ihr Blick wirkte auf einmal müde, irgendwie auch traurig. Linus fürchtete, dass er etwas Falsches gesagt oder getan hatte. Er überlegte was, fand aber nichts. Jonna schien in Gedanken zu versinken, Gedanken, die er nicht zu erahnen vermochte.
Sollte er sie fragen, ob sie etwas bedrückte?
Er liess den Gedanken unausgesprochen. So sassen sie eine lange Zeit, ohne, dass ein Wort gesprochen wurde. Linus befürchtete, dass sie ihn jetzt zum langweiligsten Jungen in Nordnorwegen abstempeln würde. Er dachte an seine Mutter, die mit Blick auf die Uhr auf ihn wartete, der Vater vielleicht schon in den Schuhen, um nach ihm zu suchen. Möglicherweise hatte er auch schon die Polizei verständigt.
Verstohlen schaute er zu Jonna, deren Blick immer noch in die Weite gerichtet war. Etwas stimmte doch nicht mit ihr. Warum nur wirkte sie auf einmal so traurig? Vermisste sie ihr altes Zuhause? Ihre Freunde?
«Ich muss nach Hause», sagte Jonna plötzlich und stand ohne Vorwarnung auf. «Begleitest du mich?»
«S-sicher», stammelte Linus überrascht und hievte sich auf die Beine. Jonna lächelte ihn an. Der melancholische Ausdruck in ihrem Gesicht war verschwunden.
Sie verliessen den Bootssteg, kraxelten den Abhang hoch und überquerten die Strasse. Ein gepflasterter Weg führte zwischen zwei Häusern hindurch und endete am alten Larsen Haus. Jonna blieb stehen.
Wohnte sie etwa im alten Larsen Haus?
Bis vor kurzem hatte hier Aksel Larsen gewohnt. Er soll an einem Herzinfarkt gestorben sein. Linus war sich da jedoch nicht so sicher. Der alte Larsen galt bei den Kindern von Halvik als der Teufel in Person. Wenn er Kindern begegnete, starrte er sie böse an und verscheuchte sie mit Zischlauten. Und wehe, jemand kam seinem Haus zu nahe. Vor allem dann, wenn die Kinder sich gegenseitig anstachelten es zu wagen, auf sein Grundstück zu treten. Fuchsteufelswild preschte er, mit einem Stock bewaffnet, aus der Tür und jagte die Eindringlinge davon. Die Erwachsenen hatten den Kindern immer eingebläut, den Alten in Ruhe zu lassen. Er habe ein schweres Leben gehabt und würde es wohl sowieso nicht mehr lange machen.
«Danke, dass du mich begleitet hast», sagte Jonna und setzte das bezauberndste Lächeln auf, das er je gesehen hatte.
«Gern geschehen», sagte er und überlegte, was er noch sagen könnte. Doch Jonna hatte sich schon umgedreht und ging durchs Gartentor zur Haustür. Als sie die Stufen zur Veranda hochstieg, wandte sie sich zu ihm um, schaute ihn ein paar Sekunden an und meinte: «Ich find dich süss, Linus.»
Sie verschwand im alten Larsen Haus und liess Linus verdattert und mit weichen Knien am Gartentor zurück.
Auf dem Nachhauseweg war Linus dermassen in Gedanken versunken, dass er sein langsames Vorwärtskommen gar nicht bemerkte. Die Minuten rannen dahin wie Sand in einer Sanduhr, und als er endlich vor seinem Haus stand, war das Abendessen seiner Familie schon lange beendet. Er trat durch die Tür, streifte sich die dicken Kleider vom Leib und ging in die Küche, wo sein Essen verwaist auf dem Tisch für ihn parat stand.
Seine Mutter, die auf Pünktlichkeit bestand, kam aus dem Wohnzimmer geeilt und ihr Gesichtsausdruck verhiess nichts Gutes. «Himmel, Linus, wo warst du denn? Wieso kommst du so spät nach Hause? Ist dir bewusst, welche Sorgen ich mir gemacht habe?»
Linus zögerte mit der Antwort.
«Nun?», fragte seine Mutter mit Nachdruck.
«Ich war noch am Wasser»
Sie schaute ihn verdutzt an. «Am Wasser? Was wolltest du dort?»
«Ich … ähh … ich wollte Jonna den Steg zeigen.»
«Wer ist Jonna?»
«Eine neue Schülerin.»
«Linus ist verliiiebt, Linus ist verliiiebt», sang Arne aus dem Wohnzimmer, worauf er auch gleich vom Vater getadelt wurde.
«Ich bin nicht verliebt», rief Linus ins Wohnzimmer zurück.
«Klar bist du das», erwiderte sein Bruder.
«Nein, du Arsch!»
«LINUS!» Seine Mutter trat an ihn heran und zerrte ihn aus der Küche. «Los, geh auf dein Zimmer. Heute gibt es kein Abendessen.»
Linus wollte protestieren, aber der Gesichtsausdruck seiner Mutter sprach Bände. Da würde alles Betteln und um Vergebung bitten nichts nützen. Glücklicherweise hatte er noch eine Dose mit Keksen in einem sicheren Versteck. Dann würde er sich halt mit diesen zufrieden geben müssen.
Er riss sich los und polterte die Treppe hoch, schlug die Tür hinter sich zu und legte sich schmollend aufs Bett.
Sollen sie ihn doch in Ruhe lassen, dachte er und warf ein Stofftier durchs Zimmer. Was verstanden die schon von Liebe? Am allerwenigsten Arne, der gemeine Kerl. Eines Tages wollte er ihm all die Gemeinheiten heimzahlen. Darauf freute er sich jetzt schon.
Nach einer Weile schloss er die Augen und flog in Gedanken zurück zum Bootssteg, lauschte den Wellen, den Möwen, roch Jonnas blumigen Duft und sah ihren traurigen Blick. Einen Blick, den er bisher noch bei niemandem gesehen hatte. Jetzt wünschte er sich, er hätte sie nach ihrem Befinden gefragt. Aber dafür war es jetzt zu spät. Sie war in ihrem Haus, er hier auf seinem Bett. Ob sie wohl auch gerade an ihn dachte? Er hoffte es.
Als er die Augen wieder aufschlug, lag er unter der Bettdecke, die Hosen lagen zusammengefaltet auf dem Stuhl neben dem Bett und durch die Tür drang das Geräusch der Kaffeemaschine. Er hörte, wie sein Vater sich von seiner Mutter verabschiedete und ihr einen schönen Tag wünschte.
Verwirrt blickte er auf die Uhr. Es war sechs Uhr dreissig. Hatte er etwa die ganze Nacht durchgeschlafen?
Er rieb sich die Augen und schlug die Bettdecke zurück. Fetzen eines Traumes schwirrten noch in seinem Kopf umher; ein Bootssteg, der alte Larsen, wie er Kinder über die Planken ins Wasser jagte, und Linus glaubte sich zu erinnern, dass auch Jonna im Traum vorgekommen war. Aber so sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich nicht an ihre Rolle im Traum erinnern.
Er stieg aus dem Bett und starrte aus dem Fenster. Die Sonne war schon aufgegangen und das frühmorgendliche Licht ergoss sich über den Fjord und das Meer. Die Möwen krähten bereits, als gäbe es kein Morgen. Zwei Boote tuckerten Richtung Süden und der Nachbar hämmerte in seiner Werkstatt.
Linus beobachtete seinen Vater, wie er aufs Fahrrad stieg und in Richtung Hafen davonradelte. Gähnend wandte er sich vom Fenster ab und ging ins Bad.
Eine Stunde später, nachdem er die doppelte Menge seiner normalen Morgenration an Frühstück verputzt hatte, seine Mutter ihn ermahnt hatte, dass er heute pünktlich zuhause sein solle, trat er vors Haus und machte sich auf den Weg zur Schule. Er dachte an den bevorstehenden Tag, an die Hausaufgaben, die er nicht gemacht hatte, was ihm aber heute völlig egal war, selbst wenn er mit Strafaufgaben zu rechnen hatte. Er konnte es kaum erwarten, Jonna wieder zu sehen. Und zur Feier des Tages hatte er sogar Vaters Rasierwasser aufgetragen.
Als er ein paar Minuten später bei der Schule eintraf, konnte er Jonna nirgendwo entdecken. Sie war weder vor noch im Gebäude. Er setzte sich an seinen Platz und wartete, doch Jonna erschien selbst dann nicht, als der Lehrer den Raum betrat und mit dem Unterricht begann. Verzweifelt blickte er auf die Uhr über der Eingangstür, hoffte, dass der Lehrer den Unterricht fünf Minuten zu früh gestartet hatte, doch die Zifferblätter logen nicht. Jonnas Stuhl blieb leer, und sie erschien auch nicht zur zweiten, oder zur dritten Stunde, auch nicht am Nachmittag. Linus konnte sich nur mit Mühe auf die Worte des Lehrers konzentrieren. Nicht nur einmal musste der Lehrer ihn aus einem Tagtraum herausholen und schlussendlich fragte er ihn, ob auch alles in Ordnung sei. Arne hatte an seiner Stelle geantwortet und in die Klasse hinausposaunt, dass Linus wohl Jonna vermisse, da er in sie verliebt sei. Dies hatte zu einigen Lachern und zu einer Zurechtweisung des Lehrers geführt. Linus wäre am liebsten zur Tür rausgerannt, besann sich aber eines Besseren. Er blickte zu Arne, der ihn seinerseits anfeixte.
So ein Vollidiot!, dachte Linus und schnitt ihm eine Grimasse.
Die letzte Unterrichtsstunde zog sich unendlich in die Länge und Linus hatte das Gefühl, als würde der Minutenzeiger rückwärtslaufen. Als die Schulglocke endlich ihren erlösenden Klang durch die Gänge hallen liess, packte er in Windeseile seine Schulbücher zusammen und stob zwischen zwei erschrockenen Schulkameradinnen zur Tür hinaus. Vor dem Gebäude bog er nach links auf die Hauptstrasse ab und machte sich auf den Weg zu Jonnas Haus. Er wusste nicht genau, was er dort wollte. Sollte er an der Tür klingeln und nach ihr fragen? Sollte er durch ein Fenster ins Innere schauen und hoffen, sie irgendwo sitzen zu sehen? Oder wäre es strategisch klüger ihr Haus aus der Ferne zu beobachten, in der Erwartung, dass sie vor die Tür trat?
Mit jedem Schritt, der ihn näher zu ihrem Haus brachte, wurde er nervöser. Zwei Autos fuhren an ihm vorbei und er drehte sich von ihnen weg, so dass sie sein Gesicht nicht sehen konnten. Als Jonnas Haus in Sichtweite kam, blieb er stehen und blickte die Strasse auf und ab.
Niemand in der Nähe.
Zögerlich bog er auf den Pflasterweg ein und näherte sich mit gesenktem Kopf Jonnas Haus. Am Gartentor blieb er stehen und schaute zurück, wo er hergekommen war. Ein Reuegefühl befiel ihn und er wünschte sich, er wäre gleich nach Hause gegangen.
«Linus?»
Er zuckte zusammen. An eine Gartenlaube angelehnt, unweit des Gartentors, stand Jonna.
«Was tust du hier?», fragte sie.
«I-ich … ich … Du warst nicht in der Schule.»
Sie senkte den Blick. «Ich weiss. Ich fühlte mich nicht gut. Aber es geht schon besser.»
Sie hatte sich bis auf einen Meter genähert und er konnte sehen, dass sie geweint hatte.
«Du solltest nicht hier sein. Du musst bestimmt nach Hause», sagte sie.
Womit sie recht hatte, dachte Linus. Aber jetzt, da er ihre rotunterlaufenen Augen gesehen hatte, konnte er erst recht nicht nach Hause. «Geht es dir wirklich gut?», fragte er und setzte eine besorgte Miene auf.
Sie nickte wenig überzeugend.
Hilflos suchte Linus nach Worten. Schliesslich fiel ihm nichts Besseres ein als: «Du hast nichts verpasst. In der Schule, meine ich.»
Sie lächelte müde und murmelte etwas, das sich anhörte wie: «Das ist gut.»
Linus wollte vorschlagen, dass sie zusammen einen Spaziergang machen könnten, als sie ihn am Jackenärmel packte und in eine Laube mitschleppte, die sich zwischen Haus und dem Nachbarsgrundstück befand. Dort setzte sie sich auf eine Bank und forderte ihn auf, sich neben sie zu setzen. Er nahm die Einladung gerne an. Eine Weile schauten sie schweigend auf das glitzernde Wasser des Fjords und die felsigen Berge im Hintergrund. Linus kannte jeden Gipfel mit Namen, das hatte ihn sein Papa schon als kleiner Junge gelernt. Meistens dann, wenn sie mit dem Boot draussen waren und er ihnen von der Fischerei und dem Leben hier im Norden erzählte. Linus erinnerte sich vor allem an die Nächte, in denen er mitdurfte. Es waren wolkenlose Nächte gewesen, mit einem grossen, hellen Mond und wenig Wind. Die Wasseroberfläche glich dann immer einem Spiegel, die verschneiten Berge im Fjord sahen aus wie Naturgemälde. Oft hatte das Nordlicht die Umgebung noch zusätzlich erhellt und alles wirkte wie aus einer Fantasiegeschichte. Sein Papa hatte Arne und ihn stets ermahnt, wie privilegiert sie waren, so etwas überhaupt zu Gesicht zu bekommen. Die meisten Menschen auf der Welt würden die Natur nie so sehen, wie sie zwei es erleben durften. Es gäbe hunderttausende von Menschen, die noch nie Sterne gesehen hätten, weil das Licht ihrer Städte sämtlichen Zauber aus dem Himmel überblendete. Und das sei doch nun wirklich kein Leben so.
Linus hörte seinem Vater gerne zu. Er vermittelte sein Wissen immer so, als wäre es eine fiktive Geschichte. Er brachte in jede seiner Erzählung Spannung rein, auch wenn das Thema noch so trocken war. Linus stellte sich immer vor, wie er das mit seinen Kindern auch mal machen wollte.
Nach fast fünf Minuten des Schweigens warf Linus einen verstohlenen Blick auf Jonnas Haus und fragte sich, ob ihre Familie ausgeflogen sei und sie hier allein zurückgelassen hatte.
«Ist bei dir niemand zuhause?», fragte er sie.
«Vater und Mutter sind bei der Arbeit in der Stadt», antwortete sie achselzuckend. «Da schaut jeweils Onkel Steinar nach mir.» Sie hatte sich nicht zu ihm umgedreht, sondern schaute nach wie vor in die Ferne.
«Und wo ist dein Onkel jetzt?»
«Schon gegangen.»
Linus war unsicher, ob er etwas darauf erwidern oder besser den Mund halten sollte. Schliesslich ging es ihn nichts an. Ihr Gesichtsausdruck, der ihn an seine Oma erinnerte, wenn er sie nach einem Besuch im Altenheim verliess, beschäftigte ihn aber wie kaum etwas anderes.
«Gefällt es dir hier?», fragte Jonna plötzlich.
Ob es ihm hier gefiel? Was für eine seltsame Frage. Er hatte noch nie darüber nachgedacht. «Ich weiss nicht, ich denke schon. Ich kenne nichts anderes», antwortete er schliesslich.
Sie nickte geistesabwesend, sagte aber nichts mehr dazu. Deshalb stellte Linus ihr dieselbe Frage.
Sie zuckte gleichgültig die Schultern. «Geht so. Ich war in meinen Sommerferien immer hier. Bei Onkel Steinar und Tante Neja.»
«Komisch, dass wir uns vorher nie über den Weg gelaufen sind», bemerkte Linus.
«Wir waren nicht oft im Dorf. Mein Onkel nahm mich meistens mit zum Angeln, oben, am Nakkevatnet. Oder wir gingen zusammen mit meiner Tante in ihre Hütte in den Bergen.»
«Mein Vater ist auch Fischer. Mein Bruder und ich fahren oft mit ihm raus. Willst du mal mit?»
Ein Lächeln formte sich auf ihren Lippen und sie nickte. Danach schwiegen sie wieder eine Zeit lang. Linus dachte an die Schelte, die er gestern von seinen Eltern kassiert hatte. Er schielte auf die Uhr an seinem Handgelenk. Kurz nach halb sechs.
Es war höchste Zeit, dass er sich auf den Nachhauseweg machte. Er hatte keine Lust auf Hausarrest.
«Ich muss leider nach Hause.»
Jonna drehte den Kopf und sah ihn entgeistert an. «Kannst du nicht noch ein wenig bleiben?»
Linus schaute in ihre kastanienbraunen Augen und hätte ihr in diesem Moment die Welt versprochen. Was sollte er denn jetzt tun? Er hätte hier noch den ganzen Abend – ja was heisst hier Abend, die ganze Nacht, mit Jonna verbringen können. Aber natürlich war das Wunschdenken und keine durchführbare Option. «Ich … ich würde gerne, aber meine Mam…»
Weiter kam er nicht. Sie legte ihre Hand in die seine und drückte sie fest. «Bitte. Bleib noch ein wenig.»
Linus blickte auf seine Hände, dann auf Jonnas Hand, er spürte ihre kalten Finger, die sich mit seinen verknotet hatten. In seinem Kopf drehte sich alles. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Noch nie hatte ihm ein Mädchen so die Hand gehalten, geschweige denn, ihn so angesehen. Die Welt um ihn herum verschwand. Er spürte seinen Körper nicht mehr, nur noch seine linke Hand und Jonnas rechte Hand. Er brauchte jetzt nicht mehr zum Leben, er entschied, das genügt in dem Moment.
Er schaute hoch in Jonnas flehende Augen und nickte.
Linus hätte später, als er im Bett lag und über die Begegnung mit Jonna nachdachte, nicht mehr sagen können, wie lange sie nur so dagesessen und geschwiegen hatten. Er erinnerte sich nur noch an Jonnas kalte, aber unvergesslich zarte Hand, ihren Atem, der mal schneller, mal langsamer aus ihren Lungen strömte, und er erinnerte sich an ihren Blick, starr in die Ferne gerichtet, nur unterbrochen durch das eine oder andere Blinzeln. Die ganze Zeit über hatte er über ein mögliches Gesprächsthema nachgedacht, aber immer, wenn er etwas gefunden zu haben schien, verwarf er den Gedanken gleich wieder und guckte stattdessen auf den Fjord hinaus. Vielleicht hatte Jonna auch gar nicht sprechen wollen. Sie schien mit seiner schweigenden Anwesenheit zufrieden gewesen zu sein, hatte nicht mehr verlangt, als seine Hand zu halten und gemeinsam mit ihr den Blick über den Fjord schweifen zu lassen. Er war froh, war sie keine Quasselstrippe. Das würde ihm gar nicht liegen. Manchmal schien schweigen zu genügen, man verstand sich wortlos.
Irgendwann, gefühlte tausend Jahre später, hatte sie sich zu ihm umgedreht, sich bei ihm bedankt, dass er hier mit ihr sass und ihre Hand hielt. Danach stand sie auf mit der Begründung, jetzt ins Haus zurückkehren zu müssen und wie aus dem Nichts drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange. Noch jetzt, fünf Stunden und ein Hausarresturteil später, spürte er ihre Lippen auf seiner Haut. Aber nicht nur ihren Kuss konnte er nicht mehr vergessen, auch ihren leeren Blick und die langen, wortlosen Minuten. Er hätte viel gegeben, wenn er in jenem Moment ihre Gedanken hätte lesen können.
Zwei Tage später, nach einem langweiligen Fernsehabend kroch Linus um zehn Uhr ins Bett und schlief wider Erwarten ein paar Minuten später ein. Irgendwann in der Nacht wachte er von einem Geräusch auf. Er setzte sich auf und lauschte in die Stille.
Hatte er geträumt?
Ein lautes Plopp am Fenster liess ihn zusammenfahren. Verwundert schlug er die Decke zurück und trat ans Fenster. Als er nach unten schaute, bemerkte er eine dunkle Gestalt auf dem Vorplatz, die zu ihm hochblickte und winkte.
Es war Jonna.
Linus vergewisserte sich, dass die Zimmertür geschlossen war und öffnete anschliessend das Fenster. «Jonna, was tust du denn hier?»
«Ich wollte dich besuchen. Kannst du rauskommen?»
«Jetzt?»
«Ja klar.»
«I-ich weiss nicht. Ich habe Hausarrest.»
«Deine Eltern schlafen sicher.»
Linus blickte wieder zur Zimmertür. Wenn er erwischt würde, könnte er wohl den Rest des Jahres im Zimmer verbringen. Aber Jonna stand nun mal hier… vor seinem Haus. Er musste einfach raus, egal wie. «Warte, ich komme runter.» Er schloss das Fenster, zog sich warme Kleidung über und verliess auf Zehenspitzen das Haus. Jonna erwartete ihn lächelnd vor der Veranda.
«Woher wusstest du denn, welches mein Zimmerfenster ist?», fragte Linus, als er vor Jonna stand.
«Ich wusste es nicht. Zuerst habe ich einen Kieselstein an jenes Fenster dort geworfen und mich versteckt. Da öffnete jedoch niemand. Also habe ich es beim nächsten versucht und Glück gehabt. Haben deine Eltern auch nichts bemerkt?»
«Ich glaube nicht. Mein Vater schnarcht.»
«Wollen wir zum Wasser runter?»
Linus überlegte kurz. «Ich habe eine bessere Idee. Komm mit.»
Linus ging voraus und Jonna folgte ihm. Er führte sie hinters Haus, durch den Garten des Nachbarn und einen steilen Hang hinauf. Vor einem alten, halb verfallenen Haus blieb er stehen.
«Das sieht ja zum Fürchten aus», sagte Jonna und betrachtete das Anwesen skeptisch.
«Keine Sorge. Ich spiele hier seit Jahren. Ist alles sicher.»
Er nahm sie an der Hand und führte sie durch den Hauseingang ins Innere. Sie betraten einen grossen, rechteckigen Raum, auf dessen Nordseite ein fast ebenso grosses Fenster freie Sicht auf das Dorf und den Fjord bot. Linus zündete mit einem Streichholz einige Kerzen an, die an mehreren Stellen im Raum auf dem Boden verteilt waren. Danach ging er zu einem Kamin und entfachte mit Hilfe von alten Zeitungen und ein paar Holzscheiten ein Feuer.
«Komm, wir setzen uns auf die Stühle da», sagte er und führte sie zu zwei Holzstühlen, die unter einem Fenster standen. Nachdem sie sich gesetzt hatten, legte sich Stille über den Raum. Eine Weile sassen sie schweigend da und schauten auf das schlafende Dorf hinunter. Hinter ihnen knisterte das Feuer.
«Tut mir leid, dass du wegen mir jetzt Hausarrest hast», sagte Jonna mit trauriger Stimme.
Linus zuckte die Schultern. «Ach, lass gut sein. Ist doch nicht deine Schuld.»
«Ich fühle mich aber verantwortlich.»
«Mach dir deswegen keine Sorgen. Und ausserdem ist es kein Weltuntergang.»
Jonna lächelte und schaute wieder zum Fenster hinaus. Linus beobachtete sie von der Seite. Er hätte sie so gerne geküsst. Aber er hatte noch nie ein Mädchen geküsst. Er wusste gar nicht, ob er es überhaupt konnte. In Filmen hatte er es schon oft gesehen und sich immer gefragt, wie sich das wohl anfühlte. Jetzt war er hier und hätte vielleicht die Möglichkeit dazu, es herauszufinden. Aber den Mut dazu aufbringen, das war eine ganz andere Sache.
«Was willst du denn mal werden, wenn du Erwachsen bist?», fragte ihn Jonna plötzlich.
Wie schon am Bootssteg unten, war er auf ihre Frage nicht vorbereitet. «Ähhm … ich glaube Fischer, wie Papa.»
«Habe ich mir fast gedacht», sagte sie schmunzelnd.
«Und du?»
Sie zuckte mit den Achseln und legte ihren Kopf auf die Arme. «Ich weiss es noch nicht. Vielleicht Ärztin? Vielleicht Sängerin? Oder Lehrerin? Was denkst du?»
Linus schaute sie unsicher an. «Ich sähe dich als Lehrerin.»
«Wirklich?»
Er zuckte mit den Schultern. «Du bist doch gut in der Schule, nicht?»
Sie lächelte nur ohne etwas zu erwidern.
Ein Windstoss erfasste das Haus und es stöhnte laut auf. Jonna erschrak und sah Linus entgeistert an.
«Keine Sorge», beruhigte er sie. «Ist normal hier drinnen. Ist alles uralt. Da kann es schon mal knacken und pfeifen.»
Jonna zog den Kragen ihrer Jacke noch etwas höher und griff nach Linus’ Hand. Sie schaute ihn nicht an, sondern blickte in die Ferne, auf die Lyngenalpen, die sich jetzt, Ende Sommer, im schwachen Licht der Augustnacht, über den Fjord erhoben. Jonnas Blick war so gedankenverloren wie am Bootssteg vor ein paar Tagen. Und wieder wünschte er sich, er könnte ihre Gedanken erraten.
Eine halbe Stunde sassen sie nur da, ohne ein Wort zu sagen. Linus suchte in dieser Zeit verzweifelt nach einem Gesprächsthema. Aber erstens wollte ihm nichts einfallen und zweitens war die Stille hier oben nichts Störendes. Im Gegenteil, er empfand es als angenehm. Worte hätten ihn nur abgelenkt, hätten ihn Jonnas Hand nicht mehr spüren lassen. Und wenn sie ihn wegen seines Schweigens als langweilig empfunden hätte, hätte sie ihn heute Nacht nicht aufgesucht. Also schien das in Ordnung zu sein.
«Wollen wir zurück?», fragte Jonna plötzlich und machte Anstalten aufzustehen.
Linus schaute sie etwas überrascht an. Wenn es nach ihm ginge, hätte er noch bis zum Morgengrauen mit ihr hier sitzen können. «Willst du wirklich schon zurück?», fragte er sie.
«Ich glaub schon. Ich bin müde und morgen ist Schule.»
Natürlich hatte sie recht. Aber er wäre auch direkt zur Schule gegangen, das hätte ihn nicht gestört.
Ein paar Minuten später trafen sie vor seinem Haus ein. Linus schaute Jonna in die Augen und sein Puls beschleunigte sich ins Unerträgliche. Er befürchtete schon, dass sie das Pulsieren seiner Halsschlagader bemerken würde. Es fühlte sich nämlich so an, als würde diese demnächst explodieren.
Jetzt stand er hier vor ihr und wusste nicht, was sie von ihm erwartete, was die Welt von ihm erwarte. Sollte er sich zu ihr vorbeugen? Aber was, wenn sie das nicht wollte? Was, wenn sie ihm eine klebte? Was, wenn…? Weiter kam er nicht. Jonna beugte sich nach vorne und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Linus wusste nicht, wie ihm geschah. Er hatte keine Ahnung, wie lange der Kuss gedauert hatte. Eine Sekunde? Vielleicht drei? Oder eher zehn Minuten?
Jonna drehte sich um und huschte davon.
«Jonna, warte!», rief Linus ihr nach.
Sie blieb stehen und schaute ihn lächelnd an.
«Ich … ich wollte dich etwas fragen», stammelte er.
«Ja?»
Linus presste die Lippen zusammen, bevor er weitersprach. «Ich habe das Gefühl, dass dich etwas bedrückt.»
Zuerst legte Jonna die Stirn in Falten, doch sie glättete sich gleich wieder und dann legte sie ihre Hand auf seinen Arm. «Es ist alles in Ordnung, Linus. Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut.»
Diesen Worten folgten ein Lächeln und ein weiterer Kuss auf die Lippen. Danach verschwand sie im Zwielicht der Spätsommernacht.
Weihnachten und Neujahr waren vorbei. Seit dem Kuss vor Linus’ Haus waren einige Wochen ins Land gezogen und Linus war glücklicher denn je. Jonna und er waren ein Paar geworden, was für Linus ganz neues Territorium war. Er hatte bisher nie eine Freundin gehabt und er war mit sich einig, dass es nichts Schöneres auf der Welt gab. Er wollte mit ihr jede freie Minute verbringen, und er war froh, dass Jonna genau dasselbe wollte. Besonders ihr Versteck in dem alten Haus am Berg wurde zu ihrem Lieblingsrückzugsort. Dort verbrachten sie viele Abende und Nächte, wo sie einander ihre Wünsche und Träume erzählten.
Allerdings bemerkte Linus in jener Zeit immer wieder, wie sehr Jonna unter dem Mangel an elterlicher Fürsorge litt. Ihr Vater arbeitete fast Tag und Nacht, und obwohl ihre Mutter aus finanzieller Sicht nicht an fünf Tagen die Woche hätte arbeiten müssen, liess sie sich das nicht nehmen. Jonna verbrachte dadurch sehr viel Zeit im Hause von Linus.
Eines Abends belauschte Linus ein Gespräch zwischen seinem Vater und seiner Mutter. Sie sprachen darüber, wie leid ihnen Jonna tat, und dass sie sie inzwischen fast wie ihre eigene Tochter betrachteten. Sie diskutierten, ob sie Jonnas Eltern darauf ansprechen sollten, entschieden sich aber dagegen, da es ihnen nicht zu stand, sich in Jonnas Familienangelegenheiten einzumischen.
In den darauffolgenden Monaten änderte sich an der Situation nicht viel, jedenfalls bis zu dem Tag, an dem Jonnas Vater einen Schlaganfall erlitt und starb. Es kam völlig unerwartet, zuhause in der Einfahrt, war er aus seinem Auto gestiegen, umgefallen und nicht mehr zu sich gekommen. Ein Rettungshubschrauber wurde aufgeboten, aber der Arzt konnte nichts mehr für Jonnas Vater tun. Als Linus davon erfuhr, liess er alles stehen und liegen und eilte zu Jonnas Familie. Die Mutter stand wie ein Häufchen Elend in der Haustür und weinte bittere Tränen. Jonna fand er etwas abseits in der Nähe der Laube auf einer Bank. Sie umarmten sich eine halbe Ewigkeit, bis Jonna ihn fragte, ob er mit ihr Spazieren gehen würde. Linus wusste, dass jetzt eine schwere Zeit auf Jonna zukommen würde, und er versuchte ihr Mut zuzureden. Jonna sprach nicht viel, lauschte vor allem Linus’ Worte und nach einer Weile meinte sie nur, dass sie jetzt noch einsamer sei. Linus traf diese Aussage mitten ins Herz, obwohl er wusste, dass Jonna es nicht so meinte. Sie bezog es nicht auf ihn, sondern auf ihre sowieso schon schwierigen Familienverhältnisse.
Ihre Bedenken sollten sich jedoch nicht bewahrheiten, was sich ein paar Wochen später zeigte, als ihre Mutter bei der Arbeit kündigte und daraufhin fast nur noch zuhause war. Für Jonna war dies eine völlig neue Situation und Linus setzte seine Hoffnungen auf die veränderten Strukturen innerhalb Jonnas Familie. Bald aber merkte er, dass Jonna mit den plötzlichen Veränderungen nicht klarkam und ihre Mutter zwar nicht gerade ignorierte, aber ihr dennoch nicht die Möglichkeit gab, die angeschlagene Beziehung zwischen ihnen zu verbessern.
Als Linus Jonna darauf ansprach, sagte sie nur: «Ich kann jetzt nicht so tun, als wäre alles in Ordnung, als hätten wir immer diese tolle Mutter-Tochter Beziehung geführt. Es ist zu viel passiert, zu oft wurden meine Gefühle verletzt. Und ausserdem seid ihr jetzt meine Familie.»
Und Linus wusste, dass sie es tatsächlich so meinte.
In all der Zeit, die Jonna und er zusammen verbrachten, hatte er immer wieder das Gefühl, dass etwas Dunkles Jonna belastete. Er merkte es an ihren Blicken, die oft abwesend und traurig wirkten. Schon bei ihrem ersten Treffen, welches für ihn jetzt ein halbe Ewigkeit zurücklag, hatte er gespürt, dass sie nicht leichten Fusses durchs Leben ging. Er hatte sie einige Mal darauf angesprochen, aber sie versicherte ihm jedes Mal, dass alles in Ordnung sei und er sich keine Sorgen zu machen brauche. Sie sei halt manchmal etwas melancholisch, aber das habe nichts mit ihm zu tun, es sei nun mal in ihrem Wesen. Am Anfang hatte er ihr dies noch abgenommen, aber je länger je mehr, auch mit zunehmendem Alter und Reife, spürte er, dass da mehr war, als das Auge sehen konnte. Daran änderte sich auch in den darauffolgenden Jahren nichts. Einzig ihre Leben wurden nun etwas hektischer und die Schule strenger. Nach vollendeter Oberstufe bekam Linus schliesslich eine Lehrstelle als Schreiner bei Gunnars Schreinerei in Halvik. Jonna besuchte die Hochschule und ging danach an die Uni, um Medizin zu studieren. Von da an bekamen sie sich nicht mehr so oft zu Gesicht, wie in den Jahren zuvor. Jonna war die meiste Zeit an den Vorlesungen, verbrachte unendliche Stunden in der Bibliothek, und wenn sie mal nicht mit dem Studium beschäftigt war, war sie zu müde, um viel zu unternehmen. Häufig lagen sie dann nur da, sprachen über die Vergangenheit, über die Zukunft, über ihre Leben, über die Familie. Sie sprachen übers Heiraten, übers Kinder kriegen; sie malten sich aus, wie sie zuhause vor dem Kamin sassen, Jonna strickte, Linus die Zeitung las und die Kinder am Boden mit Legosteinen spielten. Bei diesem Gedanken mussten sie jedes Mal lachen. Doch so sahen sie ihre Zukunft, oder besser gesagt, so wünschten sie sich ihre Zukunft.
Als Linus die Ausbildung beendet hatte, bekam er bei Gunnar eine Festanstellung. Linus liebte den Schreinerberuf, und Schreiner brauchte es in einem Land, in dem es fast nur Holzhäuser gab, massenhaft.
Jonna war mächtig stolz auf Linus und war froh, hatte er seine Berufung gefunden. Sie hingegen hatte immer noch zwei Studienjahre vor sich, bevor sie sich überhaupt erst für einen Job umsehen konnte. Da Linus bereits gutes Geld verdiente, mieteten sie sich etwas ausserhalb Halviks eine kleine Wohnung mit Sicht auf den Fjord.
Einige Zeit, nachdem sie die Wohnung bezogen hatten, bemerkte Linus, dass sich Jonnas Wesen leicht veränderte. Sie war fröhlicher und unbeschwerter als in den Jahren zuvor. Die Trennung von ihrem Zuhause schien ihr zu helfen. Die oftmals leeren Blicke verschwanden fast gänzlich.