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Ørjan Aasens Leben hatte vor zwei Jahren über Nacht eine folgenschwere Wendung erfahren, als er bei einem Autounfall seinen Bruder verlor. Von Selbstvorwürfen geplagt entscheidet er, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen und in Tromsø ein neues Leben anzufangen. Doch die Schuldgefühle folgen ihm unerbittlich in die Stadt der Lichter und lassen ihn auch fortan nicht zur Ruhe kommen. Eines Abends begegnet Ørjan der alten Ella, einer Frau, die zurückgezogen in einem riesigen Anwesen lebt. Als sie erfährt, dass Ørjan Literatur studiert, bittet sie ihn, ihr beim Verfassen ihrer Memoiren zu helfen. Um sich von seinen düsteren Gedanken abzulenken, willigt Ørjan ein. Bald einmal taucht er in Ellas Vergangenheit ab und wird dabei Zeuge eines von Leid und Geheimnissen geprägten Lebens. Ellas Kindheitserinnerungen verfolgen sie bis heute wie ein Schatten. Ihre Familie war reich, angesehen, und vor allem eines gewesen; skrupellos. Aus Neugier beginnt Ørjan Nachforschungen anzustellen und gerät dabei an eine Geschichte, die ihn nachts nicht mehr schlafen lässt. Was hat es mit Ellas verschwundenem Geschwister auf sich? Und was spielte das städtische Waisenhaus für eine Rolle? Für Ørjan beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, denn mit Ellas Gesundheitszustand steht es nicht mehr zum Besten.
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Seitenzahl: 376
Veröffentlichungsjahr: 2020
Wo Licht und Schatten sich vereinen, im Winterkleid des Nordens. Wo die Berge erstrahlen in Bernstein, umgeben von dunkeln Fjorden. Die Wasser so still und doch geheimnisvoll, wo verborgen bleiben die Seelen der Verlorenen.
Vorwort
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Epilog
Sämtliche Charaktere in diesem Buch sind vom Autor frei erfunden. Manchen wird es seltsam vorkommen, dass sich wildfremde Menschen beim Vornamen nennen. In Norwegen ist dies aber seit ungefähr 1970 üblich. Nur der König wird mit dem Nachnamen angesprochen.
Die Geschichte spielt teilweise in der Zeit des zweiten Weltkrieges, in welcher Tromsø eine wichtige Rolle für die deutschen Truppen gespielt hatte. Diese Tatsache wurde im Buch nicht berücksichtigt. Ebenfalls wurden die gesetzlichen und sozialen Gegebenheiten in Norwegen und das Leben in Waisenhäusern frei nach der Fantasie des Autors umgesetzt.
Die erwähnten Orte jedoch sind real und in Wahrheit noch viel schöner, als Worte eines Autors sie je beschreiben könnten.
Aussprache:
Sund: Meerenge
Fjord: Meeresarm landeinwärts
Deine Geschichte hat gerade erst begonnen…
Tromsø, Norwegen, Januar 1941
Es war eine dieser Nächte im Januar, in denen man in den Gassen der Stadt keiner Menschenseele begegnete. Wenn, dann höchstens einem betrunkenen Matrosen, der den Heimweg zu seinem Schiff suchte. Die Luft war schneidend kalt, der Boden gefroren. Man hörte keinen Vogel, keinen Schiffsmotor, nicht einmal den Hauch eines Windes. Die Geisterstunde war schon vorbei, und die Menschen in den Häusern schliefen den Schlaf des Gerechten.
Bei genauerer Betrachtung jedoch wäre einem Nachtschwärmer das Kerzenlicht im Fenster eines dieser Häuser aufgefallen. Hätte man durch das Fenster hineinblicken können, so hätte man eine Frau gesehen, die an einem Schreibtisch sass und auf ein Stück Papier starrte, das vor ihr auf dem Tisch lag. Ihre Hände umklammerten verkrampft eine Spitzfeder, mit der sie den Brief verfasste. Ihre Augen funkelten im Licht der Kerze, die Lippen bebten. Nach einem tiefen Atemzug setzte sie mit einer schwungvollen Handbewegung ihren Namen unter das Ende des Textes. Dann legte sie den Brief auf einen Umschlag und stierte ihn mit wässerigen Augen an. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so Mühe bekundet, die richtigen Worte zu finden. Sie wusste nicht, wie lange sie schon hier sass, aber es musste eine Ewigkeit sein. Die Worte wollten und wollten nicht entstehen, so als würde eine unsichtbare Hand ihre Spitzfeder festhalten und sie damit vor einem fatalen Fehler bewahren.
Jetzt aber, als sie vor den Scherben ihres Lebens sass, sah sie in jedem ihrer Sätze ein Stück ihrer Seele. So, als hätte sie sie nach und nach dem Teufel höchstpersönlich verkauft.
Die Trauer, die von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte, war kaum noch zu ertragen. Gleichzeitig hatte sie aber auch Hoffnung geschöpft. Hoffnung auf ein besseres Leben – nicht für sie – sondern für ihre Tochter. Sie wollte sie retten, sie wollte sie in Sicherheit wissen. Doch die schlaflosen Nächte, in denen sie ruhelos durch das Haus gewandelt war, wie ein Geist auf der Suche nach dem Tor zur nächsten Welt, brachten nicht die erhoffte Lösung. Das Unausweichliche kam gnadenlos näher, wie ein zerstörerischer Sturm, der vor nichts und niemandem Halt machte.
Schluchzend faltete sie das bräunliche Briefpapier zusammen, steckte es in den Briefumschlag und blickte dann auf ihr Töchterchen, das in Decken gehüllt neben ihr auf dem Bett lag und sie mit bleifarbenen Kulleraugen anstarrte. Dieses Geschöpf, so hilflos und unschuldig, so makellos und unvoreingenommen, es ahnte nichts von seinem bevorstehenden Schicksal. Die Frau spürte wie ihr Herz auseinanderbrach, und sie wusste, dass sie sich von dieser Nacht nie wieder erholen würde.
Angewidert von sich selbst, wandte sie den Blick ab, streifte sich eine Jacke über und verliess mit ihrem Kind in den Armen das Haus. Im Eingang blieb sie zuerst stehen, blickte verstohlen in alle Richtungen, nur um sicher zu gehen, dass sie von niemandem beobachtet wurde. Dann lief sie in geduckter Haltung los, und ihre Gestalt verlor sich kurz darauf in den finsteren Gassen. Keiner sah, wie sie im Schatten von Haus zu Haus schlich, immer auf der Hut, nicht entdeckt zu werden. Ihr Kind hielt sie dabei so nah wie nur möglich an ihrem Körper, geschützt von Wetter und anderen Gefahren. Das kleine Mädchen schien von alledem nichts mitzukriegen. Es schlief in der Obhut seiner Mutter, ohne Vorahnung, dass die Weichen seines Lebens soeben in eine komplett andere Richtung gestellt wurden.
Vor einem grossen Gebäude in der Nähe des Hafens blieb die Frau plötzlich stehen und schaute der Fassade entlang nach oben. Ein einzelner Raum war beleuchtet, ansonsten wirkte das Haus verlassen.
Das Mädchen wimmerte kaum vernehmbar, und die Mutter befreite sein Gesicht von den schützenden Decken. Ein letztes Mal strich sie sanft über die geröteten Wangen ihres Kindes und fuhr mit dem Zeigefinger der Kontur der kleinen Nase nach. Sie berührte die weichen Öhrchen, liess ein Büschel Haare durch ihre Finger gleiten und gab ihm schliesslich einen Kuss auf die warmen Lippen. Dabei schluchzte sie laut und gleichzeitig spürte sie, dass ihre Beine nachgaben. Entkräftet liess sie sich auf ihre Knie fallen und begann zu weinen. Zuerst leise in sich hinein, dann immer lauter und heftiger, bis ihr ganzer Körper im Rhythmus der Weinkrämpfe bebte.
Das Mädchen in den Decken zuckte kurz zusammen. Die Mutter versuchte sich zu beruhigen, wollte ihrem Kind keinen Anlass zur Sorge geben. Doch ihr Körper war nur noch ein Häufchen Elend und sämtliche Kraft hatte sie verlassen.
Nur mit grosser Anstrengung schaffte sie es nach einer Weile wieder auf die Beine und vergewisserte sich, dass ihr Kind noch schlief. Dann stieg die Frau die paar Stufen zur Tür hinauf und blieb unschlüssig davor stehen. Sie kämpfte mit ihren Gefühlen, mit ihrem Körper, der nur noch nach Schlaf und Ruhe verlangte. Tausend Dinge rasten gleichzeitig durch ihren Kopf. Keinen klaren Gedanken konnte sie fassen, alles erschien wie durch eine Nebelwand.
Ein letztes Mal blickte sie auf ihre kleine Tochter, die sie nun mit grossen Knopfaugen anstarrte und ihr damit den kümmerlichen Rest ihres Herzens herausriss. Sie drückte sie sanft an sich, legte sie dann seitlich neben den Eingang und klopfte mit geballter Faust an die hölzerne Tür. Dann stürmte sie weinend in die Nacht hinaus, mehr Geist als Mensch.
Tromsø, Januar 1951
Magnus Olsson sass auf einem Stapel Zeitungen, welche er den ganzen Tag über in der Stadt zusammengesucht hatte und jetzt, als es Nacht war, auf das Gelände einer Fischverarbeitungsfabrik getragen hatte. Missmutig blickte er in das vor ihm lodernde Feuer. Er fror wie schon lange nicht mehr und versuchte an der Feuerschale seine inzwischen fast tauben Hände wieder aufzutauen. Die Füsse fühlten sich an wie zwei gefrorene Eisblöcke. Er hoffte, dass er mit gezielten Bewegungen diese wieder warm kriegen würde. Doch seine Schuhe hatten schon zu viele Winter gesehen und vermochten die Füsse nicht mehr warmzuhalten. Die Mütze, die er von einer Wäscheleine hatte mitgehen lassen, war leider eine Nummer zu klein und bedeckte seine Ohren nur halb. Magnus verfluchte die kalten Nächte. Vor allem dann, wenn er keinen warmen Unterschlupf finden konnte. Heute wollte er, wie üblich, im Geräteschuppen der alten Fabrik schlafen. Doch irgendein Idiot hatte die Tür verriegelt. So blieb ihm nichts anderes übrig, als draussen Feuer zu machen und zu hoffen, dass die Nacht schnell vorüberginge. Doch die Nächte dauerten momentan verdammt lange.
Gelangweilt schaute er in den Sund hinaus und dachte an seine vielen Jahre auf der Strasse. Wie er Tag für Tag ums Überleben kämpft und nie weiss, was ihn bei Tagesanbruch erwarten wird. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er zum letzten Mal in einem richtigen Bett geschlafen hat. Das musste noch mit seiner verstorbenen Frau gewesen sein. Wie lange war das jetzt her? Dreissig Jahre? Vielleicht fünfunddreissig? Er wusste es nicht. Zu sehr hatte er sich an das raue Leben auf der Strasse gewöhnt und sämtliche Annehmlichkeiten des normalen Lebens vergessen. Aber vielleicht war das auch besser so.
Auf einmal durchbrachen hohe, markerschütternde Schreie die Stille des Fabrikgeländes und Magnus schreckte aus seinen Gedanken hoch. Sein Blick wanderte über den spärlich beleuchteten Fabrikplatz.
Die Schreie klangen wie die von Kindern.
Aber das war doch nicht möglich um diese Nachtzeit!
Verwundert strengte er seine müden Augen an und suchte die Gegend nach dem Ursprung der Nachtruhestörung ab. Und dann tauchte wie aus dem Nichts ein Mädchen auf. Es rannte, nur im Pyjama gekleidet wie ihm schien, über den Vorplatz, und blickte dabei immer wieder über seine Schulter zurück in die Richtung, aus der es gekommen war. Magnus konnte zwar sein Gesicht nicht erkennen, dazu war es zu weit weg, aber an der Art wie es rannte, musste es auf der Flucht sein.
Am Rande der Quaimauer blieb das Mädchen schliesslich stehen und blickte aufs Wasser hinaus. In den Händen hielt es einen länglichen Gegenstand. Magnus konnte aber nicht erkennen, was es war.
Was suchte ein Mädchen im Pyjama um ein Uhr nachts hier am Sund, fragte er sich.
Er wollte gerade aufstehen, als ein zweites Mädchen, ebenfalls nur im Pyjama gekleidet, angestürmt kam. Er rieb sich die Augen und schaute auf die Flasche billigen Fusels in seiner Hand. Als er wieder aufblickte, sah er, dass das zweite Mädchen auf das erste losging. Sie fielen lang hin, schlugen wie Wahnsinnige aufeinander ein und schrien aus vollen Kehlen. Magnus schaute dem bizarren Schauspiel wie gelähmt zu. Er musste etwas unternehmen. Aber seine steifen Muskeln gehorchten ihm kaum noch. Schliesslich schaffte er es doch noch aufzustehen und ging, so schnell es sein alter Körper noch zuliess, auf die beiden Streithähne zu. Als er ungefähr die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatte, bemerkte er, dass eines der Mädchen den länglichen Gegenstand aufhob und dem anderen Mädchen damit mit voller Wucht auf den Kopf schlug. Dieses sackte zusammen und fiel über die Quaimauer in den Sund.
Magnus traute seinen Augen nicht. «Verdammt!», schrie er und begann zu rennen.
Das unversehrte Mädchen sah erschrocken in seine Richtung. Einen Moment blieb es unentschlossen stehen, dann rannte es in gebückter Haltung in die Nacht davon.
«Hey verflucht, warte, du kannst doch nicht einfach abhauen!»
Magnus wusste im ersten Moment nicht, ob er dem Mädchen nachlaufen, oder dem anderen aus dem Wasser helfen sollte. Er entschied sich fürs Zweite. Mit zittrigen Beinen kniete er sich hin und starrte über die Mauer in die Dunkelheit des Sundwassers. Doch alles, was er sehen konnte, waren Wellen, die wie Öl gegen die Mauer schwappten. Panisch blickte er über das Wasser, versuchte angestrengt die Finsternis zu durchdringen, doch im Unterbewusstsein war ihm klar, dass das Wasser das Mädchen verschluckt hatte und nicht mehr freigeben würde.
«Verdammt!» Eine Weile noch blieb er kniend an der Mauer zurück in der Hoffnung, dass er das Mädchen doch noch entdeckte. Fünf Minuten verstrichen, dann hievte er sich auf die müden Beine, schlang die Arme um seinen Körper und kehrte zu seinem Nachtlager und seinem wärmenden Fusel zurück.
Tromsø, Dezember 2014
Ørjan Aasen klappte erleichtert sein Notebook zu, verstaute einige Papiere in seinem Rucksack und verliess den vollgepackten Lesesaal der Universität. Die Vorlesung bei Professor Stevensen über Sprachgeschichte war einmal mehr eine Tortur gewesen. Seine monotone Stimme wirkte auf die Studenten wie Schlafmittel. Nicht selten döste der eine oder andere ein, oder kämpfte eine fast aussichtslose Schlacht gegen sein Schlafbedürfnis. Gerade jetzt zu dieser Jahreszeit, in der die Polarnacht für fast zwanzig Stunden Dunkelheit sorgte, waren solche Lektionen das Letzte, was man noch brauchen konnte.
Benommen trat Ørjan aus dem Universitätsgebäude und atmete die wiederbelebende, kühle Luft ein. Schneefall hatte eingesetzt und ein bissiger Wind wehte durch die Strassenschluchten. Die Passanten hatten ihre Jackenkragen bis unter die Nase hochgezogen und trotzten dem Wetter. Er strich sich eine blonde Haarsträhne aus den Augen, setzte seine Wollmütze auf und verstaute seine etwas längeren Haare unter der warmen Kopfbedeckung. Er wollte gerade losgehen, als ihn jemand im Vorbeigehen am Arm streifte. Es war eine Mitstudentin, die er aus dem Vorlesesaal kannte.
Sie drehte sich kurz um und lächelte ihn verschmitzt an. «Tschüss Ørjan, bis morgen!», sagte sie und verschwand um die nächste Häuserecke.
Ørjan blickte ihr erstaunt hinterher. Er hatte keine Ahnung wie sie hiess. Woher sie seinen Namen kannte, war ihm ein Rätsel. Ein wohliges Gefühl durchflutete ihn, doch er verdrängte es gleich wieder.
Als hätte er im Geiste einen Hinweis erhalten, fiel ihm Svenja ein. Er musste sie dringend anrufen und die Verabredung von heute Abend absagen. Er musste unerwarteterweise arbeiten. Er wünschte sich, dass er den Anruf bereits hinter sich hätte. Er konnte bereits Svenjas verärgerte Stimme hören, und er selbst würde nur kleinlaut am anderen Ende sitzen und nach Erklärungen suchen, die sowieso nie auf Svenjas Verständnis stiessen.
Seufzend schlug er den Kragen seiner Jacke höher und marschierte in Richtung Innenstadt davon. Die kühle Aussenluft nahm ihm die Benommenheit und er atmete erneut tief ein. Es war vier Uhr nachmittags, und er hatte einen Bärenhunger. Seit acht Uhr früh hatte er nichts mehr gegessen, und sein Magen hatte schon in den Vorlesungen lautstark protestiert.
Sollte er in der Stadt noch etwas zu sich nehmen oder lieber zuhause den Kühlschrank plündern? Falls da überhaupt noch etwas Essbares zu finden war.
Allzu viel Zeit hatte er nicht mehr, denn um 18 Uhr musste er seinen Nebenjob als Bedienung beim Italiener antreten.
Vor einem kleinen Café am Hafen blieb er stehen und schaute durch das Fenster in den erleuchteten Innenraum. Hinter einer Vitrine sah er mehrere, lecker aussehende Sandwiches. Eigentlich musste er auf sein Budget achtgeben, doch bei dem Gedanken, zuhause noch an den Herd stehen zu müssen, fiel ihm die Entscheidung nicht schwer. Er betrat das Café und musste als erstes die Jacke öffnen. Der Temperaturunterschied trieb ihm den Schweiss auf die Stirn. Es befanden sich viele Gäste im Café und dementsprechend war es laut. Eine Gruppe Touristen mit umgehängten Fotoapparaten sass in einer Ecke und lauschte einer Frau, die den nächsten Punkt auf dem Tagesprogramm erklärte.
Ørjan hatte keine Lust in diesem Lärm das Abendessen einzunehmen. Er bevorzugte eine ruhige Ecke, irgendwo draussen. Ein paar Minuten später trat er mit einem Sandwich in den Händen auf die Strasse und setzte sich auf eine Bank am Wasser. Nachdem er einen Bissen gegessen hatte, schaute er zwei Booten zu, die sich mit geschickten Manövern von der Anlegestelle lösten und den Hafen in unbekannter Richtung verliessen. Inzwischen hatte es aufgehört zu schneien und er beobachtete die Möwen, wie sie laut kreischend ihre Bahnen über den Booten zogen.
Er dachte an den bevorstehenden Abend, und dass er lieber Zuhause geblieben wäre, um einen Film zu schauen oder ein Buch zu lesen. Vielleicht hätte er aber auch nur stundenlang an die Decke gestarrt und über sein Leben philosophiert. Ob das die bessere Wahl wäre, bezweifelte er. Die hektische Arbeit im Restaurant würde ihn wenigstens von seinen düsteren Gedanken ablenken.
Jemand setzte sich neben ihn und fast zeitgleich erfasste ihn ein unausstehlicher Gestank. Ørjan schaute von seinem Essen auf und begutachtete seinen Banknachbar. Es war ein Obdachloser. Zu seinen Füssen hatte er zwei gefüllte Einkaufstüten, wohl sein ganzes Hab und Gut. Er schnaufte wie eine Lokomotive und aus seiner Nase floss Rotz. Auf dem Kopf trug er eine Mütze, die mehr Löcher als Wolle aufwies. Die Jacke war zwar dick, aber völlig verdreckt und vergilbt. Er trug einen Bart und die Haut sah aus wie eine hundertjährige Lederjacke.
Der Obdachlose hatte wohl Ørjans Blick bemerkt und wandte sich zu ihm um. Ørjan erschrak und nickte ihm kurz zu.
«Na, schmeckt das Sandwich?», fragte der Landstreicher mit krächzender Stimme.
«Ganz gut», antwortete Ørjan.
Der Mann beugte sich zu Ørjan herüber und mit ihm erreichte ihn ein erneuter Schwall ranzig riechender Luft.
«Was ist denn zwischen den Brotscheiben eingeklemmt?», wollte er wissen.
«Thon, Zwiebeln, Tomaten und Salat.»
Der Mann leckte sich die Lippen ab und stierte auf Ørjans Sandwich. Ørjan war sich sicher, dass der Mann wohl seit Stunden, wenn nicht Tagen, nichts mehr Richtiges gegessen hatte. Eigentlich hatte er seinen Hunger noch nicht gestillt, aber der Mann tat ihm leid. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, bei dieser Kälte auf der Strasse zu leben.
Ørjan blickte zu dem Mann hinüber. Dieser starrte immer noch auf sein Abendessen.
«Willst du den Rest haben?», fragte Ørjan ihn.
Der Mann blickte auf und in seinen Augen funkelte Freude. Er verzog den Mund zu einem Lachen und streckte die Hände nach der Mahlzeit aus. Ørjan überreichte ihm das Sandwich, zog danach die Mütze aus und schenkte auch diese dem Mann. Dessen Lächeln wurde noch intensiver und er griff nach dieser Gabe des Himmels.
«Vielen Dank, mein Junge», sagte der Obdachlose, schmiss seine alte Mütze in eine seiner Tüten, setzte die Neue auf und biss genüsslich in sein soeben gewonnenes Abendessen.
Ørjan spürte, wie die Kälte allmählich durch seine Kleider drang. Er erhob sich, wünschte dem Mann alles Gute und lief mit steifen Gliedern zur Bushaltestelle.
Wenig später trat er durch die Kellertür eines Einfamilienhauses an der Südspitze der Insel. Nur durch Zufall und Glück hatte er diese Einzimmerwohnung gefunden. Vor zwei Jahren, als er von Trondheim nach Tromsø gezogen war um Literatur zu studieren und der Vergangenheit zu entfliehen, hatte er seinem jetzigen Vermieter im Restaurant eine Pizza serviert und dabei waren sie ins Gespräch gekommen. Er hatte dem Gast erzählt, dass er es satt hätte, in seiner lauten Wohngemeinschaft zu leben. Aber als Student könne er sich nicht viel mehr leisten. Der Gast hatte ihm damals das Angebot gemacht, für den gleichen Preis in die Einzimmerwohnung im Keller seines Hauses umzuziehen. Die stünde seit Jahren leer und er würde sich über einen Mieter freuen. Entzückt von der Grosszügigkeit dieses Fremden hatte er sofort zugesagt, auch wenn er die Wohnung noch gar nicht gesehen hatte. Eine Verbesserung zu seiner aktuellen Wohnsituation war es alleweil. Und so landete er schliesslich in diesem schmucken Einfamilienhaus in der Nähe des Wassers.
Damals war er einundzwanzig Jahre alt gewesen und stand am Anfang einer für ihn neuen Reise. Er wollte sein Leben neu beginnen, auch wenn das in diesem Alter schon fast traurig war. Ein Tapetenwechsel war aber dringend notwendig. Zuhause in Trondheim war ihm die Decke auf den Kopf gefallen. Er wollte vergessen, sich Neuem widmen. Er wollte seinem Leben wieder einen Sinn geben. Seit dem Vorfall vor zweieinhalb Jahren war nichts mehr so, wie es einmal war. Selbst wenn er sich bemüht hätte in sein altes Leben zurückzukehren, es war, als stünde er vor einer geschlossenen Tür und der Schlüssel läge meilenweit weg. Die Bilder aus jener kalten Februarnacht wollten und wollten nicht aus seiner Erinnerung verschwinden.
Wieder versetzten ihn seine Gedanken in die Vergangenheit, wieder sah er den gerade erlangten Führerschein in seiner Hand, und wieder hörte er sich, wie er seinen Bruder überredete, mit ihm zusammen den Erfolg in der Stadt feiern zu gehen. Er sah die vielen Gläser Bier, die sein Bruder hinter die Binde kippte, und wie er mit jedem Glas betrunkener wurde. Nach einer Weile wurde es aber zu bunt mit Hendrik und sie machten sich auf den Nachhauseweg. Hendrik sass auf dem Beifahrersitz und alberte munter weiter. Ørjan musste sich derweil wegen der eisigen Strasse mächtig konzentrieren und ermahnte seinen Bruder schon zum fünften Mal, ihn in Ruhe fahren zu lassen.
Vergeblich.
In einer Linkskurve geriet ihr Wagen ins Schleudern und beförderte die beiden Brüder mit voller Wucht in einen Kandelaber. Hendrik war auf der Stelle tot. Beide mussten von der Feuerwehr aus dem Wrack geborgen werden. Ørjan war nur leicht verletzt und konnte das Spital bereits einen Tag später wieder verlassen.
Sein Bruder Hendrik wurde eine Woche später, an einem trüben Freitagnachmittag, auf dem Friedhof gleich am Fjord, beerdigt.
Von da an hatte Ørjan stets das Gefühl, dass sein Leben in einer Negativspirale gefangen sei. Die Beziehung zu seinen Eltern war schon vor dem Unfall kompliziert und schwierig gewesen. Und genau so war es auch für Hendrik gewesen. Das Leben ihrer Eltern bestand aus einer Aneinanderreihung von Gesellschaftsabenden, Barbesuchen, Wochenendaufenthalten auf dem Lande und Geschäftsanlässen. Ihr Vater war Vorsitzender einer Textilfirma und ihre Mutter arbeitete als Chirurgin im Trondheimer Spital. Für ihre eigenen Kinder blieb da nicht viel Zeit übrig. Oft waren sie auf sich allein gestellt, was sich vor allem bei Hendrik auf die Schulnoten auswirkte. Sowieso hatte Hendrik mit der familiären Situation mehr zu kämpfen als Ørjan. Ørjan wusste, dass Hendrik die Zuneigung der Eltern fehlte und er dadurch mit Streichen und aufmüpfigem Verhalten in der Schule Aufmerksamkeit erzwingen wollte. Doch durch all seine Mätzchen erreichte er nicht die gewünschte Wirkung. Zwischen Hendrik und Ørjan entstand jedoch durch das Fehlen elterlicher Zuneigung eine tiefe Bindung, um die sie viele beneideten. Von klein auf waren sie immer zusammen, egal wo und was sie spielten, Hauptsache, sie konnten es gemeinsam tun. Jede freie Minute verbrachten sie in der Natur, sei es auf einem Boot im Fjord, beim Langlauf oder beim Fischen. Wenn Hendrik krank war, sass nicht seine Mutter am Bett und sorgte für ihn. Es war Ørjan. Und umgekehrt war es genauso. Die Brüder hatten von Anfang an gelernt, was es heisst, selbständig durchs Leben zu gehen. Ørjan erinnerte sich an einen Vorfall, als sie neun und zehn Jahre alt waren. Es war Winter, und sie gingen zum Fluss in der Nähe ihres Hauses, um zu fischen. Das Ufer war schneebedeckt und somit rutschig wie Schmierseife. Hendrik hatte einen Moment nicht aufgepasst, rutschte aus und fiel in die Fluten. Die Kleider hatten sich augenblicklich mit Wasser vollgesogen und er konnte sich kaum mehr über Wasser halten. Ørjan hatte nicht lange gezögert. Er riss sich die Kleider vom Leib und sprang in das eisige Wasser. Nur mit allerletzter Kraft schaffte er es, seinen Bruder an Land zurückzuziehen. Klatschnass eilten sie nach Hause. Von den Eltern weit und breit keine Spur. Arm in Arm wärmten sie sich vor dem Kaminfeuer auf und beiden war bewusst, dass Ørjan soeben seinem Bruder das Leben gerettet hatte.
Nach diesem Ereignis hatten sie sich geschworen, auf ewig füreinander da zu sein, egal was kommen möge.
Und so blieb es auch, bis an jenem verhängnisvollen Abend, als Hendrik aus Ørjans Leben gerissen wurde. Für Ørjan war eine Welt zusammengebrochen. Das tiefgreifende Band zwischen Hendrik und ihm war für immer durchtrennt, und er allein war schuld daran. Für seine Eltern war der Verlust des einen Sohnes ein schwerer Schlag gewesen. Wahrscheinlich wurde ihnen genau da klar, dass sie vieles falsch gemacht hatten. Aber anstatt Ørjan zu trösten und ihm die Schuldgefühle zu nehmen, warfen sie ihm vor, zu schnell und zu wenig vorsichtig gefahren zu sein. Wie sich später durch die Polizeiermittlungen herausstellte, war dies jedoch nicht der Fall gewesen. Auch war kein Alkohol im Spiel. Dennoch half diese Tatsache Ørjan nicht, über den Verlust und die eigene Schuldzuweisung hinwegzukommen.
Auch die Eltern veränderten sich nach diesem Vorfall. Sie stritten sich oft, und immer häufiger blieb der eine oder andere Elternteil über Nacht weg. Nach fünf Monaten gaben sie schliesslich die Scheidung bekannt. Ørjan zog zu seinem Vater. Doch die Beziehung zu ihm wurde nicht besser, auch die zur Mutter nicht. Alle drei gingen ihre eigenen Wege und der Kontakt reduzierte sich auf ein Minimum. Nach zwei Jahren entschied Ørjan, das Elternhaus zu verlassen, um weiter nördlich ein neues Leben anzufangen. So landete er in Tromsø. Sein Vater hatte ihn gewarnt, dass so ein Umzug nicht einfach sei und er nicht darauf zählen könne, dass er ihm jeden Geldschein hinterherschicke. Doch Ørjan war dies egal. Er hatte sowieso keine Lust, sein Leben von seinen Eltern abhängig zu machen. Er hatte eine eigene Wohnung, schrieb meistens gute Noten im Studium und hatte sich bei einem italienischen Restaurant einen Nebenjob ergattert. Mit dieser Arbeit konnte er sich über Wasser halten, auch wenn er mit dem Lohn nicht allzu grosse Sprünge machen konnte.
Die neue Umgebung jedoch hatte ihm geholfen, die Erinnerungen an seinen Bruder weniger oft aufblitzen zu lassen. Hier traf er auf seinen Spaziergängen nicht ständig auf Kindheitserinnerungen, konnte an anderen Flüssen fischen und auf anderen Wassern Bootsausflüge unternehmen. Die Berge hatten eine andere Farbe und der Horizont andere Wolken. Dennoch, vergessen konnte er Hendrik selbstverständlich nicht. Es verging kein Tag, an dem er nicht sein Gesicht mit der klaffenden Wunde an der Stirn sah, das viele Blut und die weit aufgerissenen, zu weissen Murmeln mutierten Augen. Diese Bilder konnte auch eine andere Stadt nicht aus den Gedanken verbannen.
Die Monate nach dem Unfall verbrachte er ohne eine einzige Autofahrt. Es war für ihn unmöglich gewesen, sich wieder hinters Lenkrad zu setzen. Erst gegen Ende desselben Jahres schaffte er es, unter Schweissausbrüchen, auf der Fahrerseite einzusteigen, den Zündschlüssel zu drehen und loszufahren. Es hatte ihn unglaublich viel Kraft gekostet und nach wenigen Metern schon hatte er fast wieder rechts ranfahren müssen. Er sah die Strasse nur noch durch einen Tränenfilm und seine Beine zitterten, als hätten sie gerade einen Berglauf hinter sich. Mit der Zeit gewöhnte er sich jedoch wieder ans Fahren und schöpfte Vertrauen. Doch es verging keine Fahrt, bei der er nicht zuerst tief durchatmen und sich auf die bevorstehende Reise konzentrieren musste. Immer wieder beschwor er die Bilder jener Nacht herauf, auch wenn er sich vorgängig noch so vornahm, dass er dieses Mal einfach den Wagen starte und losfahre. Wenn er dann aus seiner Lethargie erwachte, fühlte er sich müde und fast zu schwach, um noch zu fahren. Svenja hatte glücklicherweise Verständnis für seine psychische Blockade und übernahm den Part des Fahrers, wenn sie denn zusammen unterwegs waren.
Nachdem Ørjan geduscht, sich umgezogen und ein sehr unangenehmes Telefongespräch mit Svenja geführt hatte, bemerkte er, dass er soeben den Bus verpasst hatte. Wenn er auf den nächsten wartete, würde er zu spät zur Arbeit erscheinen. Genervt verliess er seine Wohnung, stieg in sein Auto und durchlebte dasselbe Ritual wie schon etliche Male zuvor. Nach endlos langen drei Minuten schaffte er es dann doch noch, den Wagen in Bewegung zu setzen. Um sich abzulenken, schweifte er in Gedanken zum Telefongespräch mit Svenja. Einmal mehr hatte sie wenig Verständnis für seinen Nebenjob gezeigt.
Sie hätte sich aufs Abendessen mit ihm gefreut und würde nun schon zum wiederholten Male von ihm versetzt.
So leid ihm das auch tat, aber was hätte er tun sollen? Er war auf den Job angewiesen. Svenja hat gut reden. Ihr Vater war wohlhabend, und sie bekam von ihren Eltern alles, was sie wollte. Er seufzte laut. In letzter Zeit war es irgendwie zu anstrengend geworden. Ihm war bewusst, dass er sie vernachlässigte, aber er konnte an seiner momentanen Situation nicht viel ändern. Hinzu kam, dass Svenja immer wieder das Thema Kinder aufs Tapet brachte. Sie waren zwar noch jung, doch Svenja hatte ihm schon bald einmal klar gemacht, dass sie schon immer davon geträumt hätte, vor dem fünfundzwanzigsten Altersjahr Mutter zu werden. Ørjan hatte diesen Wunsch am Anfang der Beziehung zwar wahrgenommen, jedoch mit der Blindheit eines Verliebten vernachlässigt. Er selbst wollte nie viel über Kinder nachdenken. Erstens war er noch jung und zweitens gab es einen gewichtigeren Grund: Seit dem Tod seines Bruders und der Scheidung seiner Eltern, hatte er sich nicht mehr vorstellen können, ein Kind in die Welt zu setzen. Besass er überhaupt die Fähigkeit, einem Kind die Liebe zu geben, die es verdient? Er hatte diese Liebe von seinen Eltern nie erfahren. Wie sollte er also wissen, wie so was geht? Womöglich wiederholte er genau die Fehler, die auch seine Eltern schon gemacht hatten. Das wollte er keinem Kind antun. Er war schlichtweg noch nicht in der Lage, über seine Zukunft betreffend Kinder eine Entscheidung zu treffen. Dies wusste auch Svenja. Ihre Treffen endeten deswegen oft im Streit und auch mit seinen Gefühlen ihr gegenüber war er sich nicht mehr so sicher, wie noch am Anfang ihrer Beziehung. Dabei hatte doch alles so großartig angefangen. Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung an einer Informationsveranstaltung der Universität, als sie beide kurz vor dem Studium standen. Er hatte damals den Raum, wo der Vortrag hätte stattfinden sollen, nicht finden können. So erkundigte er sich bei einer anderen Person, die ebenfalls unbeholfen in den Gängen der Universität herumirrte, nach dem Weg. Auch sie hatte keine Ahnung und so begaben sie sich gemeinsam auf die Suche. Dabei waren sie ins Gespräch gekommen und sassen anschliessend den ganzen Anlass über nebeneinander. Nach der Veranstaltung gingen sie zusammen auf ein Kaffee und führten ein interessantes Gespräch. Ørjan gefiel die Art, wie sie sprach. So voller Interesse und Tatendrang, so voller Pläne für die Zukunft. Er liebte es ihr zuzuhören, wenn sie von ihrer Familie erzählte, so ganz anders als er es erlebt hatte. Und mit den Wochen, in denen sie sich regelmässig getroffen hatten, entstand eine Liebe, die er in seinem bisherigen Leben so sehr vermisst hatte. Zum ersten Mal seit zwei Jahren hatte er andere Gedanken und Bilder im Kopf. Bilder, die das blutige Antlitz seines Bruders in den Hintergrund drängten. Und er war dankbar dafür. Dennoch war er sich zu Beginn nicht sicher, ob er sich auf dieses Abenteuer wirklich einlassen sollte. Svenja hatte bald einmal bemerkt, dass er eher schweigsam war und lieber ihr zuhörte, als selbst zu sprechen. Als sie ihn darauf angesprochen hatte, erzählte er ihr schliesslich von Hendrik. Svenja hatte sich von Anfang an verständnisvoll gezeigt und gewährte ihm den Abstand, den er benötigte. Die Gespräche mit ihr hatten ihm jedoch geholfen, mit dem Erlebten besser umzugehen. Manchmal fühlte er sogar eine Hoffnung aufkeimen, Hoffnung auf Heilung der Wunden. Dennoch, die tiefverwurzelten Schuldgefühle verschwanden auch dadurch nicht.
Nun waren zwei Jahre vergangen und ihre Zukunftspläne hatten sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Svenja dachte an Familie, Ørjan nicht mal ans nächste Jahr. Zwei Menschen, die langsam auseinanderdrifteten, wie Eisschollen im nördlichen Eismeer.
Am frühen Abend fand sich Ørjan im Restaurant ein. Kaum war er durch die Tür getreten, kam sein Chef auf ihn zu und erklärte ihm, dass einer der Fahrer für Heimlieferungen ausgefallen sei und er dafür einspringen müsse. Ørjan schaute ihn mit ungläubigen Augen an. Eine Gluthitze durchflutete ihn und gleichzeitig brach kalter Schweiss aus seinen Poren heraus. Sein Chef, der wie ein aufgeschrecktes Huhn hin und her eilte, bemerkte von Ørjans Gefühlsregungen nichts und drückte ihm stattdessen ein Blatt Papier mit den Adressen für die ersten Aufträge in die Hand. Ørjan starrte auf den fettverschmierten Zettel und war ausserstande, sich umzudrehen, um zu seinem Wagen zu gehen.
Sein Chef kam plötzlich wieder herangeeilt und schaute ihn fragend an. «Auf was wartest du noch? Fehlt die Adresse?» Er blickte auf den Zettel in Ørjans Hand. «Steht doch alles drauf. Na los, nimm die Behälter und ab geht’s.» Er hielt ihm zwei Transportboxen vor die Nase und schubste ihn in Richtung Tür. Ørjan, wie in Trance, stolperte über die Türschwelle und stand dann etwas ratlos vor seinem Wagen.
Passierte dies wirklich gerade?
Musste er nun den ganzen Abend durch die Stadt fahren, von einer Adresse zur anderen?
Er blickte zur Tür zurück. Doch sein Chef war bereits wieder im Trubel der Küche verschwunden. Kopfschüttelnd öffnete er die Fahrertür, legte die Plastikbehälter auf den Beifahrersitz und setzte sich hinters Lenkrad. Mit einigen tiefen Atemzügen versuchte er sich zu beruhigen und startete den Motor. Es hatte zu schneien begonnen und er fuhr mit angespannten Muskeln zu der auf dem ersten Zettel vermerkten Adresse. Diese befand sich in der Nähe der Tromsøbrücke. Als er das Fischgericht abgeliefert hatte, überquerte er die Brücke und fuhr mit offenen Fenstern in die Gegend bei der Storsteinen Talstation. Die Häuser in diesem Stadtteil unterschieden sich in Grösse und Prunk wesentlich von den anderen in der Stadt. Man konnte auf den ersten Blick sehen, dass hier die finanziell besser Gestellten residierten. Die Adresse auf dem Papier lautete Fløyvegen 40. Er fand die Strasse in der Nähe der Gondelstation und fuhr im Schritttempo den Häusern vorbei, um die Nummer 40 nicht zu verpassen. Als er schon fast das Ende der Strasse erreicht und nur noch Wald vor sich hatte, entdeckte er zu seiner Linken ein riesiges Haus, an dessen Fassade er die gesuchte Hausnummer bemerkte. Er stoppte seinen Wagen, krallte sich den Behälter und begab sich zur Eingangstür. Dort fand er einen Zettel mit den Worten: Am beleuchteten Fenster hinter dem Haus klopfen vor.
Sehr merkwürdig, dachte er.
Stirnrunzelnd folgte er der Hausfassade, bis er auf der Rückseite, wie auf dem Zettel vorausgesagt, ein einziges, beleuchtetes Fenster vorfand. Er blickte hindurch. Aufgrund der arktischen Temperaturen hatten sich am Glas Eisblumen gebildet und er konnte zuerst nicht viel erkennen. Also ging er mit dem Gesicht etwas näher ans Fenster und erschrak jäh, als ihm plötzlich eine alte Frau mit weit aufgerissenen Augen entgegenstarrte. Ørjan wich zurück und hätte beinahe das Essen fallen gelassen. Zuerst bewegte sich keiner der beiden. Dann begann die Dame plötzlich am Fensterknauf zu fummeln. Ørjan, der sich inzwischen vom Schreck erholte hatte, musterte die sonderbare Erscheinung der Frau. Sie hatte langes, wallendes Haar, das ihr bis weit unter die Schultern fiel. Es war so weiss wie der Schnee und wirkte fast wie ein Hochzeitsschleier, so dicht war es. Hätte sie jetzt noch ein weisses Nachthemd getragen, hätte sie perfekt in einen Geisterfilm gepasst. Ihr Gesicht war eine Landkarte aus Falten, und ihr Teint war so blass wie der einer Porzellanpuppe. Obwohl ihre Haut von einem hohen Alter zeugte, wirkten die Augen jung und lebendig. Sie trug sandfarbene Hosen, dazu eine braune Seidenbluse und darüber eine Perlenkette. Eine Brille baumelte an einer Kette um den Hals. Ørjan fand es äusserst seltsam, dass eine Dame in ihrem Alter beim Italiener Essen bestellte.
Nachdem sie das Fenster geöffnet hatte, schaute sie ihn freundlich lächelnd an. Wärme drang nach aussen und mit ihr ein Duft, der nach Parfüm und Medizinsalbe zugleich roch.
«Guten Abend», sagte sie mit heiserer Stimme.
Ørjan erwiderte den Gruss und überreichte ihr die bestellte Ware. Die Dame nahm den Behälter entgegen und verschwand damit in einem Nebenzimmer. Ein paar Sekunden später tauchte sie, mit einem Geldbeutel in der Hand, wieder auf. Sie kramte darin herum und überreichte Ørjan 400 Kronen. «Stimmt so», sagte sie lächelnd.
Ørjan bedankte sich für das grosszügige Trinkgeld und wünschte der Dame einen schönen Abend. Als er sich gerade umdrehen wollte, trat die Frau einen Schritt näher ans Fenster und fasste ihn am Arm. «Nein warte, geh noch nicht.»
Ørjan blieb verwundert stehen.
Die Frau lächelte ihn etwas gequält an und meinte: «Ich wollte dich etwas fragen.» Sie liess seinen Arm los und verschränkte die Ihrigen vor ihrer Brust. «Lieferst du schon lange Mahlzeiten aus?»
Ørjan schaute sie verwirrt an. Warum interessierte das die Dame? «Eigentlich arbeite ich in dem Restaurant als Bedienung. Heute bin ich nur der Ersatzfahrer.»
«Und die Arbeit gefällt dir?», wollte sie wissen.
Ørjan zögerte mit der Antwort. Sie schien ziemlich neugierig zu sein. «Naja, ich könnte mir Schöneres vorstellen. Aber es hält mich während dem Studium über Wasser.»
«Was studierst du denn?»
«Literatur.»
Die alte Frau hob die Augenbrauen und auf ihrer Stirn bildeten sich noch mehr Falten. Es schien, als suchte sie nach Worten. Nachdenklich blickte sie an Ørjan vorbei und meinte dann: «Hättest du die Güte, kurz zu mir ins Haus zu kommen?» Es klang mehr nach einer Aufforderung als nach einer Bitte.
Ørjan warf einen Blick auf seine Uhr. «Eigentlich muss ich zurück an die Arbeit. Mein Chef wartet auf mich.»
«Es dauert auch bestimmt nicht lange. Ich verspreche es dir», beharrte sie.
Die Art und Weise wie sie das sagte, erweckte bei Ørjan Mitleid. Irgendwie tat ihm die Frau auf einmal leid. Bestimmt hatte sie nicht viele Menschen, mit denen sie sich unterhalten konnte. «Na schön, wo ist die Tür?», fragte er schliesslich.
«Nicht durch die Tür, komm durchs Fenster.»
Ørjan schaute sie verwundert an. «Durch dieses Fenster?»
«Ja», antwortete die Frau, so als wäre es das Normalste auf der Welt.
Irritiert stieg Ørjan ins Haus ein, und die Frau streckte ihm die Hand entgegen.
«Ich bin Ella.»
«Ørjan», stellte er sich vor und schüttelte ihr die trockene Hand.
«Freut mich, dich kennenzulernen, Ørjan.» Sie begab sich zu dem einzigen Sofa im Raum und liess sich geräuschvoll darin nieder. Dann forderte sie Ørjan auf, sich gegenüber in den Ohrensessel zu setzen. Etwas widerwillig nahm er Platz. Mit einem aufgesetzten Lächeln schaute er die alte Frau an und wusste nicht so recht, auf was er sich da gerade eingelassen hatte. Sein Chef würde ihm schön was zu flüstern haben, wenn er hier noch länger verweilte.
«Bist du in Tromsø geboren?», fragte Ella plötzlich.
«Nein, ich bin erst vor zwei Jahren herzogen. Vorher habe ich in Trondheim gewohnt», antwortete er.
«Trondheim», sagte sie, «die Stadt kenne ich. Schöne Gegend.»
Ørjan nickte nur.
«Wohnst du in der Stadt? Oder etwas ausserhalb?», fragte sie weiter.
Die Frau schien sich sehr für ihn zu interessieren und Ørjan wurde immer ungeduldiger. «Ich wohne auf der Insel drüben, am Südende.»
«Da gibt es einen schönen Strand. Früher bin ich dort oft in der Bucht spazieren gegangen, nachdem ich meine Einkäufe erledigt hatte. Wunderschöne Sonnenaufgänge kann man da erleben.» Sie lächelte. Dann schien sie Ørjans zunehmende Unruhe zu bemerken. «Ich will es kurz machen», sagte sie schliesslich entschlossen. «Ich bin fünfundsiebzig Jahre alt und ich weiss nicht, wie viele Jahre ich noch vor mir habe. Aber es dürften deutlich weniger sein als bei dir.» Sie lächelte milde und Ørjan wusste nicht, ob er sich über den kleinen Scherz auch amüsieren sollte.
«Mein Leben war eine stetige Berg- und Talfahrt», fuhr sie fort. «Wie vielleicht bei vielen anderen Menschen auch.»
Wie recht sie doch hat, dachte Ørjan.
«Die schönen Dinge im Leben vergisst man meistens schnell wieder. Die weniger erfreulichen Erlebnisse aber bleiben oft im Herzen hängen und kommen immer wieder an die Oberfläche, so, als wollten sie nicht in Vergessenheit geraten. Gleich verhält es sich mit den Geheimnissen, die jeder Mensch zu bewahren versucht. Ob das gut ist oder nicht, muss jeder für sich selbst wissen. Ich für meinen Teil weiss nun, dass einem solche Geheimnisse zermürben können. Oft hatte ich versucht, das Geschehene niederzuschreiben, oder jemandem davon zu erzählen. Doch ich war nie dazu in der Lage gewesen. Zu sehr schämte ich mich dafür, zu sehr hatte ich Angst vor der Wahrheit. Wenn man sich jedoch langsam dem Ende seines Lebens nähert, will man sich von den Sünden der Vergangenheit befreien.» Sie blickte Ørjan lange und durchdringlich an. Diesem wurde es immer mulmiger zumute.
«Du wunderst dich sicher, warum ich dir das jetzt alles erzähle?», fragte sie und in ihrer Stimme lag ein belustigter Unterton.
Ørjan lächelte etwas verlegen, erwiderte aber nichts.
«Eines musst du wissen. Es ist mir weder langweilig noch bin ich senil. Ich weiss noch ganz genau, was um mich herum geschieht. Da ich aber die Geschichten aus meiner Vergangenheit aus verschiedenen Gründen nicht selbst zu Papier bringen kann, scheinst du für mich die richtige Person zu sein. Könntest du dir vorstellen, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen?»
Als Ørjan an diesem Abend nach Hause kam, legte er sich zuerst einmal auf sein Sofa und starrte an die Decke. Seine Augen brannten von der trockenen Luft, und er schloss einen Moment seine Lider. Er fühlte sich müde und wollte nur noch schlafen. Aus der Küche hörte er den Sekundenzeiger, wie er unaufhaltsam den Morgen näherbrachte. Er öffnete die Augen und blickte auf die Uhr. Zwölf Minuten nach Mitternacht. Er hatte schon viele wunderliche Gäste bedient, doch was ihm heute Abend widerfuhr, war äusserst befremdend. Er wusste nicht, was er von der Sache halten sollte. Als Ella ihm dann 450 Kronen in der Stunde anbot, wenn er ihre Lebensgeschichte aufschreiben würde, war er schlicht sprachlos gewesen. Wieso wollte ihm eine völlig fremde Frau ihre Lebensgeschichte anvertrauen? Und wie spannend konnte diese schon sein? Ella hatte sehr rasch bemerkt, wie erstaunt und verblüfft er ihr Angebot zur Kenntnis nahm. Die Erklärungen zu ihren Gedanken lieferte sie ihm auch sogleich nach:
«Ich kann mir vorstellen, dass dir meine Bitte ziemlich verrückt vorkommt. Du fragst dich sicherlich, was um Gottes Willen kann diese alte Frau schon zu erzählen haben? Nun, ich will es dir kurz erklären. In meinem Leben geht langsam die Sonne unter, und die Dunkelheit der Polarnacht wird für immer mein Begleiter werden. Vieles, was ich erlebt und getan habe, bereue ich. Vieles vermisse ich, und zu verarbeiten gibt es einiges. Lange Jahre habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, wie ich Vergangenes vergessen und vergeben kann. Ich habe meine Geschichte bisher noch nie einem Menschen erzählt. Nicht einmal meinem Ehemann. Ich will aber mit einem reinen Gewissen sterben, indem ich mir vergeben und mein Herz von der zentnerschweren Last befreien kann, die mich seit meiner Kindheit belastet.»
Nach diesen herzerweichenden Worten war Ørjan nicht mehr in der Lage gewesen, ihre Bitte abzuschlagen. Also hatte er ihr versprochen, ihre Geschichte aufzuschreiben. Vielleicht könnte diese neue Aufgabe seine unablässig kreisenden Gedanken an Hendrik etwas in den Hintergrund rücken und er würde zudem einen schönen Batzen Geld verdienen. Nach dem Unfall vor zwei Jahren hatte er sich fast ganz aus dem sozialen Leben zurückgezogen. Er ging nicht mehr aus, traf sich mit keinen Freunden zum Kaffee und reduzierte seine Hobbies auf ein Minimum. Ihm war bewusst, dass dies keine gute Entscheidung war, aber er fühlte sich nicht imstande, sein Leben einfach so weiterzuführen, als wäre nichts geschehen. Der Umzug nach Tromsø war der erste Schritt in die richtige Richtung gewesen. Doch der Weg war noch lange, und er musste an sich arbeiten. Dessen war er sich bewusst.
Nun sass er zuhause und hatte noch keine Ahnung, wie er nebst dem Studium und dem Nebenjob im Restaurant auch noch die Geschichte dieser Frau schreiben sollte. Glücklicherweise waren an der Uni bald Weihnachtsferien. So hatte er wenigstens tagsüber mehr Zeit.
Übermorgen wollte er sich zum ersten Mal mit Ella treffen. Bis dahin konnte, nein musste, er sich noch um die anderen Verpflichtungen kümmern:
Svenja!
Bei diesem Gedanken krampfte sich sein Magen zusammen. Sie würde bestimmt über seinen zusätzlichen Job mächtig sauer werden. Vielleicht schickte sie ihn sogar zum Teufel, wer weiss.
Spät am Abend legte er sich aufgewühlt ins Bett und schaffte es erst nach einer Stunde, in die Traumwelt abzusinken.
Am nächsten Morgen, kurz vor Unibeginn, traf sich Ørjan mit Svenja. Sie sassen in einem Restaurant am Hafen, tranken Kaffee und assen Wienerbrød. Svenja schien, wie er bereits vermutet hatte, ziemlich angesäuert zu sein. Mit allen Mitteln versuchte er, den Ball flach zu halten, was sich als Spiessrutenlauf entpuppte. Svenja fühlte ihm auf den Zahn und liess ihn kaum zu Wort kommen. Trotzdem schaffte er es, sie ein wenig zu beruhigen. «Wie wäre es, wenn wir übermorgen zusammen Essen gehen?», fragte er hoffnungsvoll.
Svenja sah ihn verwundert an. «Was ist denn mit heute Abend? Oder morgen Abend?«
Ørjan fühlte, wie er die neugewonnene Vertrautheit wieder verlor. Verlegen rührte er in seiner halbleeren Kaffeetasse herum. «Ich muss heute Abend wieder arbeiten», murmelte er kleinlaut, «und was morgen Abend betrifft, ist die Sache eben die ... »
In knappen Worten erzählte er ihr von Ella. Svenja zog die Augenbrauen so hoch, dass sie fast den Haaransatz berührten. Ihr Blick sprach Bände. Ørjan kam kurz ins Stocken. Er wusste genau, was er jetzt zu hören bekam.
«Hast du vielleicht auch mal Zeit für deine Freundin?» Es klang nicht wie eine Frage, viel eher wie ein Vorwurf.
«Svenja – ich …!»
«Weisst du was? Spar es dir. Ich kann mich auch so beschäftigen. Aber eines lass dir gesagt sein: Lange mache ich das nicht mehr mit. Entweder verbringen wir mehr Zeit zusammen, oder wir lassen es ganz bleiben. Es ist deine Entscheidung!»
Mit diesen Worten erhob sie sich vom Stuhl, warf Ørjan einen letzten, vernichtenden Blick zu und verliess das Lokal. Die Frauen am Nachbarstisch sahen ihn verurteilend an.
Egal.
Verzweifelt schaute er Svenja hinterher, bis sie um die nächste Häuserecke verschwand. Er nahm einen tiefen Atemzug, stand auf und bezahlte an der Theke das zu kurz geratene Frühstück. Als er ins Freie trat, schlug ihm eiskalte Arktikluft entgegen. Sie schmeckte so frisch wie Wasser vom Brunnen. Tief einatmend zog er sich die Mütze über den Kopf und begab sich zur Uni. Auf dem Weg dorthin begleiteten ihn viele Gedanken. Jeder so dunkel wie die Polarnacht. Er dachte an Hendrik. Wie gern er ihn hier gehabt hätte. Und er dachte an Svenja, und wie er aus diesem Dilemma wieder herauskommen könnte. Zeit mit ihr verbringen war das eine, aber früher oder später kamen wieder dieselben Diskussionen auf, die sie schon hundert Mal geführt hatten und doch nie zu einem befriedigenden Ergebnis führten. Jedenfalls nicht zufriedenstellend genug für Svenja. Er bekam je länger je mehr das Gefühl, dass die Beziehung mit ihr an ihrem Scheideweg stand. Scheinbar konnten sie ihre Vorstellungen von einer gemeinsamen Zukunft nicht in Einklang bringen. Er fühlte sich in die Enge getrieben, wie ein Tier im Schlachthof.
Als er kurz darauf den Vorlesesaal betrat, versuchte er die düsteren Gedanken zu verdrängen und sich voll und ganz auf die bevorstehenden Vorlesungen zu konzentrieren.