Dunkle Gier - Skyther Kell - E-Book
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Dunkle Gier E-Book

Skyther Kell

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Beschreibung

"Dunkle Gier" ist der dritte Teil des Weltenbrecher-Zyklus' und setzt die epische Reise von Tharis und seinen Gefährten fort. Nach dem Tod des Obersten stellen sich ihm neue Herausforderungen, während er die Verderbnis des Ordens entschlüsselt und den Machenschaften des Bibliothekars auf die Schliche kommt. Ein Hinweis führt ihn auf eine Reise auf einen anderen Kontinent, die Heimat seiner Gefährtin Niobel. Dort muss er die sagenumwobene "Lachende Stadt" betreten, um dem Bibliothekar zuvorzukommen. Doch auf seinem Heimatkontinent Yaestrath nehmen die Geschehnisse einen rasanten Verlauf. Der Zwergenkönig Aergylon muss sich einer neuen Bedrohung stellen und droht darüber alles zu verlieren, was er für sein gepeinigtes Volk aufgebaut hat. Und der Imperator lässt den Verlust der Nethrylim nicht einfach auf sich sitzen.

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Seitenzahl: 998

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch:

"Dunkle Gier" ist der dritte Teil des Weltenbrecher-Zyklus' und setzt die epische Reise von Tharis und seinen Gefährten fort. Nach dem Tod des Obersten stellen sich ihm neue Herausforderungen, während er die Verderbnis des Ordens entschlüsselt und den Machenschaften des Bibliothekaren auf die Schliche kommt. Ein Hinweis führt ihn auf eine Reise auf einen anderen Kontinent, die Heimat seiner Gefährtin Niobel. Dort muss er die sagenumwobende "Lachende Stadt" betreten, um dem Bibliothekar zuvorzukommen.

Doch auf auf seinem Heimatkontinent Yaestrath nehmen die Geschenisse einen rasanten Verlauf. Der Zwergenkönig Aergylon muss sich einer neuen Bedrohung stellen und droht darüber alles zu verlieren, was er für sein gepeinigtes Volk aufgebaut hat. Und der Imperator lässt den Verlust der Nethrylim nicht einfach auf sich sitzen.

Der Autor:

Skyther Kell, wurde 1978 geboren und lebt seine Leidenschaft für Dark Fantasy als Autor des Weltenbrecher-Zyklus’ aus. Seine bisherigen Werke "Dunkler Name" und "Dunkle Brut", richten sich an ein erwachsenes Publikum. Die Bücher zeichnen sich durch düstere Welten und tiefgründige Charaktere aus und haben zahlreiche positive Rezensionen erhalten.

Das Schreiben von Dark Fantasy ist für Skyther Kell deshalb so aufregend, weil es ihm eine große, weiße Leinwand bietet, auf der er nicht nur epische Geschichten erzählen, sondern auch schwerere Themen wie Rassismus, Tod, Trauer und Verlust thematisieren kann. Schon als Kind verschlang er epische Literatur – Der kleine Hobbit und Der Herr der Ringe prägten seine frühen Jahre. Diese literarische Basis wurde später um Einflüsse von Autoren wie Wolfgang Hohlbein, Stephen King, Frank Schätzing, Markus Heitz und George R.R. Martin ergänzt.

Mit dem Weltenbrecher-Zyklus hat Skyther Kell sich zum Ziel gesetzt, seine Leser in eine komplexe und emotionale Welt zu entführen, in der Hoffnung und Verzweiflung oft nahe beieinanderliegen. Beruflich als Senior Social Media Manager in der Automobilbranche tätig, ist Skyther Kell neben seiner schriftstellerischen Arbeit auch als Content Creator und Twitch-Streamer im Internet aktiv. Sein Pseudonym erlaubt ihm, beides zu vereinen, während er seine Community regelmäßig in Echtzeit an seinem kreativen Prozess teilhaben lässt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 – Getrocknetes Blut

Kapitel 2 – Zwei Brüder

Kapitel 3 – Runenschrecken

Kapitel 4 – Sythaedorae

Kapitel 5 – Abtrennung

Kapitel 6 – Glorie

Kapitel 7 – Die Ankunft

Kapitel 8 – Lorbeerkranz

Kapitel 9 – Nordkönig

Kapitel 10 – Der Auftrag

Kapitel 11 – Die Muhme und die Hoffnung

Kapitel 12 – Neuland

Kapitel 13- Leichenschande

Kapitel 14 – Mondlichtschimmer

Kapitel 15 – Lord Patron

Kapitel 16 – Ausbruch

Kapitel 17 – Dämonenrunen

Kapitel 18 – Nordname

Kapitel 22 – Wollust

Kapitel 21 – Königspein

Kapitel 25 – Königin

Kapitel 23 – Desaster

Kapitel 24 – Die Kette von Eryndor

Kapitel 27 – Der Fall Sythaedoraes

Kapitel 28 - Eintritt

Kapitel 30 – Zwergenkrieg

Kapitel 29 – Tunnel

Kapitel 32 – Kettensprenger

Kapitel 33 - Das Herz der Dunkelheit

Kapitel 31 - Erdbrecher

Kapitel 34 – Fundament

Kapitel 35 – Die Bibliothek aus Silber

Vorwort

Hier ist es also – mein drittes Buch.

Ein Moment, der sich noch immer surreal anfühlt. Vor wenigen Jahren hätte ich es nicht für möglich gehalten, überhaupt ein einziges Buch zu schreiben. Jetzt ist das erste Trio vollendet, und doch ist kein Ende in Sicht. Der Weltenbrecher-Zyklus geht weiter.

Die Idee zu Dunkle Gier entstand schon während der Arbeit an Dunkler Name und Dunkle Brut, den Zwillingsromanen, die diesem Stück vorausgingen. Bereits damals begann sich ein neuer Schauplatz in den Vordergrund zu schieben: die Geschichte von Sythaedorae, der lachenden Stadt. Je weiter ich schrieb, desto drängender wurde ihre Stimme. Es war, als ob diese Stadt aus der Tiefe flüstere – und darauf bestand, gehört zu werden.

Mit diesem Roman habe ich etwas gewagt, das für mich neu war: Eine Geschichte in der Geschichte. Ein Rückblick auf Ereignisse, die mehr als tausend Jahre vor Tharis’ Zeit liegen – und doch weit in seine Gegenwart hineinreichen. Und die Erzählung über eine solch ferne Vergangenheit brachte neue Herausforderungen mit sich. Es bedeutete, mit Schatten und Echos zu arbeiten, mit Erinnerungen, die sich verzerren, und mit Wahrheiten, die unter Schichten von Zeit verborgen liegen. Sythaedorae war nie einfach nur eine Stadt. Sie war Symbol, Geheimnis, Warnung – und Wunde zugleich.

Dunkle Gier erzählt von Hochmut und Untergang. Von Gier und Strafe. Von jenen, die zahlen müssen, obwohl die Schuldigen längst vergessen sind. Es ist eine Geschichte über das, was bleibt, wenn große Reiche fallen – und über jene, die in den Trümmern nach Antworten suchen.

Aber keine Sorge: Wer Tharis’ Weg bis hierher begleitet hat, wird sich auch in diesem Buch zurechtfinden. Denn obwohl die Welt größer wird, bleibt das Herz der Geschichte dasselbe: Figuren, die kämpfen, obwohl sie längst verloren scheinen. Dunkelheit, die in jede Ritze kriecht. Hoffnung, wo keine mehr sein dürfte.

Dieses Buch ist für alle, die tiefer graben wollen. Die spüren, dass zwischen alten Steinen neue Wahrheiten liegen. Für Leserinnen und Leser, die wissen, dass Geschichten nicht enden – sie verändern nur ihre Form.

Danke, dass Sie wieder mit auf Reisen gehen.

Skyther Kell

Kapitel 1 – Getrocknetes Blut

Schwarz im Schwarz.

Golden glüht die Hoffnung. Weit entfernt.

27. Tag des sechsten Monats im Jahr der Härte

307. Jahr des Imperators

Kontinent Yaestrath

Ash’Seryne

Morgendämmerung

Dunkelheit.

Wie eine undurchdringliche Decke lag sie über den Trümmern, die finsterste Stunde der Nacht, bevor der Tag erwachte. Ein Lufthauch wehte durch die zerbrochenen Maßwerkfenster der Tempelpyramide von Ash’Seryne, ein Vorbote eines neuen Morgengrauens, welches niemand mehr würde begrüßen können. Der Wind des frühen Morgens brach durch die zersplitterten Fenster und zupfte an den Kleidern der Gefallenen. Er verwirbelte Haar, schuf zufällige Formen in Lachen aus trocknendem Blut und erschuf Bewegung, wo keine mehr waren. Die aufgehende Sonne brach sich blitzend auf Splittern aus Glas und beschien eine Szenerie des reinen Grauens.

Leichenberge türmten sich in den Hallen des gefallenen Shay’rar, Zeugen eines vergangenen Massakers. Ein Kampf hatte stattgefunden, ein Gefecht geführt mit Klinge und Axt ebenso wie mit Geist und Macht. Eine Schlacht, an die er sich nicht mehr erinnerte.

Der Himmel färbte sich in tiefem Purpur, während Tharis kniete. Wie eine Statue aus einer vergessenen Zeit hockte er inmitten der Zerstörung, seine Augen leblos, sein Körper umgeben von geschmolzenem Marmor. Er war der Endpunkt der Kampfhandlungen gewesen. Er hatte es begonnen und beendet. Die Energien, die er entfesselt hatte, hatten alles verschlungen.

Alles.

Außer ihm.

Er befand sich inmitten eines Kreises aus Zerstörung. Die Energien seines Ausbruchs hatten derart getobt, dass der Steinboden um ihn herum auf mehreren Schritten weggebrannt und nur noch polierte Schlacke war. Sein Wüten war so gewaltig gewesen, dass er das Dach der Pyramide in Fetzen gerissen und den Innenraum mit Glas- und Steinsplittern geflutet hatten. Er jedoch war vollkommen unversehrt, und der zarte Lufthauch des beginnenden Morgens zupfte an den Überbleibseln seiner verbrannten und teilweise zu Schlacke gewordenen Lederrüstung. Die Namen auf seiner Haut, schwarze Runen, die wie tätowierte Malediktionen wirkten, zeigten eine noch dunklere Farbe als der Rest seines Körpers, wenn die ersten zaghaften Sonnenstrahlen auf sie fielen. Sie gehörten ihm – oder hatten es zumindest einmal. Waren Teil von ihm und Fluch zugleich.

Er atmete flach. Jeder Atemzug fühlte sich fremd an, als gehöre dieser Körper nicht ihm und als müsse er sich erst wieder daran erinnern, wie man eine menschliche Gestalt erspürte. Er war ein Passagier in diesem Leib. Als habe er etwas heraufbeschworen und die Kontrolle übergeben, während er etwas anderes hatte gehen lassen. Ein Austausch, und für einen Augenblick fragte er sich, wie viel von ihm noch vorhanden war. Er wusste es nicht und für den Moment war es ihm egal.

Der Kampf in seinem Inneren war längst vorbei, er hatte den Shay’rar bezwungen, furchtbar dafür bezahlt und den Dreiklang gebildet. Die Macht des Biests, seines dunklen Begleiters, die würdevolle, tragische Stärke Oartu Hantzers und seine eigene, er hatte sie zusammengeführt. Drei Entitäten in einem Körper, und er hatte etwas geformt, was mehr war als die Summe der Teile. Er hatte keine Wahl gehabt, und was daraus erwachsen war, hatte seine kühnsten Erwartungen übertroffen. Er hätte nicht in der Lage sein dürfen, es zu bändigen. Und vielleicht war er es auch nicht. Doch war er nicht tot. Er empfand keinerlei Verwunderung darüber. Er spürte nicht das Geringste. In ihm war ein Frieden, der aus der absoluten Abwesenheit Allens geboren war, eine friedvolle Ruhe allumfassender Einsamkeit. Stille war in ihm, nichts als ruhende Grabesstille. Er war das Nichts in seiner reinsten Form.

Er hatte sich seit Minuten nicht gerührt, kniete still wie eine Statue. Selbst sein Atem war beinahe unsichtbar, seine Brust hob und senkte sich kaum. Seine Rüstung war geschmolzen und hing nur noch in Fetzen an ihm, ließ große Teile seines Körpers sichtbar, und die endlose Riege an tätowierten Namen auf seiner Haut verlieh ihm das Aussehen einer düsteren Gottheit. Die Tintenfässchen in seiner Tasche waren zu Boden gefallen und zersplittert, ihr Inhalt hatte sich durch die enorme Hitze auf ewig mit dem darunterliegenden Stein verbunden. Seine glühenden Augen starrten unbeweglich ins Leere.

Neben ihm gab es keine lebende Seele mehr in der Turmkammer des Shay’rar. Er war allein, so wie stets. Die Überlebenden der Schlacht waren geflohen, die Toten hatte nicht gekümmert, was kommt. Die verkohlten Überreste des einstigen Oberhaupts seines Ordens lagen unberührt zu seinen Füßen, ein vertrocknetes Bündel aus korrumpierter Bosheit und geraubter Macht. Die Schreckensherrschaft des Obersten war beendet, Tharis hatte auf das Todesurteil des geistigen Führers seiner Ordensgemeinschaft eine angemessene Antwort gegeben. Er erinnerte sich, dass das nicht sein ursprünglicher Wunsch gewesen war. Er erinnerte sich, dass er sich dem Orden zugehörig gefühlt und eine Lösung angestrebt hatte. Doch die Geschicke seines Lebens hatte einen anderen Pfad für ihn vorgesehen.

Geräusche drangen an sein Ohr, weit entfernt und kaum einzuordnen. Tief unter ihm, auf Höhe der Straßen und Gassen der Stadt, blickten die verwirrten Einwohner Ash’Serynes in den Himmel und erblickten die geköpfte Tempelpyramide, aus der Rauch aufstieg und die noch immer Trümmer erbrach. Ein Chor aus tausend Kehlen verlangte nach Antworten und der Lärm hastig herbeieilender Menschenmassen färbte den vormals so friedlichen Morgen in aufgeregte Betriebsamkeit. Doch hier oben bekam er davon nichts mit. Ein Sonnenstrahl fiel durch eines der geplatzten Fenster und streifte über seine Wange. Das Licht schnitt seine Züge aus der Dunkelheit, und seine Augen glühten auf, als wären sie von flüssigem Stein durchtost.

Das Geräusch von Schritten erklang, seltsam fehl am Platz in dieser Umgebung aus Tod und Stille. Leichte Tritte in lederbesohlten Stiefeln näherten sich vorsichtig seiner Position und ihr Rhythmus wurde stetig langsamer, je näher sie kamen.

Er rührte sich nicht.

„Tharis?“

Eine Stimme schnitt durch die Stille, sorgenvoll und zugleich fremd. Ihr Klang ließ ihn in seiner Kontemplation innehalten, doch er antwortete nicht. Es war ein Wort ohne Bedeutung für ihn. Er spürte den Zug der Shay, als sie ihn mit seinem wahren Namen anrief, der nicht mehr alleinig der seine war. Ihre Magie tastete nach ihm, gebot ihm, zu reagieren, doch er erwiderte nichts.

Er stand über solchen Dingen.

„Tharis?“ Wieder diese Stimme, wieder der Zug seines wahren Namens, doch er reagierte nicht. Er wusste, dass er diese Stimme kennen sollte, jedoch wollte ihm nicht einfallen, wo er sie schon einmal gehört hatte.

Sie kam näher und das Geräusch ihrer Schritte störte die friedliche Stille seiner Gedanken. Ihre Füße zertraten das Glas, das wie Eissplitter unter ihren Stiefeln klirrte. Er bewunderte ihren Mut, selbst als sie direkt am Rande des Kreises aus Zerstörung zum Stehen kann. Ihr Atem ging stoßweise, sie war verletzt und erschöpft. Und für einen Moment schien die Stille um sein Herz zu brechen.

„Hatte es ein Gefecht gegeben?“ Er erinnerte sich nicht.

„Bist Du bei mir?“ Dann, wenige Herzschlage später und in einem leiseren, flehenden Tonfall: „Ich bitte Dich, sei noch da.“

Ihre Stimme hatte einen beschwörenden Klang und die Frequenz ihrer Angst ließ die Worte schrill und misstönend in seinen Ohren klingen. Tharis spürte den Zug des Gesagten, der wie winzige Finger an seinem Geist zerrte. Er hätte sich wehren können, doch etwas erinnerte sich daran, dass er die Frau vor ihm angenehm fand. Dass sie ihm einst wichtig war.

Und doch reagierte er nicht.

Das Geräusch weiterer Schritte näherte sich ihm, als eine Reihe an Personen die geborstene Pyramidenspitze betrat. Schwere, beschlagene Kampfstiefel, getragen von gedrungenen Gestalten. Begleitet wurden sie von einem Mann, dessen Tritte kaum hörbar waren, als trüge er die Schatten selbst in seinen Bewegungen. Tharis hörte sie alle, ihre Herzschläge, ihren Atem, das Blut in ihren Adern, doch er starrte blicklos weiter geradeaus, spürte ihre Anwesenheit wie kalte Hände an seinem Nacken.

Etwas regte sich in ihm. Er kannte diese Männer und Frauen, er müsste sich an sie erinnern. Irgendetwas verband sie, auch wenn er nicht mehr wusste, was. Das Erstaunen darüber riss ihn aus seiner Kontemplation, und sein Verstand kehrte zum ersten Mal seit Äonen wieder in die Gegenwart zurück. Ein Bruchstück einer Kommemoration an eine Zeit, als er selbst Schuhe wie die des düsteren Mannes getragen hatte. Gemeinsam mit einer Rüstung aus schwarzem Leder und Leinen.

Er entschied, dass er diesen Gedanken nicht weiter verfolgen wollte, doch einst gedacht blieb er hartnäckig und ließ sich nicht vertreiben. Es hatte in früheren Zeiten ein Er gegeben. Er war einmal jemand anderes gewesen, ein Mensch, ein Shay’den, auch wenn dieser Begriff keine Bedeutung mehr für ihn hatte. Und diese Person hatte eine Historie, eine Berufung.

Und einen Namen.

„Tharis ...“, flüsterte die Frau erneut, wesentlich leiser, um seinen wahren Namen nicht in die Welt herauszuschreien. Er erinnerte sich, dass er ihn ihr einst anvertraut hatte, in Stein gebrannt, doch wusste er nicht mehr wieso. Die anderen Personen hatten die Frau erreicht und er fühlte ihre Anwesenheit und die Blicke, die sich auf ihn richteten. Doch er rührte sich nicht. Was sollten sie auch tun? Er war ewiglich.

„Was ist mit ihm?“ Die Stimme eines Zwerges. Auch sie war unterlegt von Erschöpfung und Schmerz und Tharis roch Blut und Ruß. Die Frau antwortete nicht, er spürte ihren Blick auf seinem Gesicht.

„Er ist entrückt.“

Die Stimme des Mannes in Leinen. Volltönend, gebildet und distinguiert, mit einem brutalen Unterton darunter. Ein Mann des Wortes als auch des Schwertes. Ein gefährlicher Mann, vielleicht selbst für ihn. Doch er wischte den Gedanken beinahe amüsiert beiseite.

„Wohl kaum.“

„Er ist was?“ Die Frau hatte geantwortet.

„Entrückt. Nicht mehr in dieser Welt verhaftet.“

„Was soll das bedeuten?“

Der Mann antwortete nicht. Wie hätte er auch beschreiben können, was ihr und sein Verständnis gleichermaßen überstieg? Stattdessen übertrat er die unsichtbare Grenze und trat in den Kreis aus geschmolzenem Stein. Seine Sohlen klangen mit einem Mal anders, als hätten sie verbotenes Terrain betreten und Tharis spürte seine Anwesenheit mehr, als dass er ihn näherkommen sah. Ein Schatten legte sich auf sein unbewegtes Gesicht. Der Mann stand eine Weile stumm da und betrachtete den Knienden. Dann sprach er einen Satz, der für ihn keinen Sinn ergab.

„Fürwahr, er ist es. Es kann nicht anders sein. Er ist der Weltenbrecher.“, flüsterte er beinahe unhörbar und ehrfürchtig.

„Ich bin? Was bin ich?“

Doch der Mann sprach nicht weiter. Stattdessen blickte er ihn eine Weile nachdenklich an, bevor er sich herumdrehte und wieder etwas Abstand zwischen sich und Tharis brachte. Er ließ ihn mit der lästigen Frage nach dem eigenen Selbst allein. Der Schwarze verließ den gläsernen Kreis und deutete der Frau, ihn zu begleiten. Sie traten ein paar Schritte beiseite und führten ein leises, aber intensives Gespräch. Offensichtlich teilte er ihr etwas mit, was ihr nicht gefiel, denn sie erbleichte und gestikulierte energisch. Und obwohl Tharis mühelos hätte zuhören können, tat er es nicht. Es interessierte ihn nicht genug.

Einer der Zwerge am Rande des geschmolzenen Kreises befingerte unruhig seine Axt, an der noch immer Blut, Stoff- und Haarreste klebten. „Und was machen wir jetzt mit ihm? Lassen wir ihn hier? Nehmen wir ihn mit? Oder ..?“, er beendete seinen Satz nicht, doch was er meinte, war allen Anwesenden klar.

Tharis‘ Mundwinkel hoben sich in einer grässlichen Karikatur eines spöttischen Lächelns. „Versuch es nur, kleiner Zwerg. Ebenso gut könntest Du Deine Axt gegen den Himmel schwingen.“

„Habt ihr das gesehen?“, rief der Zwerg aufgeregt und deutete mit dem Finger auf den knienden Mann. „Er hat gegrinst!“

„So ein Quatsch.“, antwortete ein Anderer und knuffte seinen aufgeregten Artgenossen an der Schulter. „Er kniet da, ist womöglich tot und innen nur noch Schlacke. Der grinst nie wieder.“

„Ich habe es aber gesehen.“

Die Zwerge verstummten und tauschten irritierte Blicke. Die Frau war wieder herangetreten, der Ausdruck ihrer Augen flackernd und verängstigt. Offensichtlich hatte der Schwarze ihr etwas mitgeteilt, was sie in ihren Grundfesten erschütterte. Das Knirschen ihrer Stiefel auf dem zersplitterten Glas verstummte, als sie den beinahe klinisch sauberen, ausgebrannten Bereich um den knienden Shay’den betrat. Ihre schlanke, schwer gerüstete Gestalt kniete sich direkt vor Tharis und er spürte die Berührung ihrer behandschuhten Hand an seiner Wange.

„Teurer Freund, wir brauchen Dich.“ Der sanfte Klang ihrer Stimme rührte etwas in ihm, erinnerte ihn an ein Gefühl, welches er längst vergessen hatte.

Hoffnung.

Er antwortete nicht.

„Ich weiß, dass Du mich hören kannst, dass Du noch immer da bist. Und ich weiß, dass Du uns nie im Stich lassen würdest, weil Du bist, wer Du bist.“ Augen wie die grüne See erschienen direkt vor seinem Gesicht, umrahmt von Haar wie Feuer. Eine Erinnerung regte sich in ihm. Er kannte dieses Antlitz, wusste, wer sie war. Wenn er sich doch nur erinnern könnte. Wenn sie wusste, wer er war, dann ...

„Tharis, wir brauchen Dich. Er braucht Dich!“ Mit diesen Worten trat die Kriegerin beiseite und deutete auf eine am Boden liegende Gestalt, einige Schritte entfernt. Unwillkürlich folgten seine glühenden, leeren Augen ihrem ausgestreckten Arm, und als sein Blick auf den Zwerg mit dem ausgebluteten Verband um den Kopf fiel, brach eine Flutwelle an Erinnerungen über ihn herein.

Er wusste, wer dort lag, niedergestreckt vom Schwert eines Ungeheuers. Bebendes Lachen in einem Wald nach einem bestandenen Abenteuer. Intelligente Fragen in einer vermeintlich reichen Stadt. Stolz und Würde, eingeprägt in Leder auf Höhe des Herzens. Er kannte diesen Zwerg. Er kannte die Frau. Etwas regte sich, und dieses etwas zog und zerrte an ihm, rührte an dem, was er einmal verkörpert hatte, und zog es wieder an die Oberfläche. Dort lag jemand, der an ihn geglaubt hatte. Der für ihn gekämpft hatte. Jemand, der jetzt seine Hilfe brauchte.

Ein Zwerg. Ein Krieger.

Ein Freund.

Das Wort hatte einen seltsamen Beigeschmack, als müsste er sich daran erinnern, was es bedeutete. Doch tief in ihm erwachte sein Selbst. Eine Urgewalt, verschüttet und in alle Winde verstreut, doch nie weiter als ein Andenken an Freundschaft entfernt. Ein unverbrüchliches Band und eine Erinnerung an die Person, die er gewesen war, bevor er seine jetzige Form angenommen hatte. Eine Kraft manifestierte sich, wie ein Muskel, der sich anspannte.

Die Frau hatte gesehen, dass sein Blick ihrer Geste gefolgt war, und neue Hoffnung keimte in ihrer Stimme.

„Ich sehe Dich, Tharis von den Shay’den.“, flehte sie, und Trännen rannen ihre Wangen hinab. „Ich sehe, dass Du noch da bist, und ich rufe Dich. Ich flehe Dich an, kehre zurück zu uns.“ Und obwohl sie flüsterte, klangen ihre Worte wie Donnerhall in ihm wider.

Tharis. Ein Shay’den. Einst waren diese Worte von Bedeutung für ihn gewesen. Wieder dieses Regen in ihm, als wollte etwas an die Oberfläche treten, was er vergessen hatte. Ein goldener Schimmer wuchs in ihm heran, durchtränkt von tintiger Bosheit und umgeben von eherner Güte. Ein Dreiklang, der ihm innewohnte und den er hinter sich gelassen geglaubt hatte. Ein Handel, den er eingegangen war. Eine Bestimmung, die sich ihm noch immer nicht zeigte.

Die Frau keuchte auf und trat einen Schritt zurück, als die Namen auf seiner tintenschwarzen Haut zu glimmen begannen und aschene Schlieren von ihm abfielen. Auch die Anderen zeigten deutliche Zeichen der Überraschung.

„Was geschieht ...?“, rief einer der Zwerge und hob seine Axt. Die anderen Zwerge reagierten ebenfalls alarmiert und machten sich kampfbereit, als machte dies irgendeinen Unterschied. Der Mann in schwarzem Leinen jedoch blieb stumm, betrachtete das Geschehen mit dem Interesse eines Forschers. Hinter ihm formierte sich eine Reihe an unheilschwangeren, leinengekleideten Schatten, die er jedoch mit einer Geste zur Räson rief.

Die Frau hatte sich gefangen und ließ sich wieder vor ihm nieder. „Ich spüre Dich. Du bist noch immer bei uns. Bitte ... kämpfe. Für Dich. Für uns. Für ihn.“ Wieder zeigte sie auf die am Boden liegende Gestalt, und Tharis spürte, wie ihre Worte in ihn drangen und dem goldenen Dreiklang in sich eine Richtung wiesen.

Etwas raste heran, von solcher Gewalt, dass er das gelinde Gefühl von Überraschung verspürte. Was immer die Frau anrief, es reagierte und wollte an die Oberfläche kommen. Er spürte, wie das, was einst „Tharis“ genannt worden war, die ewigliche Leere in ihm auszufüllen begann und nahm mit einer genüsslichen Neugierde zur Kenntnis, wie die Namen auf seiner Haut in Flammen standen und sie lichterloh brannte.

Die Rufe der Zwerge wurden lauter, doch waren sie nichts im Vergleich zu dem Tosen in ihm. Mit Macht schwoll die Präsenz in seinem Inneren an, verdrängte ihn, und er ließ es geschehen, mehr aus Neugierde, denn aus Zwang. Er spürte, dass das goldene Drängen in ihm nicht wesentlich schwächer war als er selbst, was er mit einem gehörigen Maß an Überraschung zur Kenntnis nahm. Er, der zugleich alles und nichts war, zog sich zurück und machte Platz für den ursprünglichen Bewohner dieses Körpers.

Er hatte Geduld.

Seine Zeit war noch nicht gekommen.

Der Weltenbrecher schloss die Augen und schlief ein.

Das Gleißen der Runen auf Tharis‘ Haut erreichte eine beinahe schmerzliche Intensität, dann erlosch es mit einem Mal und er keuchte gequält auf. Die Wucht seiner Ankunft warf ihn nach hinten, und er stürzte aus seiner knienden Position rücklings zu Boden. Die letzten Reste seiner Kleidung bröselten als eine Mischung aus verbrannter Asche und Schlacke herab als er aufschlug und sein Schädel machte unliebsame Bekanntschaft mit der Härte des Marmors unter sich. Sterne tanzten vor seinen Augen, doch sofort war Niobel bei ihm und bettete seinen Kopf in ihrem Schoß.

„Da bist Du ja.“ Ihre Stimme war eine Mischung aus Ehrfurcht und Erleichterung und sie tastete den liegenden Shay’den mit geübten Griffen nach Verletzungen ab. „Ich wusste, dass mich hörst.“ Tränen der Befreiung troffen auf sein Gesicht und die Feuchtigkeit tat ihm wohl.

„Ich ...“, er erschrak und brach ab als seine Stimme klang wie die eines Verdurstenden. Seine Augen suchten die ihren, und sie verstand den Wink, setzte ihm einen Trinkschlauch an die Lippen. Und obwohl das Wasser darin warm und abgestanden schmeckte, trank er es mit tiefen Zügen, und es war das Köstlichste, was er je geschmeckt hatte. Kostbare Sekunden verrannen, und er spürte die Unruhe der Umstehenden, doch er war nicht in der Lage mehr zu tun, als dazuliegen und die Flüssigkeit seine Kehle hinabrinnen zu lassen. Dabei strich Niobel ihm über das Haar und benetzte seine rußgeschwärzten Wangen mit Tränen der Erleichterung.

Das Geräusch eines Tumults drang an seine Ohren. Ash’Seryne war durch die Explosion der Tempelpyramide erwacht und befand sich in hellem Aufruhr. Priester, Nachtschatten, Soldaten und Novizen strömten herbei, und der Schwarze trat ihnen entgegen, schirmte Niobel und Tharis ab und versuchte, die aufgebrachte Menge zu beruhigen. „Holt die Medicae. Es gibt Verwundete. Sichert den Bereich und haltet die Zuschauer zurück. Wir brauchen keine Gerüchte“ Mit befehlsgewohnter Stimme ordnete er das Durcheinander, seine sorgfältig gewählten Worte hallten durch die zerstörte Halle, und seine Leute machten sich daran, ihnen Folge zu leisten. Die Autorität des Mannes schützte sie für wenige kostbare Augenblicke vor der Rache des Ordens.

Tharis bemerkte dies nur durch einen Schleier. Er war so unendlich müde und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er noch ewig einfach nur dagelegen, gebettet in den Schoß der Kriegerin. Das Wasser belebte seine Sinne, und nach ein paar weiteren Schlucken fühlte er sich endlich kräftig genug, zu sprechen.

„Niobel, ich ... danke Dir. Du hast mich von einem weit entfernten Ort geholt.“

Sie schluckte schwer. „Ich dachte, wir hätten Dich verloren.“

„Für einen Moment hattet ihr das.“

Doch das sprach er nicht aus.

Tharis stützte sich auf seine Ellenbogen und brachte sich in eine halb liegende Position. Sein Blick fiel auf Udhryk, der still dalag und wie durch ein Wunder von den herabfallenden Trümmern und Glas verschont worden war.

„Wie steht es um ihn? Was ist geschehen?“

„Er stirbt.“, antwortete Niobel mit tränenerstickter Stimme. „Dieses Monster mit dem Zackenschwert hat ihn so zugerichtet. Ich habe getan, was ich konnte, und Yeremey hat auch geholfen, aber ...“ Sie brach ab, als Trauer und Schuld sie übermannten.

Tharis nahm den Namen des Schwarzen nur am Rande zur Kenntnis. Sein Blick war auf den liegenden Zwerg gerichtet, und er robbte zu seinem Freund herüber. Je näher er kam, desto größer wurde der Klammergriff aus Angst um sein Herz. Udhryk sah aus, als sei er durch einen Fleischwolf gedreht worden. Schwere Schnitte zierten seinen Körper, seine Rüstung war zerschmettert und mehrere seiner Finger gebrochen. Doch am schlimmsten war sein Kopf. Man sah sofort, dass der Schädel im hinteren Teil aufgebrochen war, die Knochen waren verschoben und er verlor weiterhin eine gewaltige Menge Blut, trotz der hastigen Verbände.

Tharis streckte mühsam eine Hand aus und berührte den Arm seines Freundes. Er musste einfach wissen, wie es um ihn stand. Als er die dicke Haut des Mannes betastete, stürzte er in das Wesen des Zwerges und tiefe Angst griff nach ihm. Das Innere Udhryks war ein Trümmerfeld. Das Nichts wütete bereits, forderte ihn ein. Es verschlang, tastete, suchte. Das ewige Vergessen hatte den Zwerg beinahe vollständig in Besitz genommen. Es war ein Wunder, dass das Herz des Giganten noch schlug, wie schwach dieser Herzschlag auch war. Ein geringerer Mann wäre schon lange tot.

Er erinnerte sich, was Niobel vor wenigen Augenblicken gesagt hatte, und suchte nach Spuren dessen, was Yeremey getan hatte. Der schwarzgekleidete Mann war offensichtlich ein hochrangiger Nachtschatten und verstand sein Werk, doch konnte Tharis gar nicht anders, als sich selbst ein Bild zu machen.

Er bemerkte den Einfluss des Tausendjährigen sofort. Der Assassine hatte alles, was Udhryk ausgemacht hatte, abgetrennt und eine künstliche Insel geschaffen, ohne Verbindung zum Rest seines Wesen. Losgelöst trieb es durch den Strom aus Vergessen, und das Nichts toste weiter, ohne seinen Auftrag abschließen zu können. Die einst stolze Festung, die Manifestation der Persönlichkeit Udhryks, hatte schweren Schaden erlitten. Doch noch stand sie, allein und abgekoppelt vom Rest, wartete nur darauf, wieder mit den inneren Landen des Zwerges verbunden zu werden.

Er zollte dem Ordensmann widerwillig Respekt, ihnen unter großem Druck eine Möglichkeit gegeben zu haben, den Zwerg zu retten. Solange das Herz Udhryks schlug, hatten sie eine Chance. Er löste die Verbindung und sackte entkräftet zusammen. Niobel war bei ihm, und er deutete ihren fragenden Blick richtig.

„Er ist noch da. Wenn wir ihn am Leben erhalten, hat er eine Chance.“

Sie biss sich erleichtert auf die Lippen und kämpfte ihre Emotionen nieder. „Dann hoffen wir, dass die Medicae deines Ordens so gut sind, wie man sagt.“

„Das sind sie.“, brachte er erleichtert hervor und ließ den Kopf auf den Stein sinken, der noch immer warm von den Gewalten war, die erst vor Kurzem getobt hatten. Die Erleichterung darüber, Udhryk nicht verloren zu haben, hüllte ihn in eine trügerische Sicherheit. In seinem geschwächten Zustand war ihm entgangen, welch Finsternis sich grinsend in der Schwärze des tosenden Nichts innerhalb seines Freundes verbarg.

Kapitel 2 – Zwei Brüder

Die Frucht des Gottes.

Bringt hervor Pest und Spiegel.

27. Tag des sechsten Monats im Jahr der Härte

307. Jahr des Imperators

Kontinent Yaestrath

Sylrathan, Hauptstadt des Imperiums

Nacht

Sie beide spürten den Tod Ankhones, wie einen körperlichen Schlag. In dem Moment, als der Gigant, Champion des Imperators, weit entfernt in der verfluchten heiligen Stadt Ash’Seryne, sein Leben aushauchte und sein unheiliges Herz zerfetzt wurde, traf es den Herrscher Yaestraths wie ein Hieb in die Magengrube. Er spürte, wie sein Geschenk aus dem Körper des Giganten gerissen wurde und verging, und für einen Moment floss Eiswasser durch seine Adern. Doch weit schlimmer traf es das Schloss, seine persönliche Emissärin und Mutter Ankhones.

Sie krümmte sich zusammen, keuchte laut auf und bog sich unter der Qual, als ihr Erstgeborener in Fetzen gehackt wurde. Ihr Sohn war hunderte Meilen entfernt, doch für sie war es, als spüre sie jeden einzelnen Schlag, jeden Stich und jeden heißkalten Biss der Äxte aus Zwergenstahl. Ihr vertrocknetes Herz verkrampfte sich hinter porösen, versteinerten Rippen, und alle Kraft verließ sie. Das schauderhafte Wesen, für gewöhnlich stets Herrin über jede Situation, brach mit einem stummen Schrei zusammen, und der Imperator musste an sich halten, nicht von seinem Thron hinabzusteigen und sie zu stützen. Die Thronhalle erbebte unter ihrem Leid, und die tintigen Schatten drückten sich furchtsam in die Ecken, als bangten sie, ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

Der Imperator litt mit ihr, während ihr Weinen die Säulen der Halle erbeben ließen, doch trauerte er stumm und aus anderem Grund. Ankhone war ihm verhasst gewesen, eine mörderische, perverse Bestie, die er gezwungenermaßen geduldet und in den Rang seines Champions erhoben hatte. Sein Tod kümmerte den Imperator wenig mehr als der eines tollwütigen Hundes. Es war der Schmerz des Schlosses, der ihn beinahe in den Wahnsinn trieb. Er liebte sie noch immer. Stets und immerdar. Er liebte diejenige, die sie einst gewesen war, bevor aus ihr diese verdrehte Karikatur einer Person wurde. Die, für die er den Verlockungen des Bibliothekars nachgegeben hatte, und seither mit seiner Herrschaft büßte.

Er liebte sie. Und diese jahrhundertealte Liebe stürzte sie alle ins Unglück. Und doch konnte er nicht aufhören. Würde es nie.

Alles in ihm schrie danach, zu ihr zu eilen und ihr Trost zu spenden. Doch er beherrschte sich und behielt eine kühle Miene aufrecht, während das verdrehte Wesen zu seinen Füßen in einem Haufen aus Seide und Elend versank.

Grauen packte sein Herz. Er wusste, dass, was nun folgte, um einiges schlimmer als der Verlust eines Kindes war, wie verkommen es auch gewesen sein mochte. Eisige Furcht ergriff ihn, als ihm klar wurde, dass das eintreten würde, was er so sehr zu verhindern versucht hatte.

Und als es eintrat, geschah es mit der leblosen Gleichgültigkeit, mit der nur Götter die Belange der Sterblichen betrachteten.

Es begann damit, dass die Schatten der Thronhalle dichter wurden, als besäßen sie ein Eigenleben. Für normale Augen unsichtbar, doch für ihn so deutlich als wäre es heller Tag. Schweiß trat auf seine Stirn und das Blut rauschte so sehr in seinen Ohren, dass er das Weinen des Schlosses kaum noch hörte. Die Schatten tanzten vor seinen Augen, ballten sich, stoben auseinander, wie ein Schwarm Fische. Er sah dem flirrenden Taumel eine Weile zu, versuchte die Kraft in sich zu finden, das Kommende aufzuhalten, fand jedoch nur Schwärze und Hass.

Er wollte sie beschützen, und doch hatte er nichts mehr zu geben.

Als die erste Klaue in das Geflecht der Realität schnitt, bemerkte das Schloss es nicht. Zu groß war ihre Pein. Es wimmerte und greinte.

Mit der zweiten Kralle drang Flammenschein in den Thronsaal, beleuchtete das trauernde Wesen und erhellte die Bernsteinblöcke mit ihrem makabren Innenleben.

Die dritte Pranke fuhr mit einem Fauchen in die Welt der Lebenden, dass es das Schloss aus seiner Lethargie riss. Das Wesen warf den Kopf hoch und gewahrte das drohende Unheil.

„Nein.“, kreischte es, als ihm aufging, was ihm bevorstand. „Meister, mein Gebieter, das dürft ihr nicht zulassen. Nicht erneut ... Ich bin noch nicht so weit.“

Doch der Imperator schwieg und blickte mit versteinerter Miene direkt auf das sich öffnende Portal. Was hätte er auch tun sollen?

Die vierte Klaue brachte das Prasseln von Flammen mit sich, sowie den Geruch verbrannten Fleisches. Das Schloss schrie furchtsam auf und kletterte auf allen Vieren die Stufen des Throns hinauf, um bei ihrem Herrn Schutz zu suchen.

Doch er hatte keinen Beistand zu bieten, konnte ihr nicht helfen, und das Wissen brach ihm erneut das verkümmerte Herz.

Als der Bibliothekar in der Öffnung erschien, wimmerte das Schloss. Es klammerte sich an das Schienbein des Imperators, der es auf einen gebieterischen Blick Eschk t`ra Zhaels von sich stieß, die Treppen hinab und auf den Steinboden des Thronsaals, kurz vor dem flammenden Portal.

Sie kam schwer auf, stieß sich den Kopf. Und doch rappelte sie sich mit den Mut der Verzweiflung wieder auf, wandte ihm erneut ihr einst wunderschönes Antlitz zu. „Mein Meister, ich flehe euch an, lasst nicht zu, dass ...“

Der Rest war nicht mehr zu verstehen. Der Bibliothekar trat in ihre Realität, und seine Ankunft brachte das Brüllen seiner lodernden Welt mit sich. Mit einem Mal erfüllte das gepeinigte Stöhnen brennender Seelen die Luft in der Thronhalle, und sie war durchflutet von dem Geruch kochenden Blutes und staubiger Knochen.

Hoch wie ein Haus ragte er vor dem Schloss in die Höhe, welches sich furchtsam auf dem schwarzen Boden der Halle zusammenkauerte.

„Du hast meinen Sohn verloren, Tochter!“ Seine Stimme donnerte so sehr, dass sich Stücke aus der Decke lösten und zu Boden fielen. Das Schloss wimmerte. Der Bibliothekar wandte den Blick in Richtung des Imperators, seine flammenden Augen blickten bis hinab auf den Grund seiner Seele.

„Du hast Dich geirrt, Sterblicher. Der Dunkelname lebt noch, und er ist mächtig.“

Der Imperator saß zusammengesunken auf seinem Thron, dem Symbol seiner Macht, welches in diesem Moment nicht mehr wert war als ein flüchtiger Gedanke.

„Der Shay’den hatte Hilfe. Wir versuchen, zu verstehen, was ...“

„SCHWEIG, Mensch!“ Der Imperator verstummte, als der brennende Hass des Bibliothekaren über ihn hinweg fuhr. „Der Dunkelname muss sterben, es gibt keinen anderen Weg. Und jetzt, wo Ankhone nicht mehr ist, benötigt ihr einen neuen Streiter.“

Das Schloss kreischte auf, doch der Dämonenkönig ignorierte ihre Pein.

„Komm zu mir, Tochter.“ Seine Stimme hatte nichts Zärtliches, seine Worte ein ausdrücklicher Befehl, der keinen Widerspruch duldete.

„Du bist das Schloss, die Verbindung unserer Welten.“

Und sie rappelte sich wimmernd auf und schleppte sich zu ihrem wahren Herrn.

Und der Dämonenkönig küsste sie.

Und der Imperator sah zu.

Es war kein Akt der Verbundenheit. Keine Zärtlichkeit, kein Gefühl. Eschk t`ra Zhael füllte ihren Leib mit seiner Saat, und er ließ sich Zeit damit. Das Schloss wand sich in seinen Armen, ihre Augen tränten, doch gab es für sie kein Entkommen. Irgendwann war es vorbei, er ließ beinahe verächtlich von ihr ab und ragte über dem geschundenen Wesen auf, welches sich kaum noch rührte.

„Der Eine hat versagt. Nun sende ich Dir deren Zwei. Gib gut auf sie acht, ihren Verlust werde ich nicht verzeihen.“ Die Stimme des Bibliothekars ließ die Säulen des Thronsaales erzittern, so dass Staub und Dreck von der Decke rieselten und kleine Flammenzungen in den unergründlichen Schatten entstanden.

Der Imperator starrte ihm starr entgegen, sein Geist in eintausend Teile zersplittert.

„Nyssaviel ... Schattenblüte. Er weiß, was sie mir einmal bedeutet hat. Er weiß es ganz genau. Darum hat er sie vergessen lassen, wer wir dereinst füreinander waren. Ich jedoch weiß es noch, ich kann es nicht zu Grabe tragen, und er hält es mir grinsend vor Augen.“

Und doch, trotz aller Pein, trotz aller Liebe, brachte er es nicht über sich, für seine Imperatorin einzutreten. Sein Blick verharrte auf ihrem geschundenen Leib, und er nickte stumm, als die Worte seines Gebieters auf ihn einhämmerten.

Er wusste, dass ihr Martyrium noch nicht beendet war.

Eschk t`ra Zhael, der nicht lange in der Welt der Lebenden zu verbleiben vermochte, wandte sich zum Gehen.

„Es sind Brüder, und sie sind mächtig. Setze sie umsichtig ein.“

Damit verschwand er in dem Portal, welches sich sogleich schloss. Und als der letzte Flammenschein verschwunden war, blieb der Imperator allein zurück.

Allein mit der geschundenen Liebe seines Lebens.

Und der Schuld. Der quälenden, seelenzerfressenden Schuld.

Still lag sie da, regte sich kaum in ihren seidenen, zerrissenen Gewändern, ein leidendes Häufchen purer Qual. Doch er sah bereits, dass der Samen des Meisters sein unheiliges Werk tat. Ihr gemarterter Unterleib blähte sich auf, als die Frucht des Bibliothekars in ihr heranwuchs. Sie erwachte aus ihrem Delirium und kreischte in absoluter Agonie wie ein verendendes Tier. Ihr Leib beulte sich immer weiter auf, und sie versuchte mit schnellen Bewegungen, das aus sich herauszudrücken, was in ihr heranwuchs. Mit zitternden Beinen drückte sie sich auf dem Boden des Thronsaales herum, ihr zersplitterter Kiefer formte unsägliche Laute.

Dann gebar sie die Frucht des Bibliothekars und es war ein Akt von solcher Brutalität, dass er sich jeglicher Beschreibung entzog. Ihr Leib platzte auf und eine unmögliche Menge Flüssigkeit schoss aus ihr heraus. Und in diesem Strom aus Nass erblickten zwei Embryos das Licht dieser sterbenden Welt, grausam bizarre Dinge, die weder schrien, noch atmeten.

Und während das Schloss still in sich zusammensackte, wuchsen die beiden Föten unter den schreckgeweiteten Augen des Imperators heran. Erst nicht größer als eine Faust erreichten sie in Sekunden die Maße eines Kleinkindes, dann kurz darauf die Abmessungen eines Heranwachsenden. Es dauerte nur ein paar Lidschläge, und es erhoben sich zwei junge Männer aus den Überresten ihrer Niederkunft. Und der Imperator kannte ihre Namen und Grauen schlich sich in sein Herz.

„Idorath und Tathmael – Spiegel und Pestbringer. Die gefürchteten Reichsschlächter.“

Sein hektischer Blick war auf die beiden Dämonen geheftet, die seelenruhig vor seinem Thron standen, während ihre Mutter abtransportiert wurde. Sie würde heilen und in wenigen Tagen wieder ganz die Alte sein, ohne Erinnerung an die letzten grausamen Minuten, mit Ausnahme einiger alptraumhaften Bilder tief in den hintersten Winkeln ihres Verstandes. Das war ihr Fluch und seine Strafe gleichermaßen, denn er wusste, dass ihn die Eindrücke bis an sein Lebensende peinigen würde.

Die beiden Männer störten sich nicht daran, dass sie vollkommen nackt dastanden. Ihr gleichmütiger Blick lag auf dem Imperator, als erwarteten sie seine Befehle. Er bemühte sich um eine neutrale Miene, als er das Wort an sie richtete.

„Ich habe einen Auftrag für euch. Der Shay’rar ist tot, aber er war erfolgreich und hat gefunden, wonach der Meister sucht. Ich entsende euch, es zu beschaffen.“

Als sie finster lächelten, wurde es ihm eiskalt.

Und er blieb allein in seinem Thronsaal zurück. Allein mit seinen Erinnerungen und der Schuld.

Kapitel 3 – Runenschrecken

Das Flüstern aus Feuer.

Geist verdreht und Herz geschwärzt.

27. Tag des sechsten Monats im Jahr der Härte

307. Jahr des Imperators

Kontinent Yaestrath

Ash’ Seryne

Früher Morgen

Die Medicae umschwärmten Udhryk, sangen ihre Lieder und tauschten finstere Blicke. Es widerstrebte ihnen offensichtlich, den Zwerg zu behandeln, der an einem Attentat auf ihren Shay’rar beteiligt gewesen war. Doch Yeremey hatte ihnen unmissverständlich deutlich gemacht, dass er nicht weniger als ihr Bestes erwartete, und so hatten sie sich schlussendlich gefügt.

Niobel wich dem Gefallenen nicht von der Seite, ebenso wenig wie die restlichen Zwerge, welche die Heiler mit wilden Blicken anspornten. So kam es, dass sich um den Liegenden eine regelrechte Traube aus Aktivität bildete, während der Rest der zerstörten Halle in relativer Ruhe lag, obwohl auch dort Verletzte geborgen und Tote beiseitegeschafft wurden.

Tharis hatte man keine medizinische Versorgung angeboten. Das störte ihn jedoch nicht. Er ignorierte auch die konsternierten Blicke, die man ihm zuwarf. Er war zu Tode erschöpft und vibrierte gleichzeitig vor Energie, so dass es ihm ganz recht war, für einen Moment nicht Teil der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein. Außer seinen Gefährten und dem Nachtschatten wusste ohnehin niemand um seine Rolle beim Tod des Shay’rars.

Yeremeys Autorität schützte sie für den Moment davor, sofort attackiert zu werden, jedoch war ihnen allen klar, dass sie sich würden verantworten müssen. Doch im Augenblick hielt der Wall aus Befehlsgewalt, den Yeremey um die Gruppe gelegt hatte, und Tharis war ihm dafür ausgesprochen dankbar.

Er stand an einem der geborstenen Fenster und schaute hinab auf die Straßenschluchten Ash’Serynes. Unter ihm wimmelte es vor Aktivität, die Menschen wirkten wie ein Stamm geschäftiger Ameisen, und er schalt sich sofort für den Gedanken.

„Dies sind deine Brüder und Schwestern, und sie verdienen deinen Respekt.“

Er lächelte kurz und bitter und ließ den Blick auf die stählerne Mauer gleiten, die aus seiner Position im Licht des beginnenden Tages funkelte und strahlte. Das fremdartige Gebilde durchzog die gesamte Stadt in einer schnurgeraden Linie und war das Kernstück ihres Glaubens. Und einst hatte er sie angebetete, so wie alle Shay’den. Doch was war nun? War er noch einer ihrer Brüder? Wie sehr fühlte er sich ihnen zugehörig?

Was er im Inneren des Shay’rar gefunden hatte, stellte sein gesamtes Weltbild auf den Kopf, und bisher hatte er mit niemandem darüber gesprochen. Wie konnte er einer der ihren sein, wenn er wusste und sie nicht? Ein Dämon hatte seine Klauen in das Herz des Obersten geschlagen, ihn vergiftet und korrumpiert und damit den Weg geebnet für Ereignisse, die Yaestrath über Jahrhunderte in Finsternis geworfen und einen Krieg über die gesamte Welt gebracht hatten.

Unwissend trugen seine Ordensleute eine gewaltige Schuld, und er musste sich im Klaren darüber werden, wieviel er mitzuteilen bereit war. Was er erfahren hatte, konnte gut und gerne das Ende des Ordens bedeuten, und das durfte keinesfalls geschehen. Wenn die Shay aus dem Leben der Menschen verschwand, waren die Folgen unabsehbar. Das Dilemma zeichnete sich deutlich vor seinem inneren Auge ab. Es war unbestritten, dass der Orden sich einer Art von Reinigung unterziehen und für seine Sünden Abbitte leisten müsste. Gleichzeitig war es unabdingbar, dass die Priester weiterhin ihren Dienst verrichteten, wollten sie nicht Generationen an Namen verlieren und das Vertrauen der Bevölkerung komplett verspielen.

Und dann waren da noch die Ash’Tay. Die Träger uralter Namen waren in den Katakomben der Pyramide eingepfercht gewesen und Yeremey hatte Nachtschatten gesandt, sie aus ihren Kerkern zu holen und zu versorgen. Tharis freute sich nicht darauf, mit den geschändeten Heiligen zu sprechen, aber es war notwendig, wenn sie mehr erfahren wollten.

„Was für ein Desaster, nicht wahr.“ Yeremey ,der tausendjährige Nachtschatten, war neben ihn getreten und schaute ebenfalls hinab auf die aufgeregte Stadt.

„Manche würden es einen Sieg nennen. Wir haben ein großes Übel besiegt.“

Der Mann lächelte kurz. „Das Problem daran ist, dass nur wenige davon wissen, dass es überhaupt ein Übel gab. Für die überwiegende Mehrheit seid ihr ein Königsmörder.“

„Ihr könnt es nennen, wie ihr möchtet. Ich habe weder Geduld noch Zeit für Politik.“

Der Tausendjährige nickte und reichte Tharis die behandschuhte Hand.

„Das ist mir vollkommen klar. Gestattet mir dennoch, mich vorzustellen: Ich bin ...“

„Euer Trägername ist Yeremey, ich weiß. Ihr seid der Kommandeur der Nachtschatten und aktuell der oberste Befehlshaber des Ordens, bis ein Nachfolger für den verstorbenen Shay’rar bestimmt ist. Wir sind uns bereits begegnet, wie ihr euch vielleicht entsinnen mögt.“ Tharis ignorierte die angebotene Hand. Es gab keinen Grund für Vertraulichkeiten.

Der Ordensmann wurde bleich, als Tharis ihn an die Schlacht unter der geschmolzenen Stadt und die alptraumhaften Bilder erinnerte. Er ließ seine ausgestreckte Hand einen Moment in der Luft hängen, dann senkte er sie würdevoll.

„Vertrauen will verdient sein, ich verstehe.“, sagte er, und seine Stimme klang schmerzerfüllt..

„Es geht nicht um Vertrauen, Nachtschatten, sondern um Notwendigkeiten. Der Tod des Shay’rar wird nicht ungesühnt bleiben, weder durch den Imperator noch durch den Orden. Die Ordnung der Dinge wurde zerstört, und das wird Folgen haben.“ Er wandte dem Mann sein Gesicht zu, und seine Augen loderten in düsterem Feuer, als er weitersprach: „Und doch ist dies nichts als ein Funke in dem Feuersturm der Dinge, die kommen. Heute Nacht wurden Geschehnisse in Gang gesetzt, die größer sind, als ihr euch vorstellen könnt. Ein Handschlag wird daran nichts ändern.“

„Gleichwohl wurden so stets die stärksten Bünde bekräftigt.“

Tharis merkte auf. Die einfache Antwort des Mannes kam mit einer solchen Überzeugung, dass sie für den Moment sein düsteres Brüten unterbrach, und er erlaubte sich ein anerkennendes Lächeln.

„Ein Bund ist es also, was ihr vorschlagt?“

„Im Angesicht dessen, was uns bevorsteht, ziehe ich die Einigkeit definitiv dem Streit vor.“

„Interessante Worte, wo mich eure Krähen quer über den Kontinent gejagt und eine Spur aus Leichen dabei hinterlassen haben.“

„Das waren nicht die meinen, das kann ich euch versichern.“

„Und doch wart ihr dort.“

Eine unangenehme Stille senkte sich zwischen die beiden ungleichen Männer. Unabhängig voneinander hingen sie den Erinnerungen an die Schlacht von Madinat D’hayyiba nach, der Wüstenstadt, in der sie sich zuerst begegnen waren – in einer kleinen Kammer, in welcher ein gesamter Zwergenclan von den Truppen des Imperators niedergemetzelt wurde. Mit Yeremeys Beteiligung.

„Ich kann nicht leugnen, dass ich lange brauchte, um die Verderbtheit zu erkennen, die uns befallen hat. Doch ich habe meine Seite gewählt, dessen könnt ihr euch sicher sein. Und wenn ihr es wünscht, werde ich die Zwerge um Buße ersuchen.“

„Woher weiß ich, dass ihr mir keinen Dolch in den Rücken stoßt?“

„Ich denke nicht, dass das überhaupt noch möglich ist.“

Tharis merkte auf. Offensichtlich wusste dieser Nachtschatten mehr, als auf den ersten Blick ersichtlich war. Er wandte den Kopf und betrachtete den Mann eingehend, suchte nach Spuren von Falschheit oder Verrat.

„Was wisst ihr darüber, was uns bevorsteht?“

„Wesentlich weniger als ihr, wie mir scheint, und doch raubt es mir den Schlaf. Aber vielleicht habe ich Informationen, die euch dienlich sein könnten. Oder ... zumindest eine Ahnung davon.“

Tharis stockte kurz. Er war beileibe nicht so weit, dem Mann alles zu erzählen, auch wenn er spürte, dass er ein vertrauenswürdiges Herz hatte. Doch hatte er das Chaos an Empfindungen und Informationen selbst noch nicht geordnet, welches sich ihm offenbart hatte. Er wünschte sich, einen Moment mit Niobel oder Aergylon verbringen zu können, um sich mit ihnen zu besprechen. Doch so wie die Dinge gerade standen, war er alleine mit der dräuenden Dunkelheit vor Augen.

„Darf ich eine Bitte äußern?“ Seine Stimme war tonlos, als er sprach.

Der Tausendjährige hob überrascht eine Braue, damit hatte er nicht gerechnet. Tharis sprach weiter, bevor er etwas entgegnen konnte.

„Sendet Raben aus und holt Kunde aus den Bergen. Wir müssen wissen, ob die Heimat der Zwerge noch steht.“

Überraschung zeichnete die Züge des Mannes. Er hatte nicht gewusst, dass die Schlacht um die Zwergenfestung bereits vonstattengegangen war.

„Ich habe die Heere gesehen, die der Imperator in Marsch gesetzt hat. Wenn ihr mir die Bemerkung gestattet, es ist äußerst unwahrscheinlich, dass ...“

„Wir brauchen Gewissheit.“, unterbrach Tharis ihn. „Die Zwerge in meiner Begleitung müssen wissen, dass es für sie noch einen Ort gibt, an den sie zurückkehren können.“

Yeremey nickte. „Natürlich. Ich werde es sofort veranlassen.“

Damit ließ er Tharis stehen und wandte sich an einen seiner Adjutanten, besprach sich kurz mit dem Mann. Der wirkte erst überrascht, nickte dann eilfertig und eilte davon.

Tharis nutzte die Zeit und wanderte durch die zerstörte Halle. Überall waren Spuren der Schlacht zu sehen. Wände und Böden troffen vor Blut und Fetzen von Rüstungen, die prächtigen Säulen waren von tiefen Scharten verunziert und auf Schritt und Tritt lagen zersplitterte Waffen herum. Längst waren nicht alle Leichen beiseitegeschafft und Tharis bekam einen Eindruck davon, wie heftig der Bruderkampf der Nachtschatten getobt hatte. Ein Berg aus blutgetränktem schwarzem Leinen türmte sich vor ihm auf und Trauer befiel sein Herz.

„So viele meiner Brüder und Schwestern, einem feurigen Dämon zum Spiele.“

Er schluckte bittere Galle, als er in die gemarterten Gesichter blickte, die ihm mit gebrochenen Augen entgegen starrten. Ihr Blick war anklagend, und er murmelte ein paar um Verzeihung heischende Worte, obwohl er wusste, dass ihn keine Schuld traf.

Seine Schritte führten ihn weiter, ohne dass er hätte sagen können, wieso. Die Prachttreppe hinauf, die erst auf der Empore mündete, auf der ihn der Shay’rar empfangen hatte, und dann höher in das obere Stockwerk. Er erstieg die marmornen Stufen und erreichte nach wenigen Augenblicken eine Galerie, die zu beiden Seiten von Türen flankiert wurde. Dies war der private Bereich des Obersten, sein Allerheiligstes. Er warf einen kurzen Blick hinunter in die geborstene Halle. Yeremey schien bemerkt zu haben, was er tat, ließ ihn jedoch gewähren. Also ging er weiter und öffnete eine der schweren Holztüren.

„Und wieder betrete ich die Heimstatt eines Toten. Hoffen wir, dass es dieses Mal besser ausgeht.“, dachte er bei sich und wähnte sich kurz zurück in einem Bauernhaus am Ende aller Welten.

Vor ihm eröffnete sich ein großer Raum, der an eine Mischung aus Labor und Studierzimmer erinnerte. Die Luft war staubig und schwer, von einem undeutbaren Geruch belegt und von Bedeutsamkeit erfüllt. Ein einzelnes Fenster ließ blasses Morgenlicht herein und tauchte die Szenerie in unangenehmes Halbdunkel. Dicke Mauern wurden von langen Regalreihen gesäumt, auf denen Folianten, Phiolen und andere Gerätschaften ruhten und auf ihre Verwendung warteten. Er überflog im Vorbeigehen einige der Titel auf den Buchrücken und schauderte, als ihm aufging, wie viel Macht und Verdorbenheit in diesen unscheinbaren Buchreihen verborgen war.

„Die heiligsten Schriften des Ordens, Seite an Seite mit Werken absoluter Verkommenheit. Wüsste ich nicht bereits um die Niedertracht des Shay’rar, ich wäre entstetzt.“

Er betrachtete die seltsam anmutenden Gerätschaften genauer und war häufig nicht imstande zu erahnen, welchem Zweck sie dienten. Doch strahlten sie eine bösartige Aura aus, so als wären sie nicht von dieser Welt. Es waren finstere, gezackte Dinge, mit scharfen Klingen und langen Dornen und einige waren dunkel verfärbt von Blut. Es brauchte nicht viel Vorstellungskraft, um zu erkennen, dass sie für eine Art von Forschung oder Ritual verwendet worden waren. Und diese Riten standen sicher nicht in den Lehren der Shay.

Tharis erinnerte sich an die Anschuldigungen, die der Orden vor vielen Jahrhunderten gegen Oartu Hantzer erhoben hatte, den Shay’rar, der angeklagt, fortgejagt und verleumdet worden war. Nur um Jahrzehnte später in den Klauen eines Walddämons als dessen Sklave sein Ende zu finden. Die Tragik des Schicksals Hantzer machte ihm zu schaffen, und er nahm einen tiefen Atemzug.

„Ein Sündenbock für die Verfehlungen eines Anderen.“ Er spürte das Erbe des Tausendjährigen in sich aufwallen. „Die Verdorbenheit des Ordens hat vor so vielen Jahren ihren Anfang genommen, und niemand hat etwas gemerkt.“

Doch das konnte so nicht stimmen. Es war unmöglich, dass die Führung der Shay’den all dies hätte vollbringen können, ohne dass zumindest ein gewisser Teil der oberen Hierarchie einbezogen gewesen sein musste. Es war ausgeschlossen, dass dem Obersten nicht wenigstens eine Reihe an Mitwissern zur Seite gestanden hatten. Diese verdorbenen Einzelpersonen zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen war nun von größter Wichtigkeit, denn der Orden hatte nur dann eine Chance zur Reformation, wenn er die schwärende Wunde in seiner Flanke restlos ausbrannte.

Er seufzte. Es gab so viel zu tun. Und er hatte nicht das Gefühl, mehr als an der Oberfläche der Vorkommnisse gekratzt zu haben.

Er ging weiter, ließ die Regale hinter sich und näherte sich einem großen Steintisch, im Zentrum der Rückseite des Raumes. Er strahlte eine bösartige Aura aus und machte unzweifelhaft deutlich, dass er das Hauptelement dieser Kammer war. Hier waren ungeheuerliche Riten vonstattengegangen, und die Rückstände dieser Bosheit hingen noch immer in der Luft und vergifteten die Atmosphäre. Er war ein monströses Ding, aus schwarzem Basalt, fleckig und schrundig. Seine Linien verwirrten den Geist und flößten Ruchlosigkeit ein, schreckliche Fratzen waren in die Kanten gemeißelt, und an den Ecken befanden sich Ablaufrinnen zur Aufnahme diverser Flüssigkeiten, die dunkel und verfärbt waren.

Tharis konnte sich nur zu gut vorstellen, welchem Zweck sie gedient hatten, und er schüttelte sich.

Verstreut auf dem Tisch lagen verschiedene Gerätschaften und Papyrusrollen, mit fremdartigen Runen beschriftet, die sich seinem Blick stets entzogen, wenn er sie zu lesen versuchte. Sie stammten eindeutig aus einer anderen Welt, denn keine ihm bekannte Schrift vermochte allein durch ihren bloßen Anblick ein solches Unbehagen in ihm auszulösen. Doch seine Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem beansprucht, und es jagte ihm eiskalte Schauer über den Rücken, als sich sein tränender Blick aufklarte.

Prominent platziert inmitten eines Meeres aus Kerzen, auf einem Ständer aus Weißgold und Titan, umschlungen von Ketten aus Silber, ruhte ein aufgeschlagenes Ovocularis und verpestete den Raum mit einer Aura greinender Boshaftigkeit. Er hätte nicht überrascht sein dürfen, eines der berüchtigten Dämonenbücher im Herzen des Ordens zu finden, doch traf ihn der Anblick dennoch wie ein Schlag ins Gesicht.

„Es muss eines der Ersten sein. Ich kann seine Macht spüren.“

Die Seiten aus menschlicher Haut prangten ihm entgegen und die düsteren Schriftzeichen flossen über das grauenhafte Pergament, formten alptraumhafte Bilder. Ein rasender Ekel durchfuhr ihn. Instinktiv sah er sich nach einer Möglichkeit um, den Foliant zu verbrennen, doch verfügte das Labor über keinen Kamin.

In diesen kurzen Momenten verspürte er bereits den Ruf des Buches, wie es nach ihm tastete, ihn lockte, ihn verführte. Angewidert schlug er es zu, so dass es von seinem Podest stürzte und zwischen den Kerzen liegenblieb, irisierend beleuchtet und Düsternis verbreitend wie einen Pesthauch. Allein die kurze Berührung sandte Wellen aus Grauen durch seinen Geist und er vermochte sich nicht vorzustellen, wie es wäre, diesem Buch über Jahrhunderte ausgesetzt zu sein. Er riss einen Fetzen aus seiner ohnehin völlig zerstörten Kleidung und schlug das Ovocularis darin ein, atmete erleichtert auf, als der Pesthauch des Folianten zumindest etwas abgemildert schien.

„Hier ist das geschehen, wessen man Hantzer bezichtigt hat. Und es ging weiter, noch lange nach dessen Verbannung.“ Er schnaubte und fühlte die heiße Schwärze der Dunkelheit in sich aufwallen. Sein finsterer Begleiter regte sich, neu und anders, doch zugleich schrecklich vertraut.

„Da bist Du ja, alter Freund. Ich habe mich schon gefragt, wann Du Dich wieder zeigst.“ Er lächelte bitter. Vorbei waren die Zeiten, als er die Düsternis in sich, wider einer besseren Bezeichnung, nur „das Biest“ genannt hatte. Sein bisheriger Weg hatte ihm gezeigt, dass sein Fluch weit mehr als eine reine Bestie war. Es war ein Teil von ihm. Und spätestens seit dem Kampf gegen den Obersten hatte er aus einem Dreiklang eine Einigkeit geformt, und er begriff die verschiedenen Aspekte seiner Person als samt und sonders er.

Es gab keine Bestie.

Es gab kein Vermächtnis Hantzers.

Es gab selbst Tharis nicht mehr.

Nicht so, wie zuvor. Er war er, mit allem, was ihn ausmachte. Und er zog einen gewissen Frieden daraus, diesen Widerstreit in sich beigelegt zu haben.

„Wir sollten euch neue Kleidung besorgen.“ Die Stimme Yeremeys holte ihn aus seinen Gedanken, und er wandte den Kopf in Richtung der Tür, ohne wirklich hinzusehen. Der Nachtschatten lehnte im Türrahmen und hatte die Arme verschränkt, blickte sich aufmerksam um.

„Wusstet ihr, was in diesem Raum vor sich ging?“ Seine Stimme klang hohl und leer.

„Dies ist das private Labor des Obersten. Niemand wusste, was hier geschah.“, antwortete der schwarzgekleidete Mann, und auch in seiner Miene schlug sich die Atmosphäre des finsteren Laboratoriums nieder.

Tharis ließ die Antwort des Nachtschattens eine Weile im Raum hängen, dann trat er an eine Wand, die mit einem dicken Wandteppich verhangen war und betrachtete das Kunstwerk einen Augenblick nachdenklich. Es sprach auf eine Weise mit ihm, die er nicht ergründen konnte, beinahe als wollte es seine Aufmerksamkeit erwecken.

„Ist es nicht seltsam, eine Wanddekoration in einem solchen Raum aufzuhängen?“

Yeremey trat heran und besah sich den Teppich ebenfalls. „Ein absonderliches Werk. Es ist keine Arbeit, die ich erkenne.“

Tharis nickte. Auch ihm wirkte das Kunstwerk fremd, obwohl er bei Weitem kein Kunstkenner war. Doch es schien ihm so, als hätten nichtmenschlichen Hände es gewoben. Der Stoff war widerwärtig pockig, die Stickereien zeigten eine alptraumhafte Szenerie von Folter und Pein in flammender Umgebung, und Tharis fühlte sich unangenehm an seine Erfahrung im Inneren des Obersten erinnert.

Doch das war es nicht, was ihn zu diesem Wandteppich gezogen hatte, es ging nicht um das Stück selbst. Ohne sein Zutun streckte er die Hand aus und berührte den seltsamen Stoff, verspürte nur gelinde Überraschung, dass er sich ledrig anfühlte.

„Nicht die Haut eines Menschen, aber organisches Gewebe, ganz ohne Zweifel. Und wieso habe ich das Gefühl, dass es mich ... erkennt?“ Mit diesem Gedanken riss er den Teppich aus seiner Verankerung und ließ ihn zu Boden fallen. Und es hätte Yeremeys erstaunten Ausruf nicht bedurft, um das, was er dahinter erblickte, unwirklich und erschreckend wirken zu lassen. Eine flammende Rune prangte auf der steinernen Wand, ein Symbol von solcher Fremdheit, dass es seinen Blick abstieß, wenn er es genauer betrachten wollte. Sie schien in Flammen zu stehen, doch sonderte sie keine Hitze ab. Und in den Feuern der Rune wanderte seine Wahrnehmung hinab, in eine andere Welt, eine andere Ebene der Existenz. In eine Hölle aus Schmerz, Lohen, Blut und Knochen.

„Was ist das?“ Yeremey war vollkommen konsterniert.

Tharis ließ sich Zeit mit seiner Antwort, erforschte die Rune lange und sorgfältig, bis er sich sicher war.

„Es ist ein Portal.“

„Ihr meint ..?“

„Es ist ein Tor in eine andere Welt. Im Geist des Shay’rar sah ich eine Ebene aus Flammen und Tod und einen Herrscher, der nach unserer Welt giert. Er muss es gewesen sein, der den Obersten infiziert und dann korrumpiert hat. Durch diese Rune ist der unser Anführer vergiftet worden, ob willentlich oder nicht, spielt keine Rolle mehr. Diese Wunde im Stein hat es den Mächten des Bösen erlaubt, in seine Gedanken zu dringen und seine Taten zu lenken.“

Yeremey antwortete nicht, während er das Gesagte verarbeitete. Und in dem Moment, als Tharis es aussprach, wusste er, dass er richtig lag. Sein Blick hing wie gebannt in den Flammen der brennenden Rune und er konnte förmlich spüren, wie sein Geist die Ebenen durchschritt und sich öffnete, um Botschaften einer Entität weit jenseits jeglichen Begreifens zu empfangen. Er hörte Schreie unsäglicher Qual, düsteres Lachen und kochendes Blut, und darunter lag das Geräusch von umgeblätterten Seiten, kaum hörbar über der Kakophonie aus Leid. Es hätte keiner Bestätigung gebraucht, doch Tharis war sicher, dass die Rune ihm direkten Einblick in die Ebene der Wesenheit gewährte, die sich selbst Eschk t`ra Zhael nannte, aber auch unter den Namen Bibliothekar bekannt war. Ein Kartograf des Leids, der sich nährte an Pein und Tod. Und er hatte seine Klauenfinger nach ihnen ausgestreckt.

Als der Name des Dämonenfürsten seine Lippen verließ, keuchte Yeremey und die Flammen der Rune loderten auf. Sofort hatte Tharis den Geruch von Leder in der Nase und das Gefühl, sich durch ein Meer aus Gebeinen zu bewegen. Das Ovocularis auf dem Tisch pulsierte heftig.

„Was hat das zu bedeuten? Ich habe diesen Namen nie gehört.“

„Wahrscheinlich hat der Oberste alle Aufzeichnungen verschwinden lassen. Doch ist dieses Wesen unser eigentlicher Feind. Die wahre Bedrohung. Der Ursprung allen Leids.“

Noch immer starrte er auf die Rune, doch je länger er hinsah, desto intensiver stierte das Zeichen zurück, und er hatte den äußerst unangenehmen Eindruck, dass sie seiner gewahr war. Endlich riss er sich los und bemerkte erst jetzt, dass sich ein Chor aus wispernden Stimmen in seinem Schädel eingenistet hatten, der urplötzlich verstummte, kaum dass er seinen Blick abwandte.

Beinahe hätten sie ihn gehabt. Ihm wurde übel. Er konnte sich nicht vorstellen, dass diese Zeichen mit einem Mal an der Wand dieses Labores entstanden war. Es musste winzig klein begonnen haben, mit der Größe eines Staubkorns, wartend, bis es den Geist des Obersten ertastet und weit genug beeinflusst hatte, dass es wachsen durfte. Wahrscheinlich hatte es Jahre gedauert, vielleicht Jahrzehnte, doch irgendwann wurden aus flüchtigen, kaum bemerkten Gedanken obskure Gewaltfantasien und Wahnsinn. Und dann war es zu spät.

Hier, unbemerkt im privatesten Bereich des Ordens, war der Abstieg des Shay’rar vonstatten gegangen, und niemand hatte es kommen sehen. Der Bibliothekar hatte sich Zeit gelassen. Er war so alt wie die Sterne und das Böse, er konnte es sich leisten, zu warten.

„Welch perfide Falle. Jede Minute in diesem Raum hat den Obersten mehr und mehr korrumpiert, so dass es irgendwann keine Rolle mehr gespielt hat, ob er sich freiwillig auf das Spiel des Dämons eingelassen hat, oder nicht.“ Yeremey war empört und der Klang seiner Stimme zeigte dies überdeutlich.

Tharis nickte nur. Er hatte noch immer Probleme damit, den Ruf der flammenden Ebene hinter sich zu lassen. „Zumindest wissen wir jetzt, wieso sich der Shay’rar nicht zur Wehr gesetzt hat. Es hat ihn über Jahrhunderte vergiftet.“

Yeremey nickte zustimmend. Der Zorn hatte seine Miene eisern gehämmert, und er ballte die Fäuste in rascher Folge.

„Gebt acht, dass ihr nicht auch dem Ruf des Unheils erliegt, Nachtschatten