Dunkles Indien - Rudyard Kipling - E-Book
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Rudyard Kipling

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Beschreibung

Dieses eBook wurde mit einem funktionalen Layout erstellt und sorgfältig formatiert. Die Ausgabe ist mit interaktiven Inhalt und Begleitinformationen versehen, einfach zu navigieren und gut gegliedert. Joseph Rudyard Kipling (1865/1936) war ein britischer Schriftsteller und Dichter, der 1907 als bis dahin jüngster Autor und erster englischer Schriftsteller den Literaturnobelpreis erhielt. Seine bekanntesten Werke sind Das Dschungelbuch, Rikki-Tikki-Tavi, der Roman Kim und eine Vielzahl von Kurzgeschichten, so Der Mann, der König sein wollte, The Village that Voted the Earth was Flat und Gedichte wie Mandalay, Gunga Din und If. Inhalt: Am Ende der FahrtNaboth Moti Guj, der Meuterer "Ohne priesterlichen Segen" Durchs Feuer "Köpfe" Serang Pambés Harren und Hoffen Finanzwirtschaft der Götter Das Stigma des Tieres Imrays Rückkehr Die gespenstische Rikscha Morrowbie Jukes' Ritt zu den Toten Klein-Tobrah Der Mann, der König sein wollte "Der Pfad zum Lachenden Brunnen" Die Stadt der furchtbaren Nächte Der Ausgelöschte Georgie Porgie Die Juden in Shushan

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Rudyard Kipling

Dunkles Indien

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-1599-7

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Die Stadt der furchtbaren Nächte
Das Stigma des Tieres
»Der Pfad zum Lachenden Brunnen«
»Ohne priesterlichen Segen«
Finanzwirtschaft der Götter
Durchs Feuer
Georgie Porgie
»Köpfe«
Imrays Rückkehr
Der Mann, der König sein wollte
Der Ausgelöschte
Moti Guj, der Meuterer
Morrowbie Jukes' Ritt zu den Toten
Naboth
Die gespenstische Rikscha
Serang Pambés Harren und Hoffen
Am Ende der Fahrt
Die Juden in Shushan
Klein-Tobrah

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Im Norden Indiens stand einst ein Kloster, genannt die Ghubara des Dhunni Bhagat. Niemand weiß heute mehr, wer Dhunni Bhagat gewesen ist. Er hatte sein Leben gelebt, wie es eben jeder Hindu lebt, hatte ein bißchen Geld erworben und es, wie jeder gute Hindu tun soll, auf ein frommes Werk verwendet: eben jene Chubara. Diese Chubara enthielt eine Menge gemauerter Zellen, deren Wände mit Bildern von Göttern, Königen und Elefanten bunt bemalt waren. Asketisch aussehende Priester pflegten darin zu sitzen und über die Letzten Dinge nachzudenken. Die Gänge waren mit Ziegeln gepflastert; die nackten Füße Tausender hatten sie zu Rinnsteinen ausgehöhlt. Grasbüschel wuchsen in ihren Ritzen, heilige Feigenbäume breiteten ihre Blätter aus über die Brunnenwinde, die den ganzen Tag über knarrte und ächzte, Scharen von Papageien schwirrten durch das Geäst, Krähen und Eichhörnchen waren zahm wie Haustiere; wußten sie doch, daß ihnen von den Priestern keinerlei Gefahr drohte!

Die wandernden Bettler, die Amulettverkäufer und heiligen Landstreicher auf hundert Meilen in der Runde machten die Chubara zu ihrem Unterkunfts- und Ruheplatz. Mohammedaner, Sikhs, Hindus, einträchtig gesellten sie sich zueinander unter den Bäumen - Greise alle mitsammen. - Wenn der Mensch sich dem Wegkreuz der großen Nacht nähert, erscheinen ihm die vielen, verschiedenen Glaubensformen der Welt wunderbar gleich und farblos.

Gobind, der Einäugige, erzählte mir dies alles. Er war ein heiliger Mann, hatte früher auf einer Insel inmitten des Flusses gelebt und zweimal am Tage die Fische mit Brotkrumen gefüttert. Wenn zur Zeit des Hochwassers aufgedunsene Leichen an den Strand getrieben kamen, sorgte Gobind dafür, daß sie pietätvoll begraben wurden - um der Ehre der Menschheit willen und auch mit Rücksicht auf seine eigene dereinstige Abrechnung mit Gott. Als später eine Überschwemmung zwei Drittel der Insel wegspülte, kam Gobind über den Fluß hinüber in die Chubara des Dhunni Bhagat mit seinem kupfernen Trinkgefäß, das ihm am Brunnenseil befestigt um den Hals hing, mit seiner nägelbeschlagenen kurzen Armstütze, seiner Gebetrolle, seiner großen Pfeife, seinem Sonnenschirm, seiner hohen zuckerhutförmigen Kopfbedeckung mit der nickenden Pfauenfeder. - Er wickelte sich in seine, aus Flicken jeder Farbe und jedes Stoffes der Welt zusammengesetzte Decke, hockte sich in eine Ecke der friedvoll ruhigen Chubara, stützte den Arm auf seine kurze Krücke und erwartete den Tod. - Das Volk brachte ihm Nahrung und Sträußchen von Dotterblumen, und er gab ihnen seinen Segen dafür. - Er war fast blind und sein Gesicht über jede Beschreibung faltig, verrunzelt und durchfurcht, denn er hatte schon zu einer Zeit das Licht der Welt erblickt, als die Engländer noch nicht einmal auf fünfhundert Meilen an das Gebiet herangekommen waren, in der die Chubara des Dhunni Bhagat lag.

Als wir näher miteinander bekannt wurden, erzählte mir Gobind bisweilen Geschichten mit einer Stimme, dumpfrollend wie eine Holzbrücke, über die schwere Kanonen fahren. Es waren wirklich wahre Geschichten, aber unter zwanzig könnte man auch nicht eine in einem europäischen Buche drucken; die Europäer denken in anderer Weise als die Eingeborenen. Sie brüten über Dinge, die zu überdenken der Eingeborene sich Zeit läßt, bis der geeignete Moment eingetreten ist, und worauf sie nicht zwei Gedanken verwenden würden, darüber grübelt der Eingeborene stundenlang nach. - Wenn sie dann zu einer gemeinsamen Unterhaltung zusammentreffen - Eingeborene und Europäer - so starren sie einander verglast an, durch breite Klüfte des Mißverstehens getrennt.

»Und was ist dein ehrenwertes Gewerbe«, fragte mich eines Sonntagabends Gobind, »und womit erwirbst du dir dein tägliches Brot?«

»Ich bin«, sagte ich, »ein Kerani – einer, der mit der Feder auf Papier schreibt -, obgleich ich nicht im Dienste der Regierung stehe.«

»Was schreibst du also?« fragte Gobind. »Komm näher, denn ich kann dein Gesicht nicht sehen und das Tageslicht schwindet.«

»Ich schreibe von allen Dingen, die ich verstehe, aber auch von vielen Dingen, die ich nicht verstehe. Hauptsächlich schreibe ich über das Leben und über den Tod, von Männern und von Weibern und über Liebe und Schicksal, je nach dem Maß meiner Kraft, indem ich die Geschichten einer, zwei oder mehreren Personen in den Mund lege. - Dann werden die Geschichten verkauft, wenn Gott es zuläßt, und das Geld fließt mir zu, damit ich davon leben kann.«

»Ich verstehe«, sagte Gobind. »Dasselbe tut auch der Geschichtenerzähler in den Bazars, nur spricht er unmittelbar zu den Männern und Frauen und schreibt nichts auf. Wenn jedoch seine Geschichte die allgemeine Erwartung erregt hat und auf dem Punkte angelangt ist, wo dem Tugendhaften in der Schilderung Gefahr droht, dann unterbricht er sie plötzlich und verlangt Bezahlung, bevor er fortfährt. - Machst du es bei deinem Berufe ebenso, mein Sohn?«

»Ich habe gehört, daß es auch bei meinesgleichen so etwas Ähnliches gibt. Wenn eine Geschichte sehr lang ist, dann verkauft man sie in Abschnitten wie eine Melone.«

»Oh, ich war auch einmal ein berühmter Geschichtenerzähler«, sagte Gobind. »Damals, als ich auf der Landstraße zwischen Koshin und Etra bettelte, vor meiner letzten Pilgerfahrt nach Orissa. Oh, ich habe sehr viele Geschichten erzählt und noch viel mehr gehört, wenn wir des Abends nach langer Wanderung froh beisammen saßen. Ich trage die Gewißheit im Herzen, daß erwachsene Menschen so sind wie die Kinder, wenn es sich um Geschichten handelt; die ältesten Geschichten sind ihnen die liebsten.«

»Bei deinen Leuten ist das so«, sagte ich, »aber die Menschen meines Volkes wollen immer neue Geschichten und, wenn sie sie gelesen haben, dann stehen sie auf und sagen, so oder so geschrieben hätten sie ihnen besser gefallen; sie bezweifeln, ob sie auch wahr seien, oder sprechen geringschätzig von ihrer Erfindung.«

»O wie töricht!« rief Gobind und erhob seine runzlige Hand. »Eine Geschichte ist wahr, solange die Erzählung dauert. Und was das Schwätzen darüber betrifft - nun, du weißt ja, was Bilas Khan, der doch der König aller Geschichtenerzähler war, zu einem gesagt hat, der ihn in einem großen Unterkunftshause an der Straße nach Jhelum unterbrach und verspottete: - ›Fahr du jetzt fort, mein Bruder‹, sagte er, ›und vollende, was ich begonnen habe!‹ - Der Spötter nahm zwar den Faden der Erzählung auf, aber da er weder die Stimme noch die nötige Gabe besaß, blieb er stecken und mußte es sich gefallen lassen, daß ihn die Pilger die halbe Nacht hindurch verhöhnten und knufften.«

»Bei uns sind die Leute aber in ihrem Recht, da sie ja ihr Geld dafür hergeben. Man darf doch auch einem Schuster Vorwürfe machen, wenn die Schuhe nicht gut sind, die man bei ihm gekauft hat. Wenn ich wieder einmal ein Buch schreibe, sollst du es zu sehen kriegen und beurteilen.«

»Ja, ja, auch der Papagei sagte zu dem fallenden Baum: Warte, Bruder, bis ich eine Stütze hole«, sagte Gobind und lachte grimmig. »Gott hat mir bereits achtzig Jahre gegeben und noch ein paar darüber. Ich kann jetzt nur mehr auf Tage rechnen. Jeder Tag, der mir gewährt wird, ist eine Gnade. Du müßtest dich also recht sehr beeilen.«

»In welcher Weise gehe ich wohl am besten bei meinem Berufe vor«, fragte ich, »o du Fürst aller derer, die Perlen mit der Zunge aufreihen?«

»Wie kann ich das wissen?« Gobind dachte eine kleine Weile nach. »Doch warum sollte ich es auch nicht wissen! – Gott hat viele Köpfe gemacht, aber es gibt nur ein Herz in der ganzen Welt, bei deinen Leuten und bei meinen Leuten. Alle sind sie Kinder, wenn es sich um Geschichten handelt!«

»Ja, aber gerade Kinder können fürchterlich werden, wenn man ein Wort an die falsche Stelle setzt oder beim zweitenmal Erzählen auch nur um einen Deut abweicht.«

»Freilich! Das weiß ich! Habe ich doch auch einst solchen Kindern Geschichten erzählt; mach es so: -« Seine alten Augen ruhten versonnen auf den bunten Wandmalereien, der blauen und roten Kuppel und den flammenden Poinsettien im Hintergrund. »Erzähl ihnen zuerst von den Dingen, die du mit ihnen zusammen gesehen hast. Dann wird ihr eigenes Wissen das ergänzen, was du unvollständig läßt. Sodann erzähle ihnen, was du allein gesehen hast, dann, was du selber gehört hast, und dann - da sie ja alle Kinder sind - erzähl ihnen von Schlachten, von Königen, Pferden, Teufeln, Elefanten und Engeln; aber vergiß auch nicht, ihnen von Liebe und dergleichen zu erzählen. Die Erde ist voll von Geschichten für jemand, der hören kann und die Armen nicht von seiner Türe weist; die Armen sind die besten Geschichtenerzähler, denn sie müssen jede Nacht ihr Ohr an die Erde legen.«

Seit jenem Gespräch reifte der Stoff für mein Buch in meinem Kopf von Tag zu Tag, und Gobind erkundigte sich wiederholt und eingehend, welche Fortschritte es mache.

Nachdem wir uns Monate nicht mehr gesehen hatten, erhielt ich die Nachricht, daß ich verreisen müßte, und ging, Abschied von ihm zu nehmen.

»Ich komme heute, um dir Lebewohl zu sagen«, begann ich, »denn ich muß eine lange Reise unternehmen, Gobind.«

»Ich auch! Eine längere noch als du! Aber wie steht es mit dem Buch, mein Sohn?«

»Es wird rechtzeitig geboren werden, wenn es so sein soll.«

»Ich wollte, ich könnte es noch sehen«, sagte der alte Mann und kauerte sich unter seiner Decke zusammen. »Aber das wird nicht geschehen. Ich werde in drei Tagen sterben. Nachts. Kurz vor Sonnenaufgang. Die Zahl meiner Jahre ist reif.«

In neun Fällen unter zehn täuscht sich ein Eingeborener nicht über den Tag seines Todes. Er hat in dieser Hinsicht das Ahnungsvermögen eines Tieres.

»Dann wirst du in Frieden scheiden; deine Rede ist gute Rede, daß das Leben dir keine Freude ist.«

»Es ist schade, daß das Buch noch nicht geboren ist. Wie werde ich wissen, ob mein Name wirklich darin aufgezeichnet ist?«

»Ich verspreche dir, daß gleich am Anfang des Buches, allem ändern voran, stehen soll, daß Gobind, der Saddhu, von der Insel im Flusse, und in Erwartung Gottes in der Chubara des Dhunni Bhagat, mir zuerst von dem Buche gesprochen hat«, sagte ich.

»Und seinen Rat dazu gegeben hat - den Rat eines alten Mannes - den Rat Gobinds, des Sohnes Gobinds, aus dem Dorfe Chumi im Kreis Karaon, im Distrikt Mooltan. Wird auch das darin stehen?« forschte der Greis.

»Auch das wird darin stehen.«

»Und das Buch wird über das Schwarze Wasser gehen bis in die Häuser der Leute deines Volkes, und alle Sahibs werden von mir wissen, der ich jetzt älter als achtzig Jahre bin?«

»Alle, die das Buch lesen, werden von dir wissen. Für die anderen kann ich nicht gutstehen.«

»Das ist gute Rede. Ruf sie alle herbei mit lauter Stimme, die im Kloster sind, damit ich es ihnen erzählen kann!«

Und sie kamen alle herbei, die Fakire, die Saddhus, die Sunnyasis, die Bairagis, die Nihangis und Mullahs, - Priester aller Religionen und in jedem Grade der Zerlumptheit. Gobind, auf seine Krücke gestützt, sprach zu ihnen mit einer Begeisterung, daß sie sämtlich von Neid erfüllt wurden, bis ein weißhaariger Greis ihn ermahnte, an sein Ende zu denken, anstatt an den vergänglichen Ruhm im Munde der Fremden. Dann gab mir Gobind seinen Segen, und ich ging fort.

Die Geschichten, die ich in dem Buche bringe, habe ich an allen möglichen Orten gesammelt, habe sie gehört aus dem Munde so manchen Priesters in der Chubara, aus dem Munde Ala Yars, des Bildschnitzers, und Jiwun Singhs, des Schlossers - von Menschen ohne Namen, die ich auf Dampfern und in Eisenbahnzügen traf, von Weibern, die im Zwielicht vor ihren Hütten spannen, von Offizieren und Gentlemen, die längst tot und begraben sind; einige hat mir mein Vater auf den Weg mitgegeben, sie sind die besten.

Die bemerkenswertesten Geschichten kann ich hier nicht bringen - aus leichtbegreiflichen Gründen!

Die Stadt der furchtbaren Nächte

Inhaltsverzeichnis

Die erstickende feuchte Hitze, die auf dem Land liegt wie ein Tuch, macht jede Hoffnung auf Schlaf zuschanden; dazu das unablässige Zirpen der Zikaden und das gellende Geheul der Schakale! Unmöglich, es noch länger auszuhalten in dem leeren, dunkeln, echoreichen Haus und immer und ewig sehen zu müssen, wie der Punkahfächer in die tote Luft schlägt! So ging ich hinaus um zehn Uhr nachts in den Garten und steckte meinen Spazierstock in ein lockeres Beet, um zu sehen, nach welcher Richtung er fallen würde. Er deutete hinüber zur mondlichtbeschienenen Straße, die zur Stadt der furchtbaren Nächte führt. Das Geräusch seines Falles scheuchte einen Hasen auf. Der hoppelte von seinem Lager auf und lief hinüber zu einer aufgelassenen mohammedanischen Begräbnisstätte, auf der die zahnlosen Schädel und blanken Schenkelknochen, erbarmungslos bloßgelegt durch die Juli-Wolkenbrüche, wie Perlmutter schimmerten auf dem von Regengüssen zerwühlten Grund. Es war, als hätte die schwere Erde und die heiße Luft sogar die Toten emporgetrieben, Kühlung zu suchen. Der Hase hoppelte weiter, beschnupperte seltsam einen rauchgeschwärzten Lampenscherben und verschwand im Schatten eines Tamariskengebüsches.

Die offene Hütte des Mattenwebers beim Hindutempel war erfüllt von schlafenden Menschen, die umherlagen wie eingewickelte Leichen. Hoch oben am Himmel brannte das starre Auge des Mondes. Dunkelheit täuscht Kühle nur vor; beständig mußte ich mir vorsagen, das grelle Licht trüge keine Schuld an der Hitze ringsum. Eine krankhafte Wärme ging vom Mond aus und strahlte in die Luft. Wie ein gerader Streifen aus poliertem Stahl lief die Straße hinüber zur Stadt der furchtbaren Nächte; an den Wegrändern hingestreckt in phantastischen Stellungen, leichenhaft schlafend, die Leiber von hundertsiebzig Menschen auf Lagerstätten. Einige ganz in Weiß gehüllt und die Münder fest geschlossen, einige nackt und schwarz wie Ebenholz in dem gleißenden Licht, und einer, weit weg von ihnen, das Gesicht aufwärts gekehrt, den Kiefer herabgesunken, silberig schimmernd und aschig fahl: ein Aussätziger.

Die übrigen: erschöpfte Kulis, Diener, Kleinladenbesitzer und Kutscher von dem nahen Wagenstand. Szene: das Land vor den Toren der Stadt Lahore und eine heiße Augustnacht. Das war alles, was ich sah, aber nicht alles, was ich hätte sehen können. Der Hexenspuk des Mondlichts hatte die Welt in ein grausiges Bild verwandelt: die lange Reihe der nackten »Toten« bot einen schauerlichen Anblick - und als letzter darin der statuenhafte Leprakranke. Eine Straße aus Menschenleibern gebildet! Lauter Männer. Mußten denn die Frauen in den stickigen Höhlen der Lehmhütten die Nacht verbringen, so gut es ging? Das klägliche Greinen eines Kindes gab mir Antwort auf meine stumme Frage. Wo Kinder sind, da sind auch die Mütter nicht weit, die sie behüten. Sie halten Wache bei ihnen in diesen zermürbenden sengenden Nächten. Ein schwarzer kleiner Kugelkopf lugte vom Giebel eines niedrigen Lehmhüttendaches herab und ein dünnes - jämmerlich dünnes Beinchen streckte sich über die Regenrinne. Dann das scharfe Klicken eines Glasarmbandes; ein Frauenarm wird sichtbar einen Augenblick lang über der Brustwehr, schlingt sich um den Nacken des Kindes und zieht es zurück - das Zappelnde, Widerstrebende - in die schwüle Bettstatt. Schnell und kurz, wie es ertönte, ist das Piepsen des Kleinen verstummt; sogar die Kinder der Gosse sind zum Weinen zu erschöpft.

Wieder: leichenhaft schlafende Leiber, eine Koppel bewegungslos ruhender Kamele am Wegesrand, Mondlichtstreifen, eine weiße Straße, eine Vision dahineilender Schakale, Ekka-Ponys in tiefem Schlummer, das Zuggeschirr noch auf dem Rücken, und - wieder Leichen, Leichen. Messingbeschlagene Landkarren blitzen im Mondlicht - wieder Leichen, Leichen. Wo immer ein Heuwagendach, ein Baumstumpf, ein zersägter Stamm, ein Büschel Bambus, oder ein Strohhaufen Schatten wirft, da ist der Boden bedeckt mit diesen Schlafleichen. Einige mit dem Gesicht nach abwärts, die Arme verschränkt, im Staub; einige mit über den Köpfen gefalteten Händen; andere, zusammengekrümmt wie Hunde, oder wie die Geschützrohre steif an den Seiten der Kornwagen liegend. Andere wieder im grellen Mondesglanz und die Stirnen an die Knie gepreßt. Ich empfände es wie eine Erlösung, wenn sie schnarchen würden, aber alles bleibt still wie auf einem Totenfeld. Bisweilen beschnuppert den oder jenen ein Hund und trabt dann weiter. Hie und da liegt ein mageres Kindchen neben seinem Vater auf der Erde und gelegentlich schlingt sich ein Arm um seinen Körper; aber zumeist schlafen die Kleinen bei ihren Müttern auf den Dächern. - Gelbhäutige, blank-zähnige Parias weiß man nicht gern in der Nähe brauner Kinderleiber. Ein erstickend heißer Hauch aus dem Munde des Delhi-Tores ertötet fast meinen Entschluß, um diese Stunde die Stadt der furchtbaren Nächte zu betreten.

Es ist ein Gemisch aller üblen Gerüche tierischen und pflanzlichen Ursprungs, die eine mauerumgürtete Stadt ausbrüten kann in einem Tag und in einer Nacht; die Hitze, die in den Gruppen der Platanen und Orangenbäume außerhalb der Wälle herrscht, ist wie Eiseskälte, gemessen an der Temperatur, die einem entgegendringt. Gott sei allen Kranken und Säuglingen gnädig, die innerhalb dieser Stadt die Nacht verbringen müssen! Die hohen Häusermauern strahlen noch immer Glutwellen aus, und aus den Gossengruben dampfen faulige Miasmen, die einen Büffel betäuben könnten. Aber die Büffel schenken dem keine Beachtung. Ein halbes Dutzend lustwandelt in der menschenleeren Hauptstraße, und von Zeit zu Zeit drücken sie ihre massigen Nüstern an die Verschalungen der Kornhändlerläden und beschnauben sie dann wie die Walfische.

Wieder Stille. Aber jene gewisse Stille, die erfüllt ist von den Nachtgeräuschen einer großen Stadt: einen Augenblick erklingt ein Saiteninstrument, aber nur einen Augenblick. Hoch oben reißt einer ein Fenster auf und das Klappern des Rahmens ruft das Echo wach in den verödeten Straßen. Von einem Dach herab dringt das rhythmische Schlagen einer Punkah und Leute reden miteinander, - es klingt wie das sanfte Glucksen der Wasserpfeife. Ein wenig weiter und das Geräusch einer Unterhaltung wird deutlich. Ein schmaler Lichtstreifen zwischen den Ritzen des Rollverschlusses eines Ladens: drinnen ein stoppelbärtiger, müdäugiger Händler mitten unter Baumwollballen schreibt Zahlen in sein Hauptbuch. Drei verhüllte Gestalten leisten ihm Gesellschaft und machen von Zeit zu Zeit eine Notiz. Der Händler macht eine Eintragung, dann eine Bemerkung, dann fährt er sich mit dem Handrücken über die nasse Stirn. Die Hitze in der eng verbauten Straße ist furchtbar; drin im Laden muß sie unerträglich sein. Aber die Arbeit geht ihren Gang: Eintragung, ein Kehllaut, ein Zucken der Hand nach der Stirn, so folgt eins auf das andere mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks.

Ein Polizeimann - ohne Turban und tief im Schlaf - liegt quer über dem Weg auf der Straße zur Moschee des Wazir Khan. Ein Streifen Mondlicht glänzt auf seinem Gesicht, aber es stört ihn nicht. Es ist dicht vor Mitternacht und noch immer nimmt die Hitze zu. Der offene viereckige Platz vor der Moschee ist bedeckt mit »Leichen«; vorsichtig muß man sich den Weg ertasten, um nicht auf sie zu treten. Das Mondlicht fällt quer auf die hohe Front der mit bunten Diagonalstreifen aus Email geschmückten Moschee und jede der in den Nischen und Winkeln des Mauerwerks träumenden Tauben wirft ihren kugelförmigen Schatten. Verhüllte Gestalten taumeln schlaftrunken auf von ihren Pritschen und verschwinden geisterhaft in den dunkeln Tiefen des Gebäudes. Ob es wohl möglich ist, bis zum Giebel des Minaretts emporzuklimmen, um von dort in die Stadt hinabzuschauen? Auf alle Fälle lohnt es den Versuch, vorausgesetzt, daß die Tür zur Treppe nicht verschlossen ist! Sie ist offen, aber ein tiefschlafender Türhüter liegt auf der Schwelle, das Angesicht dem Monde zugekehrt. Eine Ratte huscht aus seinem Turban beim Geräusch der sich nähernden Schritte. Der Mann grunzt, öffnet die Augen für eine Minute, dreht sich um und schläft wieder ein. Die ganze Hitze eines Jahrzehnts glühender indischer Sommer ist aufgespeichert in den pechschwarzen glatten Wänden der Wendeltreppe. Auf halber Höhe des Minaretts regt sich etwas Lebendiges, Warmes und Fedriges, und schnarcht. Von Stufe zu Stufe emporgetrieben, flattert es hinauf und entpuppt sich als gelbäugiger, wutfauchender Raubvogel. Zu Dutzenden schlafen sie in den Minaretten und der Kuppel darunter. - Jetzt, auf der Spitze des Turmes, ein Schatten von Kühle, oder wenigstens ein geringerer Gluthauch, als unten. Erfrischt davon, bleibe ich stehen und blicke hinab auf die Stadt der furchtbaren Nächte.

Doré hätte sie zeichnen, Zola sie beschreiben können: diese Tausende, die da schliefen im Mondlicht und seinen Schlagschatten. Die Dächer erfüllt mit Männern, Frauen und Kindern! Die Luft ist voll undefinierbarer Geräusche. Alles ruhelos in dieser Stadt der furchtbaren Nächte. Kein Wunder! Ein Wunder nur ist's, daß diese Menschen noch atmen können! Sieht man genau hin, so bemerkt man, daß sie unruhig sind wie Menschen am hellen Tage, nur ist keine Eile in ihnen, - das Leben scheint unterdrückt. Überall, wohin man blickt, sieht man Schläfer sich unruhig wälzen, ihre Lagerbetten hin und her zerren und sich wieder ausstrecken. Auch unten in den Höfen der Häuser dasselbe Bild.

Erbarmungslos scheint der Mond auf sie hernieder. Scheint auf die Flächen außerhalb der Stadt und hie und da auf das handbreite Rinnsal des Ravee-Flusses hinter den Wällen. Dann reißt er einen glitzernden Silberblitz auf einem Hausdach auf, genau unter dem Moscheeminarett: irgendeine arme Seele gießt sich einen Kübel Wasser über den fiebernden Leib. Das Plätschern der fallenden Tropfen dringt leise an mein Ohr. Zwei oder drei andere folgen dem Beispiel; die Wassergüsse leuchten auf wie heliographische Signale. Eine kleine Wolke zieht über den Mond: und die Stadt und ihre Einwohner - soeben noch in weißes Licht und schwere Schlagschatten getaucht, - verschwimmen in einen Klumpen von Dunkel und immer tieferwerdendem Schwarz. Aber das unstete Geräusch dauert fort: das Seufzen einer großen Stadt, gewürgt von Hitze, und eines Volkes, das vergeblich nach Ruhe ächzt. Nur die Frauen der niedrigeren Kaste schlafen - versuchen zu schlafen - auf den Häusern der Dächer. Welche Qual muß erst herrschen in den vergitterten Zenanas - den Frauenhäusern? Hie und da sieht man durch die kleinen Fenster noch immer Lampen funkeln. Da! Schritte im Hofe unten! Es ist der Muezzin - der gläubige Diener der Moschee; eine Stunde früher hätte er hier sein sollen, um den Rechtgläubigen zu sagen, daß Gebet besser ist als Schlaf - Schlaf, der doch nicht kommt in die Stadt der furchtbaren Nächte!

Einen Augenblick tastet der Muezzin an der Tür eines Minaretts herum, verschwindet für eine Weile - dann verkündet ein furchtbarer Ruf - ein donnernder Baß, dröhnend wie das Brüllen eines Stieres, daß er auf der Spitze des Turmes angekommen ist. Sie müssen ihn hören - alle - bis hinüber zu den trockenen Sandbänken des Ravee. Bis hinab auf den Hofraum fällt die Gewalt des Rufes. Die Wolke zieht vorbei und der Mondglanz zeigt den Muezzin, wie er sich abhebt als schwarze Silhouette gegen den Himmel, wie er seine Hände an die Ohren preßt und seine breite Brust sich gehoben hat unter dem Atemstoß seiner Lungen bei dem hallenden Schrei: » Allah ho Akbar.« Dann eine Pause und: ein anderer Muezzin, aus der Richtung vom Goldenen Tempel her, nimmt den Ruf auf: » Allah ho Akbar.« Und wieder und wieder dröhnt es. Im ganzen viermal. Ein Dutzend Männer sind bereits aufgestanden von ihren Strohsäcken.: »Zeuge bin ich, es gibt keinen Gott außer Gott!« - was für ein herrlicher Ruf das ist, dieses Bekenntnis der Gläubigen, der die Menschen scharenweise von den Lagern scheucht um Mitternacht! Wieder dröhnt die Donnerstimme denselben Satz, und der Muezzin taumelt unter der Wucht seines eigenen Rufes; und dann nah und fern erbebt die Nachtluft mit dem Wort: »Mohammed ist Gottes Prophet.« Es ist, als fliege der Schrei bis hin zum fernen Horizont und fordere den Sommerblitz heraus, der da zuckt und aufgrellt wie ein aus der Scheide gerissenes Schwert. Bald, und alle Muezzin der Stadt rufen es herab von den Moscheezinnen; - schon haben sich viele auf den Dächern in die Knie geworfen. Eine lange Pause geht dem Schlußruf voran: » La ilaha Illallah!« Dann Totenstille. Wie ein Sack schließt sich das nächtliche Schweigen über allem.

Der Muezzin stolpert die dunkle Treppe hinunter, brummt etwas in den Bart, schreitet durch den Eingangsbogen und verschwindet. Erstickende Hitze brütet wieder stumm über der Stadt der furchtbaren Nächte. Wieder schlafen die Raubvögel in den Minaretten und schnarchen noch lauter als vorher; Gluthauch steigt in langsamen Wellen auf und der Mond gleitet unmerklich zum Horizont hinab. Bis zur Morgendämmerung kann man da an der Brustwehr lehnen, die Ellenbogen aufgestützt, und hinunterschauen auf den von Hitze gequälten, summenden menschlichen Bienenschwarm. Wie sie wohl ihr Leben verbringen? Woran sie denken? Wann sie wohl erwachen werden? Wieder das Plätschern von Wassereimern; leises Scharren von hölzernen Bettstellen, die in und aus dem Schatten gerückt werden; mißtönende Musik von Saiteninstrumenten, die, durch die große Entfernung gemildert, wie ein wehmütiger Klageruf klingt, dann das tiefe Grollen eines Donners weit drüben im Land. Der Türhüter unten im Hofraum der Moschee, derselbe, der quer über der Schwelle lag, als ich das Minarett betrat, fährt plötzlich wild auf im Schlaf, wirft die Arme in die Höhe, murmelt etwas und fällt wieder zurück in seine alte Stellung. Eingelullt von dem Schnarchen der Turmkäuze - sie röcheln wie Menschen, die erdrosselt werden, - versinke ich in quälenden Halbschlaf; nur dunkel kommt mir zu Bewußtsein, daß es drei Uhr geschlagen hat und eine leise, kaum merkliche Kühle in der Luft liegt. In der Stadt unten herrscht vollkommene Ruhe, nur bisweilen unterbrochen vom Liebesgesang streunender Hunde. Sonst schwerer Schlaf überall.

Wochenlang, so will mir scheinen, dauert die Finsternis: der Mond ist untergegangen. Sogar die Hunde schweigen. Ich warte, bis die Dämmerung kommt, ehe ich heimgehen will. Abermals ein Geräusch schlurfender Füße. Der Morgenruf hebt an und meine Nachtwache ist vorüber. » Allah ho Akbar! Allah ho Akbar!« Der Osten färbt sich grau und gleich darauf safrangelb; der Morgenwind erhebt sich, als hätte ihn der Muezzin beschworen, und wie ein Mann steht die Stadt der furchtbaren Nächte auf von der Lagerstatt auf den Dächern der Häuser. Die Lider schwer vom Entbehren des Schlummers, schleiche ich mich aus dem Minarett über den Hofraum der Moschee auf den breiten Platz hinaus, wo die erwachten Schläfer aufgestanden sind, ihre Bettstätten aufzuräumen, und von der Morgenwasserpfeife reden. Die kurze Minute der Kühle ist vorbei und es ist wieder so heiß, wie zuvor.

»Möchte der Sahib die Freundlichkeit haben, ein wenig zur Seite zu treten?« »Weshalb? Was ist geschehen?« Auf Männerschultern wird ein Etwas herangetragen im Zwielicht, und ich weiche einen Schritt zurück. Die Leiche einer Frau wird zum Verbrennungsghaut hinabgeführt. Einer der Herumstehenden sagt: »Sie ist heute um Mitternacht an der Hitze gestorben.« Nicht nur eine Stadt der furchtbaren Nächte ist Lahore, auch eine Stadt des Todes.

Das Stigma des Tieres

Inhaltsverzeichnis

»Eure Götter, oder meine Götter – wissen wir, welche von beiden die mächtigeren sind? Indisches Sprichwort

Östlich von Suez scheint die Vorsehung irgendwie zu versagen; die Menschen werden dort der Macht der Götter und Teufel Asiens überlassen; wenigstens tritt jene Vorsehung, die die englische Kirche lehrt, nur gelegentlich und auch dann nur sehr lahm in Tätigkeit, soweit es Europäer betrifft.

Diese Theorie könnte so manches überflüssig grauenhafte Geschehnis im Leben Indiens erklären. Ich erwähne das, weil es auf meine Geschichte hier einigen Bezug hat.

Mein Freund Strickland vom Polizeidepartement, der die Eingeborenen Indiens so gut kennt, wie selten einer, kann die Tatsache bezeugen; Dumoise war ebenfalls Augenzeuge, so, wie Strickland und ich. Nur der Schluß, den er daraus zog, war gänzlich unrichtig. Er ist jetzt tot. Starb auf sehr seltsame Weise. Darüber werde ich an anderer Stelle berichten.

Als Fleete nach Indien kam, nannte er ein kleines Vermögen nebst Landbesitz in Dharmsala im Himalajagebiet sein eigen: Er hatte es von seinem Onkel geerbt und gedachte es zu verwalten. Er war ein großer, schwerfälliger, dabei heiterer und friedfertiger Mann; seine Kenntnis der Eingeborenen war natürlich nur sehr oberflächlich, und er klagte oft darüber, daß er ihre Sprache nur mit Mühe und sehr unvollkommen verstehen könne.

Eines Tages kam er von seiner Besitzung in den Vorbergen angeritten, um Neujahr in der Station zu feiern, und lud sich bei Strickland zu Gast. Am Silvesterabend fand ein großes Festessen im Klub statt, und die Nacht verlief entsprechend feuchtfröhlich. Wenn Leute aus den äußersten Grenzen des indischen Kaiserreichs zusammenkommen, haben sie ein gewisses Recht, ein wenig über die Schnur hauen zu dürfen! Das Himalaja-Grenzgebiet hatte zu diesem Feste ein Kontingent von mehr oder weniger Hol-mich-der-Teufel-Existen zen entsandt; lauter Leute, die im Jahr keine zwanzig weiße Gesichter zu sehen bekamen und gewohnt waren, fünfzehn Meilen weit zum Essen zu reiten, dabei in beständiger Gefahr, statt Speise und Trank eine Khyber-Paß-Kugel kredenzt zu bekommen. Sie benützten ihre augenblickliche Sicherheit dazu, mit einem zusammengerollten Igel, den sie im Garten aufgestöbert hatten, Billard zu spielen, wobei einer von ihnen die Schreibtafel zwischen den Zähnen im Zimmer herumtrug. Ein halbes Dutzend Pflanzer aus dem Süden ergötzte sich damit, einen als größten Lügner Asiens bekannten Gentleman durch Erzählen grobdrähtiger Geschichten zu übertrumpfen, wurden aber alsbald von ihm aus dem Sattel gehoben. Kurz: die Gesellschaft war so bunt wie nur möglich zusammengewürfelt, und es gab keinen Unterschied des Ranges oder Standes. Man stellte fest, wer im verflossenen Jahr hinweggerafft oder sonstwie trinkunfähig geworden war – mit einem Wort: die Nacht verlief in Lust und Feuchtigkeit. Ich erinnere mich noch, daß wir Auld Lang Syne sangen, die Füße in den Polo-Meisterschaftspokalen und unsere Köpfe in den Sternen, und uns unverbrüchliche Treue schworen. Im Laufe der späteren Zeit gingen einige von uns hin und eroberten Burma, andere bemühten sich, den Sudan zu erschließen, fielen aber in jenem grauenvollen Gemetzel vor Suakim; andern gelang es, Orden und Medaillen zu ergattern, andere wieder heirateten, was an sich schon schlimm genug ist, und noch andere taten etwas, was womöglich noch schlimmer war. Der Rest von uns blieb an seine alten Ketten geschmiedet und mühte sich ab, auf Grund unzulänglicher Erfahrungen Geld zu machen.

Fleete eröffnete die Nacht mit Sherry und Magenbittern, trank dann rastlos bis zum Dessert Champagner, kratzenden Capri dazu, stark wie Whisky, nahm Benediktiner zum Kaffee, vier oder fünf Whiskys mit Soda, um die Billardbälle besser sehen zu können, vertilgte um halb drei Uhr mehrere Biere mit »Feuerwasser« und setzte einen alten Brandy drauf. Kein Wunder also, daß er um halb vier Uhr morgens, bei vierzehn Grad Kälte ins Freie tretend, vor Wut außer sich geriet, weil sein Pferd hustete, während er sich bemühte, mit Grätschsprüngen in den Sattel zu gelangen. Da es der Gaul vorzog, durchzugehen, um den Stall wieder aufzusuchen, so mußten Strickland und ich eine Unehrengarde bilden und Fleete nach Hause geleiten.

Unser Weg führte durch den Bazar, dicht an einem kleinen Tempel Hanumans, des Affenkönigs, vorüber, der eine Gottheit ersten Ranges ist und sich größter Ehrfurcht erfreut, denn alle Götter haben, wie die Priester, stets hervorragende Eigenschaften. Was mich betrifft, so zolle ich Hanuman jegliche Hochachtung, – auch bin ich seinem Volke, den großen, grauen Affen der Berge, überaus wohlgesinnt. Kann man doch nie wissen, ob man nicht einmal einen Freund nötig hat!

Im Tempel schien Licht, und als wir vorübergingen, hörten wir Männerstimmen drin Hymnen singen: in einem Hindutempel stehen jede Stunde der Nacht die Priester auf und ehren ihre Götter. Bevor wir Fleete zurückhalten konnten, war er die Tempelstufen hinauf gelaufen, klopfte zwei Priestern auf die Rücken und malte mit der Asche seines Zigarrenstummels auf die Stirn des roten Steinbildes Hanumans ein paar Striche. Strickland versuchte, ihn wegzuziehen, aber er setzte sich nieder und sagte feierlich:

»D-d-da! Das Z-z-zeichen des Viehs! Ich ha-huck-hab's gemacht. Fein, was?«

Kaum eine Minute verging, da wurde es im Tempel lebendig. Lärm und Getöse entstand, und Strickland, der genau wußte, was derlei Götterschändungen für Folgen haben konnten, meinte, es sei Gefahr im Verzug. Durch seine Stellung als Polizeibeamter, seinen langen Aufenthalt in der Gegend und seine Vorliebe, sich unter die Eingeborenen zu mischen, war er den Priestern wohlbekannt, was ihm jetzt überaus peinlich wurde. Fleete saß auf der Erde, weigerte sich, aufzustehen, und brummte: »Der gute alte Hanuman – huck – ist ein vortreffliches Ruhekissen!«

Da plötzlich – lautlos – stürzte aus einem Schlupfwinkel hinter der Bildsäule des Gottes ein silberner Mensch hervor. Er war vollkommen nackt, trotz der bitteren, grimmigen Kälte. Sein Körper schimmerte wie reifbedecktes Silber, denn er war, wie es in der Bibel steht, »ein Aussätziger, weiß wie Schnee. Er hatte kein Gesicht mehr, war seit vielen Jahren aussätzig, und das Übel lastete schwer auf ihm.« Wir bückten uns beide schnell, um Fleete wegzureißen, während der Tempel sich zusehends mit Menschen füllte, die wie aus dem Boden zu wachsen schienen, aber schon war der Silberne mit einem Ton, der dem Miauen einer Otter glich, unter unsern Händen durchgeschlüpft, hatte mit beiden Armen Fleete umfaßt und, ehe wir ihn fortstoßen konnten, seinen Kopf auf Fleetes Brust gepreßt. – Dann zog er sich in einen Winkel zurück und saß miauend da, derweil die Menge die Türen verrammelte.

Die Priester schäumten vor Wut; erst als sie sahen, daß der Silberne Fleete berührt und sich an ihm gewetzt hatte, beruhigten sie sich.

Nach einigen Minuten tiefsten Schweigens trat einer der Priester an Strickland heran und sagte in tadellosem Englisch: »Führen Sie Ihren Freund weg. Er ist mit Hanuman fertig, aber Hanuman nicht mit ihm.« Die Menge gab Raum, und wir brachten Fleete auf die Straße.

Strickland war wütend. Er sagte, wir hätten alle drei leicht erstochen werden können, und Fleete solle sich bei seinem guten Stern bedanken, daß er mit heiler Haut davongekommen sei.

Fleete fiel es natürlich gar nicht ein, sich zu bedanken. Nicht einmal bei uns. Er sagte, er wolle zu Bett gehen. Er war sinnlos betrunken.

Wir schritten unseres Weges, Strickland ärgerlich und schweigsam. Dann wurde Fleete mit einemmal von Schüttelfrost und einem Schweißausbruch befallen. Er schimpfte, daß die Gerüche aus den Bazars nicht auszuhalten seien, und er wundere sich, daß man die Schlachthäuser so nahe den englischen Wohnungen dulde. »Riecht ihr denn das Blut nicht?« fragte er immer wieder und wieder.

Endlich – die Dämmerung graute bereits – hatten wir ihn zu Bett gebracht. Strickland forderte mich auf, noch einen Whisky mit Soda mit ihm zu trinken; dabei kam er wieder auf den Skandal im Tempel zu sprechen und gab zu, daß ihn die Angelegenheit ganz aus der Fassung gebracht hätte. Es sei ihm im höchsten Grade widerwärtig, von Eingeborenen, mystifiziert zu werden – um so mehr, als es doch seine Aufgabe sein müsse, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Bis jetzt sei ihm das zwar nicht gelungen, aber in fünfzehn oder zwanzig Jahren hoffe er weiter zu sein.

»Hätten sie uns lieber verprügelt, statt uns anzumiauen!« sagte er. »Ich möchte gern wissen, was das hat bedeuten sollen! Die Sache will mir nicht recht gefallen.«

Ich gab der Meinung Ausdruck, die Priesterschaft werde wahrscheinlich Anklage erheben wegen Religionsstörung, denn es gäbe sicherlich eine Menge Paragraphen, die auf Fleetes Vergehen paßten. – Strickland meinte, wenn es damit sein Bewenden fände, wolle er von Herzen froh sein. Bevor ich ging, warf ich noch einen Blick in Fleetes Zimmer; er lag auf der rechten Seite und kratzte sich unaufhörlich an der linken Brust. Dann ging ich zu Bett, fröstelnd, bedrückt und verstimmt, um sieben Uhr morgens.

Um ein Uhr ritt ich hinüber nach Stricklands Haus, um mich nach Fleetes Befinden zu erkundigen. Daß er Kopfschmerzen haben würde, nahm ich als selbstverständlich an. Er saß beim Frühstück und schien unwohl, war verdrossen und schimpfte auf den Koch, weil sein Kotelett nicht roh genug sei! Ein Mensch, der nach einer durchschlemmten Nacht Appetit hat auf rohes Fleisch, ist ein Kuriosum. Ich sagte das Fleete. Er lachte nur.

»Eine sonderbare Art Moskitos züchtet ihr hier zu Lande«, sagte er nach einer Weile. »Ganze Stücke haben sie mir herausgebissen! Zum Glück nur an einer Stelle.«

»Laß mal sehen!« meinte Strickland. »Das Jucken wird doch wohl schon nachgelassen haben?«

Während die Koteletts zugerichtet wurden, öffnete Fleete sein Hemd und zeigte uns gerade über seiner linken Brust eine Verfärbung, die der schwarzen Rosette glich – den fünf oder sechs im Kreise stehenden unregelmäßigen Flecken, wie sie der Leopard auf dem Fell trägt. Strickland betrachtete die Stelle und sagte: »Merkwürdig! Heute morgen war es noch rosa; jetzt ist es schwarz geworden!«

Fleete stürzte zum Spiegel. Warf einen Blick hinein. Schrie: »Zum Teufel, das ist ja scheußlich! Was mag das nur sein?!«

Wir wußten keine Erklärung. Die Koteletts wurden gebracht; Fleete verschlang drei davon auf höchst sonderbare und widerwärtige Art: Er kaute nur mit den linken Backenzähnen und drehte den Kopf jedesmal über die rechte Schulter, wenn er einen Fetzen Fleisch ab gerissen hatte. Als er damit fertig war, schien er sich bewußt zu werden, daß er sich sonderbar benommen habe, denn er sagte, wie um sich zu entschuldigen: »In meinem ganzen Leben bin ich noch nie so hungrig gewesen. Ich hab gefressen wie ein Strauß!«

Nach dem Frühstück flüsterte mir Strickland zu: »Bleib hier! Geh nicht fort! Bleib hier über Nacht!«

Da ich keine drei Meilen weit von Stricklands Haus entfernt wohnte, erschien mir dies Ansinnen recht sonderbar, aber er bestand darauf und wollte eben etwas hinzufügen, da unterbrach ihn Fleete und gestand – wie verschämt -, daß er schon wieder hungrig sei. Strickland schickte sodann einen Boten in meine Wohnung, um mein Bettzeug und ein Pferd zu holen, während wir in die Ställe hinuntergehen wollten, um uns die Zeit zu vertreiben, bis der Moment zum Ausreiten gekommen sein würde. Wer Pferdeliebhaber ist, wird stets Ställe gern besichtigen; bietet sich doch dort immer Gelegenheit, Erfahrungen und Reiterlatein auszutauschen.

In den Ställen standen fünf Pferde. Nie werde ich die Szene vergessen, die sich abspielte, kaum, daß wir eingetreten waren! Die Tiere schienen plötzlich toll geworden zu sein! Sie bäumten sich, schrien förmlich vor Entsetzen und rissen beinahe ihre Pflöcke heraus. Sie schwitzten und zitterten, schäumten und gebärdeten sich wie rasend vor Furcht. Da es Stricklands Pferde waren, die ihren Herrn liebten wie die Hunde, erschien das besonders befremdend. Wir verließen auf der Stelle den Stall, denn wir mußten fürchten, daß sich die Tiere an ihren Halftern erwürgen könnten. Doch gleich darauf kehrte Strickland wieder um und raunte mir zu, ich solle ihm allein und unauffällig folgen. Die Pferde zitterten noch immer, ließen sich aber von uns streicheln und liebkosen und legten uns die Köpfe an die Brust.

»Vor uns fürchten sie sich also nicht!« sagte Strickland. »Weißt du, daß ich gern drei Monat Gehalt dafür geben würde, wenn der alte ›Outrage‹ hier nur eine Minute lang reden könnte!«

Aber »Outrage« war leider stumm und konnte nur seinen Herrn liebkosen und mit den Nüstern schnauben, wie das die Pferde tun, wenn sie etwas erklären wollen und nicht können. In diesem Augenblick kam Fleete wieder in den Stall; kaum wurden die Tiere seiner ansichtig, brach ihr Entsetzen von neuem los, und wir mußten schleunigst hinauseilen, um nicht Hufschläge abzukriegen. »Sie scheinen dich nicht besonders zu lieben!« sagte Strickland zu Fleete, als wir in Sicherheit waren.

»Dummes Zeug!« erwiderte Fleete. »Vielleicht deine Pferde! Meine Stute folgt mir wie ein Hund.« Wir gingen zu ihr. Sie befand sich in einem Extrastand, der ihr freie Bewegung ließ. Fleete schob den Riegel zurück: Im nächsten Augenblick schlug sie aus, überrannte ihn, warf ihn zu Boden und raste in den Garten hinaus. Ich lachte aus vollem Halse, aber Strickland blieb todernst – faßte seinen Schnurrbart mit beiden Händen und zog daran, als wollte er ihn sich ausreißen. Statt Anstalten zu treffen, sein Pferd wieder einzufangen, gähnte Fleete nur zu meinem Erstaunen, sagte, er sei plötzlich sehr schläfrig, ging ins Haus und legte sich nieder! Eine sonderbare Art, den Neujahrstag zu verbringen!

Wir gingen ohne ihn wieder in den Stall, und Strickland fragte mich, ob mir an Fleetes Benehmen nicht etwas besonders aufgefallen sei. Ich gab zu, daß er allerdings sein Essen wie ein Tier verschlungen hätte, aber das könne vielleicht eine Folge davon sein, daß er einsam in den Bergen lebe und fern von einem so kultivierten Umgang, wie der unsrige. Strickland lächelte nicht einmal; er hatte mir wahrscheinlich gar nicht zugehört, denn seine nächsten Worte bezogen sich auf das Merkmal an Fleetes Brust. Ich äußerte die Ansicht, es könne möglicherweise von spanischen Fliegen herrühren, oder sei vielleicht ein plötzlich sichtbar gewordenes Muttermal. Daß es scheußlich aussähe, darüber waren wir uns beide einig, und Strickland fügte hinzu, ich sei ein Narr.

»Ich kann dir jetzt noch nicht sagen, was ich denke«, fuhr er fort, »denn du würdest mich für verrückt halten; aber du mußt die nächsten paar Tage bei mir bleiben, wenn du irgend kannst! Bitte, beobachte Fleete, aber sprich nicht mit mir darüber, was du dir denkst, denn ich möchte mir meine eigene Meinung bilden.«

»Aber heut abend esse ich außerhalb!« behielt ich mir vor. »Ich auch!« sagte Strickland. »Und Fleete hat dieselbe Absicht, vorausgesetzt, daß er sie inzwischen nicht geändert hat.«

Dann schlenderten wir ein bißchen im Garten umher und rauchten stumm, denn wir waren Freunde, und Reden schmälert den Tabakgenuß, bis in unsern Pfeifen nur mehr Asche war. Hierauf beschlossen wir, Fleete zu wecken. Aber er war bereits wach. Lief unruhig in seinem Zimmer auf und ab.

»Es geht nicht so!« sagte er, als er uns eintreten sah. »Ich muß noch Koteletts haben! Kann ich welche kriegen?«

Wir lachten. »Zieh dich lieber um, Fleete! Die Ponys werden gleich da sein.«

»Schön«, sagte er. »Ich werde mich umkleiden, aber vorher muß ich noch Koteletts haben. Aber: halb roh, verstanden?!«

Er schien es im Ernst zu meinen, trotzdem es erst vier Uhr war und wir um ein Uhr reichlich gefrühstückt hatten. Immer wieder und wieder verlangte er rohe Koteletts. Dann erst zog er seinen Reitanzug an und kam auf die Veranda. Aber auch das Pony wollte ihn nicht nahe kommen lassen. (Die Stute war noch immer nicht eingefangen.) Alle drei Tiere waren nicht zu bändigen und außer sich vor Furcht. Als alle Mittel vergeblich geblieben waren, die Ponys zu beruhigen, sagte Fleete schließlich, es sei das beste, er bliebe zu Hause und lasse sich wieder etwas zu essen geben. Strickland und ich ritten erstaunt fort. Als wir an dem Hanumantempel vorbeikamen, tauchte der Silberne auf und miaute uns an.

»Er ist kein regulärer Priester des Heiligtums«, sagte Strickland. »Ich hätte große Lust, ihn verhaften zu lassen!«

Es war kein rechter Schwung in unserm Galopp an jenem Abend: die Pferde griffen nicht ordentlich aus und schienen ermattet, als seien sie abgetrieben.

»Der Schreck hat sie sehr hergenommen!« erklärte Strickland.

Es war die einzige Bemerkung, die er während des Rittes fallenließ. Nur ein- oder zweimal hatte ich ihn fluchen hören, aber das war nichts Seltenes bei ihm.

Es war bereits dunkel und etwa sieben Uhr, als wir wieder zu Hause anlangten. Zu unserm Erstaunen brannte nicht ein Licht in dem Bungalow. »Nachlässige Bande, diese Dienerschaft!« schimpfte Strickland.

Da scheute mein Pferd vor etwas Schwarzem auf dem Weg, und gleich darauf tauchte Fleete dicht unter der Nase des Tieres auf.

»Was kriechst du denn da im Garten herum?« fragte Strickland.

Beide Pferde machten Miene auszubrechen und warfen uns beinahe ab; wir stiegen vor dem Stall aus den Sätteln und kehrten zu Fleete zurück, der zwischen den Orangebüschen auf Händen und Knien umherkroch.

»Was, zum Teufel, ist denn los mit dir?« rief Strickland.

»Nichts, gar nichts!« antwortete Fleete hastig, aber mit seltsam schwerer Zunge. »Ich – ich habe im Garten gearbeitet, botanisiert und so. Der – der Geruch der Erde ist entzückend. Ich möchte einen Spaziergang machen – einen langen Spaziergang, die ganze Nacht hindurch.«

Ich begriff sofort, daß hier etwas über alle Maßen Ungewöhnliches vor sich ging, und sagte zu Strickland: »Ich werde doch lieber nicht auswärts speisen!«

»Danke dir«, erwiderte Strickland kurz. »Heda, Fleete! Steh auf, du holst dir das Fieber. Komm hinein zum Essen. Wir wollen Licht machen lassen; wir essen heute zu Hause.«

Fleete stand unwillig auf und knurrte: »Keine Lampen! Es ist viel schöner hier draußen. Essen wir doch hier! Mehr Koteletts – haufenweise, und – blutig und zäh!«

Ein Dezemberabend im Norden Indiens ist schneidend kalt, und der Vorschlag Fleetes war der eines Wahnsinnigen.

»Komm herein!« befahl Strickland in strengem Ton. »Komm augenblicklich herein!« Fleete gehorchte.

Als die Lampen gebracht wurden, sahen wir, daß er buchstäblich von Kopf bis Fuß mit Schmutz bedeckt war; er mußte sich im Garten herumgewälzt haben. Er schrak vor dem Licht zurück und ging in sein Zimmer. Seine Augen waren schrecklich anzusehen; es glomm ein grünes Licht – nicht in ihnen, nein: hinter ihnen, – ich kann es nicht anders schildern! und die Unterlippe hing ihm herunter.

»Es wird etwas Tolles geben – etwas ganz Tolles – heute nacht«, sagte Strickland. »Behalte dein Reitzeug an!«

Wir warteten und warteten auf Fleetes Rückkunft und bestellten unterdessen die Speisen. Er rumorte in seinem Zimmer, aber Licht hatte er nicht angezündet. Plötzlich erscholl aus seiner Stube das langgezogene Geheul eines Wolfes!

Man spricht und schreibt oft leichthin von erstarrendem Blut und von gesträubtem Haar. Aber, wenn es wirklich geschieht, vergeht einem die Lust, Scherz damit zu treiben! Mir stand das Herz still, als wäre es mit einem Messer durchstochen, und Strickland war weiß geworden wie das Tischtuch.

Das Geheul wiederholte sich und wurde von einem andern Geheul, weit über die Felder her, beantwortet.

Das setzte dem Grauen die Krone auf. Strickland stürzte in Fleetes Zimmer. Ich folgte, und wir sahen, daß Fleete aus dem Fenster kletterte. Tierische Laute kamen tief aus seiner Kehle. Er konnte nicht antworten, als wir ihn anschrien. Er geiferte.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, was dann folgte, aber ich glaube, Strickland muß ihn durch einen Hieb mit dem Stiefelknecht betäubt haben, sonst hätte ich nicht plötzlich auf seiner Brust knien können. Fleete konnte nicht mehr sprechen; er knurrte nur. Aber es war nicht das Knurren eines Menschen – es war das Knurren eines Wolfes! Der menschliche Geist in ihm mußte im Lauf des Tages immer mehr und mehr geschwunden und im Zwielicht erloschen sein; wir hatten es jetzt mit einem Tier zu tun, das einst Fleete gewesen war.

Das Erlebnis stand jenseits aller menschlichen und vernunftgemäßen Erfahrung. Ich wollte etwas sagen über Hydrophobie – Tollwut, brachte aber das Wort nicht über die Lippen – empfand es als Lüge, noch ehe ich es aussprechen konnte!

Wir fesselten das »Tier« mit ledernen Punkahriemen, banden ihm Daumen und große Zehe zusammen, knebelten es mit einem Schuhlöffel! Es ist das ein sehr wirksamer Knebel, wenn man ihn richtig anzuwenden weiß. Dann schleppten wir das »Tier« ins Eßzimmer und schickten einen Mann zu Dumoise, dem Arzt, mit der Bitte, er möge sofort kommen. Als der Bote fort war und wir wieder Atem geschöpft hatten, sagte Strickland: »Es wird nichts nützen. Die Sache schlägt nicht in das Fach eines Arztes.« Ich wußte, daß er die Wahrheit sprach.

Der Kopf des »Tieres« war frei; es warf ihn ruhelos hin und her. Hin und her. Wäre damals jemand ahnungslos ins Zimmer getreten, er hätte glauben müssen, wir stünden im Begriffe, einem Wolf das Fell abzuziehen; und das war von allen Gedanken, die unser Hirn bestürmten, vielleicht der schrecklichste.

Strickland saß unbeweglich da, das Kinn auf die Faust gestützt, und beobachtete schweigend das »Tier«, wie es sich auf dem Boden krümmte und wand, das Hemd vom Ringen aufgerissen, darunter die schwarze Rosette auf der linken Brust, die sich von der Haut abhob wie eine Brandblase.

In der Totenstille, die im Zimmer herrschte, hörten wir mit einemmal draußen etwas miauen, wie eine weibliche Otter. Wir sprangen beide auf, und ich – ich rede nur von mir allein, nicht von Strickland -, fühlte mich todkrank, richtig körperlich krank. Wir versuchten, uns einzureden: es – es sei eine Katze.

Dumoise kam. Noch nie habe ich einen Arzt so berufswidrig erschrecken sehen. Er sagte, es sei ein geradezu erschütternder Fall von Tollwut; leider gebe es kein Mittel dagegen. Beruhigende Medikamente würden den Todeskampf nur verlängern. Das »Tier« hatte bereits Schaum vor dem Mund. Wir redeten Dumoise ein, Fleete sei ein- oder zweimal von Hunden gebissen worden, was bei jemand, der ein halbes Dutzend Terriers hält, häufig vorzukommen pflegt. Dumoise konnte keinerlei Hilfe in Aussicht stellen; nur eins könne er mit Sicherheit erklären, sagte er, nämlich, daß Fleete an Hydrophobie sterben werde. Wie als Antwort heulte das Tier in diesem Augenblick laut auf: es war ihm gelungen, sich von dem Knebel zu befreien. Dumoise sagte, er wäre bereit, die Todesursache jetzt schon zu bescheinigen, da das Ende nahe sei. Er war ein braver, kleiner Kerl und erbot sich, bei uns zu bleiben, aber Strickland lehnte es ab; er wollte Dumoise das Neujahrsfest nicht verderben und bat ihn nur, die wirkliche Todesursache von Fleetes Tod nicht öffentlich bekanntzugeben.

Dumoise verließ uns tiefbewegt. Als das Rollen seines Wagens verstummte, teilte mir Strickland seinen Verdacht mit – im Flüsterton; es klang so unglaublich, was er sagte, daß er selbst es nicht laut auszusprechen wagte. Und obgleich ich Stricklands Ansicht innerlich vollkommen teilte, so schämte ich mich doch, es einzugestehen, und gab lieber vor, ich glaubte an derlei Dinge nicht.

»Selbst wenn der Silberne wirklich Fleete behext hat«, sagte ich leise, »so rasch könnte doch die Strafe wegen der Beschimpfung der Hanumanstatue –«

Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn abermals wurde ein Schrei draußen laut, und sofort verfiel das »Tier« wieder in einen Paroxysmus von Krämpfen – so heftig, daß wir fürchten mußten, seine Fesseln könnten zerreißen.

»Gib acht!« rief Strickland. »Wenn sich das noch sechsmal wiederholt, nehme ich das Gesetz selbst in die Hand. Ich befehle dir, mir dabei zu helfen!«

Er ging rasch in sein Zimmer und kehrte nach wenigen Minuten zurück mit dem Lauf einer alten Schrotflinte, einem Stück Angelschnur, ein paar dicken Stricken und seiner schweren Holzbettstatt. Ich berichtete ihm, die Krämpfe seien jedesmal etwa zwei Sekunden nach dem Heulen draußen eingetreten, aber jetzt sei das »Tier« merklich schwächer.

Strickland murmelte in sich hinein: »Das Leben kann er ihm doch nicht nehmen! Nein, Leben kann er nicht nehmen.«

»Es wird eine Katze sein!« Ich wollte unter keinen Umständen etwas anderes zugestehen: »Es muß eine Katze sein! Wenn der Silberne die Schuld hat, würde er nicht wagen hierherzukommen!«

Strickland zündete Holz auf dem Herd an, legte den Flintenlauf in die Glut, breitete die Taue auf dem Tisch aus, brach einen Spazierstock in zwei Teile und knotete einen Meter Angelschnur, aus Darm geflochten und drahtumwickelt, wie man sie zum Fischen der großen Mahseers verwendet, mit den Enden zusammen.

Dann sagte er nachdenklich: »So. Irgendwie müssen wir ihn fangen. Wenn ich nur wüßte, wie! Wir müssen ihn unverletzt in die Hand bekommen.«

»Verlassen wir uns auf die Vorsehung! Nehmen wir ein paar Polohämmer«, schlug ich vor, »und schleichen wir uns leise hinaus in das Buschwerk vor dem Haus! Alles spricht dafür, daß der Mensch, oder das Tier, das das Geheul ausstößt, in regelmäßigen Zeitabständen den Bungalow umkreist wie eine Nachtwache. Lauern wir ihm im Gebüsch auf und überfallen wir ihn, wenn er vorüberkommt!«

Strickland erklärte sich einverstanden, und wir schlüpften vom Badezimmerfenster aus auf die Veranda hinaus und von da über den Fahrweg ins Buschwerk.

Gleich darauf kam der Aussätzige um die Ecke des Hauses; wir konnten ihn deutlich im Mondlicht sehen. Er war völlig nackt, miaute von Zeit zu Zeit und blieb dann stehen, um einen merkwürdigen Tanz mit seinem Schatten aufzuführen. Es war ein grauenhafter Anblick, und als ich mir vorstellte, dies scheußliche Geschöpf sei schuld an des armen Fleete Erniedrigung zum Tier, da fielen meine letzten Bedenken und ich beschloß, Strickland zu helfen – mit dem glühenden Flintenlauf sowohl, wie mit der geknoteten Angelschnur – mit allen Foltern, die nötig sein würden, Foltern, vom Kopf angefangen bis zu den Hüften und wieder zurück!

Als der Aussätzige einen Moment vor der Eingangstür haltmachte, fielen wir mit den Polohämmern über ihn her. Er war erstaunlich kräftig, und wir mußten alles aufbieten, damit er uns nicht entwischte, ehe wir ihn festhatten, zumal wir darauf achten mußten, ihn nicht ernstlich zu verwunden. Wir hatten immer angenommen, Aussätzige wären schwache, elende Geschöpfe; es war ein Irrtum gewesen. Strickland versetzte ihm schließlich einen derartigen Hieb auf die Schienbeine, daß er niederstürzte. Ich setzte ihm den Fuß in den Nacken. Er miaute schauderhaft; durch meine hohen Reitstiefel hindurch konnte ich deutlich fühlen, daß sein Fleisch nicht das eines gesunden Menschen war.

Er schlug nach uns mit den Stummeln seiner Hände und Füße; wir schlangen den Riemen einer Hundepeitsche unter seinen Achseln hindurch, verknoteten sie und schleppten ihn rücklings in die Vorhalle und in das Eßzimmer, wo das »Tier« gefesselt lag. Dort banden wir ihn mit Tauen fest. Er wehrte sich nicht mehr. Miaute nur.

Die Szene, die sich abspielte, als wir ihn dem »Tier« gegenüberstellten, spottet jeder Beschreibung. Das »Tier« schnellte sich nach rückwärts, den Körper wie ein Bogen nach hinten gekrümmt, als sei es mit Strychnin vergiftet, und stöhnte zum Erbarmen. Noch verschiedenes andere begab sich, was ich hier nicht beschreiben kann.

»Ich glaube, meine Vermutung war richtig«, sagte Strickland. »Wollen mal die Aufforderung an ihn richten, den Fall zu kurieren!«