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In den Everglades geschehen Dinge, die man besser nicht beobachten sollte ... Der junge Schriftsteller Dan unternimmt mit seiner Freundin und ihrer Familie eine Bootsfahrt in die abgelegene Wildnis der Everglades. Dabei werden sie Zeugen eines brutalen Verbrechens ... Und plötzlich wird der Ausflug zu einem blutigen Albtraum. Zu Fuß müssen sie sich durch die tückische Wildnis kämpfen. Doch Krokodile und Schlangen sind geradezu harmlos, verglichen mit den menschlichen Raubtieren, die sie verfolgen. Ein erbarmungsloser Redneck-Thriller. Wenn du ein Fan von Stephen King, Richard Laymon oder Dean Koontz bist, wirst du Jeff Menapace lieben.
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Seitenzahl: 271
Veröffentlichungsjahr: 2020
Aus dem Amerikanischen von Susanne Picard
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Wildlife
erschien 2015 im Verlag Mind Mess Press.
Copyright © 2015 by Jeff Menapace
Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: Arndt Drechsler
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-854-4
www.Festa-Verlag.de
1
Südflorida
Mitten in den Everglades
Eigentlich nahm sich Travis immer einen Augenblick Zeit, um sich auf Onkel Harlons Alligatorenfarm kurz umzuschauen, bevor er das Haus betrat. Doch heute stürmte der Junge über die hölzerne Brücke auf den Haupteingang zu, ohne sich die beeindruckende Menge der Tiere darunter anzusehen.
Die Fliegenschutztür flog auf. Travis Roy erschien im Inneren des Hauses. Er sah aus, als hätte er sich gerade geprügelt, und keuchte. Es war die Großmutter des Jungen, die ihn als Erste bemerkte, dann kam seine Mutter, die im achten Monat schwanger war. Sie sprang aufgrund ihres Zustands nicht so schnell auf wie Travis’ Großmutter.
»Was zum Teufel soll das denn?« Ida Roy packte sich ihren Enkel und ergriff sein Kinn. Ihre Hand war aufgrund lebenslanger Arbeit und ihres Alters faltig und knorrig und konnte fest zupacken. Nicht sehr sanft bog sie Travis’ Gesicht nach rechts und nach links, um seine Verletzungen zu begutachten.
»Raus mit der Sprache, wer war das?«
Travis begann zu heulen, was ihm prompt eine Ohrfeige einbrachte. »Ich hab dich was gefragt! Wer war das?«
Travis warf einen Blick zu seiner Mutter, die nun neben seiner Großmutter stand. Ihr Gesicht war genauso unnachgiebig wie ihres: Wie konnte er es wagen, wegen dieser paar Wehwehchen zu heulen! In diesem Raum hatte niemand dafür Verständnis. Und er war ein Idiot, dass er etwas anderes erwartet hatte.
Jolene trat noch einen Schritt vor und hob drohend die Hand. »Antworte deiner Oma! Und hör mit dem Geheule auf, bevor dich noch einer sieht! Ist ja schon ’ne Schande, dass wir’s gesehen haben.«
Travis straffte sich und zog die Nase hoch, bevor er seine letzten Tränen unterdrückte. »Das war Noah Daigle.«
Ida griff nach der Rechten ihres Enkels und hob sie an die dicken Brillengläser, die auf ihrer Nasenspitze saßen. Sie drehte und wendete die Hand und inspizierte die Fingerknöchel.
»Da ist ja nich’ mal ’n Kratzer oder ’n blauer Fleck drauf! Hast wohl nich’ einen Schlag landen können, was, Junge? Die Linke guck ich mir gar nich’ erst an, wenn du ihm keine grade Rechte reingehauen hast, dann mit der anderen ganz bestimmt nich’, das ist mal so sicher wie’s Amen in der Kirche!«
»Hat mir eins übergezogen, als ich nich’ hingeseh’n hab«, verteidigte sich Travis.
»Und hat dich gleich komplett k. o. geschlagen?«, fragte Jolene Roy ihren Sohn.
Travis kratzte den Rest seines Stolzes zusammen und schüttelte heftig den Kopf. »Nee, Momma, echt nich’. Ich war nich’ k. o., ganz sicher nich’!«
Jolene verzog das Gesicht, als wollte sie gleich ausspucken. »Also hast du dich gleich gewehrt, oder was?«
Travis ließ den Kopf hängen. Er senkte den Blick und fummelte an dem Alligatorzahn herum, der an einem Lederband um seinen Hals hing. Eine Geste, mit der er sich bei Stress zu beruhigen versuchte.
Ida Roy wechselte einen bedeutungsschwangeren Blick mit ihrer Schwiegertochter und schnalzte ärgerlich mit der Zunge. Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Ein Roy, der sich bei einer Schlägerei mit einem Daigle zusammenrollt und wegduckt. Und nich’ einmal zurückschlägt!«
»Hätt’ ich sicher gemacht, wenn’s nur Noah gewesen wär!«, murmelte der Junge trotzig. Immer noch drehte er den Alligatorzahn zwischen Daumen und Zeigefinger.
Jolene beugte sich vor. »Wie war das bitte?«
Travis wusste, was jetzt kommen würde. Widerworte waren ein Garant für Prügel, hinter denen alles, was Noah Daigle ihm antun konnte, zurücktrat. Aber er hatte sich umsonst gefürchtet. Die Ungläubigkeit seiner Mutter war nicht rhetorisch gemeint, es war nicht das übliche Donnergrollen vor dem Blitz – oder der Ohrfeige. Es war eine außergewöhnliche Nachfrage, eine Bitte um Ausführung, denn die Ungläubigkeit auf Jolene Roys Gesicht war echt. Sie sah aus wie jemand, der gerade etwas vollkommen Unmögliches gehört hatte.
Und plötzlich wusste Travis auch, warum sie das dachte. Und plötzlich hätte er sich am liebsten selbst in den Hintern gebissen, dass ihm diese Lüge nicht schon viel früher eingefallen war.
Lauter und gar nicht mehr so verschämt wiederholte Travis jetzt: »Hätt’ ich sicher gemacht, wenn’s nur Noah gewesen wär!«
Ja, der Blick, den seine Mutter und seine Großmutter nun miteinander wechselten, war sicher keiner, der Prügel für Travis nach sich gezogen hätte. Ein verschmitztes Grinsen ließ die Mundwinkel des Jungen zucken. Wohlweislich allerdings ließ er den Kopf auch weiter wie ein armer Sünder hängen, um dieses Schmunzeln zu verbergen, falls er es nicht ausreichend unterdrücken konnte.
»Du willst also behaupten, dass du dein Gesicht nich’ nur Noah Daigle zu verdanken hast?«
Travis nickte, doch er hielt den Kopf weiterhin gesenkt. »Es waren Ethan und Noah«, sagte er in seine Brust hinein.
Ida Roy packte wieder Travis’ Kinn und riss seinen Kopf zu sich hoch. Ihre knochigen Finger gruben sich tief in seine Wangen hinein. Das tat weh und für kurze Zeit verschwand das Grinsen von Travis’ Gesicht. »Du willst also behaupten, dass Ethan Daigle auch daran schuld ist? Das war also kein fairer Kampf?«
Travis starrte seiner Großmutter in die Augen. Es fiel ihm schwer, ihrem Furcht einflößend grimmigen Blick standzuhalten, dessen Ausdruck von kochender Wut von den dickwandigen Brillengläsern nur noch verstärkt wurde. Es war, als quölle dieser Blick über wie ein schäumender Suppentopf, als tropfte diese Wut zischend ins Herdfeuer darunter.
Man erwies einem Roy Respekt. Das vergaß man nie und alle wussten das.
Ida fasste noch einmal nach und zog das Gesicht ihres Enkels näher zu sich. Ihr schlechter Atem wehte zwischen den tabakgelben Zähnen zu ihm herüber. Ida schämte sich nicht für ihr schlechtes Gebiss, sie trug es offen zur Schau wie ein Schulhofschläger seine Faust. »Du sagst also, dass Ethan Daigle auch dabei war? Es war also kein fairer Kampf?«, wiederholte sie die Frage.
Jetzt konnte Travis nicht mehr zurück. Erst hätte er sich ja am liebsten selbst geohrfeigt, dass ihm diese Lüge nicht früher eingefallen war, allerdings hatte er schon in dem Augenblick zu schwanken begonnen, in dem seine Großmutter ihre knochigen Finger in seine Wangen gegraben hatte. Da war ihm auf einmal der Gedanke gekommen, dass er nun ein noch größerer Idiot gewesen war, hatte er doch nicht daran gedacht, was mit den Daigles passieren konnte, wenn man ihm diese Lüge abnahm. Der liebe Gott konnte einem verzeihen, dass man einen heimlichen Blick in Daddys Playboy warf oder mal kurz an Onkel Harleys Whiskeyflasche nippte … aber eine Lüge, die das auf die Daigles herabbeschwor, was seine Familie jetzt wahrscheinlich infolgedessen plante? Dafür würde er in der Hölle brennen. Für immer und ewig und für alle Zeiten.
Natürlich konnte er immer noch alles zurücknehmen.
Und zugeben, dass es durchaus ein fairer Kampf gewesen war.
Zugeben, dass Ethan Daigle keinesfalls in diesen Kampf eingegriffen hatte.
Und eingestehen, dass er seine Ma und seine Oma angelogen hatte.
Travis schauderte. Was ihn anging, war die Lüge bei diesem Gedanken ein für alle Mal zur Wahrheit geworden.
»Nee, Oma, das war kein fairer Kampf!«
Ida ließ ihren Enkel wieder los und tätschelte ihm tröstend die Wange. Das stand in seltsamem Gegensatz zu dem Hass, der ihr bleibende Falten in die Stirn gegraben hatte. Wieder warf sie ihrer Schwiegertochter einen Blick zu. »Ist dein Ding, das wieder geradezurücken, Jolene.«
Jolene rieb sich mit beiden Handflächen den prallen Bauch. »Sollt’ ich nich’ besser warten, bis Tucker wieder heimkommt?«
Ida ignorierte sie, marschierte zur Fliegenschutztür und stieß sie auf, sodass sie mit einem Knall an die Hauswand prallte. Travis zuckte zusammen. Einen Augenblick später war seine Großmutter wieder da und hatte einen Stein von der Größe eines Softballs in der Hand. Damit ging sie in die Küche, nahm ein Geschirrtuch und wickelte den Stein darin ein, sodass er schließlich wie in einer einfachen Schlinge von ihrer knochigen Hand herabhing.
Sie hielt Jolene die provisorische Waffe hin und wies dabei auf Travis. »Nimm deinen Jungen und bring das wieder in Ordnung!«
Travis stand mit offenem Mund da. Wieder fummelte er nervös an seinem Alligatorzahn herum.
»Mach ihn zu deinem Werkzeug der Gerechtigkeit! Er muss lernen, dass es gerecht zuzugehen hat in der Welt.«
Jolene musterte die Geschirrtuch-Steinschleuder, dann wanderte ihr Blick hinüber zu Travis und wieder zurück zu ihrer Schwiegermutter. »Aber nehmen wir mal an, dass sie das dann nich’ so gerecht finden? Vielleicht wollen sie uns ja aufhalten. … Ich warte, glaub ich, doch besser auf Tucker.«
Ida schnaubte. Ihr kamen die Einwände ihrer Schwiegertochter ganz offensichtlich lächerlich vor. »Das werden sie nich’ wagen. Niemand darf einen Roy auch nur anrühren, auch wenn der noch so falschliegt.«
Dann zuckte ein hinterlistiges kleines Lächeln über ihre vertrockneten Lippen. »Zum Teufel. Das dürfen sie nich’ mal, wenn sie das Recht auf ihrer Seite hätten …!«
2
Noah Daigle saß neben seinem Vater auf der Bootsanlegestelle, die zum Haus gehörte. Zwischen den beiden war ein Stapel flacher Steine aufgehäuft. Abwechselnd ließen die beiden je einen Stein über den nahen Fluss flippern, während sie sich unterhielten.
»Hast ihm eine ordentliche Abreibung verpasst, eh?«, wollte Ron Daigle von seinem Sohn wissen.
»Aber klar, Daddy.«
Ron Daigle war gerade dabei, einen weiteren Stein über das Wasser hüpfen zu lassen, erstarrte aber mitten in der Bewegung. Er nahm seinen Sohn ins Visier. »Hatte er das wirklich verdient? Hast du ihn nich’ provoziert?«
»Nee, Dad! Ich wollt’ mich gar nich’ prügeln. Er war derjenige, der immer weitergemacht hat. Ich hab mich nur verteidigt, war wirklich alles völlig fair.«
Ron ließ seinen Stein über die trägen Wellen klatschen. Erleichtert wirkte er allerdings nicht. »Schon gut. … Aber du weißt ja, wie diese Roys werden können. Die verstehen unter ›fair‹ und ›gerecht‹ was and’res als alle anderen.«
Noah runzelte die Stirn und sah zu seinem Vater auf. »Meinst du echt, die würden einen Streit wegen eines fairen Kampfs anfangen? Einen, auf den ich’s nich’ mal abgesehen hab?«
Roy ließ einen weiteren Stein übers Wasser tanzen und seufzte. »Na jaaa, das kann man nich’ wissen. Harlon und Tucker Roy … die sind keine guten Verlierer, die beiden. Besonders Harlon nich’.«
»Harlon Roy hat mich dabei zusehen lassen, wie er ein paar Alligatoren zu einem Platz für Touristen gebracht hat. Oben, flussaufwärts. Schien mir ganz nett zu sein.«
Roy warf seinem Sohn einen skeptischen Blick zu. »Um so zu scheinen, mein Sohn, braucht’s nich’ viel. Selbst der Teufel kann so tun, als wäre er gut Freund mit dir … Bis er seine Klauen in dich schlägt. Hab Harlon Roy schon von seiner schlimmsten Seite erlebt.«
»Was hat er denn da gemacht, Daddy?«
Ron schüttelte den Kopf. »Nichts, was deine 13 Jahre alten Ohren hören sollten.«
Noah seufzte enttäuscht. Dann kam ihm ein aufregender Gedanke und weckte seine Lebensgeister wieder. »Hast du gesehen, wie er sein Bein verloren hat?«
Ron lachte in sich hinein. »Nee. Es heißt, dass ihm das einer seiner Alligatoren abgebissen hat.«
Wieder sah Noah enttäuscht drein. »Ja, das weiß doch jeder.«
Wieder musste Ron lachen. »Warum fragst du mich dann so was?«
»Ich glaub, das ist so, wie wenn du sagst, Harlon ›scheint‹ nett zu sein. Nich’ alles ist eben, wie es scheint. Ich denke, vielleicht ist er irgendwann mal ausgeflippt, besonders wenn er so ist, wie du sagst.«
»Was denn, du denkst, jemand, den Harlon reingelegt hat, kam eines Tages dahinter und hat ihm aus Rache das Bein abgehackt?«
»Klar, warum nich’?«
Wieder ließ Ron einen Stein flippern.
»Keiner schafft es bis Harlon oder Tucker. Und wenn, dann müsste er erst mal an Ida Roy vorbei.«
»Ist das Travis’ Momma?«
»Nein, das ist Travis’ Oma. Die ist eine fiese alte Schabracke. Viel gemeiner als Harlon.«
»Ich hab sie mal gesehen«, erzählte Noah. »Meist bleibt sie auf der Farm, aber ich hab sie gesehen. Sieht aus wie ’ne alte Sumpfhexe, die drüben aus Louisiana gekommen ist.«
Ron musste lachen, tätschelte seinem Sohn den Kopf und schob ihn dann spielerisch fort. »Klingt gar nich’ mal so falsch.«
Noah ließ den letzten Stein über das Wasser flippern. Er klatschte dreimal aufs Wasser, bevor er ein paar Meter vor dem Bug eines Paddelboots versank, das sich der Anlegestelle näherte. Travis Roy war es, der am Ruder saß. Den Kopf hielt er gesenkt. Seine Mutter Jolene Roy hatte im Bug Platz genommen, sie hatte den Kopf hoch erhoben und hielt den Blick fest auf das Anwesen der Daigles gerichtet.
Sie sah nicht gerade erfreut aus.
3
Ron Daigle stand langsam auf. Noah folgte seinem Beispiel.
»Jolene?«, begrüßte Ron die Angekommenden und wies auf das Boot. »Glaubst du, das ist schlau in deinem Zustand? Was, wenn du kenterst?«
Jolene antwortete nicht. Rons Besorgnis erzürnte sie nur noch mehr. Das war doch wohl nichts weiter als der Versuch eines Feiglings, der nur vom Thema ablenken wollte. Er wusste doch genau, warum sie hier war!
Travis Roy hielt den Kopf auch weiterhin gesenkt, er war nicht in der Lage, der Szenerie, die er doch selbst auf den Weg gebracht hatte, in die Augen zu sehen. Er hielt an dem grob gezimmerten Holzpier an, fixierte das Boot und half seiner Mutter ans Ufer. Beide gingen auf die Daigles zu, die sich ebenfalls ans Ufer begeben hatten, in Richtung Haus. Jolene ging voran. In ihrer Hand schwang bedrohlich der ins Geschirrtuch gewickelte Stein. Ron Daigle musterte sie, sein Blick blieb an der provisorischen Schleuder kurz hängen, dann wanderte er wieder hinauf zu ihr. Seine Miene verriet Furcht.
»Was soll’n das, Jolene?«
»Du weißt ganz genau, was das soll, Ron Daigle.« Jolene streckte die Hand aus und wies mit dem Finger auf Noah, der schräg hinter Ron stand. »Und wenn du’s nich’ weißt, dann fragst du vielleicht mal deinen kleinen Bastard da, warum wir hier sind.«
Ron hob eine Hand. »Du meine Güte, Jolene, jetzt schalt mal einen Gang zurück. So redest du nich’ über meinen Jungen!«
Jolene kam noch einen Schritt auf ihn zu und stach Ron mit dem Zeigefinger in die Brust. »Du traust dich ja was, den kleinen Scheißkerl noch zu verteidigen, wenn du weißt, was er getan hat!«
Unwillkürlich wich Ron einen Schritt zurück. »Geht’s um den Streit, den er und Travis hatten?«
»Das war ja wohl kein Streit. Es sei denn, du nennst zwei gegen einen einen fairen Kampf! Brauchte wohl seinen großen Bruder, dein kleiner Bastard, um meinen Jungen kleinzukriegen, was?«
Ron wandte leicht den Kopf, sodass er Jolene noch im Auge behalten konnte, während er mit seinem Sohn sprach. »Wovon redet Jolene denn, Noah? Du sagtest doch, es sei ein fairer Kampf gewesen.«
Noah trat einen Schritt vor. »War’s auch! Ethan war gar nich’ dabei!«
Jolene wies auf Travis hinter ihr. »Mein Junge sagt da was anderes! Brauchst ihn nur anzusehen, wie er aussieht! Das tut niemand ungestraft einem Roy an!«
Ron legte den Kopf schief und musterte Travis’ zerschlagenes Gesicht. Travis wich seinem Blick auch weiterhin aus. »Du behauptest also, dass Noah und Ethan dich zusammen verhauen haben, Travis?«, wollte Ron wissen.
Travis nickte. Hartnäckig hielt er den Kopf gesenkt und fummelte so intensiv an seinem Alligatorzahn herum, als wollte er ihn vollkommen abwetzen, bis nichts mehr übrig war.
Noah stampfte wütend neben seinem Vater mit dem Fuß auf den Boden. »Du bist ein Lügner, Travis Roy! Das war fair und anständig, Ethan war nich’ dabei!«
Jolene stieß Noah zurück, doch Ron trat vor seinen Sohn, um ihn zu schützen. »Jetzt hör mal, Jolene …«
»Dein kleiner Scheißkerl nennt meinen Jungen einen Lügner! Von wegen, das war ein fairer Kampf! Aber wir werden die Sache hier und jetzt regeln, damit wir kriegen, was uns zusteht.«
Ron wich jetzt zurück. Dabei winkte er und bedeutete so seinem Sohn, sich hinter ihn zu stellen. Sein Blick wanderte zwischen der unnachgiebig dreinschauenden Jolene und der Waffe, die sie in der Hand hatte, hin und her. »Jetzt mach mal ’nen Punkt, Jolene, immer mit der Ruhe. Niemand nennt hier irgendjemanden irgendwas. Ich hab Ethan heut noch gar nich’ gesehen und das ist die Wahrheit, ich schwör’s bei Gott. Wenn mein Junge mir sagt, dass es ’n fairer und ehrlicher Kampf war, dann glaub ich ihm das.«
Jolene kam noch einmal auf ihn zu. »Jetzt nennst du meinen Jungen also auch einen Lügner?«
»Ich hab grad schon gesagt, Jolene, dass niemand irgendjemanden irgendwas nennt. Ich sag nur, ich glaub meinem Jungen!«
Jolene runzelte die Stirn. »Und ich sag nur, ich glaub meinem Jungen! Lass uns das hier und jetzt miteinander klären, Ron Daigle, es sei denn, du willst, dass Tucker und Harlon dich mal besuchen kommen, um die Sache zu klären!«
Das Blut wich aus Rons Gesicht. »Jetzt komm schon, Jolene …«
»Nichts da mit ›jetzt komm schon, Jolene‹!«
Mit einem Krachen flog eine Fliegentür hinter ihnen auf. Jolene Roy legte den Kopf zur Seite, um zu sehen, wer im Türrahmen stand. Ron und Noah hingegen gingen das Risiko, sich umzuschauen, lieber nicht ein.
»Hey, was ist denn hier los?«
»Geh wieder rein, Adelyn«, rief Ron über seine Schulter hinweg.
Doch Adelyn Daigle blieb stehen, wo sie war. »Jolene Roy, was machst du denn hier in deinem Zustand? Du siehst aus, als würde es gleich hier und jetzt losgehen, Mädchen!«
»Bin hier, um deinem Kleinen mal ein oder zwei Dinge beizubringen über das, was passiert, wenn man sich mit einem Roy anlegt. Hätt’ nich’ gedacht, dass ihr Daigles eine solche Lektion nötig habt, Adelyn!«
Adelyn zog eine Grimasse. »Wovon redet sie bloß, Ron? Geht’s um diese kleine Kabbelei zwischen unserem Noah und ihrem Travis?«
»Hier geht’s um die Prügelei zwischen meinem Travis, deinem Noah und deinem Ethan noch dazu!«
Die ärgerliche Grimasse Adelyns wandelte sich in Überraschung. »Ethan? Ethan war doch gar nich’ dabei, Jolene. Das war doch ’n fairer Kampf!«
»Und das hast du mit eigenen Augen gesehen, Adelyn?«, höhnte Jolene.
»Nun, nein … Aber Noah meinte doch …«
»›Aber Noah meinte doch …‹!«, äffte Jolene nach. »Also, mein Junge sagte, dass Ethan dabei gewesen ist! Und das reicht mir. Jetzt könnt ihr beiden mal eurem Früchtchen Noah sagen, er soll herkommen, damit wir die Sache aus der Welt schaffen. Ich hab Ron schon gesagt, er will sicher nich’, dass Tucker und Harlon herkommen, um sich drum zu kümmern, Adelyn. Und ich könnt’ mir vorstellen, dass du das auch nich’ willst! Und jetzt sagt ihr beide Noah, er soll herkommen.«
Noah wand sich hinter seinem Vater vor und stellte sich vor Jolene. »Hey, ich hab gar nichts gemacht, das war alles fair und gerecht!« Verzweiflung sorgte dafür, dass ihm Tränen in die Augen schossen. »Dein Sohn ist ’n verdammter Lügner!«
Der Klang der Ohrfeige, die Jolene Roy Noah Daigle nun verpasste, klang wie ein Peitschenschlag. Der Junge taumelte. Der Schlag hatte ihm Furcht und Zorn aus dem Gesicht gewischt, nur purer Schrecken war geblieben.
Adelyn Daigle stürmte vor, doch Jolene zeigte auf sie: ein deutlicher Befehl, sich rauszuhalten. Adelyn blieb stehen, als ob Jolene eine Pistole auf sie richtete.
Ron Daigle blieb widerwillig an Ort und Stelle stehen. In ihm rangen Vernunft und Zorn miteinander; immerhin wollte er keinen Krieg mit den Roys.
Jolene warf einen Blick über ihre Schulter hinweg. »Travis, komm her.«
Travis folgte. Er machte den Eindruck, eingeschüchtert zu sein. Jolene hielt ihm das Handtuch mit dem Stein hin. »Und jetzt bist du dran. Jetzt nimmst du dir, was dir zusteht, Travis Roy.«
Travis zögerte.
»Nimm den Stein!«
»Heiliger Jesus, Jolene, siehste nich’, dass der Junge das gar nich’ will? Er weiß, dass das nich’ richtig ist! Travis, sag’s deiner Momma, sag ihr, dass meine Jungs dir nichts Unrechtes getan haben! Bitte!«
Travis sah auf zu seiner Mutter. Der Blick, den sie ihm von oben herab zuwarf, machte klar, dass ihn keine Vergebung erwartete, falls er jetzt mit der Wahrheit herausrückte. Er hatte eine einfache Wahl: weiterlügen und für immer die Schuld daran tragen, was nun mit Noah Daigle geschehen würde … oder die Wahrheit zu sagen und dem ins Auge zu sehen, was ihn erwartete. Ganz besonders ihn.
Er wählte Noah Daigle.
Travis nahm Stein und Handtuch, die seine Mutter ihm nach wie vor hinhielt, und ging auf Noah zu. Ron Daigle machte Anstalten einzugreifen, doch Jolenes Finger schoss auf ihn zu. »Ron Daigle, du bleibst, wo du bist. Und Gott helfe dir, wenn du das nich’ tust!«
Adelyn schrie nach ihrem Sohn. Jolenes Finger schoss jetzt auf Adelyn zu. »Halt bloß die Klappe, Adelyn! Ist doch wohl deine Schuld, wenn du deine Jungens so erziehst, dass sie gut nich’ von böse unterscheiden können!«
Der Schock, den Jolenes Schlag bei Noah ausgelöst hatte, hatte sich etwas abgeschwächt. Dennoch kamen ihm die Tränen der Angst, als Travis auf ihn zukam. Er machte keine Anstalten, sich zu verteidigen, er wartete nur auf das, was ihm nun wohl passieren würde. »Du bist ein verdammter Lügner, Travis Roy«, schluchzte er. »Am Jüngsten Tag wirst du bestimmt in der Hölle schmoren!«
Travis schwang das Gewicht im Handtuch. Der Stein traf Noah an der Schläfe, sodass dieser auf der Stelle bewusstlos zusammenbrach.
Adelyn kreischte auf und stürzte in seine Richtung los, doch Ron wirbelte herum und hielt sie auf. Er drängte sie zurück.
»Noch einmal!«, schrie Jolene.
Ron wirbelte zu Jolene herum, die Augen ungläubig aufgerissen. »Noch einmal? Komm schon, Jolene, das reicht!«
Jolene ignorierte ihn. »Travis Roy, du schlägst jetzt noch einmal zu!« Ihr geradezu besessener Blick richtete sich wieder auf Ron. »Eigentlich hätt’ ja je einer gereicht, aber Ethan ist ja nich’ hier, um seinen Schlag entgegenzunehmen. Also muss Noah wohl zwei kriegen!«
Jetzt kam Bewegung in Ron. Er stellte sich vor seinen bewusstlosen Sohn und breitete die Hände aus. Er straffte sich und schob die Schultern zurück. »Dann musst du wohl mich schlagen. Du sagst, wir sind verantwortlich für unsere Jungs, also los. Schlag mich stattdessen. Ich bin verantwortlich. Komm schon, Travis, schlag mich.«
Travis warf seiner Mutter einen verwirrten Blick zu.
Ron Daigles Bitte schien sie nur noch mehr verärgert zu haben. »Mach dich bloß vom Acker, Ron Daigle. Ich hab dich jetzt schon oft genug gewarnt, noch mal lass ich dir das nich’ durchgehen!«
Tränen hilflosen Zorns traten Ron in die Augen. Er zog es vor, sie nicht wegzuzwinkern, sondern ließ den Blick unnachgiebig, wenn auch glasig und weit aufgerissen, auf Jolene ruhen. »Dein Junge hat jetzt die Oberhand. Aber Noah könnte echt komisch werden. Bitte, Jolene …!«
»Dein Junge ist schon komisch genug, wenn er glaubt, er könnte so was ungestraft tun«, widersprach Jolene. Dann wandte sie sich an Travis. »Travis Roy, verdammt noch mal, ich werd’s dir nich’ noch einmal sagen!«
Ron wandte sich jetzt zornig an Travis. »Travis, tu das nich’. Was auch immer da zwischen dir und Noah passiert ist, das jetzt is’ nich’ richtig und das weißt du ganz genau, Junge! Ihr beide habt miteinander gespielt, als ihr klein wart. Bitte, Travis, tu das nich’ …!«
Travis ließ den Kopf hängen, Handtuch und Stein sackten neben ihm zusammen und baumelten lose an seiner Seite.
Jolene riss ihrem Sohn die Waffe aus der Hand. »Wart nur ab, bis dein Daddy von der Sache erfährt, Travis Roy. So wahr mir Gott helfe, wart’s nur ab!«
Jolene hob die Rechte, in der sie die Schleuder hielt, und schickte sich an, an Ron Daigle vorbei zu dem bewusstlosen Noah zu gehen. Doch Ron stellte sich ihr in den Weg und blockierte den Schlag mit seinem Unterarm. Er packte Jolene an den Schultern. Sie rangen miteinander, jeder versuchte unnachgiebig, den anderen festzuhalten. Jolene versuchte angestrengt, mit Handtuch und Stein zuzuschlagen, Ron versuchte verzweifelt, sich und seinen Sohn zu verteidigen, ohne der Frau und ihrem ungeborenen Kind Schaden zuzufügen. Dabei schrie er ständig: »Hör auf, Jolene! Jolene, hör auf, hör endlich auf!«
Jolene schwang ein letztes Mal die provisorische Schleuder, doch Ron duckte sich unter dem Schlag hinweg. Jolene verlor daraufhin das Gleichgewicht und kippte über das wacklige Geländer der kleinen Anlegestelle in das seichte, schlammige Wasser der Uferregion des Flusses. Ihr Kopf prallte mit einem hörbaren Knacken auf einen der Felsbrocken, die aus dem Wasser ragten. Ihr Körper verkrampfte sich kurz und wurde dann schlaff. Sie lag mit dem Gesicht im grünlichen Wasser. Um ihren Kopf herum erschienen keine Luftblasen.
»Momma!«, schrie Travis auf und beugte sich über das Geländer. Entsetzt starrte er auf den Körper seiner Mutter hinab. »Momma!«, schrie er noch einmal und warf sich dann selbst über das Geländer. Er landete im schlammigen Wasser und stürzte prompt der Länge nach hinein. Er kam japsend und prustend wieder auf die Beine und hastete zu seiner Mutter hinüber. Er rollte sie herum. In der Stirn Jolene Roys befand sich eine sichtbare Delle, deren tiefste Stelle aufgeplatzt war und dunkles Rot in das grünliche Wasser pumpte, sodass es sich braun färbte.
»Momma!« Travis schüttelte sie wieder und wieder. Ihre Augen blinzelten nicht einmal.
»Travis!«
Travis sah auf und wandte sich um. Ron Daigle hing über dem Geländer. Sein Gesicht war ausdruckslos. Sein Ruf an den Jungen war eher ein Reflex als ein Aufruf zu irgendeiner entschlossenen Handlung.
Travis wirbelte herum und hastete hinüber zu seinem Boot. Die Leiche seiner Mutter ließ er hinter sich.
»Travis!« Ron lief die Anlegestelle hinab und hoffte, den Jungen noch zu erwischen, bevor er das Boot erreichte. Doch Travis kam als Erster an und sprang ins Boot. Er richtete die Ruder aus und stieß sich ab. Ron erreichte die Stelle Sekunden später, watete in den Fluss und bekam noch den Bug zu fassen. »Travis, warte!«
Doch Travis hob eines der Ruder und schlug zu. Das Blatt traf Ron hinter dem Ohr. Er schwankte und drohte das Bewusstsein zu verlieren, stolperte und fiel rückwärts ins Wasser.
Als der Nebel in Rons Kopf sich lichtete und er sich wieder aufrappelte, war Travis schon ein gutes Stück des Flusses hinabgerudert. Er war auf bestem Wege, seiner Familie brühwarm zu erzählen, was passiert war.
Ron wandte sich um und trottete in Richtung Ufer. Als er auf die Anlegestelle kletterte, um nach seinem Sohn und seiner Frau zu sehen, kam Noah bereits wieder zu sich. Adelyn hielt ihn in den Armen, aber ihr Blick war auf ihren Mann gerichtet. Sie sah nicht traurig aus oder voller Reue. Ihre Miene war entsetzt.
»Ron Daigle«, meinte sie. »Was haben wir getan?«
4
Southwest Florida International Airport
Fort Myers, Florida
Elizabeth Burk entdeckte ihre Eltern in der Ferne. »Da sind sie ja!«, sagte sie und begann, mit dem ganzen Arm zu winken.
Dan Rolston, dem eine riesige Segeltuchtasche über der Schulter hing, blieb einen Augenblick stehen und stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf die Eltern seiner Freundin zu werfen. Bisher kannte er sie nur von Fotos.
Er sah, wie ein Paar breit lächelnd zu ihnen herüberwinkte. Sie sahen genauso aus wie auf den Bildern, die er sich immer wieder hatte ansehen müssen. Gebräunt, attraktiv, Leute, die wahrscheinlich ein glückliches Leben führten. Fotos konnten natürlich lügen, aber mit Elizabeth hatte er wirklich Glück gehabt. Sie war eine seltene Mischung aus Charakter und Schönheit. Sie hatte keinen schlechten Gedanken in sich – außer in ihrem gemeinsamen Bett in der Nacht, aber das war ja auch etwas anderes. Wenn die Burks auch nur halb so toll waren wie ihre Erziehung, dann war Dan völlig mit ihnen einverstanden.
Elizabeth ging nun in der Erwartung, ihre Eltern nach sechs langen Monaten endlich wiederzusehen, schneller, doch sie wandte sich rasch noch einmal zu Dan um. »Nervös?«
Nur noch 20 Meter, sicher nicht mehr. »Muss ich sie umarmen?«, wollte er wissen.
»Mach einfach, was dir angemessen erscheint.«
»Gettofaust«, erklärte er kurz und bündig.
Sie lachte. »Und für meine Mutter?«
»Zungenkuss.«
»Iiieh.«
Nur noch zehn Meter.
Elizabeth winkte erneut. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde zu einem breiten Grinsen. Dan winkte und lächelte ebenfalls. Es war seltsam. Als winkte man einem Bekannten zu, der sich bei genauerem Hinsehen als völlig Fremder entpuppte.
»Sag mir noch mal, warum die mich mögen sollten«, murmelte er aus dem Mundwinkel.
»Weil ich dich liebe«, erklärte sie aus ihrem.
»Das reicht nicht.«
Nur noch fünf Meter.
Sie machten weiter. Wie die Bauchredner. »Liebling, sie werden dich lieben. Meine Mutter mag jedenfalls deine Bücher.«
»Aber dein Vater hasst sie.«
»Er mag das Genre nicht. Er ist eben ein Angsthase. Wenigstens hat er sie überhaupt mal gelesen.«
Dan nickte. »Auch wieder wahr.«
Angekommen.
Elizabeth wurde von beiden Elternteilen gleichzeitig in den Arm genommen und abgeküsst. Dann kam der Augenblick der Wahrheit. Alle drei wandten sich um zu Dan.
»Mom, Dad? Das ist Dan.«
Dan begann mit Mrs. Burk. Er entschied sich für die Umarmung, sodass ihre ausgestreckte Hand ihn in die Brust traf. Dan fuhr zurück, wurde rot und lachte verlegen. Dann streckte auch er die Hand aus. Die nun wiederum sie in die Brust traf. Direkt auf den linken Busen, wollte sie doch nun auf ihn eingehen und ihn ihrerseits umarmen.
Mittlerweile war Dan puterrot geworden. »Ach, Scheiße«, platzte es so unwillkürlich aus ihm heraus, als hätte er Schluckauf.
Für einen Augenblick war es totenstill und Dan zog kurz in Erwägung, sich auf einen Sicherheitsbeamten zu stürzen, um »suicide by cop« zu begehen. Doch dann brachen Russ und Vicky Burk in Gelächter aus. Vicky Burk packte Dans Gesicht, setzte ihm einen dicken Kuss auf die Wange, wandte sich an Elizabeth und sagte: »Oh, ich mag ihn schon jetzt! Das wird lustig, wenn ich den Mädels im Club erzähle, wie ein junger Mann versuchte, mich anzutatschen!«
Dan war immer noch knallrot, doch er brachte ein Kichern fertig. Immer noch sah er sich nach einem Loch um, in dem er verschwinden konnte.
»Sie hatten, was das angeht, nur einen frei«, meinte Russ Burk und schüttelte spielerisch eine Faust in Richtung Dan.
Dan musste wieder leise lachen und streckte vorsichtig die Hand in seine Richtung aus. Immerhin wollte er nicht, dass es bei Elizabeths Vater ähnlich lief wie bei ihrer Mutter. Russ nahm sie mit breitem Grinsen, schüttelte sie und fügte sogar noch ein paar Klapse auf Dans Schulter hinzu, wobei jeder der sanften Schläge die angespannte Atmosphäre etwas mehr löste.
Ja. Doch. Echt glückliche und zufriedene Menschen.
Und was noch wichtiger war: Sie waren auch noch cool. Schon bald hatte Dans Gesicht seine normale Farbe wieder angenommen.
5
Ron Daigle stand draußen auf seiner Veranda und hatte die Schrotflinte schussbereit im Arm. Seine Söhne Noah und Ethan standen neben ihm, beide bewaffnet mit je einem 30-30 Winchester-Unterhebelgewehr. Adelyn Daigle saß hinter ihrem Ehemann und den Söhnen in einem Schaukelstuhl und schaukelte nervös hin und her. Ihr Blick war starr auf den Fluss gerichtet und darauf, was dieser wohl ans Haus bringen mochte.
Noah Daigle war der Erste, der das lange Schweigen brach. »Du glaubst uns doch, Paps, oder? Dass Ethan gar nich’ dabei war und all das? Du glaubst doch, dass Travis und ich uns ehrlich geprügelt haben, oder?«
Ron Daigle nahm den Blick nicht vom Fluss, als er antwortete. »Ich glaube dir, Junge. Aber ich glaube nich’, dass das jetzt noch einen Unterschied macht, verstehst du?«
Noah ließ den Kopf hängen und schüttelte ihn.
Ron und Ethan hatten Jolene Roys Leiche aus dem Wasser geholt und ins Haus getragen, wo sie immer noch, bedeckt von einem grünen Tischtuch, auf dem Boden lag. Seit ein paar Stunden lag sie schon da, doch noch keines der Familienmitglieder hatte es über sich gebracht, sie auch nur anzusehen.
»Ich find immer noch, wir sollten den Sheriff holen«, gab Ethan zu bedenken. »Connor James kann bezeugen, wo ich war, als Noah und Travis sich geprügelt haben. Dann sehen alle, dass die Roys im Unrecht waren. Und dass das, was passiert is’, allein ihre Schuld war.«
Ron warf seinem Sohn einen nüchternen Seitenblick zu. »Du glaubst also, dass sich der Sheriff in die Angelegenheiten der Roys mischt, Sohn? Ernsthaft?«
»Das is’ doch alles eine verdammte Scheiße!«, schrie Ethan aufgebracht in das Unterholz am Ufer des Flusses hinein.
»Ethan Daigle!«, wies Adelyn ihn aus ihrem Schaukelstuhl scharf zurecht.
Ethan wandte sich wieder an seinen Vater und drückte die Winchester in seinem Arm noch einmal an sich. »Was soll’n wir denn machen? Hier Gott weiß wie lange rumsitzen und darauf warten, dass man uns abknallt, wo wir’s doch gar nich’ verdienen?«
Rons Blick war nach wie vor aufs Wasser gerichtet, doch jetzt mischte sich eine tiefe Niedergeschlagenheit in den entschlossenen Ausdruck auf seinem Gesicht. »Ich weiß es nich’, Sohn. Ich weiß nur, dass sich der Sheriff da nich’ einmischen wird. Und ich weiß, dass die Roys ganz sicher hier aufkreuzen und uns nich’ in Ruhe lassen werden.«
Ron spuckte in den Sand vor der Veranda. Seine Melancholie wandelte sich in hilflose Abscheu.
»Und ich weiß auch, dass sie ganz sicher übel drauf sind, wenn sie uns abknallen wollen, wo wir’s doch gar nich’ verdienen.«
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