Durch Sturm und Eis - Arved Fuchs - E-Book

Durch Sturm und Eis E-Book

Arved Fuchs

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Beschreibung

Unter Segeln bis ans Ende der Welt: eine Liebeserklärung an ein besonderes Schiff Sowohl die Nordost- als auch die Nordwestpassage zu durchqueren, das hat vor der legendären DAGMAR AAEN noch kein Schiff geschafft. Auf unzähligen Expeditionen und Forschungsreisen stand sie ihrem Wegbegleiter Arved Fuchs treu zur Seite, überwinterte mehrfach im Packeis der Arktis und umrundete den kompletten Nordpol. Die DAGMAR AAEN ist zweifellos kein Schiff wie jedes andere, hat sie doch schon so manche Extremsituation hinter sich, die ein Segelschiff an seine Grenzen bringen könnte. Mit »Durch Sturm und Eis« setzt Polarforscher Arved Fuchs dem robusten Kleinod dänischer Schiffbaukunst ein verdientes Denkmal. Die lang ersehnte Neuauflage seines Buches »Kein Weg ist zu weit« blickt so eindrücklich wie liebevoll auf ihre jahrzehntelange gemeinsame Geschichte auf den Ozeanen zurück. Eine wunderbare Liebesgeschichte in amüsanten Anekdoten und ausdrucksstarken Fotografien. • Komplett aktualisierte Neuauflage von »Kein Weg ist zu weit – Die Geschichte der DAGMAR AAEN« mit neuen Abenteuern des Segel-Dream-Teams • Vom Fischkutter zum Expeditionsschiff: wie die DAGMAR AAEN zu der wurde, die sie heute ist • Amüsante Anekdoten, persönliche Erlebnisse und herrliche Bilder: die größten Segelabenteuer von Arved Fuchs in einem etwas anderen Reisebericht Vom Haikutter zur treuen Weggefährtin: die ganze Geschichte der DAGMAR AAEN Der Lebenslauf der DAGMAR AAEN liest sich wie das Porträt einer großen Abenteurer-Karriere: 1931 für den Einsatz im Nordatlantik gebaut und bis 1977 in der Fischerei beschäftigt, hat der standhafte Haikutter seit dem Umbau zum Expeditionsschiff zahlreiche Faceliftings hinter sich gebracht, immer bereit für die nächste Reise durch raue Wellen und extreme Landschaften. Erleben Sie die faszinierende Geschichte eines besonderen Traditionsseglers, der für viele zur wahren Freundin wurde!

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ARVEDFUCHS

DURCH STURM UND EIS

MEINE EXPEDITIONEN MIT DER DAGMAR AAEN

 

 

 

1. Auflage 2021

© Delius Klasing & Co. KG, Bielefeld

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-667-12221-6 (Print)

ISBN 978-3-667-12342-8 (Epub)

Lektorat: Birgit Radebold, Johanna Schwarz

Fotos: Archiv Arved Fuchs Expeditionen; außer Klappe vorn: Uwe Rattay (uwerattay.com);

S. 75: Arved Fuchs/Till Gottbrath; S. 110/111, S. 124/125, S. 127, S. 128/129, S. 131, S. 132, S. 133 alle,

S. 134/135, S. 148/149: Harald Schmitt

Umschlaggestaltung und Layout: Felix Kempf, www.fx68.de

Vor- und Nachsatzkarte: inch3, Bielefeld

Datenkonvertierung E-Book: Bookwire - Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk weder komplett noch teilweise vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

www.delius-klasing.de

SEGELSCHIFFE

Sie haben das mächtige Meer unterm BauchUnd über sich Wolken und Sterne.Sie lassen sich fahren vom himmlischen HauchMit Herrenblick in die Ferne.

Sie schaukeln kokett in des Schicksals HandWie trunkene Schmetterlinge.Aber sie tragen von Land zu LandFürsorglich wertvolle Dinge.

Wie das im Wind liegt und sich wiegt,Tauwebüberspannt durch die Wogen,Da ist eine Kunst, die friedlich siegt,und ihr Fleiß ist nicht verlogen.

Es rauscht wie Freiheit, es riecht wie Welt.Natur gewordene Planken.Sind Segelschiffe – Ihr Anblick erhellt.Und weitet unsere Gedanken.

Joachim Ringelnatz

INHALT

DAS SCHIFF

KAP HOORN UNTER SEGELN

DER HAIKUTTER

DIE KUTTER DER REEDEREI AAEN

EIN NEUER ANFANG

AUFBRUCH INS EIS

DIE NORDWESTPASSAGE

RUND AMERIKA UNTERWEGS

IMMER WIEDER GRÖNLAND

WERFTZEITEN

ZWISCHEN SUSHI UND SOSSEN

SHACKLETON — EXPEDTION INS SÜDPOLARMEER

GUINEA-BISSAU

SPITZBERGEN

EIN BESONDERER SEGELSOMMER

DAS SCHIFF

Schiffe, insbesondere wenn sie in die Jahre gekommen sind, Patina angesetzt und zahllose Seemeilen hinter sich gebracht, Stürme abgewettert und unzählige Crews erlebt haben, stellen mehr dar als ein Transportmittel. Sie haben eine Geschichte, und sie sind Individualisten. Keine seelenlosen Maschinen und Massenware, sondern eigene Charaktere. Sie haben ihre Eigenarten, ihre Stärken und Schwächen – und sie nehmen Einfluss. Der Werdegang eines Schiffes ist eng mit der Biografie des Eigners verknüpft und beeinflusst seinen Lebensweg.

»Schiffe haben ihre Schicksale, sie greifen auch in andere Schicksale ein. Es laufen feine Zauberfäden zwischen der Beschaffenheit eines Schiffes und der menschlichen Seele.«

Niels Bach, Voreignerder DAGMAR AAEN

Macht es Sinn, sich ein altes Schiff zu kaufen, Unsummen an Geld und Freizeit zu opfern, um es in einen passablen Zustand zu versetzen, um dann endlich nach Jahren harter Arbeit segeln zu können? Wobei auch dann natürlich nicht nur gesegelt wird, denn ständig muss irgendetwas getakelt, gemalt, kalfatert oder geteert werden – Traditionsschiffe sind Arbeitsschiffe im weitesten Sinne des Wortes. Ehen sind daran gescheitert, Existenzen zerbrochen, gestandene Männer zu hohlwangigen Alkoholikern geworden – und dann auch noch der spöttische Blick der segelnden Epigonen, die in makellos weißer Segelkleidung auf schnittigen Yachten hoch am Wind segeln und denen die Probleme und Ambitionen eines Traditionsschiffseigners so fremd sind wie einem Fünfsternekoch die Currywurst.

Am Anfang steht der Wunsch, ein derartiges Schiff zu erhalten. Danach beginnt die Suche nach den Möglichkeiten – sowohl in finanzieller wie organisatorischer Hinsicht. Altschiffseigner sind Idealisten, bisweilen Träumer, aber mit einer gehörigen Portion Realitätsbewusstsein, denn anders würden sie die Projekte nicht realisieren können. Sie alle sind Projektleiter, Eigner, Schiffer, Teamführer und Krisenmanager in Personalunion. Ein Schiff, egal, wie groß oder klein, kostet immer Geld, und wird mit zunehmender Größe zwangsläufig zu einem Wirtschaftsunternehmen.

Stille Schönheit. Ehrfurchtsvoll – fast andächtig fahren wir langsam durch ein Labyrinth von Eisbergen.

Unter Vollzeug passiert die DAGMAR AAEN vereinzelte Eisfelder vor der grönländischen Küste.

Dieses Buch soll keine nüchterne Betrachtung über Schiffbau, über die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Bootstypen sein oder gar eine Segelanweisung für unterschiedliche Reviere. Nein, dieses Buch soll vor allem zeigen, was aus einer Bindung von Mensch und Schiff entstehen kann. Die DAGMAR AAEN spielt seit über 30 Jahren eine gewichtige Rolle in meinem Leben. Vom Typ her ein sogenannter Haikutter, steht sie exemplarisch für zahlreiche Schiffe dieser Bauweise, die seit Jahrzehnten auf Nord- und Ostsee, aber auch im europäischen wie außereuropäischen Ausland anzutreffen sind. Ihr kommt eine Stellvertreterrolle zu. Die zahllosen Schiffe, die von ihren Eignern in jahrelanger und mühevoller Arbeit restauriert und in Fahrt gehalten werden, sind seelenverwandt. In diesem Jahr wird meine DAGMAR AAEN 90 Jahre alt. Es liegt im wahrsten Sinne des Wortes eine »bewegte« Zeit hinter – und sicher auch noch vor ihr.

Sie ist das erste Schiff, das aus eigener Kraft und ohne Eisbrecher den Nordpol umsegelt hat. Sie ist zugleich das erste Schiff, das den Doppelkontinent Nord- und Südamerika umrundet hat – um nur zwei Stationen ihres Lebenswegs zu nennen. Seit der Indienststellung der DAGMAR AAEN im Jahr 1931 begleitet sie das behördliche Tilsysnbog, das »Anschreibebuch«. Darin ist jeder Werftaufenthalt, sind sämtliche technische Neuerungen, Umbauten etc. lückenlos verzeichnet. Diese Hommage dokumentiert, wofür die DAGMAR AAEN steht: für ein Stückchen dänischer Kulturgeschichte sowie für ein abenteuerliches Leben in den entlegensten Gebieten dieser Erde.

Kein Zweifel: Die DAGMAR AAEN ist viel mehr als »nur« ein Transportmittel. Das gilt in ganz besonderem Maße für mich, aber auch für all die anderen Crewmitglieder, deren zeitweises Zuhause sie war. Und es gilt allgemein. Davon soll die Rede sein.

KAP HOORN UNTER SEGELN

Wenn man mit einem traditionell gebauten Segelschiff in den kleinen Hafen Puerto Williams im äußersten Süden Chiles einläuft, dann sorgt das für Aufsehen. Der Hafen liegt nur eine Tagesreise vom Kap Hoorn entfernt und dient nicht wenigen gleichzeitig auch als Sprungbrett, um über die stürmische Drake-Passage in die Antarktis zu gelangen. Wer den weiten Weg bis hierher auf sich genommen hat, weiß in der Regel, auf was er sich wettertechnisch einlässt. Schon die Anreise hat es in sich. Entsprechend ausgestattet sind die Yachten. Die mittlere Größe beträgt 16 bis 18 Meter, einige sind deutlich über 20 Meter lang, nur wenige kleiner. Sie sind aus Aluminium oder Stahl, einzelne auch aus Kunststoff. Ausnahmslos alle verfügen über Rollsegel, eine starke Maschine, geschützte Ruderstände beziehungsweise Ruderhäuser und mindestens vier Trommeln mit je 100 Meter langen Landleinen. Man erkennt den Antarktis- oder Kap-Hoorn-Segler bereits an seinem Outfit, ohne auch nur ein Wort mit ihm gewechselt zu haben. Ein Schiff wie die DAGMAR AAEN fällt da aus dem Rahmen: Alles ist aus Holz – selbst der Mast und die Spieren. Der Ruderstand ist offen und ungeschützt, dazu ein klassisches Kutterrigg mit einem 12 Meter langen Großbaum, an dem ein 100 Quadratmeter großes Gaffelsegel gefahren wird. Um die Vorsegel ein- oder auszupacken, müssen Crewmitglieder bei jedem Wetter ins Klüvernetz. Rollsegel? Fehlanzeige!

Im kleinen Hafen von Puerto Williams rottet die VICTORY vor sich hin, ein hölzerner Schoner, der seit Anfang der 90er-Jahre hier aufliegt. Das Schiff ist ein Wrack und wirkt wie ein Mahnmal einer längst vergangenen Zeit – als wolle es signalisieren, dass die Ära der Holzschiffe unwiderruflich vorbei ist. Und dann kommt da ein Schiff wie die DAGMAR AAEN daher mit dem erklärten Ziel, nicht nur Kap Hoorn zu runden, sondern auch die Drake-Passage Richtung Antarktis zu queren. Ja, geht’s denn noch?

Aber die DAGMAR AAEN ist keine Unbekannte hier. Bereits vor 30 Jahren und auch später hat sie mehrfach das berüchtigte Kap gerundet, die Antarktis aufgesucht und die Rundreise über Südgeorgien und die Falklands allen Unkenrufen zum Trotz erfolgreich absolviert. Da kann wirklich niemand mehr behaupten, dies sei dem Zufall oder einer glücklichen Fügung zu verdanken. Offenbar muss das Schiff doch das Potenzial für solche Reisen haben.

Man trifft sich auf der MICALVI, einem ehemaligen deutschen Rheindampfer, Baujahr 1925. Die Chilenen hatten den Dampfer 1928 gekauft, nach Chile überführt und bis 1962 als Versorgungschiff in Feuerland eingesetzt. Nach ihrer aktiven Zeit wurde die MICALVI außer Dienst gestellt und in der geschützten Bucht von Puerto Williams auf Grund gesetzt – ursprünglich als Offizierskasino, heute als Yachtclub genutzt. Auf dem Schiff gibt es nicht nur zwei stark renovierungsbedürftige Duschen sowie ein Klo, das seinen Inhalt ungeklärt ins rostige Innere der MICALVI entleert, sondern auch WLAN. Einträchtig sitzen die Skipper nebeneinander, ein jeder mit seinem Laptop auf dem Schoß, und laden sich die aktuellen Wetter- und GRIB-Daten runter. Das meist gehörte Wort an Bord der MICALVI lautet »Wetterfenster«. Wann kann man es wagen, den geschützten Liegeplatz zu verlassen und den Kurs auf Kap Hoorn abzusetzen oder vielleicht sogar zur Antarktis? Ihnen gegenüber sitzen in aufgeräumter Stimmung die Segler, die das Wagnis schon hinter sich haben und sich in ausgesprochener Feierlaune befinden. »Es war großartig, gigantisch – und ja, es gab viel Wind und viel Seegang.« Der Mensch, insbesondere die Spezies homo maritimus, ist ein Weltmeister im Verdrängen. In Erinnerung bleibt meist nur das Positive. Die angstvollen Momente, die anhaltende Seekrankheit, die Sorgen und Nöte werden glattgebügelt. »Na ja, war schon ruppig, aber ging doch …«

Sturmfahrt vor Kap Hoorn. Gewaltige Brecher in der aufgewühlten See rollen heran und überspülen mit brachialer Gewalt das gesamte Schiff.

Das Wetter im Süden Chiles und Argentiniens ist so schlecht wie sein Ruf. Osvaldo Torres, der heute mit seiner top ausgestatteten Yacht POLARWIND Charterreisen anbietet, ist wahrscheinlich einer der besten Kenner der Region. Er hat früher einmal eine Weile als Leuchtturmwärter von Kap Hoorn gearbeitet. Ganz allein – vier Monate lang. »In schweren Stürmen«, so erzählt er, »hob das mit Drahtseilen gesicherte Stationsgebäude um bis zu zehn Zentimeter ab, um dann mit einem großen Plumps wieder aufs Fundament zu krachen.« Die Fensterscheiben hielten dieser Behandlung meist nicht stand. »Es wirkte ein wenig demoralisierend«, so Osvaldo. Im März 1995 hat er 119 Knoten Wind am Kap gemessen – rund 220 Stundenkilometer. Nach der Beaufortskala herrscht ab 63 Knoten Windstärke 12. Orkan! Tatsächlich bekommen wir Wartenden gerade Windwarnungen für die Drake-Passage mit Windstärke 13 rein. Das ist sicher nicht das Wetterfenster, auf das alle hoffen.

Aber was braucht ein Schiff, um in diesen Gewässern fahren zu können? Eine bestens ausgerüstete Charteryacht mit der DAGMAR AAEN zu vergleichen fällt schwer. Obwohl auch die DAGMAR AAEN technisch hochgerüstet ist und über professionelle Navigations- und Kommunikationsausrüstung verfügt, prallen hier zwei völlig unterschiedliche Philosophien aufeinander. Ich segle die DAGMAR AAEN nicht, weil ich mir kein anderes Schiff hätte leisten können. Im Gegenteil: Jeder Altschiffliebhaber weiß um die Folgekosten eines traditionellen Schiffes. Ich betreibe das Schiff, weil ich von dem Seeverhalten des mittlerweile 90 Jahre alten Haikutters überzeugt bin. Natürlich bin ich auch dem Charme dieses alten Holzschiffes erlegen. Aber das allein reicht kaum aus, um extreme Reisen zu unternehmen. Es ist die Symbiose aus beidem – Seetüchtigkeit und Charme. Ein nach seemännischen Gesichtspunkten ästhetisches Schiff ist auch meist ein gutes Seeschiff.

Was kann ich einem alten Holzschiff zutrauen? Wo verläuft die Grenze zwischen nostalgischem Wunschdenken und den realistischen Einsatzbereichen? Ist das Material Holz für ein Schiff, das mehr als nur Sommersegeln und Gästefahrten machen will, noch zeitgemäß? Was geht, und was geht nicht? Kap Hoorn ist nicht der geeignete Ort, um Träumereien auszuleben. Der See ist es völlig egal, ob ich überlebe oder Schiffbruch erleide. Ich muss die Spielregeln kennen und die Herausforderung mit dem geeigneten Material aufnehmen. Ganz sicher ist es nicht der richtige Ort, um grübelnd in seiner Koje zu liegen und zu überlegen, ob man diese oder jene Planke hätte doch besser austauschen lassen sollen. Dafür ist es dann zu spät. Man muss sich verlassen können – zu 100 Prozent – auf das Schiff, das eingesetzte Material, die Crew, sich selbst. Und trotzdem kann etwas aus dem Ruder laufen, etwas kaputtgehen. Das ist das Restrisiko. Dennoch: »No compromise« muss die Maxime lauten.

Meine Reisen haben stets Projektcharakter gehabt. Mir ging und geht es nicht darum, möglichst schnell von einem Hafen zum nächsten zu kommen. Ganz sicher will ich keine Geschwindigkeitsrekorde aufstellen – dann hätte ich definitiv ein anderes Boot haben müssen. Ich suche auch nicht die Bequemlichkeit und den Luxus einer Ferienwohnung an Bord. Es ist vielmehr die Durchmischung von traditioneller Seemannschaft, das Arbeiten in einem engagierten Team und das verantwortungsvolle Abarbeiten von Aufgaben. Einen Haikutter in den hohen Breiten zu betreiben – egal, ob im Norden oder im Süden – ist allemal eine sportliche Angelegenheit. Um die Aufgaben umsetzen zu können, ob Dokumentationen oder die Begleitung wissenschaftlicher Projekte, brauche ich eine solide Arbeitsplattform. Haikutter sind Arbeitsschiffe, die genau das liefern: eine Arbeitsplattform. Dazu genügend Decksfläche und ein gutmütiges Seeverhalten. Vorausgesetzt, dass ein Haikutter optimal gepflegt wird und sich technisch wie strukturell in einem über jede Zweifel erhabenen Zustand befindet und die Crew über eine gute Seemannschaft verfügt, kann er nahezu überall fahren. Das gilt sicherlich auch für andere Holzschiffe wie z. B. die deutlich größere ACTIV oder die kleine WANDERER von Thies Matzen. Die leider stark dezimierte hölzerne Fischereiflotte hat über Jahrzehnte Wind und Wetter getrotzt. Insofern begegne ich den skeptischen Blicken einiger hochgerüsteter Yachtsegler mit großer Gelassenheit.

Die DAGMAR AAEN ist kein Museumsschiff, sie ist auch kein Traditionsschiff. Sie ist ein Arbeitsschiff, eine Yacht, die weltweit unterwegs ist. Auf ihr fahren Frauen und Männer unterschiedlicher Nationalitäten und Altersgruppen, die sich mit dem Schiff und den damit verbundenen Aufgaben identifizieren. Junge Leute und alte Schiffe – geht das zusammen? Ich denke, sehr gut. Auf der DAGMAR AAEN gehören junge Leute zur Stammcrew. Man muss ihnen den Zugang ermöglichen und den Funken überspringen lassen. Querdenken, neue Wege gehen und vor allen Dingen junge Menschen einbinden – nur so erhalten wir die Flotte.

Die Reise zum Kap Hoorn führt über die Bahia Nassau, eine nach Südwesten offene, etwa 20 Meilen breite, extrem ausgesetzte Meeresbucht. Die Wetterprognosen haben Starkwind vorhergesagt, aber keinen Sturm. Bei Einbruch der Nacht legt der Wind plötzlich auf über 50 Knoten zu. Die querab kommenden Seen werden 2 bis 3 Meter hoch und krachen unablässig an Deck. Es ist nicht die Höhe des Seegangs – weiter draußen erlebt man ganz andere Seegangshöhen –, sondern die brachiale Gewalt, die in einer einzigen dieser brechenden Seen steckt. Die Wasserwucht ist unglaublich. Das Schiff steckt das weg. Wir sind nass bis auf die Knochen. Spätestens jetzt wünscht man sich, doch ein Ruderhaus zu haben. Erst als wir in den Schutz der Wollaston-Inseln geraten und wenig später den Anker fallen lassen, kommt das Schiff zur Ruhe. Tagelang warten wir bei heulendem Sturm vor Anker liegend auf das nächste Wetterfenster. Als es sich endlich einstellt, fahren wir zum Kap Hoorn. Danach wieder Sturm – wieder warten auf das nächste Wetterfenster – wie wir dieses Wort mittlerweile hassen. Dann der Sprung über die Drake-Passage in die Antarktis. Fünf Tage benötigen wir dafür. Es ist eine andere, fremde Welt; eine Welt mit einem hohen Suchtpotenzial. Der Versuch, die Erlebnisse auf wenige Zeilen zusammenzufassen, würde kläglich scheitern. Zu komplex, zu intensiv sind die Eindrücke. Auf der Rückreise laufen wir die unbewohnten und steilen Klippen der Ildefonso-Inseln an, um mit einem Wissenschaftler Felsenpinguine mit Minisendern zu bestücken. Aber daraus wird nichts. Ein Anlanden ist unmöglich. 3 bis 4 Meter hoher Seegang, der sich krachend in den Klippen bricht, macht jeden Gedanken an eine Anlandung hinfällig. Auch die Isla Noir, die in einem Seegebiet liegt, das bezeichnenderweise den Namen »Milky Way« trägt, lässt uns nicht an sich ran. Die See ist dort bei Starkwind – und den gibt es meistens – weiß – so weiß wie die Milchstraße eben. Die über den Pazifik anrollenden Seen brechen sich in Kaskaden über den unzähligen Klippen und Untiefen. Kein Geringerer als Joshua Slocum hat dem Milky Way seinen Namen gegeben. Slocum hat das Gebiet als sein gefährlichstes Erlebnis bezeichnet. Aber das Naturerlebnis ist trotz allem gigantisch. Unseren ultimativen Sturm erleben wir auf der Rückreise, noch immer in den Roaring Forties. 8 bis 10 Meter hohe, teilweise brechende Seen. Wir laufen vor Wind und Seen ab. Ein Brecher zerschlägt unser Schlauchboot, das achtern in den Davits hängt. Es zerplatzt wie ein Luftballon.

Unter Sturmbesegelung pflügt die DAGMAR AAEN durch die See.

Während die DAGMAR AAEN beigedreht auf Warteposition vor der Insel Hornos liegt, geht es per Beiboot zur steinigen Küste.

Das berühmte Monument von Kap Hoorn steht auf einer exponierten Klippe. Es ist vor einigen Jahren bei einem Orkan einfach abgebrochen. Ein Stück weiter stehen der Leuchtturm und die alte, hölzerne Kapelle.

Und die DAGMAR AAEN? Die steckt das alles weg. Bisweilen beschleicht mich sogar das Gefühl, als fühle sie sich dabei so richtig wohl. Gelegentlich surft sie die Wellen laut GPS mit 12,5 Knoten hinunter. Aber sie läuft dabei nicht aus dem Ruder, sondern fährt wie auf Schienen weiter. Das Schiff kann das – und diese Gewissheit vermittelt der Crew eine gewisse Gelassenheit.

Von den 21.000 Seemeilen, die wir in dem einen Jahr zurückgelegt haben, war zum Glück nur der Teil auf der Südhalbkugel in den 40er-Breitengraden und südlich davon von schwerem Wetter geprägt. Der Rest war moderat. Die DAGMAR AAEN