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Maddox „Mad Dog“ White hasst alles, wofür der Name Vitiello steht, seit er den Mord an seinem Vater durch den Capo der italienischen Mafia miterleben musste. Um Rache zu nehmen und das Vitiello-Imperium zu zerstören, entführt er die verwöhnte Vitiello-Prinzessin, um sie zu brechen. Marcella Vitiello, aufgewachsen in einem goldenen Käfig, soll einen Mann heiraten, den ihr Vater für sie ausgesucht hat. Doch sie ist es leid, wie eine Porzellanpuppe behandelt zu werden. Als ihr alles genommen wird, was sie kannte, bringt ihr Name nur noch Schmerz und Demütigung.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Cora Reilly
Durch Sünde erhebe ich mich
(Band 1)
Übersetzt von Alexandra Gentara
DURCH SÜNDE ERHEBE ICH MICH
Copyright © 2021 Original version by Cora Reilly
Copyright © 2025 German translation by VAJONA Verlag GmbH
Lektorat: Alexandra Gentara
Korrektorat: Désirée Kläschen und Susann Chemnitzer
Umschlaggestaltung: Stefanie Saw
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für Elke.
Wenn Freunde zu Familie werden.
Ein Spruch, den ich durch dich erst wirklich verstanden habe.
Marcella
Manche Dinge liegen einem im Blut. Sie lassen sich nicht abschütteln oder ändern, gehen nicht verloren, aber man kann sie vergessen. Bereits in jungen Jahren hatte ich einen unfehlbaren Instinkt, wenn es um Gefahren ging oder darum, herauszufinden, ob man einer bestimmten Person trauen durfte. Und ich hörte zu, hielt immer erst inne, bevor ich handelte, um vorher tief in mich hineinzuspüren und dieses Bauchgefühl zu überprüfen.
Bis ich aufhörte, darauf zu hören, weil ich mich daran gewöhnt hatte, dass sich andere um meine Sicherheit sorgten und ich ihrem Urteil mehr vertraute als meinem eigenen. Ich überließ mein Leben anderen: fähigen Bodyguards, Männern, die viel besser dafür gerüstet waren, mich zu beschützen als ich selbst – ein einfaches Mädchen beziehungsweise später eine einfache Frau. Hätte ich auf mein Bauchgefühl gehört, auf das Kribbeln im Nacken in der ersten Nacht und der danach, als sie mich entführten, wäre ich in Sicherheit gewesen. Aber ich hatte gelernt, meine innere Stimme zu ignorieren, diesen Instinkt, den ich von meinem Vater geerbt hatte, weil ich die Gefahren unseres Lebens gar nicht wahrnehmen wollte.
Kleine Kinder lernen schnell, dass man sich nicht vor dem Bösen schützen kann, indem man die Augen davor verschließt. Für diese Lektion brauchte ich jedoch leider viel zu lange.
Maddox
Vom ersten Moment an, als ich Schneewittchen entdeckte, brannte sich ihr Bild in mein Gehirn ein. Jede verdammte Nacht quälte mich der Anblick ihres nackten Körpers in allen Einzelheiten.
Manchmal wachte ich mit einem Rest ihres Geschmacks im Mund auf, halb davon überzeugt, dass ich tatsächlich meine Zunge in ihrer ganz bestimmt hübschen Pussy vergraben hatte. Verdammt, ich hatte noch nicht mal einen Zentimeter dieses legendären Körpers gesehen, geschweige denn berührt. Oh, aber das würde ich, selbst wenn ich dazu einen vergifteten Apfel bräuchte.
Ein Typ wie ich würde eigentlich niemals auch nur in die Nähe von Schneewittchen gelangen. Auch wenn ich kein verdammter Loser war, ganz im Gegenteil. Ich sollte Präsident des Tartarus MC werden und in die Fußstapfen meines Onkels treten, der derzeitige Präsident. Natürlich machte mich das in den Augen von Schneewittchen und ihrem verfluchten Vater Luca Vitiello, dem Capo der italienischen Mafia an der Ostküste, zum Abschaum der Welt.
Ich war noch ein kleiner Junge gewesen, gerade einmal fünf Jahre alt, als mir mein Leben, so wie ich es kannte, unter den Füßen weggerissen wurde. Als Sohn des Präsidenten der New Jersey-Ortsgruppe des Tartarus-Motorradclubs hatte ich in meinem jungen Alter schon viele verstörende Dinge miterlebt. Clubbrüder, die es mitten im Clubhaus am helllichten Tag mit Huren trieben, brutale Kämpfe, Schießereien … aber nichts hatte so tiefe Spuren in mir hinterlassen wie jene Nacht, als der Capo der Famiglia meinen Vater und seine Männer brutal ermordete.
Der mörderische Bastard hatte ein ganzes Chapter unseres Clubs abgeschlachtet – und zwar eigenhändig.
Oder besser gesagt:
Nicht ganz eigenhändig – sondern mit einer verdammten Axt und einem Skinner-Messer. Die Schreie meiner sterbenden Clubfamilie verfolgten mich nachts noch immer. Das Echo einer Erinnerung, die ich einfach nicht abschütteln konnte. Es sei denn, ich trank so viel Alkohol, dass man einen Elefanten damit hätte töten können. Diese Bilder waren der Antrieb für meinen Rachedurst.
Und meine Rache sollte ich nun endlich bekommen, mithilfe der verwöhnten Prinzessin von New York: Marcella Vitiello.
Maddox
Fünf Jahre alt
Ich kauerte auf dem Boden des Clubhauses und drehte eine leere Bierflasche hin und her. Meine Hände waren schon ganz klebrig davon. Als ich meine Finger zum Probieren an den Mund führte, verzog ich das Gesicht.
Ein bitterer, fauliger Geschmack explodierte auf meiner Zunge und blieb an meinem Zahnfleisch und in meinem Rachen hängen. Ich spuckte alles sofort wieder aus, aber der faulige Geschmack ging nicht weg.
Der Raum war voller Rauch von den Zigarren und Zigaretten, weshalb meine Nase kribbelte. Manchmal waren in meinem Rotz sogar schwarze Pünktchen.
Ich drehte weiter an der Flasche. Andere Spielzeuge hatte ich hier nicht. Meine Spielsachen waren alle bei Mom, aber Dad hatte mich gestern dort abgeholt und sie hatten sich angeschrien, so wie immer. Dad hatte Mom geohrfeigt, einen roten Abdruck auf ihrer Wange hinterlassen und war seitdem schlecht gelaunt. Ich ging ihm immer aus dem Weg, wenn er so drauf war. Gerade brüllte er jemanden am Telefon an.
Pop, sein Stellvertreter, spielte normalerweise mit mir, aber er saß mit einer blonden Frau an der Bar und küsste sie. Die anderen Biker saßen um den Tisch herum und spielten Karten. Sie wollten nicht wirklich etwas mit mir zu tun haben. Einer von ihnen hatte mich weggestoßen, sodass ich auf meinen Hintern fiel, als ich fragte, ob ich ihnen zusehen dürfte. Mein Steißbein schmerzte immer noch, seit es auf dem Boden aufgeschlagen war.
Donnernde Schritte näherten sich. Die Tür zum Clubhaus schwang auf und einer der Anwärter stolperte mit weit aufgerissenen Augen hinein. »Schwarze Limousine!«
Alle sprangen auf, als wären die Worte irgendein Geheimcode. Mein Blick schoss zu Dad, der irgendwelche Befehle blaffte, wobei Speichel aus seinem Mund flog. Ich verstand nicht, was an einem schwarzen Auto so schlimm sein sollte. Ein Schrei ertönte, erst schrill und danach gurgelnd. Ich schaute wieder zur Tür und ein Mann fiel vornüber, mit einer Axt im Hinterkopf, die diesen wie eine reife Wassermelone zerteilte. Ich ließ die Flasche fallen und meine Augen wurden groß. Die Leiche stürzte zu Boden und Blut spritzte, als die Axt aus seinem Kopf fiel und die tiefe Wunde in seinem Schädel offenbarte. Ich konnte sogar Teile seines Gehirns sehen. Genau wie bei einer Wassermelone, dachte ich erneut.
Mein Vater eilte zu mir und packte mich mit einem schmerzhaften Griff am Arm. »Versteck dich unter der Couch und komm ja nicht da raus! Hast du mich verstanden?«
»Ja, Sir.«
Er schob mich zu der alten grauen Couch, wo ich mich auf die Knie fallen ließ und darunter kroch. Es war schon eine Weile her, dass ich versucht hatte, mich unter die Couch zu quetschen, und ich passte kaum noch in den Spalt, aber schließlich lag ich irgendwie auf dem Bauch, das Gesicht zur Eingangstür und auf das Zimmer gerichtet.
Ein riesiger Mann mit irren Augen stürmte hinein, mit einem Messer und einer Axt in der Hand. Ich hielt den Atem an, als er wie ein wütender Bär brüllte. Er schleuderte sein Messer auf Dads Schatzmeister, der schon nach seiner Waffe gegriffen hatte. Aber zu spät. Er kippte einfach nach vorne um, direkt vor das Sofa. Seine riesigen Augen starrten mich an, während sich Blut unter seinem Kopf sammelte.
Ich wich ein paar Zentimeter nach hinten, versteifte mich aber sofort, weil ich Angst hatte, dass meine Füße rausgucken könnten.
Die Schreie wurden immer lauter, bis ich meine flachen Hände auf die Ohren presste, um sie auszublenden. Aber ich konnte den Blick nicht von dem abwenden, was vor sich ging. Der Verrückte hatte sein Messer genommen und es nach Pop geworfen. Er traf ihn mitten in die Brust und Pop taumelte nach hinten, als hätte er zu viel getrunken. Dad stürmte mit zwei Anwärtern hinter die Bar. Ich wollte mich dort mit ihm verstecken, wollte, dass er mich tröstete, auch wenn das eigentlich gar nicht seine Art war. Der Irre schoss einem anderen Clubmitglied in die Hand, als dieser gerade nach einer heruntergefallenen Waffe greifen wollte. Sogar durch die Hände über meinen Ohren hörte ich die Schüsse, dumpfes Knallen, das mich jedes Mal zusammenzucken ließ.
Der Verrückte schoss weiter auf die Bar, aber irgendwann wurde plötzlich alles still. War Dad und seinen Anwärtern die Munition ausgegangen?
Mein Blick wanderte zum Waffenarsenal am Ende des Korridors. Einer der Anwärter sprang hinter der Bar hervor, doch der Mann verfolgte ihn, holte mit der Axt aus und traf ihn in den Rücken. Ich kniff die Augen zu und atmete ein paar Mal schaudernd ein, bevor ich es wagte, sie wieder zu öffnen. Das Blut des Schatzmeisters breitete sich langsam weiter aus und begann schon, meine Ärmel zu durchtränken, aber diesmal wagte ich nicht, mich zu bewegen. Nicht einmal, als es meine Kleidung benetzte und meine kleinen Finger berührte. Zwei weitere Männer von Dad kamen herein und versuchten, zu helfen. Aber dieser Verrückte war wie ein rasender, tollwütiger Bär. Wie erstarrt hörte ich die vielen Schmerzensschreie und das wütende Gebrüll hörte, während ich zusah, wie eine Leiche nach der anderen zu Boden stürzte. Da war einfach so viel Blut. Überall.
Mein Vater schrie auf, als der Mann ihn hinter der Bar hervorzog. Ich kroch nach vorne, um ihm zu helfen, aber seine Augen trafen meine und er warnte mich stumm, dort zu bleiben, wo ich war. Die Augen des bösen Mannes folgten dem Blick meines Vaters. Sein Gesicht wirkte wie das eines Monsters, blutüberströmt und vor Wut verzerrt. Ich senkte den Kopf und hatte Panik, dass er mich gesehen haben könnte. Doch er zerrte nur meinen Vater weiter zu einem Stuhl.
Ich wusste, dass ich mich den Anweisungen meines Vaters besser nicht widersetzen sollte, und so blieb ich regungslos liegen. Für eine Zeitspanne, die sich wie Tage anfühlte, obwohl es wahrscheinlich nur ein paar Minuten waren.
Der böse Mann fing an, Dad und dem Anwärter, der noch am Leben war, wehzutun. Ich konnte nicht mehr hinsehen und kniff meine Augen so fest zu, dass meine Schläfen schmerzten. Ich presste die Stirn gegen meine Arme. Meine Brust und meine Arme waren ganz warm von dem vielen Blut, und meine Hose war auch warm, weil ich mich eingepinkelt hatte. Alles stank nach Blut und Pisse, und ich hielt die Luft an. Aber dann tat mir die Brust weh und ich musste wieder einatmen. Ich zählte die Sekunden, versuchte, an Eiscreme und gebratenen Speck und Moms Limettenkuchen zu denken, doch die Schreie waren immer noch zu laut. Sie verdrängten jede andere Erinnerung aus meinem Kopf.
Schließlich kehrte Stille um mich herum ein, und ich wagte es, den Kopf zu heben. Mit brennenden Augen sah ich mich um. Überall waren ganze Pfützen aus rotem Blut und unendlich viele Blutspritzer. Auch ein paar einzelne Körperteile lagen herum. Ich schauderte und musste mich übergeben. Die Galle verätzte mir die Kehle, und dann erstarrte ich, voller Angst, dass der böse Mann noch in der Nähe war und mich auch töten würde. Ich wollte nicht sterben. Ich fing an zu weinen, wischte mir die Tränen aber hastig weg. Dad hasste Tränen. Eine Weile lauschte ich dem Klopfen meines Herzens, das in meinen Ohren dröhnte und bis in meine Knochen vibrierte, und irgendwann fühlte ich mich etwas ruhiger und konnte auch wieder klar sehen.
Schließlich schaute ich mich nach dem Mann um, aber er war nirgends zu entdecken. Die Haustür stand offen, trotzdem wartete ich noch eine ganze Weile, ehe ich unter dem Sofa hervorkroch. Obwohl meine Kleidung mit Pisse und Blut verschmutzt war und mein Körper nach Nahrung und Wasser schrie, ging ich nicht weg. Ich stand inmitten der zerfetzten Körper der Männer, die ich mein ganzes Leben lang gekannt hatte. Männer, die für mich dem, was andere eine normale Familie nannten, am nächsten gekommen waren. Kaum einen von ihnen erkannte ich wieder. Sie waren zu entstellt.
Dads Leiche sah am schlimmsten aus. Sein Gesicht konnte ich nicht mehr erkennen. Nur sein Tattoo am Hals – ein feuerspuckender Schädel – verriet mir, dass er es war. Ich wollte mich von ihm verabschieden, traute mich aber nicht näher an die Überreste seines Körpers heran. Er sah furchterregend aus. Schließlich stürmte ich nach draußen und rannte, bis ich das Haus einer der Old Ladys erreichte. Sie war die Frau vom Schatzmeister. Ich hatte sie schon ein paar Mal besucht und sie hatte Kekse für mich gebacken. Als sie mich so blutüberströmt sah, wusste sie sofort, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.
»Sie sind tot«, flüsterte ich. »Sie sind alle tot.«
Sie versuchte zunächst, ihren Mann auf dem Handy anzurufen, dann probierte sie es bei Dad und schließlich bei anderen Clubmitgliedern, aber niemand antwortete. Am Ende rief sie meine Mutter für mich an und machte mich sauber, während ich darauf wartete, abgeholt zu werden.
Als Mom endlich ankam, war sie kreidebleich. »Komm, wir müssen gehen.«
Sie nahm meine Hand.
»Was ist mit Dad?«
»Wir können nichts mehr für ihn tun. New York ist für uns nicht mehr sicher. Wir müssen hier weg, Maddox, und wir können auch nie wieder zurückkommen.«
Sie zog mich zu unserem alten Ford Mustang und setzte mich auf den Beifahrersitz. Das Auto war so vollgestopft mit Taschen, dass ich gar nicht mehr durch die Heckscheibe schauen konnte.
»Fahren wir irgendwo hin?«, fragte ich verwirrt.
Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss um. »Hast du mir nicht zugehört? Wir müssen für immer hier weg. Das hier ist jetzt nicht mehr das Gebiet von Tartarus. Wir werden ab sofort bei deinem Onkel in Texas leben. Dort wird dein neues Zuhause sein.«
Meine Mutter rief sofort meinen Onkel Earl an und bat ihn um Hilfe. Sie hatte kein Geld, obwohl mein Vater ihr immer welches gegeben hatte, auch wenn sie sich ständig stritten und gar nicht mehr zusammenlebten. Earl nahm uns bei sich auf, und so zogen wir nach Texas. Irgendwann wurde meine Mutter Earls feste Freundin und sie bekamen zusammen meinen Bruder Gray.
Texas wurde vorübergehend zu meinem neuen Zuhause, aber mein Herz sehnte sich immer nur danach, an meinen Geburtsort zurückzukehren, mein Geburtsrecht einzufordern und Rache zu üben.
Viele Jahre lang kehrte ich nicht nach New Jersey zurück, und als ich es schließlich doch tat, hatte ich nur ein einziges Ziel vor Augen: Luca Vitiello zu töten.
Marcella
Fünf Jahre alt
Ich saß auf der Bettkante und ließ die Beine baumeln. Mein Blick war an die Tür geheftet und ich wartete darauf, dass sie aufging. Es war schon sieben Uhr.
Meine Mutter weckte mich sonst immer um diese Zeit. Die Uhr zeigte 7:01 Uhr an und ich rutschte langsam vom Bett. Kam meine Mutter ausgerechnet heute zu spät?
Ich konnte nicht mehr länger warten.
Die Türklinke bewegte sich nach unten und ich erstarrte, setzte mich wieder auf die Matratze und sah zu, wie meine Mutter ihren Kopf hereinsteckte. Als sie mich entdeckte, hellte sich ihr Gesicht auf und sie lachte. »Wie lange bist du denn schon wach?«
Ich zuckte mit den Schultern und hüpfte vom Bett.
Meine Mutter kam mir auf halbem Weg entgegen und umarmte mich fest. »Alles Liebe zum Geburtstag, Schatz.«
Ich wand mich in ihrer Umarmung, weil ich unbedingt nach unten gehen wollte. Irgendwann schaffte ich es, mich von ihr zu lösen, und fragte: »Können wir jetzt nach unten gehen? Gibt es eine Party?«
Mom lachte erneut. »Noch nicht, Marci. Die Party fängt erst später an. Im Moment sind wir beide alleine. Komm, lass uns mal deine Geschenke ansehen gehen.«
Nach einem kurzen Moment der Enttäuschung nahm ich Moms Hand und folgte ihr nach unten. Ich trug mein rosa Lieblingsnachthemd mit den Rüschen, in dem ich mich immer wie eine Prinzessin fühlte. Dad wartete im Foyer, als wir die Treppe hinuntergingen, hob mich hoch, bevor ich die letzte Stufe erreicht hatte, und küsste mich auf die Wange. »Alles Liebe zum Geburtstag, Prinzessin.« Er hielt mich hoch über seinen Kopf und trug mich so ins Wohnzimmer. Es war mit rosa- und pinkfarbenen Luftballons geschmückt, einer Girlande mit der Aufschrift »Happy Birthday« und einer goldenen Krone auf dem Tisch neben einer riesigen pinkfarbenen Torte mit einem Einhorn. Auf einem anderen Tisch wartete ein großer Stapel Geschenke, alle in rosafarbenes und goldenes Geschenkpapier eingewickelt. Ich eilte darauf zu.
»Happy Birthday!«, schrie Amo, als er um den Tisch herum rannte und versuchte, mir die Show zu stehlen.
»Die sind von uns und deinen Tanten und deinem Onkel«, sagte Mom, aber ich hörte nur halb zu, während ich schon eifrig alles auspackte.
Ich hatte fast alles bekommen, was ich mir gewünscht hatte. Fast.
Dad streichelte meinen Kopf. »Auf der Party heute bekommst du noch mehr Geschenke.«
Ich nickte und lächelte. »Ich werde die Prinzessin sein.«
»Die bist du doch immer.«
Mom warf Dad einen Blick zu, den ich nicht verstand.
Ein paar Stunden später war das Haus voller Freunde, Familienmitglieder und Männer, die für Dad arbeiteten. Alle waren gekommen, um mit mir zu feiern. Ich trug ein Prinzessinnenkleid und eine Krone und freute mich, dass mir alle Geschenke brachten, mir gratulierten und für mich »Happy Birthday« sangen. Der Geschenkturm war mindestens dreimal so hoch wie ich. Spät in der Nacht, als mir schon ständig die Augen zufielen, trug Dad mich in mein Zimmer.
»Wir müssen dir noch dein Nachthemd anziehen«, murmelte er, während er mich in mein Bett legte.
Ich umklammerte seinen Nacken und schüttelte energisch den Kopf. »Nein, ich will mein Prinzessinnenkleid anbehalten. Und meine Krone«, fügte ich nach einem Gähnen hinzu.
Dad gluckste. »Das Kleid kannst du anbehalten, aber die Krone ist zu unbequem zum Schlafen.« Er nahm sie mir vorsichtig ab und legte sie auf meinen Nachttisch.
»Bin ich denn ohne Krone trotzdem noch eine Prinzessin?«
»Du wirst immer meine Prinzessin sein, Marci.«
Ich lächelte. »Kuschelst du noch mit mir, bis ich einschlafe?«
Dad nickte und streckte sich unbeholfen neben mir aus, wobei seine Beine über das viel zu kurze Bett baumelten. Dann legte er einen Arm um mich. Ich schmiegte meine Wange an seine Brust und schloss die Augen. Mein Vater war der beste Vater der Welt.
»Ich liebe dich, Dad. Ich werde dich niemals verlassen. Ich werde für immer bei dir und Mom leben.«
Dad küsste mich auf die Schläfe. »Und ich liebe dich, Prinzessin.«
Marcella
Das sanfte Schaukeln der Hängematte wiegte mich in einen Halbschlaf, während ich zusah, wie die schäumenden Wellen an unseren Steg und den Strand schlugen. Die Hängematte auf unserem Anwesen in den Hamptons war an sonnigen Tagen mein Lieblingsplatz, und seit Anfang Juni gab es wochenlang solche sonnigen, heißen Sommertage, aber bisher hatte ich noch nicht viel Freizeit gehabt.
Ich wackelte mit den Zehen und stieß einen Seufzer aus. Die letzten Tage waren anstrengend gewesen, und ein paar Tage Entspannung hatte ich bitter nötig. Die Organisation meiner neunzehnten Geburtstagsparty bedeutete wochenlange intensive Vorbereitungen mit Kuchen- und Menüverkostungen, Kleiderkauf, Korrekturen der Gästeliste und vielen weiteren Aufgaben. Selbst ein Eventplaner hatte meine Arbeitsbelastung kaum reduziert. Alles musste perfekt sein. Meine Geburtstage gehörten immer zu den wichtigsten gesellschaftlichen Ereignissen des Jahres.
Nach der großen Party vor zwei Tagen hatte mich meine Mutter mit meinen beiden jüngeren Brüdern Amo und Valerio für eine Woche in die Hamptons mitgenommen, wo wir uns die dringend benötigte Entspannung gönnen wollten. Valerio verstand natürlich nicht, was Entspannung bedeutete. Er fuhr andauernd Wasserski, während einer unserer Bodyguards das Boot steuerte und ständig riskante Manöver fuhr, um ihn zufriedenzustellen. Ich glaube, ich hatte nicht einmal als Kind so viel Energie wie dieser Junge. Auch nicht mit acht.
Meine Mutter lag im Schatten auf einem Liegestuhl und las ein Buch, ihr blondes Haar umrahmte ihr Gesicht in lässigen Strandwellen. Meine Haare waren immer glatt, daran konnte selbst ein Tag am Strand nichts ändern. Und meine Haare waren obendrein kohlrabenschwarz und nicht engelsblond wie die meiner Mutter.
Schwarz wie deine Seele, scherzte Amo immer. Mein Blick wanderte zu ihm. Er hatte in einem weniger genutzten Teil unseres Grundstücks einen CrossFit-Parcours aufgebaut und machte sein Workout des Tages. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, sah es allerdings eher nach selbst auferlegter Folter aus. Ich zog Tante Giannas Pilates-Kurse vor. Amos Hingabe fürs Fitnesstraining ließ ihn allerdings schon mit seinen fünfzehn Jahren aussehen wie Hulk.
Die Schiebetür öffnete sich und unser Hausmädchen Lora kam mit einem Tablett heraus. Ich schwang meine Beine aus der Hängematte und lächelte, als ich sah, dass sie unser Lieblingsgetränk zubereitet hatte, Erdbeer-Fresca. Der Drink kühlte mich selbst an den heißesten Sommertagen ab. Sie schenkte ein Glas ein und reichte es mir.
»Danke«, sagte ich und schlürfte zufrieden an meinem Getränk.
Dann stellte sie eine Schüssel mit gekühlter Ananas auf den Beistelltisch.
»Die Ananas ist leider nicht so gut wie letztes Mal.«
Ich schob mir ein Stück in den Mund. Es war ein wenig sauer und ich seufzte. »Es ist so schwierig geworden, noch wirklich gutes Obst zu bekommen.«
Amo kam zu uns herüber, der Schweiß floss regelrecht von seinem glänzenden Oberkörper.
»Schwitz bloß nicht auf mein Essen«, warnte ich ihn.
Als er sich wie ein nasser Hund schüttelte, sprang ich von der Hängematte auf und trat ein paar Schritte zurück, um meine Fresca zu retten. Auch Geschwisterliebe hatte Grenzen.
Er aß ein paar von meinen Ananasstücken, ohne um Erlaubnis zu bitten. »Warum holst du dir nicht selbst welche?«
Ich deutete auf Lora, die Mom gerade ebenfalls Fresca und Obst servierte.
Er nickte auf das Buch »Marketing Analytics« auf meinem Beistelltisch. »Es sind doch Sommerferien. Musstest du da ernsthaft Hausaufgaben mitnehmen? Du bist doch sowieso schon Klassenbeste.«
»Ich bin Klassenbeste, weil ich Hausaufgaben mitnehme«, murmelte ich. »Alle warten nur darauf, dass ich einen Fehler mache. Aber diese Genugtuung werde ich ihnen nicht geben.«
Amo zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe nicht, warum dir das so wichtig ist. Du kannst nicht immer perfekt sein, Marci. Sie werden sowieso irgendwas finden, das ihnen an dir nicht gefällt. Selbst wenn du die Geburtstagsparty des Jahrhunderts organisierst, wird sich irgendwer beschweren, dass die Jakobsmuscheln nicht glasig genug waren.«
Ich wurde nervös. »Ich habe dem Koch mehrmals gesagt, dass er mit den Jakobsmuscheln besonders vorsichtig sein soll, weil …« Ich verstummte, als ich Amos Grinsen sah. Er wollte mich nur aufziehen. »Idiot.«
»Bleib doch einfach mal locker, um Himmels willen.«
»Ich bin total locker«, sagte ich.
Amo warf mir einen Blick zu, der besagte, dass ich definitiv alles andere als locker war.
»Waren die Jakobsmuscheln jetzt glasig oder nicht?«
Amo stöhnte. »Sie waren perfekt, reg dich nicht so auf.
Und weißt du, was? Die meisten Leute mögen dich trotzdem nicht, selbst wenn die Jakobsmuscheln die besten der Welt gewesen wären.«
»Ich will auch gar nicht, dass sie mich mögen«, sagte ich bestimmt. »Ich will nur, dass sie mich respektieren.«
Amo zuckte mit den Schultern. »Das tun sie. Du bist eine Vitiello.«
Er joggte Lora hinterher, um sich noch mehr Ananas und Fresca zu holen. Für ihn war die Diskussion damit beendet. Amo würde irgendwann Capo werden, trotzdem spürte er nicht denselben Druck, den ich verspürte. Als älteste Vitiello und dann auch noch als Mädchen waren die Erwartungen an mich gewaltig. Ich konnte nur scheitern. Ich musste schön und moralisch einwandfrei sein, rein wie der Schnee, aber gleichzeitig fortschrittlich genug, um die neue Generation der Famiglia zu repräsentieren. Amo bekam schlechte Noten, schlief ständig mit verschiedenen Mädchen und ging verschwitzt aus dem Haus, und alle sagten, er wäre eben ein Junge und das würde sich noch auswachsen. Wenn ich jemals auch nur eins davon getan hätte, wäre ich gesellschaftlich erledigt gewesen.
Mein Handy piepste und zeigte eine Nachricht von Giovanni an.
Ich vermisse dich. Wenn ich nicht so viel Arbeit hätte, würde ich vorbeikommen.
Meine Finger schwebten kurz über der Tastatur, doch dann zog ich sie wieder zurück. Ich war froh, dass sein Praktikum in der Anwaltskanzlei unseres Famiglia-Anwalts Francesco ihn so auf Trab hielt. Nach unserem Beinahe-Streit an meinem Geburtstag brauchte ich ein paar Tage Abstand von ihm. Wenn ich es nicht schaffte, meinen Ärger auf ihn vor unserer offiziellen Verlobungsfeier loszuwerden, würde es schwierig für mich werden, den Eindruck einer Frischverliebten aufrechtzuerhalten.
Ich schaltete den Ton aus, legte mein Handy wieder auf den Tisch und griff nach meinem Buch. Ich war gerade in eine besonders eintönige Stelle vertieft, da fiel plötzlich ein Schatten auf mich.
Als ich den Blick hob, sah ich Dad vor mir stehen. Er war in New York geblieben wegen dringender Geschäfte – mit der Bratva.
»Fleißig wie immer, meine Prinzessin«, sagte er und beugte sich vor, um mich auf die Stirn zu küssen.
»Wie liefen die Geschäfte?«, fragte ich neugierig und legte das Buch beiseite.
Dad lächelte angespannt. »Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest. Wir haben alles unter Kontrolle.«
Ich biss die Zähne zusammen, um ihn nicht weiter auszuquetschen. Sein Blick suchte nach Amo, der sofort sein Training unterbrach und zu uns kam. Dad wollte, dass er bei allem, was mit der Bratva zu tun hatte, dabei war, aber Mom hatte ihm das ausgeredet. Sie konnte einfach nicht aufhören, ihn zu beschützen.
»Hey, Dad«, sagte Amo. »Hattet ihr Spaß, als ihr der Bratva die Köpfe eingeschlagen habt?«
»Amo.« In Dads Stimme schwang eine Warnung mit.
»Marci ist nicht blind und auch nicht blöd. Sie weiß sowieso, was los ist.« Manchmal glaubte ich, dass ich die Brutalität von Dads Job besser erkannte als Amo. Er hielt alles für einen großen Spaß und erkannte die Gefahren nicht wirklich. Wahrscheinlich hatte Mom recht damit, ihn von den großen Gefechten fernzuhalten. Dabei würde er sich nur umbringen lassen.
»Ich muss kurz mit dir reden. Komm mit aufs Boot«, sagte Dad zu Amo.
Amo nickte. »Ich hole mir nur eben schnell ein Sandwich. Ich bin am Verhungern.« Er rannte zurück zum Haus, wahrscheinlich, um Lora zu nerven, damit sie ihm ein gegrilltes Käsesandwich machte.
Dads Gesicht war vor Wut verzerrt. Offensichtlich wollte er sofort reden.
»Er findet die Konflikte mit den Tartarus und der Bratva super spaßig. Als wäre es nichts weiter als ein neues Level in einem seiner Computerspiele. Er muss endlich erwachsen werden«, sagte Dad. Sein Blick fiel auf mich, als hätte er ganz vergessen, dass ich auch noch da war.
Ich zuckte mit den Schultern. »Er ist erst fünfzehn. Irgendwann wird er schon erwachsen werden und die Verantwortung erkennen.«
»Ich wünschte, er wäre so verantwortungsbewusst und vernünftig wie du.«
»Als Mädchen hat man es da leichter«, sagte ich lächelnd. Allerdings bedeutete es auch, dass mein Verantwortungsbewusstsein und mein Einfühlungsvermögen mir niemals von Nutzen sein würden. Ich würde nie ein Teil seiner Geschäfte sein.
Dad nickte und sein Gesichtsausdruck wurde weicher. »Mach dir darüber keine Gedanken, Prinzessin. Du hast mit dem College, deiner Verlobung und der Planung der Hochzeitsfeier schon genug um die Ohren …« Er verstummte, als wüsste er nicht, was ich sonst noch in meiner Freizeit tat. Dad und ich hatten nicht viele gemeinsame Interessen. Nicht, weil ich mich nicht für die Angelegenheiten der Famiglia interessiert hätte, sondern weil er mich nicht einbeziehen wollte. Stattdessen versuchte er, Interesse an den Dingen zu zeigen, von denen er glaubte, dass sie mir gefielen. Und ich tat ihm zuliebe so, als hätte ich Freude daran.
»Die Verlobungsfeier ist bereits geplant. Und bis zur Hochzeit ist noch viel Zeit.«
Unsere Verlobungsfeier war in zwei Wochen angesetzt, und obwohl wir schon seit fast zwei Jahren verlobt waren, war die Hochzeit noch zwei Jahre entfernt. Vor mir lag eine minutiös geplante Zukunft.
»Ich weiß, wie sehr du es liebst, wenn alles perfekt ist.« Er streichelte meine Wange. »Kommt Giovanni noch vorbei?«
»Nein«, sagte ich. »Er hat zu viel zu tun.«
Dads Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ich kann Francesco anrufen und ihm sagen, dass er Giovanni ein paar Tage freigeben soll, wenn du …«
»Nein.«
Dads Blick wurde misstrauisch. »Hat er …?«
»Er hat nichts getan, Dad«, sagte ich bestimmt. »Ich möchte nur ein bisschen Zeit für mich haben. Zeit zum Lernen und um über das passende Farbmotto für die Party nachzudenken«, log ich und lächelte breit, als könnte ich mir nichts Besseres vorstellen, womit ich den Nachmittag verbringen wollte, als über den Unterschied zwischen cremefarben und eierschalenfarben nachzudenken. Ich hatte noch nicht einmal angefangen, irgendetwas für die Hochzeit zu planen, und fühlte mich im Moment auch nicht im Geringsten dazu gezwungen. Nach ein paar Tagen Entspannung, die ich seit der Planung der Geburtstagsfeier dringend brauchte, wäre ich wahrscheinlich enthusiastischer.
Amo kam mit einem Teller mit drei Sandwiches aus dem Haus, während er sich ein viertes bereits in den Mund stopfte. Wenn ich so viel essen würde, könnte ich mich von meiner Oberschenkellücke verabschieden.
Dad küsste mich noch einmal auf den Scheitel, dann ging er mit Amo zum Steg, um über die Famiglia-Geschäfte zu sprechen. Seufzend nahm ich mein Buch wieder zur Hand, um in die Seiten einzutauchen. Dad wollte mich vor unserer Welt beschützen, und das musste ich akzeptieren.
Maddox
»Weißt du, worum es geht?«, fragte Gunnar, als er neben meiner Harley anhielt. Ich stieg ab und fuhr mir mit der Hand durch die wirren Haare. So kurz hatte ich sie noch nie getragen. Oben waren sie zwar noch etwas länger, damit ich sie nach hinten kämmen konnte, aber der Helm machte trotzdem ein ziemliches Chaos daraus.
»Earl hat mir nichts gesagt.«
Gunnar stieg von seinem Motorrad ab, einem älteren Modell mit viel Chrom. Mein Bike war eine komplett schwarze Fat Boy, sogar die Speichen waren mattschwarz. Die einzigen Farbtupfer waren der kleine Tartarus MC-Schriftzug, der in Blutrot auf den Ledersitz gestickt war, und der rote Höllenhund daneben.
Gunnar sah sich um. »Wo ist der Junge?«
»Hat sich wahrscheinlich in irgendeiner Pussy verlaufen«, sagte ich grinsend, als wir uns auf den Weg zum Clubhaus machten. Es war schon das vierte Clubhaus in den letzten zwei Jahren. Vitiello und seine Männer spürten uns immer wieder auf, sodass wir die Clubhäuser häufig wieder aufgeben mussten. Ein weiteres Massaker durfte es einfach nicht geben.
Wir ließen uns um den Eichentisch herum nieder, an dem Earl bereits wartete und in seinem verfluchten Massagesessel lümmelte. Ständig mussten wir das schwere Ding von einem Clubhaus zum nächsten schleppen. Earl sah aus, als hätte er gerade den verdammten Nobelpreis gewonnen. Immer mehr Brüder ließen sich um den Tisch herum nieder, bis alle stimmberechtigten Mitglieder versammelt waren, bis auf einen.
Earl schüttelte den Kopf, stand auf, entfernte den leeren Stuhl vom Tisch und schob ihn in eine Ecke. Dann ließ er sich wieder in seinen Sessel fallen und machte sich bereit, mit der Versammlung zu beginnen.
Plötzlich flog die Tür auf und Gray stolperte herein, mit offenem Hosenschlitz und auf links gezogener Jacke. Sein langes blondes Haar war völlig zerzaust. Ich unterdrückte ein Grinsen. Dieser Junge musste echt noch erwachsen werden.
Earls Gesicht verdunkelte sich, was seine zahlreichen Narben noch stärker betonte. Obwohl er die gleiche Haarfarbe wie Gray und ich gehabt hatte, waren seine im Laufe der Jahre grau geworden. »Du bist zu spät.«
Gray schien immer kleiner zu werden, während er zu seinem üblichen Platz am Tisch stolperte und erstarrte, als er bemerkte, dass sein Stuhl weg war. Er sah sich um und entdeckte ihn schließlich in der Ecke. Er ging hin, um ihn zu holen.
»Du kannst in der Ecke sitzen bleiben, bis du lernst, pünktlich zu sein, Junge«, bellte Earl.
Gray warf ihm einen ungläubigen Blick zu, doch dem wütenden Funkeln in seinen Augen nach zu urteilen, machte Earl keine Witze.
»Setz dich da hin oder verschwinde«, befahl er. »Und zieh deine verdammte Jacke richtig an, du Idiot. Sonst kannst du dich von diesem Treffen verpissen.«
Gray blickte an sich hinunter und seine Augen weiteten sich. Unbeholfen zog er die Jacke aus, krempelte sie um und zog sie wieder an, bevor er sich in die Ecke setzte.
»Bist du endlich fertig? Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Und wir haben einiges zu besprechen.«
Gray nickte und sank tiefer in seinen Stuhl.
Ich zwinkerte ihm zu und lehnte mich entspannt gegen die gepolsterte Kopfstütze. Earl hatte die schweren Mahagonistühle mit den roten Polstern von einem Schreiner anfertigen lassen, um unserem Besprechungstisch einen königlichen Look zu verleihen. Sogar sein Massagesessel war mit dem roten Satin bezogen. Natürlich konnte es nur noch bergab gehen, nachdem Earl es selbst geschafft hatte, mit einer Zigarette den ersten Brandfleck in den teuren Stoff zu brennen.
Gray kauerte immer noch wie ein begossener Pudel auf seinem Stuhl. Er nahm sich Earls Zurechtweisungen immer sehr zu Herzen. Vielleicht lag es an seinem Alter, aber mit siebzehn war ich nicht so begierig auf Earls Anerkennung gewesen. Trotzdem hatte Earl mir diese immer bereitwilliger zugestanden als seinem Sohn. Doch selbst ich hatte kaum jemals ein freundliches Wort von ihm erhalten. Schon früh hatte ich gelernt, dass ich freundliche Worte eher bei Frauen als bei meinen Clubbrüdern finden würde, und schon gar nicht bei meinem Onkel.
»Also, was ist los, Prez?«, fragte Cody.
Earls Missbilligung wurde durch ein verschmitztes Lächeln ersetzt. »Ich habe den perfekten Plan, um Vitiello endlich fertigzumachen.«
»Hört, hört«, sagte ich. »Was hast du dir denn Schönes ausgedacht?«
»Wir werden Marcella Vitiello entführen.«
»Seine Tochter?«, fragte Gray entsetzt. Sein offen zur Schau gestellter Schock spiegelte meine eigenen Gefühle wider – nur hatte ich gelernt, sie für mich zu behalten. Ich würde später mit Earl unter vier Augen über meine Bedenken sprechen.
Earl warf ihm einen strengen Blick zu. »Wen denn sonst? Oder kennst du noch jemanden mit diesem verdammten Namen? Man könnte meinen, Gott hätte dich mit höchstens zwei Gehirnzellen ausgestattet, so wie du dich manchmal benimmst.«
Grays Hals lief rot an, ein deutliches Zeichen dafür, dass er verlegen war.
»Glaubst du, Luca Vitiello schert sich einen Dreck darum, wenn wir seinen Abkömmling entführen? Sie ist nicht einmal seine Nachfolgerin. Vielleicht sollten wir lieber seinen riesigen Jungen entführen«, sagte Cody. Er war Earls Waffenmeister und hasste mich, weil ich Earls Stellvertreter war und nicht er.
»Der würde uns nur die Haare vom Kopf fressen«, murmelte ich, was mir das Gelächter aller Anwesenden einbrachte, mit Ausnahme von Cody und Gray, der immer noch seinen verletzten Stolz pflegte.
»Ich möchte, dass du sie abcheckst, Maddox. Du wirst die Operation leiten«, sagte Earl.
Ich nickte. Das hier war eine sehr persönliche Angelegenheit für mich. Ich hätte auch darauf bestanden, an dem Job beteiligt zu sein, selbst wenn mein Onkel mich nicht darum gebeten hätte. Die verwöhnte Vitiello-Prinzessin würde ich mir höchstpersönlich vorknöpfen.
Earl schob mir einen Zeitungsartikel rüber. Die Schlagzeile verkündete die Verlobung von Marcella Vitiello mit irgendeinem aalglatten Arschloch. Mein Blick fiel auf das Bild darunter.
»Fuck«, murmelte ich. »Ist sie das?«
Mehrere Männer stießen leise Pfiffe aus. Earl grinste anzüglich. »Die Hure, die Vitiello sein Vermögen und auch sein Leben kosten wird.«
»Die müssen irgendeinen Filter benutzt haben. So gut sieht doch niemand aus«, sagte Gunnar. »Ich glaube, mein Schwanz würde vor Ehrfurcht abfallen, wenn er jemals in die Nähe dieser Pussy käme.«
»Keine Sorge, das wird er nicht«, sagte ich und zwinkerte ihm zu. »Deine Alte würde ihn dir wahrscheinlich abschneiden, bevor du ihr zu nahe kommen kannst.«
Gunnar legte eine Hand auf sein Herz. Er war seit einem Jahrzehnt der Schatzmeister unseres Clubs und verhielt sich oft mehr wie eine Vaterfigur mir gegenüber als Earl.
»Das Foto ist ganz sicher manipuliert«, sagte ein anderer Bruder.
Dem konnte ich nur zustimmen. Vitiello hatte wahrscheinlich extra dafür bezahlt, dass die Fotografen das Bild seiner Tochter so lange retuschierten, bis sie wie eine göttliche Erscheinung aussah. Langes schwarzes Haar, blasse Haut, himmelblaue Augen und volle rote Lippen. Das Arschloch neben ihr in seinem spießigen Hemd mit Button-down-Kragen und sorgfältig gekämmten dunklen Haaren sah aus wie ihr Steuerberater und nicht wie der Typ, der sie fickte.
»Schneewittchen«, flüsterte ich.
»Was?«, fragte Earl.
Ich schüttelte den Kopf und wandte den Blick vom Foto ab. »Nichts.«
Mich wie ein bekloppter Vollidiot anzuhören, würde mir nicht gerade helfen. »Ich nehme an, sie wird sehr streng bewacht?«
»Natürlich. Vitiello hält seine Frau und Tochter in einem goldenen Käfig. Deine Aufgabe ist es, das Schlupfloch zu finden, Mad. Wenn das irgendjemand kann, dann du.« Ich nickte geistesabwesend, während ich die Fotos auf dem Tisch noch einmal durchging. Riskante Manöver waren meine Spezialität, aber mit den Jahren war ich vorsichtiger geworden. Ich war ja kein Teenager mehr. Mit fünfundzwanzig war mir klar, dass ich nicht zulassen konnte, getötet zu werden, bevor ich endlich meine ersehnte Rache bekommen hatte.
Mein Blick wanderte wie von einem unsichtbaren Magneten angezogen wieder zurück zu dem Foto.
Sie sah wirklich viel zu gut aus, um wahr zu sein.
Vitiello stand immer im Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit, nie seine Familie und schon gar nicht seine Kinder. Aus irgendeinem Grund regte es mich total auf, dass ausgerechnet er es geschafft haben sollte, eine so umwerfende Tochter zu zeugen. Ich hoffte wirklich, dass die Fotos stark retuschiert waren und die verdammte Marcella Vitiello in Wirklichkeit potthässlich war.
Ich trug Zivil, als ich Marcella zum ersten Mal folgte. Wenn wiederholt ein Mann auf einem Motorrad in Bikerklamotten aufgetaucht wäre, hätten ihre Bodyguards nur Verdacht geschöpft. Vitiello hatte seinen Soldaten sicherlich die Porträts aller bekannten Mitglieder unseres Clubs gegeben, damit sie uns bei Sichtkontakt sofort umlegen konnten. Glücklicherweise hatte ich mich in den letzten Jahren zurückgezogen und die jungenhaften Züge und schulterlangen Haare meiner Teenagerjahre verloren. Diese wilden Jahre, die mich fast das Leben gekostet und mir den Spitznamen Mad eingebracht hatten.
Gleich nach meiner Rückkehr nach New York hatte ich einen Angriff nach dem anderen auf Famiglia-Einrichtungen verübt, bis eine Kugel meinen Kopf streifte und fast mein Leben beendet hätte. Aber ich würde erst sterben, nachdem Vitiello das bekommen hatte, was er verdiente, und keinen Tag früher.
Heute trug ich sogar einen verdammten langärmeligen Rollkragenpullover, um meine Tattoos und Narben zu verdecken. Ich sah aus wie Schwiegermutters beschissener Liebling. Trotz meines Outfits achtete ich darauf, ausreichend Abstand zu halten. Marcellas Leibwächter waren so vorsichtig, wie man es von Soldaten erwarten konnte, die sich vor Luca Vitiello würden verantworten müssen, wenn seiner kostbaren Tochter etwas zustoßen würde.
Schlimmer als meine Wahl der Kleidung war der Toyota Prius, den Earl mir organisiert hatte, um unser Ziel zu verfolgen. Ich vermisste mein Motorrad, die Vibrationen zwischen meinen Schenkeln, den Klang, den Fahrtwind. In dieser Scheißkarre kam ich mir vor wie ein Idiot.
Aber meine Tarnung gab mir die Möglichkeit, Marcellas Auto dicht zu folgen, und als sie schließlich vor einer schicken Boutique anhielten, parkte ich nur ein paar Autos entfernt. Ich stieg aus meinem Prius aus, gerade als einer der Bodyguards Marcella die Hintertür aufhielt. Das Erste, was ich von ihr sah, war ein langes, schlankes Bein in roten High Heels. Sogar die verdammte Sohle war rot.
Als sie sich aufrichtete, musste ich ein Fluchen unterdrücken. Dieses Mädchen brauchte gar keinen Filter. Sie trug ein rotes Sommerkleid, das ihre schmale Taille und ihren runden Hintern betonte und ihre Beine kilometerlang aussehen ließ, obwohl sie eine eher kleine Frau war.
Ich zwang mich, die Auslagen der Geschäfte weiter zu betrachten, weil ich beim Anblick der Vitiello-Prinzessin wie erstarrt war. Ihr Gang zeugte von unerschütterlichem Selbstvertrauen. Trotz ihrer lächerlich hohen Absätze schwankte sie kein bisschen. Sie ging durch die Straße, als würde sie darüber herrschen – mit hoch erhobenem Kopf, einem Ausdruck von kühler Distanziertheit und beinahe schmerzhafter Schönheit. Es gab hübsche Mädchen, es gab schöne Mädchen, und es gab Mädchen, bei denen Männer und Frauen gleichermaßen stehen blieben, um sie mit offenem Mund anzustarren. Marcella gehörte eindeutig zu den Letzteren.
Als sie in der Boutique verschwand, schüttelte ich den Kopf, als müsste ich aus einer Trance erwachen. Ich musste mich konzentrieren. Marcellas Aussehen war für unsere Mission völlig irrelevant. Das Einzige, was zählte, war Vitiellos wahnsinniger Beschützerinstinkt. Wenn wir sie in der Hand hätten, hätten wir damit auch ihn in der Hand, und dann würde dieser Bastard endlich für alles bezahlen.
Ich atmete erleichtert auf, als ich mich an diesem Abend nach meiner Rückkehr ins Clubhaus aus dem verdammten Rollkragenpullover schälen konnte. Nur mit Boxershorts bekleidet, ging ich hinunter in den Barbereich und holte mir ein Bier.
Mary-Lu kam aus Grays Zimmer, als ich meine Tür öffnete. Sie trug Hotpants und ein Tank-Top ohne BH. Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie mich entdeckte. »Du siehst aus, als könntest du ein bisschen Gesellschaft gebrauchen.«
Ich nahm einen Schluck von meinem Bier. Ich brauchte tatsächlich einen weiblichen Körper, um mich von Marcella Vitiello abzulenken. »Und ich nehme an, du wärst gern diese Gesellschaft?«
Sie schlenderte zu mir herüber und fuhr mit ihren Fingernägeln über meine nackte Brust, wobei sie an meinem Nippelpiercing zupfte. Dann beugte sie sich vor, als wollte sie mich küssen.
»Hast du Gray gerade mit diesem Mund einen geblasen?«, fragte ich und grinste.
Sie errötete. »Er ist betrunken ohnmächtig geworden, bevor er …«
»Ich will gar nicht wissen, ob mein Bruder dir seine Ladung in den Hals gejagt hat, Lu«, murmelte ich und öffnete dann meine Tür. »Keine Küsse, aber ich hab Bock auf einen Blowjob. Und ich verspreche auch, nicht ohnmächtig zu werden, bevor ich dir meine ganze Sahne in deinen hübschen Rachen gespritzt habe.«
Sie kicherte, als ich ihr auf den Hintern klopfte, und schloss die Tür hinter uns. Lu gehörte zu unseren Wanderpokalen, den Mädchen, die wir untereinander herumreichten. Aber sie hatte den Ehrgeiz, die feste Freundin von irgendwem zu werden. Meine allerdings nicht, so viel stand fest.
Mitten in der Nacht wachte ich aus einem Traum auf – oder eher aus einem Albtraum, je nachdem. Die letzten Überreste davon schwirrten immer noch in meinem Kopf herum. Blaue Augen, die auf mich herabblickten, rote Lippen, die sich zu einem Schrei der Ekstase öffneten, und eine Pussy über meinem Mund.
Ich riss die Augen auf. Verfluchte Scheiße. Ich konnte sie beinahe schmecken. Ich sollte verdammt noch mal nicht davon träumen, Marcella Vitiello zu lecken. Ein warmer Körper regte sich neben meinem, und einen Herzschlag lang fragte ich mich, ob ich es irgendwie geschafft hatte, Marcellas Entführung zu vergessen und sie stattdessen einfach mit in mein Bett genommen hatte.
»Mad?«, ertönte Lus schläfrige Stimme, und mein Herzschlag verlangsamte sich wieder.
»Schlaf weiter«, sagte ich schroff. Mein Schwanz pulsierte vor lauter Blut. Das letzte Mal, als ich mit einem solchen Ständer aufgewacht war, war ich noch ein Teenager gewesen. Lu kuschelte sich an mich und ihre Hand streifte meinen Schwanz. »Soll ich dir einen blasen?«
Ja, verdammt. Aber ich würde mir dabei nur vorstellen, dass es Marcella wäre.
Und das würde die Dinge in sehr gefährliche Bahnen lenken.
»Nein, schlaf einfach weiter.«
Innerhalb weniger Minuten wurde ihr Atem gleichmäßig und ich starrte weiter an die Decke, während ich versuchte, meinen pochenden Schwanz zu ignorieren.
Ich hätte wissen müssen, dass Luca Vitiellos Brut mir das Leben schon zur Hölle machen würde, noch bevor sie überhaupt in unseren Händen gelandet war. Ihr Vater verfolgte mich bereits seit Jahrzehnten in meinen Albträumen. Es passte also perfekt, dass seine Tochter das ab sofort übernahm.
Marcella
Ich überprüfte mein Spiegelbild ein letztes Mal. Alles war perfekt. Um genau vier Uhr nachmittags klingelte es an der Tür. Giovanni kam nie zu spät. Auch nicht zu früh. Er war immer pünktlich. Am Anfang fand ich es bezaubernd, dass er mir und vor allem meinem Vater gefallen wollte. Jetzt musste ich meinen Ärger unterdrücken, als er das Foyer betrat, nachdem unser Hausmädchen Lora ihn hereingelassen hatte.
Er trug ein perfekt gebügeltes Hemd und eine Hose, sein Haar saß trotz des Sturms draußen perfekt. Ich ging die Treppe hinunter, um ihn zu begrüßen. Als ich mich auf die Zehenspitzen stellte, um ihn zu küssen, wich er mir schnell aus und küsste nur meine Hand, wobei er Lora einen vorsichtigen Blick zuwarf. Die sah demonstrativ überall hin, nur nicht zu uns.
Ich sah ihn an und versuchte gar nicht erst, mein Missfallen zu verbergen. »Giovanni, mein Vater ist nicht zu Hause. Und selbst wenn er es wäre, weiß er doch längst, dass wir ein Paar sind. Wir sind verlobt, um Himmels willen.«
Ich sah, dass meine Worte nicht die geringste Wirkung auf ihn hatten. Seine Angst vor meinem Vater war einfach zu groß. Das war nichts Neues und auch nicht besonders schockierend. Giovanni lächelte mich flehentlich an, was immer ein wenig schmerzhaft aussah. Dann nahm er meine Hand.
»Lass uns in mein Zimmer gehen«, sagte ich und verschränkte meine Finger mit seinen.
Giovanni zögerte. »Sollte ich nicht zuerst deine Mutter begrüßen?«
Das war sein kläglicher Versuch, herauszufinden, ob meine Mutter zu Hause war.
»Sie ist auch nicht da«, sagte ich genervt und schon am Rande meiner Geduld.
Schließlich folgte er mir nach oben, aber ich spürte, dass immer noch irgendeine Sorge in ihm schwelte.
Die kam dann auch zum Vorschein, als wir den Treppenabsatz im ersten Stock erreichten. »Und was ist mit deinem Bruder? Er ist doch der Herr im Haus, wenn dein Vater nicht da ist.«
»Mein Bruder ist in seinem Zimmer und spielt Fortnite oder was auch immer. Es ist ihm total egal, ob du ihn begrüßt oder nicht.«
»Aber vielleicht sollten wir ihn auf meine Anwesenheit aufmerksam machen.«
Jetzt verlor ich langsam wirklich die Geduld. Mit zusammengekniffenen Augen sagte ich: »Er weiß, dass du hier bist, und es ist ihm egal. Ich bin gerade die dienstälteste Vitiello vor Ort.«
»Aber du bist …«
… eine Frau.
Er musste es nicht aussprechen. Ich war nur eine Frau und daher völlig irrelevant.
Ich musste einen neuen Wutanfall unterdrücken.
»Du bist ja auch nicht irgendwer, Giovanni. Du bist mein verdammter Verlobter.« Giovanni hasste es, wenn ich fluchte – er fand, das sei unschicklich und nicht angemessen für die Tochter eines Capo. Und genau deshalb sagte ich es. Um ihn zu ärgern. Er hatte ja offensichtlich auch kein Problem damit, mich mit seiner Angst davor, mit mir allein zu sein, zu verärgern.
Nach einem weiteren Streit darüber, ob wir die Tür zu meinem Zimmer angelehnt lassen oder besser ganz schließen sollten, ließen wir uns endlich auf meinem Bett nieder. Ich spürte, dass Giovanni gar keine Lust hatte, mich zu küssen. Seine Zunge fühlte sich in meinem Mund an wie eine leblose Schnecke. Ihn zu küssen, hatte mein Blut noch nie wirklich in Wallung versetzt, aber das hier war der Gipfel. Er schien meilenweit entfernt zu sein. Mit einem verführerischen Lächeln stand ich auf und zog mir das Kleid über den Kopf, dann präsentierte ich ihm das neue BH-Set von La Perla, das ich erst letzte Woche gekauft hatte. In der Hoffnung, dass es auch noch jemand anderes als ich selbst zu sehen bekommen würde. Es war aus schwarzer Spitze und meine Nippel lugten ein wenig hindurch.
Giovannis Augen weiteten sich, als er mich ansah, und Hoffnung durchströmte mich. Vielleicht kamen wir ja doch noch voran. Ich kroch zurück ins Bett, konnte aber bereits sehen, wie die Angst Giovannis Gesichtsausdruck übernahm, als wollte ich ihn vergewaltigen. Ich küsste ihn und versuchte, ihn auf mich zu ziehen, aber er stützte sich auf seinen Armen ab und schwebte mit einem gequälten Gesichtsausdruck regelrecht über mir. Ich spürte, wie mir bei seiner Zurückweisung die Hitze in die Wangen stieg. Ich war mir nicht einmal sicher, warum ich immer noch so fühlte, obwohl seine Zurückweisungen bereits zu einer schmerzhaften Routine geworden waren.
Giovanni schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht, Marcella. Dein Vater bringt mich um, wenn er es herausfindet.«
»Mein Vater ist doch gar nicht hier«, maulte ich.
Irgendwie war er trotzdem anwesend. Mein Vater war immer mit uns im Raum, sobald ich mit Giovanni allein war, wenn auch nicht physisch. Er musste auch gar nicht real anwesend sein, weil er in Giovannis Kopf festsaß. Alle hatten Angst vor meinem Vater, sogar mein Verlobter. Sein Schatten folgte mir einfach auf Schritt und Tritt. Ich liebte meine Familie über alles, aber in solchen Momenten wünschte ich mir, nicht Marcella Vitiello zu sein.
Obwohl mein Vater mir erlaubte, jemanden zu daten, setzte er durch seine bloße Existenz die alten Traditionen durch, an die ich eigentlich gar nicht mehr gebunden war. Von mir wurde immer noch erwartet, dass ich bis zu meiner Hochzeitsnacht Jungfrau blieb, aber was Giovanni und ich sonst noch miteinander taten, ging nur uns etwas an. Beziehungsweise, es wäre nur uns etwas angegangen, falls Giovanni den Mut aufgebracht hätte, mich überhaupt mal anzufassen.
Ich stieß Giovanni von mir und er gab nach, lehnte sich zurück und sank gegen das Kopfteil. Er sah aus, als würde er am liebsten sofort vom Bett springen, wenn er nicht Angst davor gehabt hätte, mich damit zu beleidigen.