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Dusi (gesprochen Duschi) und ihre Schwester Klarika verlieren als kleine Kinder innerhalb kurzer Zeit beide Eltern und alle Geschwister, das Elternhaus und schliesslich die ungarische Heimat. Beide müssen sich neu orientieren. Obwohl sie dieselbe Herkunft haben, gelingt der einen die Verankerung im neuen Leben besser als der anderen. Auf einmal kollidieren Schein und Wirklichkeit. Das Finden einer eigenen Identität zwischen den gesellschaftlichen Ansprüchen und dem Wunsch nach Selbstbestimmung wird zu einer Gratwanderung. Dusi als kreative, eigenständige und trotzdem anpassungsfähige Persönlichkeit geht ihren eigenen Weg. Äusserlich von eher zarter Statur, ist sie innerlich unbeugsam, wenn es darum geht, zäh und ausdauernd Lösungen für vordergründig ausweglose Situationen zu suchen. Die wachen und stets präsenten Erinnerungen an die frühe Kindheit im ländlichen Ungarn erweisen sich als tragfähige Lebensgrundlage und Kraftquelle für Dusi.
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Seitenzahl: 216
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Cover
Titel
Marianne Grädel
Dusi
Erzählung
Impressum
© 2018 Blaukreuz-Verlag Bern
Fotos: Archiv Marianne Grädel
Umschlaggestaltung: diaphan gestaltung, Liebefeld
Satz: diaphan gestaltung, Liebefeld
Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
ISBN des E-Books: 978-3-85580-533-4
ISBN der Print-Ausgabe: 978-3-85580-530-3
«Grossi guldigi Summervögel flüge über d Strasse.
Grossi guldigi Summervögel flüge usem Wald ufs Fäld.
Jetzt guet Nacht du schöni Wält, mir wei itz ga schlafe,
jetzt guet Nacht du schöni Wält, mir wei itz ga schlafe.
Grossi guldigi Summervögel flüge über d Strasse.
Grossi guldigi Summervögel flüge usem Wald ufs Fäld.
Ihre Summer isch verby, ihri Freud vergange,
über Nacht chas Winter si, s heisst, es gäb e länge.
Grossi guldigi Summervögel flüge über d Strasse.
Grossi guldigi Summervögel flüge usem Wald ufs Fäld.
Darum rueie si dert, und anders chunnt ad Reihe,
d Chnospechindli, brun und rund, tröime scho vom Maie.»
(aus: «Es singt es Vögeli ab em Baum» von Sophie Haemmerli-Marti, Verlag Sauerländer, 1958)
Vorwort
Prolog
Frühling
Sommer
Herbst
Winter
Epilog
Bildteil
Dank
Zur Autorin
Was soll von einem Leben bleiben? Die Frage stellt sich meist erst an Beerdigungen. Hier wird bilanziert und manchmal schöngeredet. Wir wissen wenig von den inneren Kämpfen, die ein Mensch Zeit seines Lebens ausficht. Sichtbar werden nur die Auswirkungen, die Kreise, die ein Menschenleben zieht.
Im vorliegenden Buch geht es um die Auseinandersetzung mit dem Inneren und dem Äusseren im Leben von Dusi (gesprochen Duschi) Fischer-Gremsperger. Ich stütze mich dabei auf Berichte ihrer Familie, auf ihre Aufzeichnungen aus der frühen Kindheit in Ungarn (Originalzitate sind im Buch kursiv gedruckt) und eigene Erinnerungen an sie. Sie war meine Grossmutter. In langen Gesprächen mit Verwandten und Freunden wurde immer klarer, was Dusi als Mensch ausmachte. Dies ermöglichte es mir, ihr inneres Ringen zwar in schriftstellerischer Freiheit darzustellen aber doch hoffentlich sehr nahe an der Wirklichkeit festzumachen.
Dusi lebte gewiss kein Leben wie im Bilderbuch. Die Bilder, die sie mit ihrem Leben, unter Aufbietung all ihrer Kräfte, erschaffen hat, sind aber bunt und facettenreich. Sie erhellen aus der Vergangenheit immer noch unseren Alltag und halten die Frage wach, was von unserem eigenen Leben bleiben soll.
«Um das Kapitel Spiel und Spielgefährten abzuschliessen, möchte ich nur noch ein Spiel erwähnen, das ich ganz alleine als Geheimnis mit einem himmlischen Gefährten spielte, nämlich dem Mond. Schon als Kind liebte ich die Silbersichel am hellen Abendhimmel. Stand sie hoch genug oben und war es mir vergönnt, noch ein wenig auf dem Hofplatz zu sein, so sprang ich hin und her und sah zum Himmel auf, ob sie mir folge. Und immer war sie genau über mir. Ich konnte die kunstvollsten, raschesten Wendungen machen, von einer Ecke gerade in die andere springen, der Mond kam unfehlbar mit. Das kam mir seltsam vor, dass er so bereit war, gerade mein Spiel mitzuspielen, denn es gab doch noch so viele Leute in Rácalmás, die er auch begleiten könnte, wenigstens zur Abwechslung.»
Aus Dusis Kindheitserinnerungen, niedergeschrieben 1965 im Alter von 51 Jahren als Brief an ihre jüngere Schwester Klarika
«Behold, we know not anything;
I can but trust that good shall fall
At last – far off – at last, to all,
And every winter change to spring.»
(Aus «In Memoriam» 1850, von Alfred Tennyson; London, 1878)
Die Wohnung ist kalt am frühen Morgen. Erst im Lauf des Nachmittags wird die Sonne die Fassade eine Weile bescheinen und einen Hauch von Wärme spenden. Der Frühling ist noch weit weg, auch wenn die Tage schon etwas länger hell sind. Bisher hat Dusi noch nicht viel von Budapest gesehen. Die Stadt bedrückt sie, nirgends sieht man den Horizont. Sie vermisst die unendlichen Felder und Wiesen hinter dem Dorf und die schmalen Wege dazwischen, wo man die Füsse in den feinen, hellen und kühlen Sand stecken konnte. Und ihr fehlt der Anblick des weiten Himmels mit dem Spiel der ziehenden Wolken. Immer schon hatte sie sich gewünscht, auf den weichen weissen Wolkenbergen herumzutollen. Von dieser Wohnung aus kann sie zwischen den hohen Häuserreihen bloss ein kleines Stück Himmel erspähen.
Sie zieht die kalten Füsschen unter den Rock, um sie zu wärmen. Geheizt wird erst am Abend wieder, wenn die Patin von der Arbeit zurückkommt. Es ist still in der Wohnung, ganz still. Dusi bettet den Kopf aufs Kissen und versucht, noch einmal einzudösen. Im Schlaf kommen jeweils die freundlichen Träume. Wie feine Fäden ziehen die Erinnerungen Spuren hinter den Augenlidern.
Als das nicht gelingt, drückt sie sich die Handballen fest auf die Augen. Sie liebt die farbigen Kringel, die entstehen, wenn man nur lange genug wartet. Erst sind sie grau und weiss, dann werden sie blau und golden. Der Hintergrund ist schwarz wie der Nachthimmel über der Puszta. Gelbe Sternenpünktchen flirren näher und verschwinden wieder. Es tauchen Verzierungen auf, wie sie die Mutter jeweils mit bunten Fäden auf die Sonntagsblusen stickte.
Die Tränen laufen dem Kind unter den Fäustchen hindurch über die Wangen. Es vermisst die Mutter. Und den Vater, den es Apa nannte. Er sei nun auch gestorben, hatte die Tante gesagt. Gewiss ist die Tante eine liebe Frau und sorgt, so gut sie kann, für ihr Patenkind, aber sie ist immer so lange weg. Sie müsse arbeiten und Geld verdienen, hatte sie Dusi erklärt. Wenn ihr Verlobter aus der russischen Kriegsgefangenschaft heimkehre, werde er vorerst keine Arbeit haben und vielleicht sogar krank sein.
Das Mädchen fragt seine Irénnéni, was denn Kriegsgefangenschaft sei? Die Patin seufzt und gibt keine Antwort. Dusi spürt einen Anflug von Schrecken, etwas Ungeheuerliches muss das sein, die Kriegsgefangenschaft. Sie lauscht dem Wort nach. Es klingt doppelt grausam: Krieg und gefangen. Sie erinnert sich an das beklemmende Gefühl, wenn man beim Fangenspielen erwischt wurde. Dusi sieht den Kummer in den Augen der Patin.
Irén Kovács spricht in diesem Jahr 1919 oft davon, dass nun die meisten Menschen in Ungarn Hunger hätten und das Land am Ende sei nach dem grossen Krieg. Dusi und ihr Schwesterchen Klarika haben in ihrem Dorf nichts davon mitbekommen. Nur einmal waren zwei blasse, schüchterne Mädchen aus Österreich zu ihnen gekommen und ein paar Wochen lang verwöhnt worden. Dusi und Klarika konnten es kaum fassen, wie die Mutter den beiden immer und immer wieder die besten Leckerbissen vorgesetzt hatte. Bis sie wieder fröhlich geworden waren und runde Bäuchlein hatten. In Dusis Augen war der Kriegsschrecken der armen Mädchen gelindert worden durch die Fürsorge ihrer Mutter, ihrer Anya.
Indem sie für uns sorgte, war sie heiter, glücklich und zufrieden. Sicher hatte sie auch manchmal Kummer oder Sorgen, aber wir bekamen das nicht zu spüren. Sie war immer freundlich, immer geduldig, immer liebevoll und fröhlichen Gemütes. Sie war sicher einfach in ihrem Wesen aber hatte echte Herzlichkeit und Mütterlichkeit und war deshalb auch bei anderen Menschen beliebt. Nie war sie laut oder lärmig, sondern mehr warmherzig und innig.
Genug der wehmütigen Erinnerungen. Der leere Magen knurrt. Dusi steht auf und trippelt in die Küche. Sie klettert auf den Holzstuhl mit dem geflickten Bein. Die Tante hat ihr etwas altbackenes Brot und Milch bereitgestellt. Dusi kaut sehr langsam, um dem Brotbrei die tröstliche Süsse abzugewinnen. Bis mittags muss das reichen, dann erst darf sie die Reste vom Vorabend essen. Mittag sei dann, wenn die Sonne ganz hoch am Himmel stehe, hatte Irénnéni der sechsjährigen Dusi erklärt. Und wenn die Sonne nicht scheine, wie solle sie dann wissen, wann Mittag sei? Darauf wusste die Tante auch keine Antwort. Also dachte sich Dusi die Regel aus, dass dann Mittag ist, wenn der Hunger mehr schmerzt als das Sehnen nach den Eltern und dem Schwesterchen.
Nach dem Frühstück stellt Dusi ihre Tasse in das Waschbecken. Abwaschen darf sie sie nicht, es könnte sich jemand wundern, wenn in der vermeintlich leeren Wohnung auf einmal Wasser aus den Rohren liefe. Sie verlässt die Küche, tapst ins Bad und kämmt sich die Haare. Sie versucht, zwei Zöpfe zu flechten. Dann steigt sie auf den Schemel, zieht sich mit beiden Händchen auf den Rand des Waschbeckens hoch, stützt sich auf und überprüft im winzigen, halbblinden Spiegel ihr Werk. Mit dem Ergebnis ist sie nur mässig zufrieden. Ihre graublauen Augen blicken aber schon wieder zuversichtlicher in die Welt. Jetzt darf sie spielen. Alles soll seine Ordnung haben, hatte ihre Mutter sie gelehrt.
In der Stube kramt Dusi ihre kleinen Puppen aus der Schachtel hervor. Sie sind sehr einfach und nur der Spur nach als Püppchen zu erkennen. Aber Dusi liebt sie heiss, spielt viele Stunden mit ihnen und denkt sich dabei fabelhafte Geschichten aus. Das kleinste Puppenkind stellt Klarika dar, ihre um neunzehn Monate jüngere Schwester. Dusi erinnert sich daran, dass sie sich viel gestritten hatten und die Mutter darüber traurig war.
Oft betrübte es sie, dass wir immer zusammen zankten und sie ermahnte uns. Aber das begriff ich nie. Zanken war doch so kurzweilig und eine reine Angelegenheit zwischen uns beiden. Nie gegen sie, die Mutter, gerichtet. Ich fühlte sicher richtig, dass geschwisterliches Zanken in der Kinderzeit für die gesunde seelische Entwicklung unentbehrlich ist. Wir liebten uns deswegen gleichwohl und waren unzertrennlich. Ich war natürlich etwas in der Übermacht, da ich älter war, und ich verlangte ziemlich kategorisch Gehorsam von dir. Aber du warst ein so munteres, aufgewecktes Persönchen, dass ich hoffe, du habest keinen Schaden davongetragen.
Aus der schweren Zeit der grossen Veränderungen hat Dusi nur wenige Erinnerungen an den Alltag und die Schwester behalten. Einzig die beiden leidvollsten Szenen haben sich ihr in das Gedächtnis eingebrannt. Einerseits die Kunde vom Tod der Mutter, als Klarika so lange untröstlich war:
