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Titelangaben
Teil I - 1
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Teil II - 55
Teil III - 56
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Nachwort
Info
Meike Messal
Düsterstrand
Fehmarn-Krimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum
sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Institutionen, Straßen und Schauplätze auf Fehmarn.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2020
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto © Thomas Reimer, adobe stock
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-216-4
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-205-8
www.prolibris-verlag.de
Die Autorin
Meike Messal wurde 1975 in Minden geboren. Nach dem Abitur lebte sie für einige Zeit in Israel und Südafrika und studierte im Hamburg Germanistik, Anglistik und Amerikanistik.
Anschließend unterrichtete sie in Schleswig-Holstein. Die Wege an die Küste waren kurz und Messal, die das Meer liebt, verbrachte ihre Freizeit am
liebsten am Wasser. Besonders hatte und hat es ihr Fehmarn angetan.
Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern wieder in ihrer
Heimat und unterrichtet an einem Mindener Gymnasium. Wann immer es die Zeit zulässt, findet man sie jedoch an ihrem Sehnsuchtsort – auf Fehmarn.
Nach Nachtfahrt ins Grauen und Atemlose Stille legt Messal mit Düsterstrand ihren dritten Kriminalroman vor. Sie ist außerdem als Herausgeberin aktiv und veröffentlichte zahlreiche Kurzgeschichten.
Für Annika, Helena, Karo und Kiki -
den tollsten Geschwistern.
Und natürlich für meine Kinder.
Ihr seid die Besten, wisst ihr das?
We’re all of us guinea pigs in the laboratory of God. Humanity
is just a work in progress.
Wir sind alle Versuchskaninchen im Labor Gottes. Die Menschheit
ist eben als Prozess konzipiert.
Tennessee Williams, Camino Real (1953)
Teil I
1
Nicht die Dunkelheit im Keller war das Schlimmste. Nicht die Einsamkeit. Und
nicht der Eisenring, an den sein Fuß gekettet war und der seinen Knöchel blutig gescheuert hatte. Nein, all das hätte er ertragen können. Aber nicht den Hunger. Er wusste nicht, wann er zuletzt gegessen hatte.
Die Zeit war in der ständigen Dunkelheit verschwunden, hatte sich in dem weißen Dampf aufgelöst, der aus seinem Mund kam, wenn er atmete. Doch die Kälte drang nicht mehr zu ihm vor, auch nicht der Schmerz. Das Einzige, was er spürte, war der Hunger, der ihn von innen aufzufressen schien, an jeder Zelle
seines Körpers nagte.
Er lehnte seine Stirn gegen die raue Mauer. Wenn er doch nur wüsste, was der Mann von ihm wollte. Diese hagere, große Gestalt, die ihn hierhergebracht hatte. Wie ein Mönch hatte er ausgesehen mit dem braunen Gewand über den kantigen Schultern und dem Strick um die Hüfte.
Er hatte bisher gedacht, dass Mönche friedliche und nette Leute seien. Aber dieser nicht. Nein, der war ganz
bestimmt nicht freundlich. Schon in der ersten Sekunde, als er in seine grauen
stahlharten Augen schaute, die sich in ihn bohrten, hatte er gewusst: Dieser Mönch war ein Monster.
Er sackte zusammen, schrammte an der kalten Mauer entlang. Und in dem Moment
entschied er, nicht wieder aufzuwachen. Nichts mehr zu spüren. In der Schwärze zu verschwinden und sich aufzulösen.
Doch der Hunger tobte in ihm. Ließ ihm keine Ruhe. Schrie. Rebellierte. Krallte sich an seinem Magen fest.
Er ballte seine Hände zu Fäusten und grub sie in seinen Bauch. »Bitte«, flüsterte er, »bitte lass mich zufrieden.«
Doch der Hunger hörte nicht, schrie weiter. Dehnte sich in ihm aus, bis er ganz Hunger war.
Und so brauchte er einen Moment, bis er begriff, dass es nicht mehr sein Magen
war, der diese fürchterlichen Geräusche verursachte, sondern die schwere Eisentür, in deren rostigem Schloss sich ein Schlüssel drehte.
Bleich blickte er nach oben. Der Mönch kam zurück.
2
Achtzehn. Die Zahl war in ihrem Kopf, noch bevor sie die Augen geöffnet hatte. Sie blieb regungslos liegen, atmete tief ein und versuchte, dabei
zu ergründen, ob sich etwas verändert hatte. Fühlte es sich anders an, wenn man volljährig war?
Mit einem Schulterzucken stellte sie fest, dass das nicht der Fall war. Ihre
linke Schulter schmerzte noch genauso wie gestern, seit sie beim
Trampolin-Training darauf gestürzt war, und auch sonst bemerkte sie keinen einen einzigen Unterschied zu den
Tagen zuvor. Aber was machte das schon? Mit einem Ruck schlug sie die Bettdecke
zur Seite, sprang aus dem Bett und stellte sich vor den großen Spiegel. Autsch, verdammt fies, direkt nach dem Aufstehen: Der Pickel oben an
ihrer Stirn schillerte rötlicher als gestern und ihre braunen, lockigen Haare standen wie immer
widerspenstig in alle Richtungen ab. Sie versuchte sich an einem Grinsen, schüttelte bei dem Ergebnis den Kopf, griff nach der Jeans und dem ausgewaschenen,
ehemals schwarzen T-Shirt und zog sich in Windeseile an.
Sobald sie die Tür geöffnet hatte, roch sie den Duft von Kaffee und, noch besser, den von Crêpes. Cool, ihr Lieblingsessen. Mit einem lauten Geräusch machte ihr Magen auf sich aufmerksam. Sie beruhigte ihn mit kreisenden
Handbewegungen, während sie grinsend den Gang hinunter zur Küche ging. Als sie die Tür öffnete, fuhr ihre Oma, die am Herd werkelte, herum. Dann legte sich ein breites
Lächeln auf ihr Gesicht. »Halt, warte!«, rief sie. »Ich bin noch nicht ganz so weit.« Energisch schob sie Laura wieder in den Flur zurück und zwinkerte ihr dabei verschwörerisch zu. »Eine Minute noch!«
Laura ließ sich auf den Stuhl neben der Kommode fallen. Die gute, liebe Charlotte. Jedes
Jahr überbot sie sich an ihrem Geburtstag mit einem wunderschön geschmückten Tisch und natürlich gab es Lauras Lieblingsfrühstück, Crêpe mit Schokolade. Schmunzelnd zog Laura ein Haarband aus der Tasche und band
ihre Haare zu einem Zopf. Für Charlotte war sie immer noch das kleine Mädchen, das sich höllisch über die Geburtstagskerzen freute. Und das würde sie ihrer Oma auch nicht nehmen und sie mit achtzehn ebenso anstrahlen wie
mit zehn. Das war sie ihr schuldig.
Lauras Blick blieb an den Fotos hängen, die den gesamten Eingangsbereich säumten. Das größte in der Mitte stach durch den goldenen Rahmen besonders hervor. Es zeigte
ihren Vater, der Laura in die Luft hob, in den Armen ihrer Mutter reckte sich
Paul. Ihr Bruder und sie hatten ihre Hände verschränkt zu einer gemeinsamen Faust geballter Lebensfreude vor blauem Himmel. Alle
vier strahlten unter vom Wind zerzausten Haaren. Das war ihr letzter
gemeinsamer Urlaub auf Fehmarn gewesen. Noch gut konnte Laura sich an den
Moment erinnern, als das Foto entstanden war, obwohl es jetzt ziemlich genau
zehn Jahre her war. Sie hatten so viel Spaß gehabt dort am Strand, waren ausgelassen, hatten sich frei gefühlt. Hatten gedacht, dass es immer so weiterginge, dass sie das Glück gepachtet hätten.
Kurz darauf war alles zerbrochen. An dem Tag, als ihr kleiner Bruder spurlos
verschwand. Laura schluckte. Als wäre es ausgeknipst worden, wich das Lächeln aus ihrem Gesicht.
In dem Moment wurde die Küchentür aufgerissen. Charlotte hatte die Schürze abgenommen, trotzdem war ihr geblümtes Kleid mit winzigen Teigflecken gesprenkelt. »Nun kann es losgehen«, rief sie fröhlich.
»Super!« Schnell riss Laura sich von den Fotos los und folgte Charlotte in die große, geräumige Küche. »Wow«, sagte sie, und blickte auf den Tisch, der über und über mit bunt gepackten Geschenken beladen war. In der Mitte prangte eine riesige
Schokoladentorte mit einer 18 darauf. Überall brannten Kerzen – ebenfalls achtzehn Stück, wie Laura vermutete, und auf einem Teller türmten sich die Crêpes.
»Oh Mann, Oma … du bist einfach die Beste!« Mit einem Satz war Laura am Tisch, rollte einen der dünnen Pfannkuchen zusammen und schob ihn sich in den Mund.
Charlotte rollte theatralisch mit den Augen. »Nun setz dich doch erst!«, rief sie. »Aber halt, herzlichen Glückwunsch, du Große!« Liebevoll drückte Charlotte ihre Enkelin an sich. Dann schob sie Laura ein Stück nach vorne, hielt sie aber an der Schulter fest und blickte sie ernst an. »Ich bin so stolz auf dich«, sagte sie. »Du bist eine Kämpferin und hast das Herz einer Löwin.«
Laura atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen. Sie kam sich gerade überhaupt nicht wie eine Löwin vor. Jetzt nur nicht an das Foto denken. Nicht an ihre Eltern, nicht an
Paul. Sie schluckte erneut, spülte den Schmerz hinunter.
»Ich habe einen Bärenhunger!«, rief sie, löste sich aus der Umarmung und setzte sich an den Tisch.
»Das ist immer noch mein Mädchen!« Zufrieden schob Charlotte ihr gleich mehrere Crêpes auf den Teller. »Aber erst musst du die Kerzen auspusten und dir etwas wünschen!«
»Natürlich!« Laura lehnte sich nach vorne und holte tief Luft. Den Wunsch brauchte sie nicht
mehr formulieren. Er war sofort da, in ihrem Kopf, nicht nur an ihrem
Geburtstag, sondern an jedem verdammten Tag. Seit zehn Jahren.
»Ich will Paul wiederhaben«, dröhnte es in ihr. »Ich will ihn zurück. Bitte lass ihn nach Hause kommen.«
3
Die Stille in ihrem Zimmer klingelte in den Ohren. Schnell drückte Laura ein paar Tasten auf dem Handy, stellte die Lautstärke hoch und genoss den Gesang von Lena, der sich wohltuend über ihre aufgewühlten Gedanken legte. Zum Takt der Musik wippend ging sie zu ihrem
Kleiderschrank hinüber und fuhr mit den Fingern über die Kleiderbügel. Was sollte sie bloß anziehen? Es war ja nicht so, dass man jeden Tag achtzehn wurde. Heute Nacht würden sie feiern. Auf der Reeperbahn. Endlich, so lange sie wollte und in jedem
Club. Sie war die Letzte ihrer Freundinnen, die den großen Schritt in die Volljährigkeit machte. Jetzt durfte sie gemeinsam mit Emily, Klara und Jule tun, was
sie wollte, feiern bis in den Morgen, trinken, wonach ihnen der Sinn stand.
Seit Monaten hatte sie sich auf diesen Tag gefreut.
Doch warum hatte sie dann dieses komische Kratzen in der Kehle? Lauras Blick
wanderte an den Kleiderbügeln hinunter, ganz nach unten in den Schrank. Dort auf dem Boden lag eine
zusammengeknüllte Decke achtlos zwischen mehreren alten T-Shirts und einem Schlafsack.
Langsam hockte sich Laura hin und schob die Decke beiseite. Darunter kam eine
Holzschatulle zum Vorschein, die in der hintersten Ecke des Schrankes verborgen
war. Laura zog sie hervor und ließ dann ihre Finger sachte auf dem Deckel ruhen. Mit einem Seufzer sank sie zu Boden und klappte die Kiste auf,
langsam, als hätte sie Angst, sie würde die Büchse der Pandora öffnen und alles Unheil über sich und die Welt bringen.
Da lag es, das kleine Stofftier. Ein Igel, mit schwarzen, kullerrunden
Knopfaugen, einem grünen Halstuch und weichen, braunen Stacheln. Laura nahm ihn heraus, drückte ihn erst an ihre Wange, dann an die Nase. Ein bisschen roch er immer noch
nach Paul. Das glaubte sie zumindest. Paul hatte so oft nach »draußen« gerochen, nach frischem Wind, gemähtem Gras, über das er so gerne rannte, und nach feuchter Erde. Wenn er abends im Bett lag,
war sie zu ihm gekrochen und dann hatte ihre Mutter ihnen vorgelesen. Anschließend hatte sie die Geschwister mit den gar nicht stacheligen Stacheln des Igels
so lange durchgekitzelt, bis einer von ihnen es nicht mehr aushielt und mit vom
Lachen nassen Wangen Stopp gerufen hatte.
Laura lächelte bei der Erinnerung. Sie legte den Igel auf ihr Knie und griff nach einem
Stapel Fotos, der sich ebenfalls in der Kiste befand. Sie alle auf Fehmarn, gerötete Wangen, blitzende Zähne. Jedes Jahr hatten sie den Sommer dort verbracht. Ihre Mutter hatte erzählt, dass sie schon mit ihr auf die Insel gefahren waren, als sie erst zwei
Monate alt war. Auch davon gab es ein Bild in der Schachtel. Laura auf dem Arm
ihres Vaters, ein winziges Bündel, vor dem Ferienhaus in der Nähe von Burg. Hinter dem Haus glänzte das Meer hellblau.
Das Kratzen in Lauras Kehle wurde stärker. Schnell legte sie die Fotos neben sich auf den Boden und nahm den
erstbesten Gegenstand in die Hand. Eine Kette ihrer Mutter. Ihre
Lieblingskette, ein silbernes Band mit einem runden Anhänger, in den Blumen eingraviert waren. Jede Blüte war ein kleiner Diamant. Laura wog die Kette in ihrer Hand und es war, als würde das federleichte Gewicht ihren Arm tonnenschwer nach unten drücken. Sie ließ die Kette auf die Fotos gleiten, zögerte, schloss kurz die Augen, musste schlucken, als ihre Finger den Zettel in
der Schatulle berührten. Sie nahm ihn heraus, wollte ihn auseinanderfalten, aber ihre Hände zitterten so stark, dass er ihnen entglitt.
Hastig hob sie ihn auf, steckte ihn in die Kiste zurück, stopfte die Kette und den Igel hinein und griff dann nach den Fotos. In der
Eile fielen die jedoch ebenfalls herunter, verteilten sich auf dem Boden.
Lauras Puls raste. Überall ihre Eltern und Paul. Sie lachten sie an, ihre Gesichter, auf dem
Teppich, von überall lachten sie. Doch es war ein trauriges Lachen, ein böses Lachen.
Wo bist du, Laura?, riefen sie. Warum bist du noch da und wir nicht? Warum hast du uns nicht geholfen, Laura?
4
»Oh mein Gott!« Jule hatte sich links bei Laura untergehakt, rechts zog Emily an ihr und Klara
lief vor ihnen über den Bürgersteig. Sogar ihr Rücken strahlte Glück aus.
»Es ist so krass, ist euch das klar? Wir sind alle volljährig«, fuhr Jule fort. Beim letzten Wort war ihre Stimme in die Höhe geschossen. Sie waren an der U-Bahn St. Pauli ausgestiegen und standen nun
mitten auf der Reeperbahn. Es war Samstagabend, auf der Straße bewegten sich die Menschenmassen vorwärts. Touristen, die einmal die berühmte Hamburger Meile sehen wollten, junge Menschen, die in Feierstimmung waren,
aufgetakelte Frauen, bei denen sich Laura immer wieder fragte, wie sie in den
hochhackigen Schuhen auch nur einen Meter laufen konnten, und größere Gruppen alkoholisierter Männer, die alberne Hütchen oder rosa T-Shirts trugen und unentwegt aus Bauchläden Schnaps tranken.
Die vier Mädchen drängelten sich durch die Menschenmenge vorwärts. Neben ihnen grölten ein paar junge Männer so laut, dass Klara fast schreien musste: »Sag mal, kommt Jan eigentlich auch?«
»Ich weiß nicht.« Laura versuchte, cool zu klingen, aber es gelang ihr nicht recht.
Klara schüttelte den Kopf. »Mensch, Laura, du wolltest ihm doch Bescheid sagen. Einen besseren Grund als
deinen achtzehnten Geburtstag gibt es wohl nicht.«
Laura fuhr sich durch die Haare. Sie hatte versucht, sie zu glätten, allerdings wandten einige Locken sich bereits wieder unkontrolliert von
ihrem Kopf ab. »Ich weiß, ich weiß. Ich wollte ja auch, aber dann war plötzlich schon der Abiball, alle lagen sich in den Armen, und diese blöde Kuh hat sich die ganze Zeit an ihn rangeschmissen … ich bin gar nicht mehr dazwischengekommen …«
»Du redest nicht schon wieder von Katharina, oder?« Mit Schwung drehte sich Klara zu ihrer Freundin um. »Wie oft soll ich es dir noch sagen, von der will er nichts.«
»Ach, als ob du das so genau wüsstest. Wahrscheinlich hat er es dir in einer ruhigen Minute gesagt, oder was?«, fragte Laura sarkastisch.
»Nein, das nicht gerade.« Klara blieb stehen und grinste ihre Freundin an. »Aber er hat sofort zugesagt, als ich ihn für heute Abend eingeladen habe. Und er hat dabei ziemlich glücklich ausgesehen.«
»Du hast was?« Plötzlich floss das Blut heißer durch Lauras Körper. Ihr war, als würde ihr Herz sich selbstständig machen und davongaloppieren.
»Schon gut, habe ich gern gemacht.« Klaras Grinsen wurde breiter. »Er wartet schon im Molotow auf uns. War ja klar, dass wir da zuerst hingehen.«
Laura schüttelte den Kopf und blickte kritisch an sich hinunter. Sie hatte ewig vor dem
Kleiderschrank gestanden und dann doch wieder nach ihrem Lieblingsoutfit
gegriffen: ausgewaschene Slim-Jeans, dazu ein schwarzes T-Shirt und ihre
dunklen Sneakers. Nichts Besonderes. Jan brezelt sich auch nie auf, versuchte sie, sich zu beruhigen, als sie weitergingen. Deshalb magst du ihn doch. Er gibt nie vor, etwas zu sein, was er nicht ist. Shirt, Jeans und sein Lächeln. Das reichte. Reichte vollkommen, um ihre Beine in einen Wackelpudding zu
verwandeln.
Klara riss sie aus ihren Gedanken. »Hey, nun zieh nicht so ein Gesicht. Du bist doch sonst so selbstbewusst. Und
kein Typ dieser Welt sollte das zerstören.«
Laura lachte. »Du hast Recht«, sagte sie und straffte ihre Schultern. »Dann man tau, auf geht’s!«
5
»Bitte!« Dieses eine Wort hatte all seine Kraft erfordert. Er hörte es schwach wie eine Melodie, die fast verklungen war.
Der Mönch stand in der Tür und starrte auf ihn herab, seine Augen funkelten gefährlich. »Du hast es noch nicht verstanden«, sagte er. Die Stimme war leise, fast flüsternd, trotzdem hallte sie von den kahlen Wänden wider und grub sich in sein Gehirn. »Regel Nummer eins: Du sprichst nur, wenn du dazu aufgefordert wirst.«
Er bemühte sich, zu nicken, aber sein Schädel schien eine Tonne zu wiegen.
Der Mönch hob seine Stimme nicht, trotzdem klang sie noch kälter, noch bedrohlicher. »Hast du das verstanden?«
Ja, ja, ich habe verstanden. Aber ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich habe
Hunger, solchen Hunger. Der Krug mit Wasser reicht mir nicht. Bitte. Ich muss
etwas essen. Weißt du das denn nicht? Bitte gib mir etwas zu essen, dann mache ich auch alles,
was du willst.
»Ah.« Der Mönch starrte ihn ausdruckslos an. »Du willst nicht mit mir zusammenarbeiten. Nun gut, dann nicht.«
Doch, doch, ich will. Ich tue alles, was du sagst. Nur etwas Essen, bitte, nur … Nein! Nicht gehen! Ich …
Doch der Mönch drehte sich um und schob die Tür auf. Sie knarrte, das schwere Eisen kratzte über den Boden. Er versuchte zu schlucken, endlich ein Wort zu formulieren.
Benetzte seine trockenen Lippen, bewegte die Zunge. »Warte«, flüsterte er heiser. Hatte er das Wort ausgesprochen oder war es in seinem Hals
stecken geblieben? Er wusste es nicht. Sah nur den Mönch, wie der den Raum verließ. Wie er die große Tür hinter sich zuwarf, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Wieder das Knirschen des Schlüssels im alten Schloss. Schritte, die sich entfernten. Stille.
6
Laura spürte die Wand an ihrem Rücken, und das war gut. Ohne diesen Halt würde sie taumeln. Unwirsch schüttelte sie Klaras Hand ab. »Nun komm schon, tanz mit uns!« Ihre Freundin kam näher an sie heran, griff sie um die Hüfte. »Es tut mir leid, ich wusste nicht, dass Jan hier gleich mit der halben
Jahrgangstufe aufkreuzt.«
Laura antwortete nicht, konnte ihren Blick jedoch nicht von der Tanzfläche wenden. Jan hüpfte darauf ausgelassen, eine Bierflasche in der einen Hand. Die andere lag auf
Katharinas Schulter. Sie bewegte sich vor ihm wie eine Katze, strich um ihn
herum, wahrscheinlich schnurrte sie sogar.
»Er tanzt nur mit ihr, weil du nicht kommst«, sagte Klara.
»Warum fragt er mich denn nicht?«
»Das ist dein Abend! Vergiss Jan, diesen Idioten – wer dich nicht will, ist selber schuld.« Als Laura nicht reagierte, legte sie ihren Kopf schief. »Komm schon, Laura, wir machen Party mit dir. Wir, deine besten Freudinnen. Und
schau doch mal, wie viele andere hübsche Kerle hier noch rumlaufen.«
»Die will ich nicht. Und Jan auch nicht.« Laura zog ihr T-Shirt glatt, löste sich vorsichtig von der Wand und wagte einen Schritt nach vorne. Verdammt,
so viel hatte sie doch gar nicht getrunken. Trotzdem kam sie sich vor wie in
einem Wolkenkratzer, der mit dem Wind hin- und herschwang. »Ich gehe.«
»Okay, okay. Ich sag den anderen Bescheid und bring dich nach Hause. Warte, ich
hole fix meine Jacke.«
»Nicht nötig.« Laura wagte einen weiteren Schritt. Wenn sie langsam ging, dann würde sie es schaffen, ohne zu torkeln.
»Ich lass dich jetzt nicht allein.« Klara schaute kritisch auf Lauras klägliche Versuche, gerade zu gehen, und legte erneut eine Hand auf den Arm ihrer
Freundin. »Hör zu«, sagte sie eindringlich, »ich bestelle uns ein Taxi.«
Falls das möglich war, wurde Lauras Gesicht noch blasser. »Nein!«, entfuhr es ihr scharf. »Du weißt, dass ich in kein Auto steige!«
Klara atmete tief ein. »Ich weiß, ich weiß. Aber du kannst kaum noch gehen. Und ich bin bei dir.«
Ruckartig schüttelte Laura den Kopf. »Mein Gott, lasst mich doch alle zufrieden!« Sie riss sich von Klara los, schloss einen Moment die Augen, fokussierte dann
den Ausgang und schwankte davon.
»Warte doch!« Klara versuchte, Laura einzuholen, wurde aber von einem grölenden jungen Mann aufgehalten, der sich an ihr festhielt und sie angrinste. »Ich habe meine Telefonnummer verloren, darf ich deine haben?«, lallte er. Genervt stieß Klara ihn weg, boxte sich durch die tanzenden Menschen und rannte nach draußen.
Als sie endlich auf der Straße stand, war Laura verschwunden.
7
Mit einem erleichterten Seufzer schloss Laura die Haustür auf. Noch nie war ihr der Weg von der Reeperbahn bis zur Mundsburg, in deren Nähe sie wohnte, so weit vorgekommen. Sie rieb sich gähnend die Augen, während sie in die erste Etage lief, ließ die Wohnungstür hinter sich zufallen und schloss ab. Hinter der ersten Tür hörte sie Charlotte leise schnarchen. Ein kleines Lächeln huschte über Lauras Gesicht, das noch ein wenig anhielt, während sie in ihr Zimmer schlich. Müde fiel sie auf ihr Bett. Was für ein Reinfall. Sie hatte sich ihren großen Tag so toll vorgestellt. Feiern bis in den Morgen, ausgelassen, sie und ihre drei Freundinnen.
Ohne Jan. Aber vor allem ohne Katharina.
Lauras Blick fiel auf die Fotos, die noch immer auf dem Boden verstreut lagen.
Sie hatte es bisher geschafft, ihren Schmerz zu verschließen in einer tiefen dunklen Ecke ihres inneren Kellers, den sie kaum noch betrat.
Sie war stolz darauf, stolz, dass sie sich nicht hatte fallen lassen und in dem
Dunkel versunken war – weder vor zehn Jahren noch jetzt. Nein, sie hatte sich nicht unterkriegen
lassen, lebte, lachte, liebte. Sie war stark. Meistens. Doch ausgerechnet heute
fühlte sie sich so elend wie schon lange nicht mehr. So würde sie nicht einschlafen können. Nicht mit den anklagenden Blicken ihrer Eltern und Paul. Mühsam rappelte sie sich auf, streckte die Hände aus und begann, die Fotos einzusammeln.
Ihre Unterlippe zitterte, bevor sie es kontrollieren konnte. Dann bebte auch das
Kinn und im nächsten Augenblick liefen ihr die Tränen die Wange hinunter.
»Scheiße, warum seid ihr nicht da?«, flüsterte sie. »Mama, ich bin achtzehn. Ich hab die Schule geschafft, Abi gemacht. Ein richtig
gutes sogar.« Sie zeichnete mit ihrem Finger das Gesicht ihrer Mutter nach. »Ich glaube, ihr wärt stolz auf mich gewesen. Ihr habt mir gefehlt beim Abiball.« Sie lachte heiser auf. »Charlotte war da, natürlich, sie ist immer da. Du hast schon eine tolle Mama, Paps.« Vorsichtig wischte sie eine Träne weg, die auf ihren Vater gefallen war. »Aber ihr fehlt mir so. So sehr.« Ihre Stimme brach, und sie räusperte sich. »Du fehlst mir auch, kleiner Bruder«, wisperte sie schließlich und strich sacht mit dem Finger über das Foto. Paul lachte sie an. Er hatte fast immer gelacht. »Wo bist du?«, fragte sie und richtete ihre Konzentration auf sein Gesicht. »Wo bist du nur?«
Du wirst es nie herausfinden, wenn du mich nicht suchst. Du hast zu schnell
aufgegeben!
»Nein, nein das stimmt nicht!« Sie antwortete laut, obwohl Pauls Stimme nur in ihrem Kopf dröhnte. »Wir haben nach dir gesucht. Wir alle – Mama, Papa, ich, die Polizei. Ganz Fehmarn hat nach dir gesucht, Paul.«
Aber ihr habt mich nicht gefunden. Ihr wart nicht gründlich genug. Du musst mich finden. Bitte. Finde mich!
»Aber wo? Wo soll ich denn suchen? Wie kann ich dich finden, wenn die Polizei es
nicht geschafft hat?« Nun tropften viele Tränen von Lauras Wangen, benetzten das ganze Foto. Sie wischte sie nicht mehr weg.
»Wie soll ich dich finden, Paul?«, flüsterte sie.
Aber sie wusste, dass das nicht die Frage war. Nicht wie oder wo. Die Frage war – was sollte sie machen, wenn ihre Suche ergab, dass er nicht mehr lebte? Wie
konnte sie dann weiterleben?
Ein Junge, der spurlos verschwunden war. Nicht weggelaufen, bestimmt nicht. Das
hätte er niemals getan. Er war doch gerade erst sieben Jahre gewesen, ein fröhliches, offenes Kind. Die Polizei hatte deshalb in alle Richtungen ermittelt.
Ein Unfall? Oder hatte ihn jemand entführt? Aber sie hatten nie etwas gehört. Keine Lösegeldforderung. Kein Lebenszeichen. Es war, als hätte es Paul nie gegeben.
Nicht für Laura. Sie wusste, er lebte. So musste es sein. Er lebte und es ging ihm gut.
Er hatte eine Familie, die sich um ihn kümmerte. Die immer so einen kleinen Jungen gewollt hatte wie ihn. Die ihn liebte.
Irgendwo auf dieser Welt lebte und lachte er.
Ihm ging es gut. Ihr ging es gut. Und so würde es bleiben.
Mit einer energischen Handbewegung schob sie die Fotos zusammen, legte sie zurück in die Schachtel, schloss die Schatulle und schob sie in den Schrank. Sorgfältig breitete sie die Decke darauf aus, zog dann ihre alten T-Shirts herbei und
stapelte sie darüber.
Ohne sich auszuziehen ließ Laura sich ins Bett fallen, wischte die Tränen von ihrem Gesicht und löschte das Licht.
8
Unschlüssig stand Laura auf dem Rathausplatz. Sie war mit ihrer Großmutter in der Sparkassenhauptzentrale gewesen, weil Charlotte der Ansicht war,
dass Laura mit achtzehn über ihre Finanzen Bescheid wissen müsse. Erstaunt hatte sie von Herrn Meyer erfahren, dass ihre Eltern ein Sparbuch
für sie angelegt hatten, das sie mit Beginn ihrer Volljährigkeit bekommen sollte. Obwohl seit Jahren nichts mehr eingezahlt worden war,
hatten sich darauf doch mehr als 10.000 Euro angesammelt. Als sie geboren
wurde, hatten ihre Eltern schon eine ordentliche Summe bereitgestellt und auch
in den Jahren danach nicht geknausert.
Wow, was für ein Batzen! Damit würde ihr das Studium gleich viel leichter fallen, sie würde nicht von Anfang an arbeiten müssen. Obwohl sie sich in Hamburg sehr wohl fühlte, wollte sie auf eigenen Füßen stehen und hatte sich in Kiel für einen Platz der Medienwissenschaft beworben. Mit ihren Noten sah es gut aus,
sie würde zum Wintersemester beginnen können.
Charlotte war nach dem Sparkassentermin gleich wieder nach Hause gefahren, aber
Laura hatte noch ein wenig durch die Stadt bummeln wollen. Inzwischen brannte
die Sonne auf sie herunter. Es war ungewöhnlich heiß für die Hansestadt. Viele Touristen hatten es den Asiaten gleichgetan und
Regenschirme als Sonnenschutz aufgespannt. In dieser für Nordlichter doch recht lächerlichen Montur standen sie an der Alster und fütterten die Schwäne und Enten.
Gedankenverloren betrachtete sie die vielen Menschen. An der Treppe, die zur
Alster hinunterführte, befand sich ein junges Paar, das sich angeregt unterhielt. Die Frau hielt
dabei den Buggy ihres Sohnes fest in der Hand. Der kleine Junge stand derweil
neben den beiden und schleckte friedlich an seinem Eis. Als er jedoch einen großen, weißen Schwan entdeckte, der majestätisch zu den Enten hinüberschwamm, kam Bewegung in ihn. Bevor Laura sich versah, war er die Stufen hinuntergestolpert und lief mit seinem kleinen, ausgestreckten Armen genau auf das
Wasser zu. Niemand nahm davon Notiz, die Eltern waren nach wie vor in ihr Gespräch vertieft. Laura sprintete los, raste, immer drei Stufen auf einmal nehmend,
die Treppe hinunter und warf sich vor ihn, gerade, als er einen Schritt über die Steinkante hinaus in das Wasser machen wollte. Der Junge fiel über sie und blieb auf ihr liegen. Schweratmend hielt Laura ihn fest.
In der Sekunde war die Mutter bei ihr. »Oh mein Gott«, rief sie, »Was machst du denn, Lian?« Sie hob das Kind hoch, dann drehte sie sich zu Laura um. »Vielen Dank«, sagte sie, lächelte kurz, drückte den Jungen an sich und eilte mit ihm zurück zu dem Vater, der mit offenem Mund dastand. Laura betastete vorsichtig ihr
Knie. Sie hatte es sich bei dem Sturz aufgeschlagen. »Ja, hey, hab ich doch gern gemacht«, rief sie der Frau hinterher, die jedoch schon das Kind in den Buggy steckte
und wild auf ihn einschimpfend mit dem Vater davondampfte.
Kopfschüttelnd sah Laura ihnen nach. Ihr Blick fiel auf das Café schräg gegenüber. Vorsichtig stand sie auf. Jetzt ein riesengroßer Eisbecher mit frischen Erdbeeren. Schon bei dem Gedanken lief ihr das Wasser
im Mund zusammen.
Sie humpelte über die Brücke, die Stufen zum Café hinunter und setzte sich an einen der wenigen freien Tische über dem Wasser. Entspannt lehnte sie sich nach hinten und genoss die warmen
Sonnenstrahlen. Wie sie den Sommer liebte! Das Lachen der Menschen, die warmen,
braungebrannten Gesichter, auf denen das Lächeln viel häufiger erschien als im Winter. Die langen, hellen Tage, die die Dunkelheit
fernhielten. Draußen und im Herzen. Überall. Im Sommer war der Schmerz leichter als im Winter, verlor ein wenig von
seinen tiefschwarzen Schattierungen.
Noch während die freundliche Kellnerin den Eisbecher vor ihr abstellte und mitleidig
auf ihr blutendes Knie schaute, fiel Lauras Blick auf das »Hamburger Abendblatt«. Es lag achtlos hingeworfen am Rand ihres Tisches. Sie schob es beiseite und
wollte sich gerade einen Löffel in den Mund schieben, den sie mit Eis vollgeladen und einer Erdbeere gekrönt hatte, als ihr eine Überschrift ins Auge stach. Klein war sie und stand ganz links unten. Aber Lauras
Herz setzte einen Schlag aus. Junge noch immer verschwunden, las sie. Ruckartig folgten ihre Augen den Zeilen. Vor lauter Schreck vergaß sie, zu schlucken, hustete.
Ein Junge war spurlos verschwunden, erst sieben Jahre alt. Und es war nicht in
Hamburg passiert. Nein, er war auf Fehmarn verschollen. Seit knapp einer Woche
schon, und es gab überhaupt keine Spur. Es war, als hätte es ihn nie gegeben.
9
Das konnte nicht sein. Er musste sich täuschen. Oder war er vielleicht schon im Himmel? Aber dort würde ihm nicht mehr alles so wehtun. Vorsichtig blinzelte er. Spürte den kalten Boden unter sich, sein Fußgelenk, das noch immer gegen den Eisenring scheuerte.
Doch es duftete wie im Paradies. Himmlisch. Nach gebratenem Fleisch. Nach
Kartoffeln. Er schloss erneut die Augen und schnupperte. Roch es nicht sogar
ein bisschen nach Vanillepudding?
»Schau zu mir!«
Er starrte den Mönch an, der groß und erhaben vor ihm stand. Oh nein, das war nicht das Paradies. Er war noch
immer in der Hölle.
Der Mönch trug etwas in der Hand. War das etwa …? Ganz vorsichtig, als könnte sich durch eine seiner Bewegungen das Bild vor ihm in Luft auflösen, hob er den Kopf.
Ohne das Gesicht zu verziehen, starrte der Mönch ihn an. Dann stellte er ein Tablett vor ihn auf den Boden. Auf einem großen Teller lag ein Schnitzel, garniert mit einer Zitrone, dazu Kartoffelbrei. Und
– er mochte seinen Augen kaum trauen – daneben thronte tatsächlich eine Schale Pudding. Sein Magen begann zu knurren, Wasser sammelte sich
in seinem Mund.
Der Mönch hockte sich hin, sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem entfernt.
Er roch seinen abgestandenen Atem. »Du wirst nichts von dem hier essen«, sagte er.
Er schluckte, begriff nicht. Was? Der Hunger tat ihm in seinem Bauch weh, er
konnte nicht mehr richtig denken und …
»Nichts, hast du mich verstanden?«, klang es ganz dicht an seinem Ohr.
Nein! Nein, er verstand nicht! Was sollte das? Wieso stellte er das Essen
dorthin, wenn er es nicht anrühren durfte? Gerade wollte er die Frage stellen, als ihm einfiel, was der Mönch gesagt hatte. Rede nur, wenn du dazu aufgefordert wirst. Und er durfte jetzt
nicht wieder gehen. Jedenfalls nicht mit dem Essen.
Der Mönch erhob sich. Ja. Ja, er ließ das Tablett da. Es stand immer noch vor ihm. Blinzelnd sah er zu dem Mönch auf.
»Ich sage es dir nur noch einmal«, sagte der ganz ruhig. »Du wirst nichts essen.« Er machte eine Pause. »Wenn du es doch tust«, fügte er schließlich hinzu, »wirst du dir wünschen, nie geboren zu sein.« Damit drehte er sich um, und schob die schwere Eisentür hinter sich zu. Der Schlüssel quietschte im Schloss.
Dir wünschen, nie geboren zu sein? Was sollte das heißen? Er saß zusammengekauert auf dem Boden und starrte auf das Tablett mit dem Essen. Er
hatte nur verstanden, dass er es nicht anrühren sollte. Dieses Essen, das so himmlisch roch. Das Essen, das er nicht essen
durfte.
10
»Später, Oma. Ich habe keinen Hunger!« Laura lag auf ihrem Bett, das Handy in beiden Händen.
Charlotte stand in der Tür und schüttelte missbilligend den Kopf. »Du hast seit heute Morgen nichts gegessen. Und nun ist es schon später Nachmittag!«
Laura blickte kurz auf. »Wirklich, Oma, ich will jetzt nichts.« Als Charlotte keine Anstalten machte, zu gehen, lächelte sie. »Weißt du, ich hab nachgedacht. Bis das Wintersemester anfängt, ist noch ein bisschen Zeit. Ich habe mich nach Jobs umgesehen, damit ich
hier nicht die ganze Zeit nur abhänge.«
Charlotte kam in Lauras Zimmer und setzte sich auf das Bett. »Gute Idee, finde ich. Hast du schon etwas Konkretes gefunden?«
Laura nickte. »Ja. Es ist allerdings in Heiligenhafen. Ich müsste da für ein paar Wochen wohnen.« Als sie Charlottes Stirnrunzeln sah, sprach sie schnell weiter: »Ich könnte dort in der Buchhandlung arbeiten und bestimmt schon einige Dinge lernen,
die auch für mein Studium wichtig sind.«
Charlottes Lächeln kehrte zurück. »Ja, natürlich, hört sich gut an!« Sie legte Laura ihre Hand auf das Bein. »Wann kannst du denn loslegen?«
Laura starrte auf ihr Handy, um Charlotte nicht anschauen zu müssen. »Wahrscheinlich schon morgen«, sagte sie.
»Morgen?« Charlottes Stimme klang plötzlich hoch. Dann fing sie sich. »Nun gut, morgen«, wiederholte sie ruhiger. Sie stand auf, knetete dabei jedoch den Saum ihrer
Strickjacke. »Dann werde ich mal in den Keller gehen. Brauchst du deinen Schlafsack? Deine
Regenjacke? Und was für Essen möchtest du …«
Laura sprang ebenfalls auf und legte ihren Arm um Charlotte. »Oma«, sagte sie, »ich fahre auf keine Weltreise. Sie werden sich dort um mich kümmern. Mach dir bitte keine Sorgen!«
Charlotte tätschelte Lauras Wange. »Ich weiß. Du machst das schon.« Ihre warmen Hände verharrten für einen Moment auf Lauras Gesicht. »Hast du denn schon eine Unterkunft gefunden?«
»Klar, die Buchhandlung hat mir geholfen. Sie brauchen wirklich dringend
jemanden.«
»Gut, dann lass ich dich mal packen. Du findest mich in der Küche, falls ich dir bei etwas helfen kann.«
Laura nickte, schloss die Tür und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie wusste nicht, wann sie ihre Großmutter das letzte Mal so richtig angelogen hatte.
Buchhandlung! Es war das Erste, was ihr in den Kopf gekommen war. Buchhandlungen
gab es schließlich überall. Und Heiligenhafen war nicht direkt Fehmarn, das wäre ihr zu auffällig gewesen, schließlich wusste Charlotte um die Vergangenheit. Aber Heiligenhafen war immerhin nah
dran. Und sie las gerne, verschlang Bücher geradezu. Ja, sie musste ihre Großmutter anlügen, anders ging es nicht. Denn wenn Charlotte wüsste, was ihre Enkelin wirklich vorhatte, würde sie mit allen Mittel versuchen, Laura davon abzubringen, so viel war klar.
Laura ließ sich wieder auf das Bett fallen und öffnete die Fotos auf ihrem Handy. Seit sie gestern aus dem Café zurückgekommen war, hatte sie recherchiert und alles ordentlich abfotografiert.
Laura scrollte durch die Seiten. Hauptsächlich Zeitungsartikel aus den letzten zehn Jahren. Sie hatte mit Pauls
Verschwinden angefangen, doch es war ihr schwergefallen, davon zu lesen. Der mühsam errichtete Kellerraum in ihrem Inneren drohte einzustürzen. Schnell war sie deshalb zu dem anderen Jungen gesprungen, der seit einigen
Tagen vermisst wurde. Die Zeitungen waren voll davon. Noch. Denn bald würden die Schlagzeilen verblassen, die Nachrichten darüber weniger werden, bis sie eines Tages ganz verschwunden sein würden. Wie Paul.
Sie waren nie wieder nach Fehmarn gefahren. Nie wieder, denn nur ein Jahr später waren ihre Eltern gestorben. Laura schluckte, Tränen bahnten sich einen Weg nach draußen. Sie wischte sie weg, konzentrierte sich auf ihr Handy. Las von dem zweiten
Fall.
Es hatte ebenfalls groß in den Zeitungen gestanden. Doch Laura war klein gewesen, erst neun, und wie
betäubt. Natürlich hatte sie sich damals noch gar nicht für die Presse interessiert. Wenn Charlotte es überhaupt mitbekommen hatte vor neun Jahren, als ihre Welt zusammengebrochen war,
hätte sie Laura niemals davon erzählt, um nicht auch noch die Wunde wieder aufzureißen. Denn es war noch ein Junge verschwunden. Spurlos. Auf Fehmarn.
Laura atmete tief ein. Zwei Jungen. Paul, sieben Jahre alt. Zwölf Monate später Finn, zwölf Jahre. Und jetzt Tom. Tom P., wie die Zeitungen schrieben, sieben Jahre. Sie
alle hatten sich praktisch in Luft aufgelöst. Auf Fehmarn. Drei Jungen in zehn Jahren. Das musste doch jemandem
aufgefallen sein? Laura hatte gelesen und gelesen. Das Hamburger Abendblatt,
die Morgenpost, die Lübecker Nachrichten, die shz und natürlich das Fehmarnsche Tageblatt. Ja, über die ersten beiden Jungen war viel spekuliert, Zusammenhänge gesucht worden. Aber der neue Fall schien mit den beiden alten noch nicht
verknüpft worden zu sein.
Oder sie schreiben einfach nicht darüber. Vielleicht haben sie schon eine heiße Spur. Du glaubst doch nicht, dass die Polizei der Presse alles mitteilt. Laura blies sich eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. »Egal«, murmelte sie leise. Denn ob sie es wollte oder nicht – eins war ihr schmerzhaft klar geworden: Paul war nicht irgendwo bei einer
Familie. Ihm ging es nicht gut. Es waren drei Jungen entführt worden. Irgendein Monster war da draußen, das Kinder stahl. Sie wegnahm, ganze Familien zerstörte. Paul war nicht der Einzige. Und vielleicht lebte er noch. Vielleicht lebten
sie alle drei, irgendwo, und hofften, dass jemand kam und sie befreite.
Laura stellte das Handy aus und richtete sich auf. Sie faltete ihre Hände und atmete tief ein, richtete ihren Blick nach oben. »Ich komme«, flüsterte sie. »Ich komme, Paul, und ich werde dich finden.«
Sie nahm das Foto von ihrem Bruder aus ihrem Rucksack. Sie hatte es gestern aus
der Schatulle herausgenommen und eingesteckt. Ihr Lieblingsbild. Man sah nur
Pauls Gesicht, seine verwuschelten, braunen Haare, seine großen, dunklen Augen, die Sommersprossen. Sie hatte es auch mit dem Handy
fotografiert, es sogar auf Facebook in ein Programm kopiert, das Menschen auf
Fotos altern ließ. Er war ja nun ein Junge mitten in der Pubertät, musste sich wahrscheinlich schon rasieren. Sie traute dem Programm zwar
nicht, aber vielleicht hatte sie damit wenigstens einen Anhaltspunkt.
Lange schaute sie wieder den kleinen Paul auf dem Foto an. »Hab keine Angst mehr, ich bin bald da.« Sie schluckte und streichelte über sein Haar. »Es tut mir leid, dass ich so ewig gebraucht habe. Aber ich wusste ja nicht … Ich hatte gehofft …« Energisch sprang sie auf. »Ich werde dich finden. Ich verspreche es dir, Paul. Ich bringe dich zurück!«
11
An Fehmarn hatte Laura viele Erinnerungen. Der warme Sand, der durch ihre Zehen
rieselte. Ihr Vater, der mit ihr und Paul eine riesige Sandburg baute. Mamas
Schrei, als sie plötzlich einstürzte, der kurze Ausdruck des Schreckens auf Pauls Gesicht und das Lachen, als
ihr Vater sie über und über mit Matsch bewarf. Die Schlammschlacht, das Springen ins Wasser, das Tauchen
durch die Wellen. Die Abende vor dem Haus. Kerzenschein, die Stimme ihrer
Mutter, die leise vorlas. Zusammengekuschelt unter einer flauschigen Decke. Die
Eisdiele in Burg, Waffeln voll mit Eis, die man kaum auflecken konnte, bevor es
schmolz. Süßes, wunderbares Softeis, das über die Finger lief, warme Zungen auf der Haut. Mamas Lachen. Paps Lachen. Pauls
Lachen.