Atemlose Stille - Meike Messal - E-Book

Atemlose Stille E-Book

Meike Messal

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Beschreibung

Wie lange kannst du die Luft anhalten? Eine Minute, sogar zwei? Das wird nicht reichen … Luft! Verzweifelt hämmerte er mit den Fäusten an die Scheibe. Seine Augen waren weit aufgerissen und schmerzten. Er hatte das Gefühl, der Druck würde sie aus den Höhlen sprengen. Aber noch mehr brannte seine Lunge. Er brauchte Luft! An der Schiffsmühle in Minden treibt ein toter Mann auf der Weser. Doch schnell stellt sich heraus, dass er nicht in dem Fluss ertrank. Für die Mindener Kommissarin Marlene Borchert und ihren Kollegen Benno Erdmann aus Bielefeld beginnt quer durch OWL ein Wettlauf gegen die Zeit, der sie schließlich bis an die Abgründe der menschlichen Seele führt.

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Inhalte

Titelangaben

Prolog

Epilog

Danksagung

Meike Messal
Atemlose Stille
OWL-Krimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Institutionen, Straßen und Schauplätze in Ostwestfalen-Lippe. 
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2017
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto: © Blickfang, Fotolia
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-164-8
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-151-8
www.prolibris-verlag.de
Die Autorin
Meike Messal wurde 1975 in Minden geboren. Nach dem Abitur lebte sie für einige Zeit in Israel und Südafrika und studierte in Hamburg Germanistik, Anglistik und Amerikanistik. Mittlerweile wohnt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern wieder in ihrer Heimat und unterrichtet an einem Mindener Gymnasium. Atemlose Stille ist ihr zweiter Kriminalroman.
Für Frank
Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang.
Rainer Maria Rilke
Prolog
Luft!
Verzweifelt hämmerte er mit den Fäusten an die Scheibe. Seine Augen waren weit aufgerissen. Er hatte das Gefühl, der Druck würde sie aus den Höhlen sprengen. Aber noch mehr schmerzte seine Lunge. Er brauchte Luft!
Luft!
Panisch stieß er nach oben und schlug mit dem Kopf gegen den Deckel. Doch der bewegte sich nicht einen Millimeter. Ruhig, er musste ruhig bleiben. Eine Sekunde ließ er seine Arme sinken und schloss die Augen. Das Wasser hüllte ihn ein. Stille. Blut rauschte in seinen Ohren. Noch einmal drückte er sich mit den Füßen vom Boden ab. Seine Hände suchten Halt. Es gab keinen in dieser verfluchten Röhre voller Wasser. Selbst unter dem Deckel ganz oben war nicht ein Zentimeter Luft zum Atmen. Er war gefangen, wie ein Fisch im Aquarium – nur, dass dies hier nicht sein Element war.
Plötzlich bemerkte er einen Schatten vor sich. Eine Person war in den Raum getreten. Vielleicht war das seine Rettung? Hatten sie ihn endlich gefunden?
Er zwang sich, still zu verharren und nicht zu strampeln. Langsam kam die Gestalt auf ihn zu. Vor dem Becken blieb sie stehen, eine schwarze große Silhouette.
Er musste die Aufmerksamkeit auf den Deckel lenken, schnell, auf diese Klappe, die ihn vom Leben trennte. Vom köstlichen, wunderbaren Sauerstoff. Verzweifelt zeigte er nach oben.
Doch die Person stand einfach nur dort. Dann beugte sie sich ganz nah an die Scheibe heran. Er blickte in eisblaue Augen, die ihn seelenruhig anschauten. Eine heiße Welle schoss durch seine Eingeweide. Die Erkenntnis traf ihn mit ungeheurer Wucht und presste den wenigen Rest Luft aus seiner Lunge. Der dunkle Schatten würde ihm nicht helfen. Er war nicht hier, um ihn zu befreien.
Er war hier, um ihm beim Sterben zuzusehen.
*
Das Piepen des Handys riss Marlene aus ihrer angespannten Haltung. Erschrocken schaute sie auf und versuchte, ihre schmerzenden Schultern zu ignorieren. Seit einer gefühlten Ewigkeit saß sie vor dem Computer. Seufzend streckte sie sich und nahm das Handy in die Hand. Eine SMS. Sie lächelte, als sie den Inhalt las. Marlene, hör endlich auf zu arbeiten! Es ist Freitag … Lust auf ein Bier? Ich könnte in einer Stunde in Minden sein. Benno
Sie wollte schon Ich kann jetzt nicht eingeben, als sie innehielt. Benno hatte Recht. Das Polizeipräsidium war bereits ausgestorben, nur sie hing hier wie immer herum und war nicht in der Lage, sich von der Arbeit zu lösen. Dabei ging es noch nicht einmal um ein wirklich brennendes Problem. Seit sie vor einiger Zeit gemeinsam mit Benno zwei grausame Morde aufgeklärt hatte, war Minden zum Glück wieder in der Normalität angekommen. Na ja, sofern man Einbrüche, eine Serie von Tankstellenüberfällen und eine Vergewaltigung als »Normalität« bezeichnen konnte.
Marlene stand von ihrem Schreibtischstuhl auf und dehnte sich ausgiebig. Die Welt war auch ohne Morde brutal genug. Aber die Welt konnte warten. Jedenfalls heute Abend.
Bin in einer Stunde im Enchilada, tippte sie zurück. Ausreichend Zeit, um schnell nach Hause zu düsen und sich frisch zu machen.
Sie schlüpfte in ihre dicke Motorradkluft, die sie vor dem schneidenden Dezemberwind schützen sollte. Glücklicherweise lag kein Schnee, und das Wetter war für einen Wintermonat relativ mild. Weiße Weihnachten – darauf würden die Kinder auch diesmal vergeblich hoffen. Marlene war das allerdings ziemlich egal. Sie stand weder auf Weihnachtsbäume noch auf Kerzen oder irgendwelchen anderen Schnickschnack, den Leute zu dieser Jahreszeit veranstalteten. Schon seit Jahren saß sie an Heiligabend mit einem guten Rotwein und einem Buch auf ihrem Sofa, eingekuschelt in eine warme Decke. Das war alles, was sie brauchte.
Als sie vom Hof des Präsidiums fuhr, fluchte sie einen Moment angesichts der Kälte. Der Wind pfiff um ihren Helm. Auf dem Motorrad merkte man, dass es Winter war. Sie hätte doch lieber ihren Audi nehmen sollen. Während sie in Richtung Ringstraße preschte, den Kopf tief über den Lenker gebeugt, wusste sie jedoch, warum das Auto bei ihr immer nur die zweite Wahl war. Sie gab Gas. Wenn sie in einer Stunde mit Benno im Enchilada sitzen wollte, musste sie sich beeilen.
*
Benno tippte ungeduldig mit den Fingerkuppen auf den Tisch. Wo blieb sie nur? Er hatte sie schon seit einigen Monaten nicht gesehen, und auch wenn er es nicht offen zugeben wollte, vermisste er sie. Als ihn ein kalter Windhauch streifte, hob er den Kopf und blickte zur Tür. Er hatte Glück gehabt, ohne Reservierung einen Tisch zu bekommen – leider den, der direkt links neben der Tür lag. Ja, da war sie. Die langen blonden Haare zerzaust von ihrem wuchtigen Motorradhelm, den sie in der Hand hielt, ihre Wangen gerötet. Benno ließ seinen Blick ein paar Sekunden auf ihr ruhen.
»Marlene!«, rief er dann.
Sie drehte sich zu ihm um, lächelte und glitt auf den Stuhl ihm gegenüber.
»War nichts anderes mehr frei!«, sagte er entschuldigend. »Aber mit einer Portion heißen Tapas wird es gehen.«
Sie nickte.
»Wirklich ewig her, der letzte Abend, an dem wir zusammen hier waren«, meinte er und gab seiner Stimme einen leichten Klang.
Der riesige Rummel um die zwei von ihnen aufgeklärten Morde hatte mit der Zeit nachgelassen, und Marlene hatte sich wie gewohnt in ihre Arbeit gestürzt. Hatte Bennos Kontaktversuche meistens mit fadenscheinigen Ausreden gestoppt. In den letzten Monaten hatten sie sich kaum noch gesehen – davor allerdings auch nicht viel häufiger, wenn er ehrlich war. Doch jetzt war sie da. Benno gab sich einen Ruck und lächelte sie an.
»Hast du schon bestellt?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Nur ein Bier. Ich habe allerdings einen Bärenhunger.«
»Also Tapas?«
»Gerne. Und danach für uns beide den großen Nachtisch mit allem Drum und Dran, ja? Gott, wie ich diese Churros und dazu den warmen Schokokuchen mit Vanilleeis liebe!«
»Ja, super!« Sie nickte zufrieden.
Eine weitere Sache, die Benno definitiv an Marlene mochte – mit ihr konnte man essen. Sie war keiner dieser Hungerhaken, die immer nur in ihrem Salat herumstocherten. Marlene war weiß Gott nicht dick, sie hatte jedoch ein paar Rundungen an den richtigen Stellen. Genau so sollten Frauen aussehen. Benno war es ein Rätsel, was Männer an Models fanden, bei denen man die Rippen sah und der Busen so klein war wie eine Pflaume.
»Benno?« Marlene schaute ihn mit hochgezogenen Brauen an.
»Äh, was hast du gesagt?«
»Nichts. Aber du wirktest gerade so abwesend.«
Benno schüttelte den Kopf. »Nein, im Gegenteil. Ich bin ganz da und ich freue mich, dass du hier bist. Wie gesagt, ist schon ’ne Weile her.«
Marlene stöhnte. »Mach nicht mich dafür verantwortlich!« Sie stützte ihren Ellenbogen auf dem Tisch und ließ ihr Kinn schwer in ihre Hände sinken. »Ich komme um vor Arbeit. Wir haben eindeutig zu wenig Leute. Diese ewige Leier, wir sollen die Bürger beschützen. Ja, wie denn, wenn bei uns im Präsidium ohnehin schon alle so viele Überstunden vor sich herschieben? Na ja, wem sage ich das, du hast ja genau die gleiche Baustelle in Bielefeld.«
»Das stimmt. Doch neben dem Job gibt es auch noch ein Leben. Mir scheint, das vergisst du manchmal.« Nun blickte Benno ernst.
Marlene winkte dem Kellner, der gerade mit ein paar Gästen flachste. »Können wir bitte bestellen?«, rief sie, ohne auf Bennos Bemerkung einzugehen. Nachdem sie ihre Essenswünsche losgeworden waren, schwieg sie, und Benno saß ebenfalls in Gedanken versunken da. Er war sich sicher, dass sie nicht an dasselbe dachten.
»Bald beginnt sein Prozess«, hob Marlene an, als die Bedienung ihr Glas Mineralwasser vor sie hinstellte.
Marlene brauchte seinen Namen nicht zu nennen, Benno wusste sofort, wen sie meinte. Um ehrlich zu sein, konnte er den Namen nicht mehr hören. Wie oft hatten sie über diesen spektakulären Fall reden müssen, wieder und wieder.
»Wir werden vor Gericht aussagen, klar. Aber ich möchte gern den ganzen Prozess verfolgen. Mich lässt diese Sache einfach nicht los. Er hatte nie eine Chance. Von vornherein nicht.« Marlene malte mit ihrem Finger kleine Kreise auf die Tischplatte.
»Das mag sein. Aber er hat zwei Menschen ermordet.«
»Ja.« Sie sprach leise. »Doch man hätte besser auf ihn Acht geben sollen. Er war verloren, damals im Heim. Ich sehe ihn immer noch als kleinen Jungen vor mir, wie einsam er dastand, an dieser riesigen Tür.«
Benno legte seine Hand auf Marlenes. »Du kannst nichts dafür, du warst selbst noch ein Kind, als sie dich aus dem Heim geholt haben«, sagte er eindringlich. Er hielt einen Augenblick inne. Schon nach der Verhaftung hatte er gespürt, wie nahe Marlene das alles gegangen war. Wie die Vergangenheit sich durch die Mauer fraß, die sie mühsam in ihrem Inneren errichtet hatte. Er hatte natürlich versucht, mit ihr darüber zu reden. Doch sie hatte abgeblockt – wie immer.
»Hör zu«, fuhr er fort, »wir schaffen das gemeinsam. Wenn du möchtest, bin ich die ganze Zeit über mit dabei.«
Marlene nickte, lächelte ihn dankbar an. Doch der Kummer verdüsterte ihr Gesicht schnell wieder. »Warum kommen wir jedes Mal erst ins Spiel, wenn alles zu spät ist?«, fragte sie. »Wir blicken nur auf den Scherbenhaufen.«
Benno fröstelte. Dieser verfluchte Fall. Er hatte Marlene mehr aus der Bahn geworfen, als er gedacht hatte. Er hatte sich einfach nur auf einen schönen entspannten Abend mit ihr gefreut und gehofft, dass sie sich inzwischen gefangen hätte. Er hatte sich getäuscht. Nun gut, dann würde er ihr erneut seine Qualitäten als verständnisvoller Freund beweisen. »Das Glas können wir nicht reparieren«, antwortete er deshalb. »Aber für den Glasbesitzer ist es wichtig, zu wissen, wer für die Scherben verantwortlich ist. Sehr wichtig sogar. Und es ist genauso bedeutend, dass der Zerstörer eine Strafe bekommt. Denn nur so kann der Glasbesitzer weitermachen. Ohne uns würde er vielleicht zerbrechen wie sein Glas. Aus diesem Grund sind wir hier, Marlene.«
»Du und deine tollen Metaphern. Glasbesitzer … oh Mann.« Doch ein Lächeln huschte über Marlenes Gesicht. Es wurde noch breiter, als der Kellner große Teller mit Essen vor ihnen ablud. Unglaublich, wie schnell sich ihre Gefühle ändern, dachte Benno und genoss den Stimmungswechsel.
Sie aßen schweigend und zufrieden. Beide hatten ihre Portion erst zur Hälfte geschafft, als Marlenes Handy klingelte. Und Benno wusste, dass die Tapas warten mussten, als er den Blick bemerkte, den sie ihm zuwarf.
*
War das kalt! Fluchend zog er den Mantel enger. In Australien brannte gerade die Sonne vom Himmel, aber selbst im Winter hatte er dort noch nie so gefroren wie jetzt in Minden. Eilig schritt er über den Marktplatz. Er musste sich eine warme Winterjacke zulegen. Doch bevor er Hagemeyer betrat, ein großes Modekaufhaus, das einer Einkaufsgalerie mit vielen weiteren Geschäften den Namen gegeben hat, stoppte er bei dem Bäcker daneben. Ein heißer Kaffee, das war jetzt das Richtige.
»A coffee, please.«
Er legte seine klammen Finger um den dampfenden Becher, den die Frau ihm lächelnd reichte. Zum Glück verstanden die hier alle gut Englisch, das hatte ihn erstaunt. Sein Deutsch war zwar ziemlich gut, aber es war nun einmal nicht seine Muttersprache. Allerdings musste er sich eingestehen, dass sich sein Vorhaben schwieriger gestaltete als gedacht. Nun, er sollte nicht so hart zu sich sein. Etwas hatte er schon erledigt. Er pustete vorsichtig über den Tassenrand und spürte befriedigt, wie sich die Wärme langsam in seinem Körper ausbreitete.
Als er nach draußen trat, traf ihn die kalte Luft wie ein Fausthieb. Unwillkürlich stockte sein Atem für eine Sekunde. Dann lächelte er, schaute auf seine Uhr, während er zu Hagemeyer hinüberging, und hielt dabei bewusst die Luft an.
Er befand sich in der Galerie bereits nahe der Thaliabuchhandlung, als er gierig wieder Sauerstoff einsog. Schon gut zwei Minuten. Er wurde immer besser. Aber noch nicht gut genug.
*
Der Wind zerrte an Benno und Marlene. Jetzt am späten Abend war es doch richtig kalt geworden. Benno verkroch sich tief in seinem Mantelkragen, als er mit Marlene auf die uniformierten Polizisten zueilte. Sie warteten direkt an der Mindener Schiffsmühle. Benno erinnerte sich, dass er vor Jahren mit seinem Bruder hier spazieren gewesen war. Fabian hatte sich vorgenommen, die Sehenswürdigkeiten in der näheren Umgebung zu erkunden. So hatten sie zuerst eine Schifffahrt durch das Wasserstraßenkreuz unternommen, das in Minden den Kanal und die Weser miteinander verband, und sich anschließend die alte, imposante Mühle am Fluss angesehen. Besonders das große, sich stetig drehende Mühlrad hatte sie beeindruckt. Benno war erstaunt, dass es sich hierbei wirklich um das einzig funktionierende schwimmende Mahlwerk in ganz Deutschland handelte. Damals hatte die Sonne geschienen, Menschen hatten in dem Biergarten gesessen und Kinder Fangen gespielt. Immer wieder hatte Benno sich verstohlen umgeblickt und gehofft, in Marlenes Gesicht zu blicken. Er hatte gewusst, dass sie in Minden arbeitete. Nach ihrem gemeinsamen Studium in Hamburg und ihrer – konnte man es Beziehung nennen? – hatte er sie nicht mehr gesehen.
Nun war der Platz wie ausgestorben, die Mühle hob sich schwarz gegen den dunklen Himmel ab. Er wurde von Marlene aus seinen Gedanken gerissen, hatte sie aber nicht verstanden. »Was hast du gesagt?«
»Ich habe dich gefragt, ob du es schon mal mit einer Wasserleiche zu tun hattest?« Marlenes Stimme hörte sich ungeduldig an. Sie eilte auf die beiden Polizisten zu und gab ihnen die Hand.
»Kriminalhauptkommissarin Borchert, das ist mein Kollege Erdmann aus Bielefeld.«
Der Ältere nickte ihnen zu. »Ich weiß«, brummte er, »Sie kennt doch jeder hier, nach allem, was im Sommer passiert ist. Mein Name ist Bentrup, Jürgen Bentrup.« Dann runzelte er die Stirn und starrte Benno an. Bestimmt fragte er sich, wie Benno Erdmann, der das Kriminalkommissariat 11 in Bielefeld leitete, es geschafft hatte, zeitgleich mit Marlene anzukommen. »Kommen Sie rein.« Der Polizist bedeutete ihnen, ihm zu folgen. An der Eingangstür der Mühle stand ein Mann. Die bleiche Farbe seines Gesichts hatte sich sogar in seine Augen gelegt, zwei große, weiße Höhlen.
»Das ist Herr Ludwig«, stellte Bentrup vor, »er gehört dem Verein an, der sich um die Schiffsmühle kümmert.«
Marlene grüßte ihn. »Gut, dass Sie hier sind. Wir müssen Ihnen gleich einige Fragen stellen.«
»Er liegt da draußen. Am Mühlrad!« Der Mann deutete nach vorne. Seine Hand zitterte.
»Hat er ihn gefunden?«, wollte Marlene von dem Beamten wissen.
»Nein, das war ein Spaziergänger. Er hat am Wasserrad etwas Großes liegen sehen und dann festgestellt, dass es eine Person war. Sie können noch mit ihm reden, er wartet oben am Lokal, da ist es ein bisschen windgeschützter. Seine Personalien haben wir schon aufgenommen.«
Sie betraten einen kleinen, holzgetäfelten Raum. Links führte eine schmale Treppe hoch zu dem Trichter, in den das Mahlgut geworfen wurde. Doch die beiden Uniformierten gingen zielsicher geradeaus. Dort trat man auf eine Art hölzerne Terrasse hinaus, die über das Wasser der Weser ragte und von der man einen guten Blick auf das imposante Mühlrad hatte. Es war angehalten worden, und der Polizist zeigte in den Fluss. Benno und Marlene sahen ihn sofort. Ein aufgedunsener Körper, der an der Seite des Mühlradgestells festklemmte. Immer wenn eine Welle kam, schwappte er ein wenig nach links. So musste ihn der Spaziergänger am Rande der Mühle ausgemacht haben.
Die Frage, ob er wirklich tot war, erübrigte sich. Er lag mit dem Gesicht nach unten. Sein Körper war stark aufgequollen und schaukelte leicht auf und ab. Er schien schon seit einiger Zeit im Wasser zu liegen.
»Wir haben alles in die Wege geleitet, er wird gleich rausgeholt. Der Notarzt steht ebenfalls bereit, muss ja den Tod feststellen. Mehr kann er da wohl auch nicht richten«, stellte der ältere Polizist lakonisch fest.
»Er kann einschätzen, ob möglicherweise ein Fremdverschulden vorliegt«, korrigierte sie den Kollegen vom Schutzdienst und wandte sich dann an Benno: »Lass uns währenddessen ein Wort mit dem Spaziergänger wechseln!«
Benno zog zum gefühlt hundertsten Mal seine Jacke enger. Wie bescheuert ist der Typ, hier im Dunkeln an der Weser langzulaufen? Der hat ja noch nicht mal einen Hund, dachte er.
»Hoffentlich nur ein Lebensmüder, der sich in den Fluss gestürzt hat«, sagte Marlene und deutete mit dem Kopf auf den Mann, der zusammengesunken an der Wand des geschlossenen Biergartens lehnte. »Mal hören, was der uns zu berichten hat.«
*
Ron schleuderte die dicke Jacke auf das Sofa und ließ sich schwer auf die weichen Polster fallen. Mit der Daunenjacke war es besser, aber er fror noch immer. Langsam spürte er, wie die Wärme in ihm hochkroch. Die Heizung stand auf höchster Stufe, in der Hütte war es fast schon heiß. Trotzdem, er würde gleich auch den Kamin anmachen. Wenn das Feuer prasselte und er mit einem guten Sherry in die Flammen schaute, da konnte ihm sogar der deutsche Winter gefallen. Sein Blick fiel auf das abgewetzte Tagebuch, das auf dem Couchtisch lag. Ron nahm es in die Hand, wog es einen Augenblick gedankenverloren, dann schlug er es bedächtig auf. Er hatte es inzwischen so oft gelesen, aber vielleicht war ihm ein Hinweis entgangen. Etwas, das ihm helfen würde. Schließlich hatte er nur ein paar Wochen Zeit, und mehr als drei davon waren bereits vergangen.
Broome, den 21. November 1968 las er auf der ersten Seite. Die Handschrift war schwer zu entziffern. Sie war klein, markant und ein wenig verblichen.
Ich habe Vaters Tagebuch entdeckt. Ich kann nicht glauben, dass der Mann seine Erlebnisse aufgeschrieben hat. Doch nachdem ich es gelesen habe, wurde mir einiges klarer. Und ich merkte, dass es gut ist, sein Leben für die Nachwelt festzuhalten. Er hat Großes geleistet, und auch ich werde Großes vollbringen.
Nichts gab es hier, als Vater 1893 von Deutschland aus nach Australien kam. Nichts außer ein paar dreckigen Aborigines und Schwärmen von Sandmücken. Und Perlen. Ja, unsere Stadt war damals schon bekannt dafür. Gut zehn Jahre vor seiner Ankunft war das berühmte »Southern Cross« gefunden worden. Im Baldwin Creek, direkt vor unserer Haustür sozusagen.
Mein Vater fand zwar keine Perlenformation, die aussah wie ein Kreuz, aber immerhin viele große schöne Perlen. War eine vortreffliche Zeit. Hat ja immer davon geschwärmt. Damals konnte man mit den Aborigines noch machen, was man wollte. Die konnten tauchen, vor allem die Frauen. Acht Stunden am Tag oder mehr, hoch, runter, hoch, runter und der Logger war mit Austern überhäuft. Vater hatte ein gutes Händchen. Spürte die richtigen Stellen auf. Wenn er bloß nicht so verdammt geizig gewesen wäre. Viel haben Mutter und ich von den Perlen nicht gesehen. Nur schuften, das mussten wir. Ich bin mit den Aborigines mitgetaucht, und wehe, ich brachte nicht genug Austern hoch. Dann setzte es abends Prügel.
Doch gut. Vater ist tot. Jetzt bin ich mein eigner Herr. Habe eine Perlenfarm, die nur mir gehört. Jawohl, ich habe es zu etwas gebracht.
Trotzdem tauche ich weiter. Natürlich ohne Sauerstoff. Keine Hilfsmittel, nicht so wie bei diesen Weicheiern, die nun Broome überschwemmen. Ohne Vaters schreiende Stimme, seine Schläge im Nacken ist es wunderbar. Ruhig. Nur das eigene Blut rauscht in den Ohren, vermischt mit dem Klang des Meeres. Man spürt, dass man lebt. Man fühlt, wie das Leben durch den Körper spült, mächtig und stark. Ich bin ein gespannter Pfeil, der in die Tiefe schießt. Regionen, die nicht für Menschen bestimmt sind. Schwarz. Dort unten ist es schwarz, und das Blut rauscht durch die Adern.
Ron ließ das Buch sinken und starrte auf die Wand. Er konnte sich vage daran erinnern, dass sein Vater ihn einmal mit zum Tauchen genommen hatte. Aber Ron hatte Angst gehabt und geweint. Da war der große Mann mit den Stahlaugen ausgerastet, hatte ihn ein Weichei genannt und zu seiner Mutter gezerrt. Wann mochte das gewesen sein? Auf jeden Fall vor seinem fünften Geburtstag. Kurz darauf war sein Vater gestorben.
Ron seufzte. Er erinnerte sich nicht gern an seinen Vater. Hatte ihn kaum gekannt, schließlich hatte er nicht bei ihm und seiner Mutter gelebt, sondern bei seiner »richtigen« Familie. Und sofern er einmal vorbeikam, war Ron von Furcht erfüllt. Seine blauen Augen blickten hart und unerbittlich, seine Stimme war laut und scharf. Ron sah, wie seine Mutter jedes Mal schrumpfte, wenn er über die Türschwelle trat.
Nun war auch seine Mutter tot, und er hatte so viele Fragen, die keiner beantworten konnte. Und er musste endlich alles in Ordnung bringen. Deshalb war er hier. In Minden, in diesem Nest, irgendwo in Deutschland. Ein verdammt kalter Ort.
Ron griff nach der Sofadecke und zog sie über seine Beine. Dann löste er seine Uhr vom Handgelenk und starrte auf den Sekundenzeiger. Als der auf die zwölf kam, hielt er die Luft an.
Mit fünf hatte er Angst gehabt. Aber jetzt war er erwachsen. Nun würde er seinem Vater beweisen, was wirklich in ihm steckte.
*
Und was nun?« Benno blickte fragend zu Marlene, die gerade ihr Handy zurück in die Tasche gleiten ließ.
Sie waren die Letzten an der Weser, hinter ihnen lag die Schiffsmühle ruhig da, ein schwarzer Umriss, der sich gegen den Nachthimmel abzeichnete. Nichts zeugte von der Unruhe, die hier eben noch geherrscht hatte. Nun waren die Taucher, die den toten Mann geborgen hatten, abgezogen, der Notarzt hatte an Doktor Hagel zur genauen Prüfung der Todesursache übergeben, und der Leichnam war ins Klinikum geschafft worden.
Neidisch sah Benno Marlene an, die in ihre dicken Motorradhandschuhe schlüpfte.
»Doktor Hagel ist schon dort eingetroffen«, antwortete sie. »Wasserleichen müssen schnell obduziert werden, da die Fäulnis stark voranschreitet, sobald sie an Land kommen. Wir werden also bald mehr wissen.«
»Himmel, der sah jetzt schon schlimm aus.« Benno verzog unwillkürlich seinen Mund. Er wollte das blaue, aufgedunsene Gesicht am liebsten aus seinen Gedanken verdrängen.
»Egal, wie er gestorben ist, wir haben kein Portemonnaie, keine Papiere bei ihm gefunden, nichts. Lass uns ins Präsidium fahren und die Vermisstenanzeigen durchgehen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ein Mann mittleren Alters in Minden vermisst wird. Aber wir werden sehen.«
»Es ist Freitagnacht«, seufzte Benno. »Wenn wir uns gleich morgen früh dransetzten, reicht das doch auch.«
»Jemandem fehlt dieser Mann vermutlich«, erwiderte Marlene ungeduldig. »Wir sollten schnellstens herausfinden, wer der Tote ist.«
»Okay, okay.« Benno hob die Hände. Natürlich hatte sie Recht, aber verdammt, dieser Abend lief überhaupt nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Er lief hinter Marlene her, die eilig auf das KSG Bootshaus zusteuerte, vor dem sie seinen Wagen geparkt hatten.
»Meine Maschine müssen wir später holen, ich möchte sie nicht die ganze Nacht am Enchilada stehen lassen«, rief sie.
»Yep. Wir haben ja noch ein paar Stunden bis zur Dämmerung.« Benno öffnete das Auto.
Sofort drehte er die Heizung und Lüftung voll auf, und rieb seine Finger gegeneinander. »Hoffentlich ist dein Büro gut geheizt«, murmelte er, während er den Wagen in Richtung Marienstraße zum Polizeipräsidium steuerte.
»Fassen wir zusammen«, sagte Marlene, ohne auf Bennos Worte zu achten. »Männlich, Alter bei seinem Zustand schwer zu schätzen, vermutlich irgendetwas in den Fünfzigern. Dunkle Haare mit ein paar grauen Schläfen. Er trug nur eine Unterhose, die schon halb zerschlissen war.« Sie kaute auf ihrer Lippe, und beide hingen ihren Überlegungen nach, bis sie am Präsidium ankamen. Nur hinter ganz wenigen Fenstern brannte Licht.
Benno atmete erleichtert auf, als sie Marlenes Büro betraten. Es war warm. Während der Computer hochfuhr, schälten sie sich aus ihrer Kleidung und setzten sich vor den Bildschirm.
»So, dann wollen wir doch mal sehen.« Marlenes Finger flogen über die Tasten. Benno machte sich in Gedanken eine Notiz – gleich morgen wollte er sich Motorradhandschuhe zulegen.
»In Minden wird kein Mann mittleren Alters vermisst.« Marlene runzelte die Stirn, während sie die Liste durchging. »Ein älterer Herr um die siebzig ist verschwunden. Eine vierzigjährige Frau. Das war’s. Ich erweitere die Suche auf die nähere Umgebung.«
»Vielleicht war er alleinstehend und er fehlt nirgends. Keiner weiß, dass er tot ist«, warf Benno ein.
»Möglich«, erwiderte Marlene. »Hoffen wollen wir es allerdings nicht. Dann wird es schwierig für uns, herauszubekommen, wer er war. Ein Foto von ihm können wir schließlich nicht mehr in den Medien veröffentlichen.«
»Stell dir vor, du stirbst, und niemand bekommt es mit. Vielleicht ist seine Frau tot und die Kinder melden sich nur zwei Mal im Jahr. Das hält er einfach nicht mehr aus.«
»Nun mach aber halblang. Schau mal hier.« Marlene deutete auf den Bildschirm. »Ein Mann aus Bad Oeynhausen wird vermisst. Die Beschreibung könnte passen.« Sie klickte auf der Tastatur herum. »Seine Ehefrau hat sich gemeldet«, meinte sie und blickte kurz zu Benno. Stirnrunzelnd wandte sie sich wieder dem Monitor zu. »Das ist aber bereits drei Wochen her.«
»Drei Wochen? Kann er so lange im Wasser gelegen haben?«
»Das muss Hagel uns sagen. Auf jeden Fall ist dies der einzige Treffer, den wir haben. Ralf Diekmann.«
In dem Augenblick klingelte ihr Telefon. Marlene schaute auf das Display. »Hagel, perfekt«, rief sie und meldete sich. Doch während sie zuhörte, verdunkelte sich ihr Blick. »Wir müssen ins Klinikum«, sagte sie, nachdem sie aufgelegt hatte. »Für seine Verhältnisse klang Hagel ziemlich aufgeregt. Deine Theorie vom Selbstmord kannst du schon mal vergessen.«
»Scheiße. Was ist dann passiert? Wurde der Mann getötet und anschließend in die Weser geschmissen?«
»Das ist es ja. Er ist ertrunken. Aber nicht in der Weser!«
»Häh?« Benno runzelte die Stirn. »Verstehe ich nicht.«
»Deshalb müssen wir sofort ins Klinikum.« Sie sprang auf und zog ihre Jacke im Laufen über. Benno folgte ihr eilig.
*
Hagel winkte sie zu sich. »Kommen Sie, kommen Sie«, rief er. Sobald sie den Raum betraten, versuchte Marlene, flach durch den Mund zu atmen. An den Geruch würde sie sich einfach nie gewöhnen, an den einer Wasserleiche schon gar nicht. Sie schritt mit Benno auf den Sektionstisch zu, auf dem der Tote lag. Marlene grüßte das Obduktionsteam und wandte sich dann an den Rechtsmediziner: »Wir haben das nicht ganz verstanden. Er ist ertrunken, sagen Sie, aber nicht in der Weser. Wie konnten Sie das so schnell herausfinden?«
Sie wusste, dass man bei Wasserleichen anhand von Kieselalgenarten bestimmen konnte, in welchem Gewässer eine Person ertrunken war. Allerdings war das ein aufwendiges Verfahren und nichts, soweit ihr bekannt war, was an der Leiche sofort zu erkennen war.
»Deshalb wollte ich ja, dass Sie beide kommen«. Hagel klang für seine Verhältnisse wirklich fast ein wenig aufgeregt. »Sehen Sie hier.« Er zeigte auf die Lunge.
Marlene bemühte sich, ihren Blick auf den Leichnam zu richten. »Und?«, fragte sie ungeduldig. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als diesen Raum wieder zu verlassen.
»Es macht einen großen Unterschied, ob man in Salz- oder Süßwasser ertrinkt«, begann Hagel. »Salzwasser stellt ein hypertones Medium im Vergleich zum Blut dar. Betrachten wir demnach …«
Benno unterbrach ihn. »Doktor Hagel, bitte kurz und verständlich.«
Der Rechtsmediziner blickte beleidigt. »In Ordnung«, sagte er. »Also, verständlich für Sie: Wenn der Salzgehalt im Wasser höher ist als der im Blut, dringt aus dem umliegenden Gewebe per Osmose Wasser in die Lunge. Das führt zu einem Lungenödem. Das Resultat«, er deutete abermals auf den geöffneten Brustkorb, »sie ist gefüllt, dick und prall. Bei Tod im Süßwasser verhält es sich genau umgekehrt: Da finden wir eine trockene Lunge, denn Süßwasser wird sofort aus den Atemwegen abtransportiert, sogar wenn der Mensch nicht mehr atmet. Wenn ich eine Süßwasserlunge durchschneide, knirscht es. In diesem Fall wird bei einem Schnitt reichlich schaumige Flüssigkeit abfließen.«
Marlene legte sich ihre Hand vor Mund und Nase. Sie roch ihre Handcreme, zwar schwach, aber es half ihr, die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken.
»Gut«, hörte sie Benno sagen. »Der Tote ist also in Salzwasser ertrunken.«
Hagel klopfte seine Finger gegeneinander. »Exakt. Allerdings nicht nur das. Ertrinken läuft normalerweise auf eine ganz typische Art und Weise ab. Jemand überschätzt zum Beispiel seine Kräfte, schwimmt zu weit. Dann fängt er an, unterzugehen. Natürlich wehrt er sich. Versucht, wieder an die Oberfläche zu kommen. Schnappt dort nach Luft. Sinkt unter. Das ist bei unserem Mann hier jedoch nicht passiert.«
Marlene runzelte die Stirn.
»Es steht fest, dass er einmal untergetaucht ist, ohne erneut an die Oberfläche zu gelangen«, fuhr Hagel fort. »Dieses Phänomen findet sich, wie Sie wissen, bei Selbstmördern, die ihren Körper beschweren. So hindern sie sich selbst daran, wieder aufzutauchen. Dieser Mann ist aber in Salzwasser gestorben, also kann er sich nicht in der Weser umgebracht haben.«
Marlene zupfte an ihrer Nase. »Das ergibt doch alles überhaupt keinen Sinn«, murmelte sie.
»Eben!« Hagel schaute sie so triumphierend an, als hätte er den Fall schon gelöst.
»Okay.« Marlene versuchte, sich zu konzentrieren und den Raum, das grelle Licht und den fürchterlichen Gestank auszublenden. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder starb der Mann freiwillig oder durch einen Unfall in Salzwasser und wurde dann von einer anderen Person, warum auch immer, in die Weser geschmissen. Oder er wurde in Salzwasser getötet und danach in den Fluss verfrachtet. Beides ist doch absurd.«
»Sie sagten vorhin am Telefon«, wandte sich Benno an den Rechtsmediziner, »dass Sie von einem Mord ausgehen. Wieso?«
»Mal abgesehen von den außergewöhnlichen Umständen, die wir hier vorfinden, habe ich noch etwas Merkwürdiges entdeckt. Wasserleichen weisen zahlreiche Verletzungen auf, wie Sie auch an diesem Körper unschwer erkennen können. Sie treiben durch das Gewässer, dabei schleifen Gliedmaßen oft über den Grund, und Fische knabbern am Fleisch.« Nun zeigte er auf den Oberschenkel des rechten Beines. »Das jedoch – das zieht sich keine Leiche im Wasser zu.« Er deutete auf einen großen, kreisrunden roten Fleck. In der Mitte war die Haut abgelöst. »Das ist eine Wunde, die durch heißes Wasser oder sogar Wasserdampf entstanden ist. Die Haut ist regelrecht verbrüht. Aber nur an dieser einen Stelle.«
Marlene atmete tief aus. Das Ganze schien immer absurder zu werden. Sosehr sie auch versuchte, ihren Kopf arbeiten zu lassen – was Hagel von sich gab, ergab keinen Sinn. Sie war froh, dass Benno offensichtlich ebenso verwirrt war. »Für unser besseres Verständnis«, fragte er, »wie lange lag der Mann denn überhaupt im Wasser und wann hat er sich diese Verletzung zugezogen?«
»Die Verbrühung dürfte vor seinem Tod entstanden sein. Die Wunde wurde nicht behandelt. Und wie lange er im Wasser lag, da müssen noch ein paar Untersuchungen folgen. Grobe Schätzung von mir: ungefähr eine Woche. Eine Leiche sinkt zuerst auf den Grund. Durch die Fäulnisgase bekommt sie jedoch Auftrieb. Die Weser ist im Moment allerdings kalt, das entschleunigt diesen Prozess. Deshalb denke ich, dass der Tote erst relativ kurz an der Oberfläche schwamm.«
Marlene biss auf ihre Unterlippe. »Sie haben Recht«, meinte sie und war erleichtert, dass ihr Gehirn sich entschieden hatte, wieder zu funktionieren – wenigstens ein bisschen. »Das hört sich alles nicht so an, als hätte er Selbstmord begangen. Verstehen tue ich es allerdings nicht.«
»Sie schaffen das schon!«, rief Hagel und seine Stimme klang fast fröhlich, als er fortfuhr: »Ich werde sehen, was ich noch über ihn in Erfahrung bringen kann. Falls ich irgendetwas Wichtiges entdecke, lass ich es Sie sofort wissen.«
»Wir haben uns bereits die Vermisstenanzeigen angeschaut«, fiel Marlene plötzlich ein. »Ein Mann aus Bad Oeynhausen, Alter um die fünfzig, schwarze Haare. Könnte das passen?«
Hagel wiegte den Kopf. »Das Alter ist schwer zu schätzen, es könnte hinkommen. Schwarze Haare stimmt. Besorgen Sie DNA von dem Mann oder zumindest die Zahnarztunterlagen, dann wissen wir es bald genau.«
»Aber«, warf Benno ein, »er wird schon seit drei Wochen vermisst. Kann er so lange im Wasser gelegen haben?«
»Nein, das halte ich für ausgeschlossen.« Der Rechtsmediziner klang absolut sicher. »Vielleicht acht, neun Tage, eventuell auch zehn. Doch keine einundzwanzig, niemals.«
»Okay. Vielen Dank, Doktor Hagel.« Marlene nickte ihm zu und verließ eiligen Schrittes den Sektionssaal. Benno folgte ihr dicht auf den Fersen. Kaum schloss sich die Tür hinter ihnen, atmeten beide tief ein.
»Verdammter Mist«, fluchte Marlene.
»Das sag mal laut. Aus dem, was Doktor Hagel erzählt, werde ich einfach nicht schlau. Nichts passt zueinander.«
Marlene presste die Lippen zusammen, ihre Hände trommelten auf ihre Oberschenkel, während sie vom Krankenhaus Richtung Parkplatz gingen. »Kriminalrat Rösener muss informiert werden. Gehst du auch davon aus, dass er uns diesen Mordfall wieder überträgt?«
Benno nickte, während Marlene auf ihre Uhr blickte. »In zwei, drei Stunden können wir ihn anrufen. Schlafen lohnt sich bis dahin nicht mehr. Lass uns ins Präsidium fahren und die Zeit sinnvoll nutzen. Aber vorher holen wir mein Motorrad ab.«
»Na klar«, seufzte Benno. »Schlaf wird sowieso vollkommen überbewertet.«
*
Ron starrte in die Flammen. Seine To-Do-Liste lag neben ihm. Er musste keinen Blick darauf werfen, er wusste, was bereits erledigt war. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Er konnte stolz sein, der erste Schritt in diesem fremden, kalten Land war getan. Nicht mal drei Wochen hatte er gehabt, um alles auszukundschaften, seine Planung darauf abzustellen und – vor allem – umzusetzen. Nun musste er die Zügel weiter anziehen. Seinem Plan zu einem endgültigen Erfolg verhelfen.
Bestimmt ließ sich in der Sauna darüber nachdenken. Erst bei richtiger Hitze kamen seine Gehirnzellen in Schwung, wie es sich für einen Australier gehörte. Gut, dass diese Hütte eine Sauna hatte. Als er sie angemietet hatte, war das ein Bonus gewesen, nichts, worauf er besonderen Wert gelegt hatte. Doch wer hätte auch ahnen können, wie verflucht kalt so ein deutscher Winter war?
Jetzt war er heilfroh, beinah jeden Abend hatte er die Sauna genutzt. Er erhob sich, um den Ofen in Gang zu setzen. Es würde etwa eine Stunde dauern, bis der Raum vernünftig aufgeheizt war. Zeit genug, um noch ein wenig in dem Tagebuch seines Vaters zu lesen.
Hätte er es bloß eher entdeckt. Dann wäre das alles vielleicht nicht so kompliziert. Aber sogar seine Mutter hatte nicht gewusst, dass dieses Buch existierte. Erst als sie gestorben war und er das Haus ausgemistet hatte, war es ihm in die Hände gefallen, und selbst das nur durch Zufall.
Komisch, wie Geschichten sich wiederholten. Wie sein Vater schrieb, hatte auch er das Tagebuch seines Vaters gefunden.
Deshalb saß Ron nun hier in Deutschland, mit einer schwierigen Aufgabe, die er zu lösen gedachte.
Broome, den 13. Juni 1969, las Ron. Ich werde heiraten. Ich habe beschlossen, einen Sohn zu zeugen, damit unsere Familie einen Stammhalter hat. Eine deutsche Frau habe ich gewählt, Inge. Sie ist anspruchslos und gehorcht, das ist das, worauf es mir ankommt. Ich schufte zu hart, als dass eine Frau mein Geld zum Fenster hinauswerfen dürfte.
Natürlich ist die Arbeit auf der Perlenfarm nichts im Vergleich zu dem, wie mein Vater noch die Perlen erntete. Jetzt ist alles künstlich angelegt und gezüchtet.
Dabei geht nichts über die erhabene Schönheit einer echten Perle. Aber die dämlichen Touristinnen wissen so etwas nicht zu schätzen.
Und tauchen kann hier auch keiner mehr.
Ich trainiere jeden Tag. Abends fahre ich mit dem Boot hinaus, habe den Ozean für mich. Dann bin ich meinem Vater dankbar, dass er mich in die Techniken des Tauchens eingewiesen hat, des wahren Tauchens ohne Geräte, ohne Sauerstoff. Ich weiß, dass ich inzwischen viel geschickter bin als er. Manchmal stelle ich mir vor, er sei bei mir. Sieht, was ich kann. Steht an Deck, behält die Leine im Blick, passt auf.
Doch er hat nie auf etwas anderes aufgepasst als auf sich selbst. Hat nie gelobt, immer ging es noch besser, nie war irgendwas gut genug. Egal. Er ist tot, und ich lebe. Wenn mein Sohn da ist, wird er ein so guter Taucher wie ich. Dann gibt es nur uns zwei. Ich lasse Tauchflossen für ihn anfertigen, den elastischen Bleigürtel – mehr ist nicht nötig, um in die Tiefe zu schießen. Natürlich wird er seinen Atem beherrschen müssen. Das ist der Punkt, auf den es wirklich ankommt. Er wird lernen, den Atemreiz über eine sehr lange Zeit zu unterdrücken. Wenn ich früh mit ihm zu trainieren anfange, wird er schon in jungen Jahren ein Meister seines Faches werden. Er und ich, hier draußen im Meer, nur er und ich und das Wasser.
Ron klappte das Buch zu. Das hatte sein Vater geplant, ein Meister des Tauchens hatte er werden sollen.
Ron hievte sich vom Sofa hoch und stieg in den Keller hinunter. Dort kontrollierte er die Temperatur der Sauna. Gut, sie war heiß genug. Er nahm den Bademantel, hängte ihn vor die Tür und zog seine Sachen aus. Sorgfältig faltete er sie zusammen und platzierte sie auf die Holzbank im Vorraum. Sein Blick fiel auf das extravagante Wasserbecken.
Sehr kalt und sehr salzig, hatte ihm der Vermieter mitgeteilt. Kälte bringe nach dem Saunagang den Kreislauf in Schwung, und Salzwasser sei Balsam für den Körper, heile kleine Wunden.
Ja, dieses Becken war wirklich gut. Es war genau richtig für seine Zwecke. Er nahm die Abdeckung ab. Mit einem Nicken öffnete Ron die Saunatür und genoss die heiße Luft, die sich auf seine Haut legte.
*
Ralf Diekmann«, wiederholte Marlene.
Sie saßen wieder in ihrem Büro, Bennos Auto und Marlenes Maschine parkten vor dem Präsidium, und Benno unterdrückte ein Gähnen. Diese Nacht hatte er sich wahrlich anders vorgestellt.
»Er muss es sein«, sprach sie weiter. Ihre Augen blickten so klar, als sei sie eben erst aus dem Bett geschlüpft. »Ein Kollege aus Bad Oeynhausen hat sich der Sache angenommen, wir rufen ihn gleich nach Rösener an.«
Benno schaute auf die Uhr an der Wand. Vier Uhr. Gewiss musste Marlene sich beherrschen, um nicht alle aus dem Schlaf zu klingeln. Wie lange würde sie warten? Er tippte auf sechs.
»Benno?« Marlene sah ihn an.
»Ja?« Er fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht und wünschte sich Streichhölzer für seine Lider.
»Wir sollten alles über Diekmann in Erfahrung bringen, was uns möglich ist, für den Fall der Fälle. Jetzt wirf mit deinen müden Augen mal einen Blick auf den Bildschirm. Guck«, sie zeigte auf ein Foto, »das habe ich gefunden. Stell dir vor, er arbeitet in Minden! Bei der Bank Ostwestfalen-Lippe. Sie hat hier ihre Hauptgeschäftsstelle.«
Benno lehnte sich vor. Ein Zeitungsartikel aus dem Mindener Tageblatt, die Bank hatte viel Geld für einen guten Zweck gespendet. Auf dem Bild war der Vorstand zu sehen. Ralf Diekmann hätte er nicht erkannt. Sollte das wirklich der Tote sein? Er stand laut Bildunterschrift rechts. Benno beugte sich näher an den Monitor heran. Irgendwie sah Diekmann ein wenig aus wie er selbst – bei ungefähr einem Meter achtzig Körpergröße dünn, aber nicht schlacksig, eher ein athletischer Typ, markante Gesichtszüge, lebhafte Augen. Links von ihm befand sich ein weiterer Mann in Anzug und Krawatte, Holger Schlüter. Bennos Blick glitt über ihn und einen dritten Banker hinweg zu der einzigen Frau auf dem Foto. Eine ungewöhnlich attraktive Frau. Sie war so groß wie die Männer um sie herum. Der weiße Hosenanzug schmeichelte ihrer schlanken Figur. Ihre kurzen, blonden Haare umrahmten ein hübsches Gesicht mit vollem Mund und hohen Wangen. Ihre Miene allerdings war reserviert. Eva Meyer, las Benno.
Marlene deutete auf Diekmann. »Ganz schön gutaussehend«, bemerkte sie. »Er hat eine Tochter, siebzehn, und einen Sohn, vierzehn. Verheiratet mit Kirsten Diekmann, sie scheint Hausfrau zu sein.«
Benno zog einen Block zu sich heran. War Marlene die Ähnlichkeit zwischen ihm und Diekmann ebenfalls aufgefallen und hatte sie dessen Aussehen deshalb gelobt? Oder war das einfach nur sein Wunschdenken?
»Gut«, erwiderte er schnell, »oberste Priorität ist, herauszufinden, ob Diekmann unser Mann ist. Nachdem wir mit dem Bad Oeynhauser Kollegen gesprochen haben, setzen wir uns am besten sofort mit seinem Zahnarzt in Verbindung.«
Marlene klopfte sich mit dem Bleistift gegen die Zähne. »Okay. Das ist eine vertrackte Sache. Wenn Rösener uns den Fall überträgt, wovon wir ja ausgehen, sollten wir die Mordkommission wieder mit Kollegen aus Minden und aus Bielefeld zusammenstellen.«